Tina und Tini und die Spuren im Schnee

Enid Blyton

1983

Tina traut ihren Augen nicht: auf der Schloßtreppe steht regungslos eine schattenhafte Gestalt. Der unheimliche alte Graf! denkt Tini. Auf wen mag er warten? Man könnte ihn für das Schloßgespenst halten. Aber plötlzich kommt Leben in die unheimliche Gestalt…

Inhaltsverzeichnis

Heimlichkeiten

Fröhliche Weihnachten

Ein lustiger Ferienjob

Alarm!

Orakel um Mitternacht

Spuren im Schnee

Tini geht ein Licht auf

Der Graf auf Abwegen

Verschwörung in der Jagdhütte

Das Geheimnis der Knöpfe

Heimlichkeiten

»Was ist denn das? Habt ihr neuerdings ein Hausgespenst?« fragte Tini, halb amüsiert, halb ängstlich.

»Keine Ahnung«, murmelte Tina und warf einen besorgten Blick zur Tür. »Hört sich richtig unheimlich an. Warte, ich schaue mal nach.«

Tina stand entschlossen vom Tisch auf und legte ihr Strickzeug beiseite. Doch als das seltsame Klopfen und Scharren von neuem einsetzte, blieb sie wie angewurzelt stehen.

»Wenn ich nicht genau wüßte, daß Tobbi mit Mutti in die Stadt gefahren ist, dann…«

»Nein, nein, die können unmöglich schon zurück sein, sie sind ja erst vor einer Viertelstunde losgefahren. Da ist es wieder!«

»Es kommt näher! Schritte… und so ein eigenartiges Brummen …« Tina kicherte nervös.

Die beiden Freundinnen starrten wie gebannt auf die Tür. Trotz ihrer vierzehn Jahre fühlten sie sich in diesem Augenblick nicht gerade sehr heldenhaft.

»Der Türgriff bewegt sich!« wisperte Tini.

»Kommen Sie nur rein!« sagte Tini mit gespielter Munterkeit, aber ihre Stimme klang dünn.

Sehr langsam bewegte sich der Türgriff nach unten, zentimeterweise öffnete sich die Tür, ein dicker, grauer Fausthandschuh unter einem weiten, roten Ärmel war zu sehen, dann schob sich eine schwere Gestalt, in einen wallenden Mantel gehüllt, das bärtige Gesicht tief unter einer Kapuze verborgen, ins Zimmer.

Weder Tina noch Tini glaubten noch an den Weihnachtsmann. Trotzdem ging von dem vermummten Mann eine seltsam magische Wirkung aus. Verwirrt sahen sie sich an.

»Nicht möglich! Der Nikolaus kommt zu uns?« Tina kicherte nervös und versuchte, ihre aufkeimende Furcht zu unterdrücken. »Hast du uns denn auch was Schönes mitgebracht? Sollen wir vielleicht ein Gedicht aufsagen?«

Da hob sich die rechte Hand des Mannes langsam, unter dem roten Ärmel blitzte eine Pistole.

»Geld her oder ich schieße!« krächzte er dumpf.

Tina und Tini stockte der Atem, unfähig sich zu rühren standen sie da und starrten auf die Waffe.

»Na? Wird’s bald? Ich zähle bis drei! Eins… zwei … und … drei!«

Aus dem Lauf der Pistole klatschte ein scharfer Wasserstrahl Tina genau ins Gesicht. Tina kreischte auf. Dann stürzte sie sich mit einem Wutschrei auf den vermeintlichen Nikolaus und riß ihm den Mantel herunter.

»Tobbi! Ich wußte es doch! Du Mistvieh! Du verdammtes Biest! Was fällt dir ein, uns so zu erschrecken! Uns hätte der Schlag treffen können, wir hätten tot umfallen können, weißt du das nicht?«

»Ich wollte nur mal testen, ob es stimmt, was ihr immer behauptet!« verteidigte sich Tobbi und versuchte, sich vor den Angriffen seiner Schwester in Sicherheit zu bringen. »Daß ihr euch vor nichts und niemandem fürchtet! Ihr wart ganz schön blaß um die Nasen!«

»Tini ist es noch! Schau sie an, ihr ist schlecht geworden vor Schreck!« wütete Tina und boxte auf den Bruder ein.

»Quatsch!« Tini stand auf und schüttelte ihre lange blonde Mähne.

»Aber eine besonders gute Idee war das nicht, das kann ich dir sagen!« murmelte sie wütend und wandte sich ab.

»Tini!« Tobbi ließ betroffen die Arme sinken. »Tini, das wollte ich nicht! Ich wollte dich nicht erschrecken! Ich hab gedacht, ihr kriegt sowieso gleich mit, daß ich es bin. Bist du mir böse?«

»Schon gut.«

»Bitte verzeih mir!«

»Okay, vergiß es. War ja auch blöd von uns, das nicht gleich zu merken.« -

»Du bist mir immer noch böse, das merke ich doch!«

»Nein, nein«, sagte Tini langsam und ging zum Tisch zurück. Schweigend nahm sie ihre Näharbeit wieder auf.

Tobbi sah unglücklich aus.

»Warum bist du überhaupt hier?« erkundigte Tina sich.

»Ganz einfach, ich habe von Anfang an nur so getan, als wolle ich mit Mutti in die Stadt fahren. Ich habe mich im Schuppen versteckt und mich in aller Ruhe verkleidet. Dann habe ich mich durch den Keller ins Haus geschlichen. Ich wollte doch mal sehen, was ihr so macht, wenn man euch beide allein läßt. Was wird denn das Schönes?«

Interessiert hob Tobbi das Strickzeug seiner Schwester hoch.

»Hat man Töne! Spionieren wolltest du! Wissen, was du zu Weihnachten bekommst! Irrtum, mein Lieber, dies hier ist ein Geschenk für Vati! Und was Tini dort näht, ist etwas für Mutti! Bilde dir bloß nicht ein, daß du von einem von uns auch nur die klitzekleinste Kleinigkeit bekommst, nachdem du uns so erschreckt hast!«

»Kann ich… kann ich vielleicht irgendwie Buße tun?« erkundigte sich Tobbi vorsichtig.

Tina und Tini sahen sich an und grinsten verstohlen.

»Nun ja«, meinte Tina gedehnt. »Da gäbe es gewisse Möglichkeiten. Absolut. Du könntest uns zum Beispiel Kakao kochen. Und ein paar Plätzchen dazu organisieren. Und später darfst du mir dann die Wolle aufwickeln und …«

»Eins nach dem anderen!« bremste Tobbi ihren Redestrom. »Fangen wir mal mit dem Kakao an, alles andere kommt später. Schicker Pulli. Meine Lieblingsfarben. Schade, daß er für Vati ist.«

»Glaubst du, ich stricke für dich einen ganzen Pullover, wo dieses Muster so schwierig ist?« Tina zog die Nase kraus. »Höchstens Ohrenwärmer!«

»Ohrenwärmer sind auch was Schönes«, murmelte Tobbi versöhnlich, raffte sein Weihnachtsmannkostüm vom Boden auf und verließ das Zimmer.

Tina lauschte, wie sich seine Schritte über die Treppe entfernten, dann wandte sie sich der Freundin zu.

»Glaubst du, daß er was gemerkt hat?«

»Ich weiß nicht … vielleicht wegen der Farben … ach nein, ich glaube eigentlich nicht. Du mußt ihm noch mal einschärfen, eurem Vater ja nichts von dem Pullover zu verraten. Den Wäschebeutel hier habe ich zum Glück so umgedreht, daß er die Aufschrift und das aufgenähte Bild nicht sehen konnte. Sonst hätte er gleich gewußt, wessen Geschenk das ist.«

»Räum ihn lieber weg, ehe Tobbi dir doch noch auf die Schliche kommt. Was sollte Mutti wohl mit einem Wäschebeutel mit Fußballschuhen und einem Hockeyschläger drauf!«

»Du hast recht, ich werde noch ein paar Weihnachtskarten schreiben«, sagte Tini und räumte ihr Nähzeug zusammen. »Für die wird es ohnehin höchste Zeit!«

Wenig später polterte es von neuem draußen im Flur, aber diesmal hatte das Geräusch nichts Beunruhigendes.

»Tür auf, ehe ich alles fallenlasse!« rief Tobbi, und Tina kam ihm zu Hilfe.

»Donnerwetter! Das sieht ja toll aus!« rief sie und nahm dem Bruder das volle Tablett aus den Händen. »Pfefferkuchen und Christstollen! Vanillekipferl — und sogar Mandarinen hat er uns mitgebracht! Und der Kakao duftet phantastisch!«

»Jetzt machen wir es uns richtig gemütlich«, sagte Tobbi und zündete die Kerzen auf dem Adventskranz an, der in der Mitte des Tisches stand. »Wie wär’s mit ein bißchen Musik?«

»Gute Idee«, lobte Tini, die allmählich begann, ihren Ärger über Tobbi zu vergessen. »Wollen wir die Cassette mit der Hirtenmusik auflegen, die Mutti mir geschenkt hat?«

»O ja, das ist genau das Richtige, um uns in Weihnachtsstimmung zu versetzen«, meinte Tina. »He, Tobbi, paß doch auf, du kleckerst auf die frische Tischdecke! Hier, halt die Serviette drunter, du hast den Topf viel zu voll gefüllt, so kann man doch nicht gießen!«

»Daß Schwestern immer was zu meckern haben müssen. Mach’s doch selber!«

»Pst! Seid friedlich!« mahnte Tini. »Wir wollen nicht dauernd streiten, dazu haben wir überhaupt keinen Grund!«

»Du hast recht. Kinder, ist das gemütlich bei uns! Und Muttis Stollen ist wieder einsame Spitze!« schwärmte Tobbi.

»Wenn wir so weitermachen, bleibt für Vati nichts mehr übrig«, kicherte Tina. »Dieser Stollen hat die merkwürdige Eigenschaft, sich in Sekundenschnelle in Nichts zu verflüchtigen. Eben war der Teller doch noch voll!«

»Komisch. Bist du sicher?«

Tobbi griff blitzschnell nach dem letzten Stück.

»Meine Mutter hat schon im November Stollen gebacken, um sie für meinen Vater mit in die Südsee zu nehmen«, erzählte Tini.

»Ob er ihm da schmeckt — bei vierzig Grad Hitze?« fragte Tina.

»Kapitän müßte man sein!« seufzte Tobbi träumerisch. »Südsee… das zergeht auf der Zunge wie Eis mit Sahne! Schade, daß wir nicht einfach alle hinüberfliegen können, um Weihnachten bei ihm und deiner Mutter an Bord der Lucia zu verbringen!«

»Nun ja«, meinte Tina, »einerseits schon. Andrerseits ist doch Weihnachten mit Schnee und Tannenduft, Kerzen und all den Heimlichkeiten und Überraschungen auch nicht schlecht. Wenn’s nicht gerade ein bewaffneter Weihnachtsmann ist…«

»Ach, hör schon auf!« wehrte Tobbi verlegen ab.

»Und denkt doch an euren Vater!« sagte Tini. »Dem ist ein Weihnachtsfest im Schnee sicher lieber als die schönste Südsee-Kreuzfahrt, nachdem er monatelang in der arabischen Wüste Straßen und Brücken gebaut hat!«

»Da hast du recht!« Tina sprang auf und lief zum Fenster. »Seht mal, es hat wieder zu schneien begonnen! Oh, ich freue mich so auf Vati … und auf Weihnachten … ach, auf alles einfach!«

»Ja, drei Wochen Ferien haben wir noch, was die wohl alles bringen!« Tini knabberte verträumt an einem Vanillekipferl.

»Das hört sich an, als sehntest du dich schon wieder nach einem richtigen Abenteuer«, spottete Tobbi.

»Quatsch. Ich freue mich ganz einfach auf die Wochen mit euch! Daß ich wieder bei euch sein kann, die ganzen Ferien mit euch verbringen, das ist mir schon Abenteuer genug.«

Am nächsten Tag bereiteten sie sich auf die Ankunft von Tinas und Tobbis Vater vor. Frau Greiling fuhr allein zum Flughafen, da sonst in ihrem kleinen Wagen nicht genug Platz für das Gepäck ihres Mannes gewesen wäre.

»Vielleicht bringt er euch einen jungen Elefanten oder ein paar Kamele als Weihnachtsgeschenke mit«, spottete Tini. »Und für Tobbi einen Perserteppich, in den eine kleine Beduinenprinzessin eingerollt ist.«

»Die Kamele werden wohl kaum in Muttis Auto Platz finden«, meinte Tina. »Der Teppich — das ginge gerade noch, wenn die Prinzessin zierlich und schlank ist. Und was bringt er mir mit?«

»Dir? Einen schneeweißen Araberhengst mit einem goldenen Sattel und zwei Satteltaschen voller Edelsteine natürlich.«

»Ich weiß nicht, ein hübscher Araberprinz wäre mir, glaube ich, lieber auf dem goldenen Sattel.«

»Nun kommt, wir müssen noch die Girlande fertigmachen und den Tisch decken!« drängte Tobbi. »Ist die Nachspeise für unser Festessen fertig?«

»Klar. Aber Naschen kommt nicht in Frage!« sagte Tina energisch. »Hier, was haltet ihr davon, wenn wir für die Girlande die zartlila Schleife nehmen?«

»Ja, das sieht hübsch aus!« Tini nahm die aus Tannenzweigen gebundene Girlande vom Küchentisch und schlang das Band vorsichtig herum. »Wenn ich nur wüßte, wie wir sie an dem Plakat befestigen können …«

»Da habe ich schon was«, sagte Tobbi eifrig. »Hier, einen festen Karton. Wir schneiden ein großes Oval aus, kleben das Plakat darauf, bohren rundherum Löcher in den Rand und ziehen das Band durch. So sitzt die Girlande fest.«

»Genial!« lobte Tina. »Los, beeilt euch, wir haben noch eine Menge zu tun. Was riecht denn hier so angebrannt?«

»Himmel, meine Nußkipferln! Die habe ich total vergessen! Schnell!«

Tini stürmte in die Küche, die beiden anderen hinterher.

»Sieht mehr wie türkischer Mokka im Stück aus«, meinte Tobbi grinsend, als Tini das Kuchenblech aus dem Ofen zog und auf dem Herd abstellte. »Laß mal probieren.«

»Vorsicht, heiß!«

Mit spitzen Fingern nahmen sich alle drei von den Plätzchen, die eine schokoladenbraune Färbung angenommen hatten, bliesen sie von allen Seiten an, bis sie ein wenig abgekühlt waren, und bissen hinein.

»Schmeckt irgendwie nach Karamel«, meinte Tina. »Jedenfalls kann man sie noch essen.«

»Als Kaugummi sind sie prima«, murmelte Tobbi.

»So ein Mist!« jammerte Tini. »Wie konnte mir das bloß passieren! Zum Glück war es erst ein Teil des Kuchenteigs, ich werde gleich ein zweites Blech voll backen. Und diese hier …«

»… für die haben wir auch Verwendung«, tröstete Tina die Freundin. »Ja! Wir nehmen sie als Weihnachtsgeschenk für unsere Hunde! Für Racker und für Flocki von nebenan. Was glaubst du, wie die sich freuen werden!«

Als zwei Stunden später Herr Greiling Arm in Arm mit seiner Frau das Haus betrat, duftete es köstlich nach Tannen, Kerzen und frischem Weihnachtsgebäck. Über der Haustür prangte das Schild mit der Aufschrift:

Herzlich willkommen, Vati!

Fröhliche Weihnachten!

Im Eßzimmer war der Tisch gedeckt und mit Kerzen, Tannengrün, rotbackigen Apfeln und Nüssen geschmückt. Die Servietten waren mit roten Schleifchen zusammengebunden, auf denen goldene Sterne klebten. Und aus dem Cassettenrekorder klang leise Adventsmusik.

»Vati!« Tina flog ihrem Vater um den Hals. Tobbi und Tini folgten ihrem Beispiel.

»Kinder, ist das ein wundervoller Empfang! Mir wird gleich ganz weihnachtlich zumute! Gestern, in der glutheißen Sonne der arabischen Wüste, konnte ich mir gar nicht vorstellen, wie das eigentlich ist. Grüß dich, meine Tina! Tobbi! Ich glaube, du bist bald größer als ich! Und Tini —– meine Adoptivtochter ist auch da! Oder sollte ich Patentochter sagen?«

»Egal«, meinte Tina lachend. »Hauptsache Tini gehört zur Familie. Hoffentlich hast du Hunger, wir haben nämlich ganz tolle Sachen gebrutzelt und gebacken. Wenn ihr wollt, können wir gleich essen. Tobbi, hol den Begrüßungstrunk, wir müssen auf Vatis Rückkehr anstoßen!«

Es wurde ein langer Abend. Erst ließen sie sich das Festmahl schmecken, das Tina und Tini zubereitet hatten, später, als sie sich im Wohnzimmer um den Kamin gesetzt hatten, trug Tobbi einen selbstgebrauten Glühwein auf, und Tini brachte Kostproben ihres Weihnachtsgebäcks.

Herr Greiling begann zu erzählen, lustige Begebenheiten und aufregende Abenteuer machten die Runde, die Kinder berichteten aus dem Internat und Frau Greiling steuerte Neuigkeiten aus dem Leben in und um Feldham bei.

»Richtig kuschelig ist es bei uns«, meinte Tina glücklich und legte noch ein Holzscheit in die Flammen. »Tini, hol deine Gitarre und laß uns ein paar Weihnachtslieder singen. Und du, Tobbi, bringst für Vati die Mundharmonika.«

»Na, hoffentlich habe ich nicht alles verlernt!« Herr Greiling lachte verlegen. »Aber ich werde mein Bestes tun.«

»Ich weiß auch, mit was wir anfangen«, neckte Tobbi seinen Vater. »Vom Himmel hoch, da komm ich her… das paßt doch zu dir, oder?«

Fröhliche Weihnachten

Am nächsten Tag ging Tobbi mit seinem Vater in den Wald, um den Christbaum zu holen, während die Mädchen mit hochroten Köpfen in der Küche standen und Leckereien für die kommenden Festtage zubereiteten. Tina versuchte sich an dem ersten Heringssalat ihres Lebens, und Tini hatte sich an die Herstellung einer raffinierten Geflügelpastete gewagt. Frau Greiling, die auch heute noch ihren Dienst als Arzthelferin versehen mußte, war froh, daß sie den beiden Mädchen die Küchenarbeit überlassen konnte.

Bald kamen Herr Greiling und Tobbi mit einem wunderschön üppig gewachsenen Tannenbaum zurück, stellten ihn im Wohnzimmer auf und begannen, ihn zu schmücken und mit Kerzen zu bestecken. Auf einem Tisch stapelten sich geheimnisvoll aussehende Päckchen; immer wieder klingelte es an der Haustür, und neue Weihnachtspakete wurden abgegeben.

Der Postbote kam, und ein Lieferant mit einem großen Geschenkkorb, dankbare Patienten brachten Geschenke für »ihre liebe, gute Frau Greiling«; die Nachbarin, Frau Neumann, erschien, den Arm voller lustig dekorierter, bunter Päckchen. Sie strahlte, denn Kinder und Enkelkinder waren gekommen, um das Fest mit ihr zu feiern. Freunde von Herrn Greiling schauten auf einen kurzen Schwatz herein, um den Hausherrn nach langer Abwesenheit zu begrüßen, und weil sie zu Hause im Trubel der Vorbereitungen ohnehin nur im Wege waren. Kurz, es ging zu wie in einem Taubenschlag.

»Ich habe zwar keine Ahnung, wie wir bis heute nachmittag alles schaffen sollen«, seufzte Tina und strahlte übers ganze Gesicht, »aber ich finde den Rummel einfach himmlisch!«

Gerade zur rechten Zeit wurden sie fertig. Der Tisch war gedeckt, alle Geschenke verpackt, die Küche aufgeräumt. Sie hatten geduscht und sich hübsch gemacht und standen nun wie zwei frisch vom Himmel gefallene Weihnachtsengel mit Tobbi und Frau Greiling vor der verschlossenen Wohnzimmertür in der dunklen Diele; die Herzen klopften ihnen, als seien sie nicht zwei halberwachsene junge Damen, sondern zwei kleine Mädchen, die noch mit Puppen spielten.

Der Lichtschimmer, der durch den Türspalt drang, wurde heller und heller, schließlich hörten sie den feinen Klang des Glöckchens, das sie ins Weihnachtszimmer rief. Herr Greiling öffnete die Tür weit und gab den Blick auf den kerzenschimmernden, bunt geschmückten Baum frei.

Rund um den Baum hatte er Stühle aufgestellt, sie setzten sich und verharrten eine Weile in entzücktem Staunen.

»So schön wie dieses Jahr war der Baum noch nie!« sagte Frau Greiling.

»Das sagst du jedes Jahr, Mutti«, bemerkte Tobbi. »Aber ich freue mich, daß dir unser Werk gefällt. Vati und ich haben uns große Mühe gegeben!«

Tini hatte ihre Gitarre genommen und klimperte ein paar einleitende Akkorde. Einer nach dem anderen fielen sie in das Lied ein, das Tina mit heller Stimme begann. Es ist ein Ros’ entsprungen … klang es durch den Raum. Frau Greiling griff nach der Hand ihres Mannes, als müsse sie sich vergewissern, daß er leibhaftig neben ihr saß.

Als sie das Lied beendet hatten, las Herr Greiling die Weihnachtsgeschichte vor. Tina stieß Tini an und zeigte auf ihren Arm. Tini hob fragend die Augenbrauen.

»Gänsehaut!« wisperte ihr Tina ins Ohr. »Weil’s so schön feierlich ist!«

Dann sangen sie noch ein paar Lieder und zwischendurch las Frau Greiling ein Weihnachtsgedicht, das sie schon aus ihrer Kindheit kannte. Aber immer häufiger wanderten die Blicke jetzt zu dem Päckchenberg hinüber, der neben dem Christbaum aufgehäuft war.

»Und nun laßt uns ans Auspacken gehen«, sagte Herr Greiling lächelnd. »Damit die Spannung nicht unerträglich wird.«

Tobbi kniete auf dem Boden, studierte die Anhänger und legte jedem ein Geschenk in den Schoß. Bald waren nur noch das Rascheln von Papier und entzückte Ausrufe zu hören.

»Mutti! Das ist ja toll! Einfach super! So ein Kleid habe ich mir schon immer gewünscht!« jubelte Tina. »Ich muß es sofort anprobieren!«

»Seht euch das an! Ein goldenes Armband aus Mexiko! Das hat mein Vater mir geschickt!« rief Tini dazwischen. »Ist es nicht märchenhaft?«

»He! Sollte dieses Päckchen verwechselt worden sein?« Tobbi sah kopfschüttelnd zu seiner Schwester hinüber. »Der Pulli ist doch für Vati?«

Tina und Tini prusteten los.

»Irrtum, mein lieber Bruder, er ist für dich. Aber das konnte ich dir doch unmöglich auf die Nase binden«, sagte Tina.

»Mann, das ist vielleicht ein Ding! Tina, dankeschön! Der Pulli ist einsame Spitze! Und daß du dir so viel Arbeit gemacht hast für mich!«

»Ich hoffe, du weißt es zu schätzen«, sagte Tina nachdrücklich. »Ich hab nämlich manchmal ganz schön geflucht beim Stricken. Aber was ich mir vorgenommen hatte, mußte ich ja nun auch zu Ende bringen.«

»Nun ja, das ist mir mit meinem Geschenk für dich nicht viel besser ergangen«, sagte Tobbi grinsend. »Es hat mich zwei blaugeschlagene Daumen und ein paar tüchtige Risse und Schnitte gekostet.«

»Wirklich? Wo ist es denn? Ich muß es sofort sehen!«

Tobbi lächelte geheimnisvoll und verschwand im Nebenzimmer. Einen Augenblick später erschien er in der Tür, auf den Schultern einen schweren, länglichen Gegenstand.

»Ein Bücherregal! Endlich ein neues Bücherregal für mein Bett! Phantastisch!« Tina hüpfte vor Freude in die Luft.

»Und das hast du ganz allein gebaut?«

»Klar!«

»Mensch, Tobbi, das ist die tollste Überraschung, die du mir machen konntest! Vielen, vielen Dank!«

»Ist dies Päckchen von dir, Tobbi?« fragte Tini und hob eine kleine Schachtel aus Goldpapier hoch.

Tobbi errötete wie ein junges Mädchen.

»Äh… eh…jaja.«

Tini hob vorsichtig den Deckel ab. Auf himmelblauer Watte lag ein goldnes Kettchen mit einem Medaillon.

»Oh…« Jetzt errötete auch Tini.

»He!« Tina kam neugierig näher. »Ist da was drin? Kann man es öffnen?«

Tini drückte auf den Verschluß, und das Medaillon sprang auf. Drinnen steckte ein Foto, das die lachenden Gesichter der beiden Geschwister zeigte. Tobbis Kopf ein wenig größer im Vordergrund und Tina, die ihm über die Schulter schaute.

»Du kannst natürlich auch ein anderes Foto reintun …, ich meine, vielleicht möchtest du lieber eines von deinem Vater oder deiner Mutter… oder von Tina allein.«

»Oder von deinem heimlichen Liebsten«, neckte Tina die Freundin.

»Quatsch!« sagte Tini verlegen. »Ich kann mir kein schöneres Bild für das Medaillon vorstellen, es ist genau richtig. Ganz lieben Dank, Tobbi, das war eine süße Idee!«

»Na und? Kriegt er keinen Kuß zum Dank?« bohrte Tina.

»Doch!«

Tini trat dicht an Tobbi heran und drückte ihm einen Kuß auf die Wange.

»Sehr schwesterlich!« bemerkte Tina. »Aber nun muß ich weiter auspacken. Da sind noch so viele Päckchen!«

Unter viel Gelächter und Staunen wurde ein Geschenk nach dem anderen aus seiner Verpackung geschält und herumgezeigt. Am meisten überraschten die Mitbringsel Herrn Greilings. Schmuckstücke, Messing- und Kupfergefäße, wie sie von Beduinen gemacht werden, bunte Decken und Tücher, Taschen aus Kamelleder, Gewürze — für jeden war etwas Besonderes dabei.

Später ging man zu Tisch. Tina und Tini trugen auf, was sie am Vormittag vorbereitet hatten und ernteten eine Menge Lob. Herr Greiling hielt eine kleine Rede und wünschte allen ein frohes Weihnachtsfest. Tobbi hatte Sekt in die Gläser gefüllt, und sie stießen miteinander an und versicherten sich gegenseitig, daß dies ganz sicher das schönste Weihnachtsfest sei, das man je erlebt hatte.

Am späten Abend machten sie sich auf, um die Christmette zu besuchen. Die klare, kalte Luft verjagte alle Müdigkeit aus den Köpfen und Gliedern, und der Spaziergang durch die dunklen Felder zur Dorfkirche hinüber, die Stille um sie herum und die zahlreichen blitzenden Lichter, die von den Bauernhäusern herübergrüßten, versetzten sie in eine schwebende, erwartungsfrohe Stimmung.

Herr Greiling seufzte zufrieden.

»Schön, so ein Weihnachtsfest mit seiner Frau und seinen zwei Kindern…«

»Drei Kindern …« berichtigte Tina.

»Ja, drei Kindern!« pflichtete Tobbi ihr bei und hakte sich bei Tini unter. »Tini gehört schließlich dazu! Wo wir uns doch schon so aneinander gewöhnt haben…«

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück sah Herr Greiling lachend von einem zum anderen.

»Nun? Jetzt möchte ich doch einmal wissen, was ihr an Plänen für die nächsten Tage ausgeheckt habt! Ihr habt doch sicher schon ein ganzes Programm in der Tasche, stimmt’s?«

»Na ja«, gab Tina zu. »Wir haben zwar noch nichts fest geplant, aber Ideen haben wir eine Menge!«

»Zum Skilaufen in die Berge fahren zum Beispiel!« platzte Tobbi heraus. »Der Fluß ist ja leider noch nicht zugefroren, mit dem Schlittschuhlaufen wird es also vorerst nichts.«

»In Niederhallberg gibt’s ein neues Wellenbad, das soll ganz toll sein, da müssen wir unbedingt mal hin!« schwärmte Tina.

»Es sind doch nur zweiundzwanzig Kilometer, in einer knappen halben Stunde sind wir dort!«

»Das können wir machen. Und weiter?« fragte Herr Greiling.

»Ich würde gern mal ins Theater oder in die Oper gehen«, meinte Tini. »Außerdem gibt es ein tolles Kinoprogramm an den Feiertagen.«

»Das werden wir uns sicher nicht entgehen lassen«, stimmte ihr Herr Greiling lächelnd zu. »Und um Theaterkarten werde ich mich kümmern. Ich habe aber noch eine andere Idee.«

»Was denn, erzähl!« drängte Tina.

»Kennt ihr Schloß Mönchsbuchen?«

»Ich habe mal davon gehört, es ist doch hier ganz in der Nähe?« meinte Tobbi. »Das Schloß, in dem dieser vertrottelte Graf wohnt und seiner ausgestorbenen Sippe nachtrauert.«

»Nun, ob er vertrottelt ist, sei dahingestellt. Ein bißchen seltsam ist er schon, er lebt sehr zurückgezogen, hat nie geheiratet und sich sein Leben lang nur mit dem Sammeln alter Münzen, Waffen und Bilder beschäftigt. Dafür hat er nach und nach sein ganzes Vermögen ausgegeben«, erzählte Herr Greiling. »Nun ist er alt, halbblind und von Gicht geplagt und hat wohl nicht mehr die rechte Freude an seinen Schätzen. Jedenfalls hat er das Schloß verkauft und seine wertvollen Sammlungen der Gemeinde Feldham vermacht unter der Bedingung, daß sie das Schloß in ein Museum umwandelt. Wie mir ein Freund gestern vormittag erzählt hat, sind die Vorbereitungsarbeiten abgeschlossen, und das Museum soll morgen feierlich eröffnet werden. Er hat uns dazu eingeladen. Man hat ihn nämlich zum Museumsdirektor emannt.«

»Toll!« Tina strahlte. »War das etwa der nette Typ mit dem grauen Rauschebart und der randlosen Brille? Der ist prima, wenn er lacht, klirren die Gläser im Schrank, so eine Stimme hat er.«

»Na, hoffentlich verkneift er sich das Lachen in den Museumsräumen, sonst fallen die Bilder von der Wand«, meinte Tini kichernd. »Auf das Schloß bin ich wirklich neugierig. Sicher kommen doch da morgen nur Ehrengäste, lauter feine Leute…«

»… wie wir zum Beispiel!« Tobbi richtete sich kerzengerade auf, machte einen steifen Hals und wandte sich an Tini. »Muß ich meinen Frack anziehen, Gnädigste, oder genügt die Gala-Uniform?«

»Nun, ich nehme an, halb Feldham wird versammelt sein«, berichtete Herr Greiling. »Es ist mehr eine Art Volksfest geplant, damit es sich gleich herumspricht, daß es in Feldham nun auch eine besondere Sehenswürdigkeit gibt.«

»O je, na, dann wird es sicher so voll wie im Warenhaus beim Schlußverkauf«, stellte Tini fest. »Die Neugier wird auch noch den letzten Faulpelz auf die Beine bringen.«

»Da kannst du sicher sein«, sagte Tina, »ein Schloß, über dessen Schwelle noch niemand den Fuß gesetzt hat und das so von Geheimnis umwoben war … sie werden es stürmen wie eine Festung!«

»Warten wir’s ab«, sagte Herr Greiling.

Am nächsten Morgen gegen halb elf fuhren sie zum Schloß Mönchsbuchen hinüber. Auf dem Parkplatz standen bereits ein gutes Dutzend Autos. Ein alter Mann wies ihnen mit einer Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete, einen Platz im hinteren Bereich des Platzes an.

»Wahrscheinlich ist Muttis alte Kutsche nicht gräflich genug«, spottete Tobbi. »Oder er hält uns für Lohndiener und Serviermädchen.«

Professor Willner, der Museumsdirektor, kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu, als sie den Empfangssaal betraten. Hinter dem grauen Bart verbarg sich ein jungenhaft-übermütiges Gesicht. Das ebenso graue Haupthaar trug er streichholzkurz geschnitten, es stand wie eine Bürste vom Kopf ab.

»Greiling, wie schön, daß du gekommen bist! Es wird höchste Zeit, daß du mich deiner Frau vorstellst, man bekommt sie ja nie zu sehen!«

»Vielleicht sollten sie froh darüber sein«, antwortete Frau Greiling lächelnd. »Leute, die mich zu sehen bekommen, sind meistens von Schmerzen und Beschwerden geplagt. Sie wissen ja, daß ich als Sprechstundenhilfe bei unserem Arzt arbeite.«

»Na, auf eine solche Begegnung verzichte ich gern«, gab Professor Willner zurück. »Aber ich würde mich freuen, wenn Sie und die Kinder auch während der langen Auslandsaufenthalte Ihres Mannes öfters meine Gäste wären. Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihnen nicht nur Kunstgenüsse bieten, sondern auch für Ihr leibliches Wohl sorgen. Meine Kochkünste sind berühmt.«

»Davon hat mir mein Mann erzählt. Sie wohnen hier im Schloß?«

»Ja, man hat mir eine hübsche kleine Wohnung unterm Dach dieses ehrwürdigen Gemäuers eingerichtet. Sie müssen unbedingt meine Küche bewundern…«

Während sich die Erwachsenen unterhielten, sahen sich Tina, Tini und Tobbi im Saal um. Professor Willner hatte für die festliche Eröffnung seines Museums an nichts gespart. Für dreihundert Gäste standen Gläser und Teller bereit, Kellner in dunkelgrüner Livree mit weißen Handschuhen trugen Silbertabletts mit Getränken oder appetitlich angerichteten Häppchen herum und hielten sie einem so aufmunternd unter die Nase, daß man einfach zugreifen mußte.

»Komisch, noch vor einer halben Stunde hätte ich geschworen, bis zum Abendbrot keinen Bissen mehr hinunterzubringen, so viel habe ich nach dem Frühstück noch von meinem bunten Teller gegessen«, flüsterte Tina. »Aber jetzt könnte ich schon wieder futtern ohne aufzuhören.«

»Mir geht es genauso«, gab Tini zurück. »Es sieht aber auch alles so lecker aus.«

»Da, seht mal, sogar die Musiker haben sie in alte Kostüme gesteckt! Wenn das nicht stimmungsvoll ist«, flüsterte Tobbi.

»Hm, ich komme mir schon vor wie ein Schloßfräulein vor zweihundert Jahren!« Tina kicherte. »So eifrige Bedienung habe ich mir schon immer gewünscht. Den mit den rötlichen Locken da drüben werde ich mir als Schlepp enträger nehmen. Und die zwei dort am Büffet, die den Sekt einschenken, haben gerade die richtige Größe, um meine Sänfte zu tragen.«

»Du lieber Himmel, wer ist denn der Waldschrat, der da zur Tür reinkommt?« wisperte Tini.

»Pst! Das ist der Graf! Der, dem das Schloß gehört hat«, beantwortete einer der Lohnkellner, der unbemerkt hinter sie getreten war, ihre Frage.

»Au weia…«

Tina und Tini sahen sich erschrocken an.

»Graf oder nicht — besonders sympathisch sieht er trotzdem nicht aus. So mürrisch und feindselig, findest du nicht? Ob der schon jemals in seinem Leben gelacht hat?« sagte Tina leise.

»Vielleicht ist er nur so verbittert, weil er sein ganzes Vermögen ausgegeben hat — in seiner Sucht, immer mehr Schätze für seine Sammlung aufzutreiben«, meinte Tobbi.

»Puh!« Tini schüttelte sich. »Er hat so was Ruheloses im Blick. So als wäre er eifersüchtig auf jeden, der dieses Haus betritt.«

»Nun, vielleicht machen das auch die dicken Brillengläser, die im Licht so gefährlich funkeln«, meinte Tobbi. »Wir wollen dem armen Alten nicht unrecht tun. Es muß doch schrecklich für ihn sein, nur noch als Gast in seinem eigenen Haus aufzutreten.«

»Das stimmt. Ich an seiner Stelle wäre weit fortgezogen«, sagte Tina nachdenklich. »Irgendwohin, wo mich nichts mehr an die Vergangenheit erinnert.«

Ein schlanker, eleganter Herr im dunklen Zweireiher mit Nadelstreifen, in der silbergrauen Krawatte eine hustenbonbongroße Perle, räusperte sich vernehmlich und klopfte an sein Glas. Die Gäste traten neugierig näher. Tina, Tini und Tobbi hielten sich im Hintergrund. Sie ahnten, was nun kommen würde, eine langweilige Rede über das Schloß und seine Schätze, über die jahrhundertealte Geschichte der gräflichen Familie und die Sammelleidenschaft seines letzten Sprosses.

Während die Besucher einen dichten Ring um den Vortragenden bildeten, sahen sie sich im Saal um. Die Stirnseite wurde vollkommen von einem riesigen Gobelin bedeckt, auf dem ein Picknick während einer Jagd zu sehen war. Elegante Damen mit ihren Kavalieren lagerten im Vordergrund und tranken sich zu, während sich etwas abseits Jäger um die Hundemeute kümmerten, Diener Speisen zubereiteten, Pagen die Reitpferde am Zaumzeug hielten und ein paar barfüßige Kinder aus der Ferne neidvoll der Gesellschaft zuschauten. Sogar einen See mit Wildenten und Schwänen hatte man nicht vergessen, und am Himmel türmten sich dramatisch-üppige Wolkengebirge.

»Wie lange werden sie wohl an dem Ding gestickt haben?« wisperte Tina. »Schaut euch bloß die feinen Stiche an! Das muß ja eine Ewigkeit gedauert haben!«

»Bestimmt haben ein Dutzend Frauen zugleich daran gearbeitet. Und sich dabei den schönsten Dorfklatsch erzählt.«

»Oder haarsträubende Räuber- und Gespenstergeschichten!« vollendete Tobbi Tinis Satz. »Schließlich gab’s damals noch kein Radio und kein Fernsehen. Seht mal da drüben das Bild. Ein wüstes Schlachtengewimmel.«

»Und wie schön malerisch die sterben!«

»Die armen Pferde. Mußten diese Vollidioten unbedingt in die Schlacht reiten?« sagte Tina ärgerlich. »Konnten sie nicht zu Fuß aufeinander losgehen?«

»Wenn ich denke, ich müßte so was malen!« stöhnte Tobbi. »Da sind doch mindestens fünftausend Figuren drauf. Ob die schon mal jemand gezählt hat?«

»He, die Führung beginnt! Kommt schnell, die sind schon alle im Nebenzimmer!« drängte Tina.

Wie ein Riesentausendfüßler bewegte sich die Festgesellschaft durchs Schloß. Kaum einer verstand, was Professor Willner vorn erklärte, wenn der sich auch bemühte, mit seiner gewaltigen Stimme bis zu den letzten Gästen durchzudringen. Aber auch ohne fachmännische Erklärungen gab es genug zu sehen. Kostbare alte Möbel, Waffen und Ritterrüstungen, feinstes Porzellan, chinesische Vasen, das gräfliche Himmelbett und eine dreihundertjahre alte Kinderwiege. An den Wänden hingen dicht neben- und übereinander alte Gemälde, Kupferstiche, uralte Landkarten und vergilbte Urkunden.

Den Höhepunkt der Sammlung aber bildete das Münzkabinett. Die Fenster waren mit schweren Samtvorhängen verhüllt, als befände man sich in einem Theater. Mit dem gleichen dunkelblauen Samt waren auch die Wände bespannt. Und überall hingen und standen Glasvitrinen, raffiniert beleuchtet, angefüllt mit den schönsten Münzen und Medaillen. In allen Größen und Formen blitzte es in Silber und Gold, daneben gab es von Grünspan beschädigte Bronzemünzen, auf denen kaum noch etwas zu erkennen war. Und wie vielfältig die Abbildungen waren! Köpfe bedeutender Männer und Frauen gab es da zu sehen, Kaiser, Könige und Päpste, Gelehrte, Künstler und Dichter. Dann Werkzeug und Waffen, Burgen und Städte, Früchte, Getreide — eine ganze Welt erstand aus den winzigen Abbildungen. Auf weißen Kärtchen konnte man das Alter der Münze und die Aufschrift nachlesen, sowie ein paar Einzelheiten über ihre Geschichte und ihren Fundort.

»Ich habe immer gedacht, Münzen wären was Todlangweiliges«, meinte Tina. »Dabei ist das hier richtig spannend. Und wenn man dann noch bedenkt, wie wertvoll sie sind. Die da zum Beispiel — die ist mehr als zweitausendzweihundert Jahre alt!«

»Und diese dort! Stellt euch vor, die haben über tausend Jahre im Bauch eines gesunkenen Schiffes auf dem Meeresgrund gelegen! Was die erzählen könnten!« rief Tini aus.

»Nun? Gefällt es euch hier?«

Professor Willner war unbemerkt zu ihnen getreten.

»Super!« sagten Tina und Tini wie aus einem Munde.

»Habt ihr eigentlich für die Ferien schon besondere Pläne?« erkundigte sich der Museumsdirektor.

»Nein, keine besonderen. Warum?«

»Nun, ich überlegte gerade, ob ihr nicht Lust habt, ein bißchen Taschengeld extra zu verdienen. Natürlich nur wenn ihr Zeit — und auch Spaß daran habt.«

»Arbeiten…« murmelte Tina wenig begeistert und sah zu Tobbi hinüber. »Wir wollten eigentlich mit unserem Vater…«

»Worum würde es sich denn handeln?« erkundigte sich Tobbi vorsichtig.

»Postkarten und Kunstdrucke verkaufen. Jeden Vormittag von zehn bis ein Uhr. Ich muß euch das näher erklären: mir ist da ein Mißgeschick passiert. Zwei Studentinnen wollten diese Aufgabe in den Ferien übernehmen, bis wir jemanden gefunden haben, den wir für diesen Posten fest anstellen können. Nun — die beiden haben mich einfach sitzenlassen. Sie haben einen besseren Job gefunden, in einem Skigebiet, wo sie das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden können. Kann ich ja verstehen, aber für mich ist das unangenehm, denn gerade in den Ferien erwarten wir hier viel Andrang.«

»Verkäuferin spielen? Das ist doch lustig!« sagte Tini strahlend. »Und was würden wir verdienen?«

»Stellt eure Bedingungen«, antwortete Professor Willner lächelnd. »Ich denke, ihr werdet zufrieden sein. Ihr braucht euch nicht sofort zu entscheiden. Besprecht es mit euren Eltern und ruft mich heute abend an. Ich will euch nicht drängen, schließlich habt ihr Ferien und wollt sie genießen. Ich werde es euch nicht übelnehmen, wenn ihr nein sagt. Habt ihr übrigens schon unsere Glanzstücke bewundert? Die Goldmünzen dort, die Alexander-Maria-Sebastianus-Dukaten, über fünfhundert Jahre alt. Ein böhmischer Graf hat sie zur Feier der Geburt seines ersten Sohnes prägen lassen, nur wenige Stücke. Er muß vor Freude ganz närrisch gewesen sein, denn er war nicht mehr jung und hatte kaum noch auf einen Nachkommen gehofft. Seht ihr das feine Kinderköpfchen? Und auf der Rückseite die Burg. Eine künstlerische Arbeit! Er hatte in seinem Testament bestimmt, die Münzen dürften nur innerhalb der Familie weitergegeben werden, deshalb haben wir das seltene Glück, hier einen Satz von sechs Stück zu besitzen. Der Graf ist durch seine Mutter mit der Familie verwandt.«

»Toll! Die müssen doch irrsinnig wertvoll sein!« sagte Tina bewundernd. »Haben Sie keine Angst, daß hier mal eingebrochen wird?«

»Wir haben die beste Alarmanlage, die es zur Zeit gibt«, antwortete der Museumsdirektor vergnügt. »Den Dieb möchte ich sehen, der es schafft, hier ungesehen wieder herauszukommen!«

Ein lustiger Ferienjob

Sie brauchten nicht lange zu überlegen. Das Honorar, das der Professor ihnen anbot, war so verlockend, daß sie sofort einwilligten, den Verkaufsstand zu übernehmen. Schon am nächsten Tag fanden sie sich eine Stunde vor Eröffnung des Museums ein, um sich mit ihrer neuen Aufgabe vertraut zu machen. Eigentlich hatten sie sich abwechseln sollen, aber nach kurzer Diskussion einigten sie sich darauf, den Verkaufsstand gemeinsam zu betreuen.

»Je mehr wir sind, desto mehr werden wir verkaufen!« hatte Tobbi beteuert. »Ihr sollt mal sehen, wie ich den Laden in Schwung bringe! Wir werden einen Umsatz machen, von dem der Professor nur träumen kann!«

So bemühten sie sich nun also, ihre Waren vorteilhaft ins Licht zu setzen, die teuren Stücke besonders augenfällig aufzubauen, die billigeren mehr im Hintergrund. Neben Kunstpostkarten und Drucken berühmter Gemälde mit und ohne Rahmen gab es Poster und ein paar Keramik-Artikel, Teller und kleine Krüge, Kacheln mit dem gräflichen Wappen darauf, bemalte Dosen und Schälchen mit dem Abbild des Schlosses. In einer Vitrine lagen sogar ein paar Münzen und Medaillen zum Verkauf, nichts besonders Wertvolles, zum Teil auch als Schmuckstücke gefaßt, gedacht als Anhänger für Ketten und Armbänder.

»Ich finde, unser Laden kann sich sehenlassen«, sagte Tini zufrieden und prüfte noch einmal nach, ob jeder der Krüge mit einem Preisschild versehen war.

»Haben wir genug Wechselgeld? Du meine Güte, ich habe richtig Lampenfieber!« gestand Tina. »Wenn ich mich bloß nicht verrechne oder jemandem zuviel herausgebe!«

»Derjenige wird sich zweifellos freuen«, meinte Tobbi schmunzelnd. »Aber beruhige dich, schließlich sind wir zu dritt. Das Wichtigste: bei großem Andrang nicht aus der Ruhe bringen lassen!«

»Jaja, und die Augen überall zugleich haben, die Hände der Leute nicht aus den Augen lassen, die Waren ebensowenig und zugleich den Blick strahlend auf die Kundschaft gerichtet halten. Das wird was werden!«

»Nur keine Panik. Du wirst sehen, es geht wie geschmiert. Mit der nötigen Portion Humor wirst du auch mit dem ungnädigsten Kunden fertig.«

Kurz vor zehn stattete Professor Willner ihnen einen Besuch ab.

»Nun? Alles fertig? Das habt ihr ja wirklich hübsch dekoriert, da müssen die Kunden ja in Scharen kommen!«

»Toi-toi-toi!« murrnelte Tini. »Ich bin wirklich gespannt, ob wir überhaupt was verkaufen werden!«

Fräulein Lemberger, genannt Gretchen, eine ältliche, verhutzelte kleine Dame, die sich durch einen unerschütterlichen Humor auszeichnete, trat aus einer Seitentür, winkte lächelnd herüber und nahm hinter dem Eintrittsschalter Platz. Vor der schweren Eingangstür schwoll das Stimmengewirr der Wartenden an.

»Zehn Uhr«, sagte Professor Willner. »Na, dann werden wir mal…«

Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, entfernte das Sicherheitsgitter und schloß auf. Als er die Tür öffnete, drängten die ersten Besucher herein, als gälte es, die besten Plätze bei einem Fußballspiel zu ergattern. Im Nu hatte sich vor der Kasse eine Schlange gebildet. Paare, Familienmütter und -väter mit Kindern, ein Club unternehmungslustiger alter Damen, einzelne Herren im Sonntagsstaat, Jugendliche, die sich betont lässig durch die Menge schoben, ein junger Mann mit Baby im Tragetuch — Tina und Tini musterten die Besucher neugierig.

»Die erste Führung beginnt in zehn Minuten!« verkündete Professor Willner. »Einen Katalog, der Ihnen Hinweise über den Rundgang und die wichtigsten Kunstschätze gibt, erhalten Sie auf Wunsch an der Kasse!«

»Wie oft machen Sie denn die Führung?« erkundigte sich ein junger Mann.

»Alle halbe Stunde. So lange dauert es etwa.«

Der Mann nickte und schrieb etwas in sein Notizbuch.

»Der ist sicher von der Presse!« flüsterte Tobbi.

Die erste Gruppe marschierte los, und es wurde ruhiger in der Eingangshalle. An der Tür zum Saal hatte sich einer der Aufseher postiert, um die Eintrittskarten zu kontrollieren. Vor dem Verkaufsstand sammelten sich die ersten Neugierigen.

»Sind das alles Reproduktionen der Gemälde, die hier im Schloß hängen?« erkundigte sich eine Frau bei Tina.

»Nicht alle«, gab Tina Auskunft. »Wir haben auch Abbildungen allgemein bekannter Kunstschätze dazugenommen. Aber diese Bildkarten zum Beispiel zeigen den großen Gobelin aus dem Festsaal. Sind die Farben nicht phantastisch? Und dieses hier ist eine Reproduktion des großen Schlachtengemäldes aus der Bibliothek. Ein Werk des bekannten Malers Friedrich Müller… und hier eine Kopie des Stillebens aus dem Speisezimmer…«

»Sehr schön, ja«, murmelte die Frau und warf einen mißbilligenden Blick auf ihren Sohn, einen etwa sechsjährigen Blondschopf, der sämtliche Karten aus dem Ständer zog und bereits zwei Dutzend in den Händen hielt. »Leg die zurück, Andy, faß nicht immer alles an!«

»Die will ich aber haben!« bockte Andy und drückte die Karten heftig an sich, was ihnen nicht besonders gut bekam.

»Wir können die nicht alle kaufen«, sagte die Frau ärgerlich. »Na los, leg sie schon hin!«

Andy feuerte die Karten wütend auf den Tisch, wobei einige auf den Boden fielen. Seine Mutter zerrte ihn mit sich fort und verschwand im Saal.

»Ein toller Erfolg«, stöhnte Tina und sammelte die Karten auf. »Zwei sind so verknickt, daß wir sie wegschmeißen können! Wenn das so weitergeht…«

Zum Glück ging es nicht so weiter. Kaum war die erste Führung beendet, war der Verkaufsstand von Interessenten umringt. Tina, Tini und Tobbi hatte alle Hände voll zu tun, um jeden zufriedenzustellen. Tobbi erwies sich als erstklassiger Verkäufer. Er konnte die Ware mit so blumigen Worten anpreisen, das seine Zuhörer nach kurzer Zeit überzeugt davon waren, hier den Kauf ihres Lebens tätigen zu können.

»Reproduktionen von so hervorragender Qualität werden Sie sonst nirgends finden!« schwärmte Tobbi. »Sehen Sie nur die Farben auf diesem Bild. Das Gefieder der Enten, die Abendsonne in den Zweigen des Baumes hier, Sie müssen mir zustimmen: die Kopie ist vom Original nicht zu unterscheiden! Sie nehmen es? Ich kann Sie dazu nur beglückwünschen! Warten Sie, ich wickle es Ihnen ein, wenn Sie hier inzwischen bei meiner Kollegin bezahlen wollen — fünfundsechzig Mark, wirklich geschenkt, wenn man bedenkt, daß das Original leicht das Tausendfache wert ist!«

Tina konnte sich das Lachen kaum verbeißen. Zum Glück hatte sie vollauf damit zu tun, Postkarten abzuzählen, den Preis auszurechnen und zu kassieren.

»Diese Schale, der Herr?« tönte Tobbi unermüdlich. »Eine wundervolle Arbeit. Die zarten Farben — Sie werden viel Freude daran haben! Vielleicht noch eine Kachel dazu, mit dem gleichen Motiv? Du möchtest einen Anhänger, kleines Mädchen? Vielleicht diese Münze hier, mit dem heiligen Georg drauf? Oder wie gefällt dir die mit dem Löwen und der Königskrone? Oder dort, der hübsche Soldat, der würde doch zu dir passen. Bitte, meine Dame? Achtunddreißig, der Krug, wirklich kein Preis für so ein einmalig schönes Stück! Ich finde, er paßt zu Ihnen. Den Teller dort? Sofort … Eine Kette für den Anhänger? Haben wir, natürlich, haben wir alles, hier bitteschön, es gibt nichts, was wir nicht haben!«

»Dann möchte ich einmal heiße Würstchen!« sagte eine Stimme aus dem Hintergrund.

»Heiße Würstchen, sofort… äh… nein, die haben wir leider nicht … Vati! Na warte, wenn du mich noch einmal so auf den Arm nimmst! Seit wann bist du hier?«

»Erst seit ein paar Minuten. Das Geschäft blüht, wie ich sehe. Ihr macht das großartig.«

»Nicht wahr? Aber jetzt mußt du mich entschuldigen, ich habe Kundschaft,« Tobbi wandte sich mit vor Eifer gerötetem Gesicht ab. »Bitte sehr, darf es dieses Bild sein? Ich packe es Ihnen ein.«

»Tobbi redet wie ein Buch«, meinte Tini kichernd. »Ich komme mit Kassieren gar nicht mehr nach. Bis heute abend hat der unsere ganze Ware an den Mann gebracht!«

»Vati!« flüsterte Tina beschwörend, während sie ein Dutzend Postkarten in eine Tüte steckte, »ich sterbe vor Durst und Hunger! Kannst du uns nicht was organisieren?«

»O ja, eine Limo oder Cola und ein belegtes Brot, das wäre toll!« pflichtete Tini ihr bei. »Mein Magen knurrt, als hätte ich ein Transistorradio verschluckt!«

Professor Willner, der gerade eine Führung beendet hatte, hörte die letzten Worte.

»Ich schlage vor, ihr macht jetzt nacheinander eine Viertelstunde Pause. Du, Tina, gehst als erste. In meiner Küche steht ein kleiner Imbiß für euch bereit. Kinder, ist das ein Andrang heute, einen solchen Erfolg habe ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt!«

»Ja, man kann dich nur beglückwünschen«, sagte Herr Greiling, »die Nachricht über die Eröffnung des Museums Schloß Mönchsbuchen hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer.«

»Komm, begleiten wir deine Tochter hinauf, ich habe eine halbe Stunde Pause. Die nächste Führung macht Herr Kellner, mein Assistent.«

Der Museumsdirektor faßte Herrn Greiling beim Arm und zog ihn zum Treppenaufgang hinüber. Tina kassierte schnell noch drei Mark fünfzig für sieben Postkarten und folgte den beiden. Tini und Tobbi kümmerten sich mit doppeltem Eifer um die Kundschaft.

»Schau mal, wer da kommt!« flüsterte Tini Tobbi plötzlich zu. »Der alte Graf! Ob der eine Dauerkarte hat?«

»Wie grirnmig er schaut. Als wolle er sich jeden Augenblick auf die Besucher stürzen und sie mit seinem Spazierstock vertreiben!«

»Mir scheint eher, daß er jemanden sucht. Hast du den tollen Silberknauf auf seinem Stock gesehen? Wahrscheinlich auch ein zweihundert Jahre altes Erbstück.«

»Entschuldigen Sie bitte, wo geht es hier zu den Toiletten?« unterbrach eine alte Dame Tini.

»Dort links die Treppe hinunter. Zweite Tür rechts«, gab Tini Auskunft. Als sie wieder hinschaute, war der Graf verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt, dachte sie.

»… er hat Bankrott gemacht und riesige Schulden hinterlassen«, sagte jemand leise hinter ihr. »Alles hat man ihm gepfändet. Jetzt lebt er kümmerlich in zwei Mansardenzimmern im ehemaligen Kutscherhaus dort drüben. Wenn er nicht so ein hochmütiger Geizhals wäre, könnte er einem leid tun, aber er hat es wirklich zu schlimm getrieben. Die Sammelleidenschaft hat sein Leben zerstört. Jedes Mittel ist ihm recht gewesen, um…«

Die Stimme entfernte sich. Hatte man vom alten Grafen gesprochen? Vermutlich. So arm war er also jetzt, alles hatte man ihm gepfändet.

»Haben Sie noch andere Ansichtskarten vom Schloß hier, Fräulein?« wurde Tini in ihren Gedanken unterbrochen. »Vielleicht eine Aufnahme mehr von weitem, wo man den ganzen Park sieht und so, und die übrigen Gebäude …«

»Sie meinen, eine Luftaufnahme? Nein, die haben wir leider noch nicht. Aber wir wäre es mit dieser hier? Von der Sonnenuhr auf dem Turm. Oder die dort, auf der sieht man die alte Zugbrücke so schön, mit der Einfahrt und dem Tor!«

»Hallo, die Ablösung kommt, da bin ich wieder!«

Tina tippte der Freundin auf die Schulter.

»Geh ruhig rauf, ich mach hier weiter. Schinkensemmeln gibt’s, und Christstollen und zu trinken, was du willst! Einfach urig, die Küche des Professors, am liebsten wäre ich gar nicht mehr runtergekommen.«

»Okay, dann mache ich jetzt Pause.«

Tini überließ Tina die Kundin, die unschlüssig den Postkartenständer hin und herdrehte, und lief zur Treppe hinüber. Sie befand sich in einem der Türme, eine enge Wendeltreppe mit schmalen kleinen Fenstern, an denen man die Dicke der Mauern ermessen konnte. Oberhalb der Ausgänge zu den drei Stockwerken gab es ebenfalls Fenster, die nach innen führten und von denen aus man in die Räume des Schlosses hinuntersehen konnte. So gab es ein Fenster zum Festsaal, das daneben sah in die Bibliothek hinunter und ein drittes ins Münzkabinett.

Ein idealer Beobachtungsposten für einen Detektiv! dachte Tini gerade, als sie über sich auf der Treppe eine Gestalt wahrnahm, die regunglos auf einer Stufe verharrte. Der alte Graf! schoß es Tini durch den Kopf. Er steht da wie zur Salzsäule erstarrt und starrt von weitem auf seine Münzen, als könne er sie hypnotisieren! Warum geht er nicht einfach hinunter und schaut sie sich aus der Nähe an? Komischer Kauz! Man könnte ihn für das Schloßgespenst halten!

Tini beeilte sich, an dem alten Mann vorbeizukommen. Sie murmelte ein hastiges Guten Tag! und schaute ihn kaum an. Aus der Küche des Professors drang dröhnendes Gelächter. Die beiden Freunde erzählten sich Geschichten aus gemeinsamen Jugendjahren, jeder hielt ein Glas Weihnachtspunsch in den Händen.

Über dem selbstgebackenen Christstollen und den leckeren Schinkensemmeln hatte Tini die trübselige Gestalt des Grafen bald vergessen.

Alarm!

Am nächsten Tag hatte Tina nicht mehr die Spur von Lampenfieber, und am dritten Tag kamen sie sich bereits vor wie abgebrühte Profis, als sie am Morgen ihren Verkaufsstand öffneten.

Waren in den ersten Tagen vor allem Besucher aus der Umgebung erschienen, so kamen jetzt mehr und mehr Touristen aus der Stadt. Kleine und große Busse hielten auf dem Parkplatz, und Gretchen setzte auf ihre Eintrittspreis-Liste noch eine weitere Zeile: Gruppen ab zehn Personen erhalten einen Rabatt von 25 Prozent.

Tina, Tini und Tobbi machten sich Sorgen um ihren Waren-Nachschub. Mit so großen Verkaufserfolgen hatte keiner gerechnet, und Professor Willner mußte in die Stadt fahren, um Keramik, Poster und Kunstpostkarten in Auftrag zu geben und neu einzukaufen.

Mit Peter Kellner, dem jungen Assistenten des Museumsdirektors, verband sie bald eine richtige Freundschaft. Er war gerade mit dem Studium fertig geworden und immer zu Späßen aufgelegt. Wenn es recht stürmisch zuging und die Besucher nicht aufhören wollten, törichte Fragen zu stellen, verständigten sie sich durch Blicke und Zeichen und machten sich so gegenseitig Mut.

Besonders Tina wurde es in der Nähe des blonden Assistenten eigentümlich warm ums Herz, und sie freute sich, wenn er für einen kurzen Schwatz bei ihnen Station machte oder sie mittags mit seinem klapprigen Opaauto nach Hause fuhr.

Gleich bei der ersten Führung rollte Peter Kellner an diesem Morgen verzweifelt die Augen. Ein großer Bus mit Japanern war angekommen. Mit Fotoapparaten aller Größen umringten sie Kellner und redeten mit einem seltsamen Englisch auf ihn ein.

»Der Ärmste!« Tina grinste voller Mitleid. »Die werden ihn total schaffen!«

»Und uns auch, warte nur ab«, bemerkte Tini. »Bevor ich denen unsere schönen Vasen und Teller anpreise, schaue ich lieber mal nach, ob nicht irgendwo steht ›made in Japan‹!«

»Na und? Hauptsache, es gefällt ihnen, und die Kasse klingelt«, meinte Tobbi gleichmütig. »Wo bleibt denn heute unser Waldschrat?«

»Der Herr Graf sind für ein paar Tage verreist, habe ich gehört. Gretchen sagte es vorhin zu jemanden am Telefon«, sagte Tina. »Erstaunlich, daß der Alte sich mal von seinem Wachtposten wegbegibt. Gestern ist er ständig hier herumgelaufen. Man könnte glauben, er sei ein lebendiges Museumsstück und gehöre zum Inventar.«

»Achtung! Da rollt die nächste Welle!« raunte Tini und wies zur Tür hinüber.

»Reinstes Amerikanisch, wenn mich nicht alles täuscht«, bemerkte Tobbi. »Der arme Kellner fällt vom Regen in die Traufe! Und das heute, wo Willner nicht da ist!«

Laut schwatzend und lachend drängte sich ein gutes Dutzend Amerikanerinnen um die Kasse, von denen gewiß keine jünger als siebzig war.

»Ach, die schafft er mit Links«, meinte Tini trocken. »Die dahinter scheinen schlimmer zu sein!«

Unter dem Portal war jetzt eine Familie aufmarschiert, die man bei flüchtigem Hinsehen auch für einen Kindergarten. beim jährlichen Ausflug hätte halten können. Ein rotgesichtiger rundlicher Herr im Trachtenanzug und eine ebenso rundliche rothaarige Frau führten eine scheinbar unübersehbare Schar von Kindern an, die einander schubsten, kniffen, jagten und kitzelten, so daß ständig mindestens eines laut losheulte oder empört aufkreischte. Die Mutter verteilte in regelmäßigen Abständen laute Ermahnungen in alle Richtungen, was die Sache jedoch nicht besser machte.

»Na, die haben uns hier wirklich noch gefehlt!« stöhnte Tina. »Kinder, stellt die Vasen und Teller weg, das gibt Bruch!«

»Und drinnen erst!« meinte Tobbi. »Den Flurschaden wage ich mir gar nicht auszumalen. Hoffentlich ist Willner gut versichert!«

»Na, den Trachtenanzug hat er auch schon ein paar Jährchen«, wisperte Tini, als die Familie im Gänsemarsch an ihnen vorbeischritt. »Die Weste spannt ganz schön. Das kann nicht mal die schöne bestickte Krawatte verbergen!«

»Mit blutroten Rosen! Der traut sich was«, sagte Tina kichernd. »Und die Kniehose platzt auch aus allen Nähten. Der Gute sollte nicht soviel Bier trinken!«

»Vielleicht muß er das, um das Geschrei seiner Sprößlinge aushalten zu können. Dafür packt er seine strapazierten Nerven täglich in größere Portionen Schweinsbraten mit Knödeln nebst einem Dutzend Wurst- und Käsesemmeln. Es gibt Leute, für die sind Essen und Trinken die einzig mögliche Art, sich zu trösten«, bemerkte Tobbi weise.

»Hör auf, ich krieg schon wieder Hunger«, antwortete Tina lachend. »Das scheint eine neue Krankheit bei mir zu sein.«

»Tatsächlich, dein Zustand stimmt mich bedenklich«, neckte Tobbi seine Schwester und betrachtete sie prüfend von der Seite. »Zum Glück sieht man noch nichts.«

»Achtung, Kundschaft!« raunte Tini.

In der nächsten Viertelstunde hatten sie alle Hände voll zu tun. Als ein schriller Klingelton, begleitet von dem Aufheulen einer Sirene loslärmte, hielten sie wie vom Blitz getroffen inne.

»Herrgottnochmal, bin ich jetzt erschrocken! Was ist denn das?« fragte Tini entsetzt.

Auch die Japaner waren verstummt und starrten in die Höhe, als käme von dort die erklärende Antwort.

Gretchen kletterte aus ihrer Kabine und scheuchte die Wartenden von der Kasse weg.

»Das ist die Alarmanlage«, erklärte sie geistesgegenwärtig den hereindrängenden Besuchern. »Die Kasse bleibt vorerst geschlossen. Bitte warten Sie einen Augenblick draußen, bis sich herausgestellt hat, was die Ursache ist.«

»Wahrscheinlich hat eines der Kinder ein Bild runtergerissen«, sagte Tobbi, der als erster die Fassung zurückgewann, »und hat dabei die Alarmanlage in Gang gesetzt.«

»Da kannst du recht haben«, Tina löste sich aus ihrer Erstarrung. »Ich hab gleich gewußt, daß die was anstellen!«

Gretchen war es gelungen, ihre Kunden von der Kasse nach draußen zu bugsieren und die Eingangstür abzuschließen.

Jetzt redete sie auf die Japaner ein und versuchte ihnen klarzumachen, daß sie vorerst das Haus nicht verlassen dürften. Aus dem Saal drängten sich weitere Besucher, und im Nu war die Eingangshalle überfüllt. Durch die wartende Menschenmenge trieb die Dicke von vorhin einen schreienden Jungen vor sich her und schimpfte auf den Protestierenden ein.

»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Finger davon lassen? Hab ich es dir nicht ausdrücklich gesagt?«

»Ich war’s nicht, ich hab’ überhaupt nichts gemacht!« rief der Junge.

Gretchen stellte sich der aufgeregten Mutter in den Weg.

»Tut mir leid, da müssen Sie sich noch einen Augenblick gedulden!«

»Was soll das heißen, werden wir hier eingeschlossen?« empörte sich die Dicke. »Es ist nichts passiert, das hören Sie doch!«

»Selbstverständlich«, sagte Gretchen sanft. »Es ist nur wegen der Vorschriften. Sowie festgestellt wurde, daß die Alarmanlage wirklich nur aus Versehen berührt wurde, können Sie alle das Haus verlassen. Es ist ja nicht so schlimm!«

Jetzt schob sich der Vater in den Vordergrund. Ärgerlich zupfte er seine Rosenkrawatte zurecht.

»Das ist doch lächerlich!« brummte er. »Zwei Dutzend Leute sind Zeuge gewesen, wie der Junge das Bild fast von der Wand gerissen hat bei der Rangelei! Und daß dem Bild nicht das Geringste passiert ist, haben auch alle gesehen.«

»Ich bitte Sie! Nur einen kleinen Augenblick Geduld noch, auf diese zwei Minuten kann es doch wohl kaum ankommen«, erwiderte Gretchen lächelnd. »Hätten Sie die Führung bis zu Ende mitgemacht, wären Sie wesentlich länger hier gewesen.«

Tini starrte fasziniert auf den Dicken in seiner auffälligen Aufmachung. Wenn man so dick ist, sollte man wirklich keine rosenbestickten himbeerrosa Krawatten tragen, dachte sie. Und dann diese blümchenbestickte Samtweste! Wie eine Operettenfigur sieht der aus! Ob er sich wirklich so schön findet? Muß er wohl, sonst würde er nicht ständig an sich herumzupfen.

Im Hintergrund wurden aufgeregte Stimmen laut. In der Tür zum Saal erschien Peter Kellners schreckensbleiches Gesicht.

»Rufen Sie die Polizei, Gretchen!« keuchte er. »Es ist gestohlen worden! Unfaßbar! Jemand hat den Augenblick genutzt, in dem die Sirene losging, hat eine der Vitrinen zerschlagen und die wertvollsten Münzen an sich gerissen. Er scheint durchs Fenster entkommen zu sein, es stand offen, Aber das muß die Polizei feststellen. Meine Herrschaften, ich muß Sie leider bitten, bis zum Eintreffen der Polizei hierzubleiben. Es wird nicht lange dauern.«

»Na, das hat uns ja gerade noch gefehlt!« schimpfte der Dicke. »Am Ende werden wir noch für den Diebstahl haftbar gemacht, weil mein Sohn die Alarmanlage ausgelöst hat! Ein toller Erfolg, wirklich, aber das schwöre ich euch, dies war das letzte Mal, daß ich mit euch ins Museum gegangen bin!«

»Nun beruhigen Sie sich doch!« mischte sich eine Frau ein. »Was kann denn der Junge dafür! Kinder sind nun mal lebhaft, er hat es doch nicht mit Absicht getan!«

»Kein Mensch kann Sie für einen Diebstahl haftbar machen, den Sie nicht begangen haben!« erklärte ein junger Mann energisch. »Vermutlich sind die Münzen gut versichert.«

»Der Dieb kann nicht weit kommen«, meldete sich ein anderer zu Wort. »Die Polizei ist ja schon unterwegs. Die kommen doch sofort, wenn der Alarm ausgelöst wird!«

Er hatte recht. Im gleichen Augenblick hörte man einen Wagen mit quietschenden Bremsen vor dem Portal halten, durch die Fenster über dem Eingang konnte man das Aufblinken des Blaulichts erkennen, und gleich darauf wurde an die Tür geklopft.

Gretchen öffnete, und zwei Beamte kamen herein. Peter Kellner trat auf sie zu und erklärte, was passiert war. Sein Gesicht war immer noch blaß, aber seine Stimme klang ruhig und bestimmt.

Einer der beiden Polizeibeamten ging noch einmal hinaus, um über Funk Verstärkung anzufordern. Der andere wandte sich an die Wartenden.

»Wir müssen Sie leider bitten, sich noch zur Verfügung zu halten, meine Damen und Herren. Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen eine Beobachtung gemacht, die uns bei der Suche nach dem Dieb weiterhelfen kann. Bitte haben Sie dafür Verständnis, wenn es noch eine Weile dauert, bis Sie das Haus verlassen können.«

»Holt alles an Stühlen was ihr finden könnt«, wandte sich Peter Kellner an Tina, Tini und Tobbi. »Und kümmert euch ein bißchen um die Leute, damit sie sich beruhigen.«

»Klar!«

Tobbi winkte den beiden Mädchen, und sie folgten ihm in einen Nebenraum, in dem an die hundert Stühle aufgestapelt waren, die man bei Vorträgen und kleinen Konzerten im Festsaal benutzen wollte. Eine Weile war man allgemein damit beschäftigt, die Stühle aufzustellen und für jeden einen Platz zu finden. Die Japaner rückten zusammen und redeten aufgeregt auf ihren Reiseleiter ein, der ihnen übersetzen mußte, was passiert war. Die Amerikanerinnen stürzten sich trotz der Aufregung auf den Verkaufsstand, und Tobbi beeilte sich, seinen Posten als Chefverkäufer wieder einzunehmen.

Tina und Tini bemühten sich, die übrigen Besucher zu beruhigen und einigermaßen bei guter Laune zu halten. Allzuschwer war es nicht, da man vorerst genügend damit zu tun hatte, das aufregende Ereignis zu besprechen und seine Meinung dazu zu äußern.

»Unglaublich kaltblütig, diesen Augenblick auszunützen und mit den wertvollsten Münzen auf und davon zu gehen!«

»Ich bitte Sie! Das war doch kein zufälliges Zusammentreffen! Das war geplant! Sie haben doch gehört, der Junge ist geschubst worden! Jemand hat ihn mit voller Absicht gegen das Bild gestoßen!«

»Aber das müßten wir doch gesehen haben! Nein, nein ich weiß genau, daß die Geschwister miteinander gerangelt haben, ich war gerade im Begriff, sie zur Ordnung zu rufen, weil man bei der Unruhe dem Vortrag des Herrn, der uns führte, überhaupt nicht mehr folgen konnte.«

»Eben! Sie sagen es! Die Unruhe! Sie war absichtlich erzeugt! Und sie ging keineswegs nur von den Kindern aus. Man hat die armen Kleinen nur benutzt, um …«

»Und wenn die Kinder nicht dagewesen wären?«

»Dann wäre es irgendein Erwachsener gewesen, vielleicht Sie oder ich. Man hätte einen von uns im Gedränge scheinbar versehentlich gegen die Alarmanlage gedrückt. Der Effekt wäre der gleiche gewesen.«

»Aber das bedeutet ja, daß der Komplize noch unter uns ist!« rief eine Frau aufgeregt, die sich bisher am Gespräch nicht beteiligt hatte.

In der Halle war es plötzlich still. Tina und Tini sahen sich an.

Draußen fuhr ein weiteres Auto vor, gleich darauf betraten ein paar Beamte in Zivil die Halle. Sie verständigten sich kurz untereinander, dann entfernten sie sich in alle Richtungen, nur einer blieb zurück und zog Gretchen zur Seite. Tina und Tini konnten nicht verstehen, was die beiden miteinander sprachen, aber dann ging Gretchen zur Kasse und nahm ihren Block heraus.

»Siebenundsechzig«, sagte sie, »darunter acht Kinder.«

»Und Sie sind sicher, daß keiner von denen bisher das Haus verlassen hat?«

»Ganz sicher«, antwortete Gretchen fest. »Als die Sirene losging, habe ich sofort abgeschlossen. Da war gerade erst die japanische Gruppe durch, alle anderen befanden sich noch bei der Führung.«

»Gut. Wenn also einer — oder mehrere — durchs Fenster des Münzkabinetts entflohen sind, dann müßten wir das durch Abzählen der Besucher feststellen können. Warum sind eigentlich die Fenster dort nicht vergittert?«

»Sie sind es — nachts«, berichtete Gretchen. »Das Amt für Denkmalspflege wollte nicht, daß das äußere Bild des Schlosses durch Anbringen von Gittern verändert würde. Also hat man in der Mauer eiserne Rolläden installiert, die nachts heruntergelassen werden.«

»Offensichtlich hat man zu großes Vertrauen in die Alarmanlage gesetzt«, brummte der Beamte kopfschüttelnd. »Und kein Mensch ist auf die Idee gekommen, einen Blick aus dem Fenster zu werfen? Niemand hat den Dieb weglaufen gesehen?«

Er wandte sich den Besuchern zu.

»Nun, das werden wir im einzelnen klären. Ich werde Sie jetzt nacheinander nach Ihren Beobachtungen fragen. Gibt es hier einen Raum, in dem ich mich mit den Leuten ungestört unterhalten kann?«

»Hier nebenan«, sagte Tina, ehe Gretchen antworten konnte. »Da heben wir die Stühle für Veranstaltungen auf, und ein Tisch ist auch drin, an dem Sie schreiben können.«

»Gut. Wer seid ihr übrigens?«

»Tina und Tobbi Greiling — und meine Freundin Tini Paulsen. Wir helfen hier in den Ferien aus. Postkarten und Poster verkaufen und den ganzen Kram. Mein Vater ist ein Freund von Professor Willner.«

»Ich verstehe. Schön, dann fangen wir mal mit den Herrschaften aus Japan an. Wer von Ihnen kann dolmetschen?«

»Ich, bin der Leiter der Gruppe.« Ein älterer Japaner mit einer dicken, randlosen Brille schob sich höflich nach vorne.

»Gut, dann seien Sie so freundlich und bitten Ihre Landsleute einen nach dem anderen zu mir herein. Aus wievielen Personen besteht ihre Gruppe?«

»Sechzehn Personen.«

»Mit Ihnen?«

»Ja, ja.« Der Japaner nickte eifrig.

Der Beamte winkte den ältesten aus der Gruppe zu sich, und die drei verschwanden im Nebenzimmer.

»So was habe ich bisher nur im Kino gesehen«, sagte Tini, »ein Polizeiverhör in einem Schloß, aus dem gerade ein wertvoller Schatz geraubt wurde! Irre!«

Peter Kellner kam aus dem Saal, immer noch leicht verstört und blaß.

»Haben Sie Willner schon verständigt?« fragte er Gretchen.

»Das hätte ich, wenn ich wüßte wo! Er ist zu Besorgungen in der Stadt und …«

»Rufen Sie alle Läden an, in denen er für gewöhnlich einkauft, die Galerien, die Großhändler, bei denen er seine Bestellungen aufgibt. Vielleicht haben wir Glück.«

Tina pirschte sich an die beiden heran.

»Hat man schon irgend was festgestellt?« erkundigte sie sich vorsichtig.

»Nur soviel, daß die wertvollsten Stücke fehlen, die Alexander-Maria-Sebastianus-Dukaten«, sagte Kellner bitter. »Der Dieb hat verdammt gut Bescheid gewußt. Man hat Spuren unter dem Fenster gefunden, aus dem er geflohen ist, die Polizei untersucht sie gerade. Außerdem sind sie dabei, das Haus nach dem Komplizen durchzukämmen, denn daß er einen gehabt haben muß, das scheint festzustehen. Das Zusammentreffen des Alarms mit dem Diebstahl kann kein Zufall gewesen sein, da sind wir ziemlich sicher.«

»Vielleicht ist der Alarm gar nicht durch den Jungen ausgelöst worden, sondern durch das Zerschlagen der Vitrine!«

Jetzt trat Tini zu der Gruppe.

»Das wollte ich gerade sagen! Möglicherweise haben alle nur gedacht, der Junge wäre an das Bild gestoßen!«

»Nein, nein, das auf keinen Fall«, widersprach Peter Kellner. »Das Münzkabinett ist nämlich ständig von einem der Aufseher bewacht. Und der ist aus dem Raum gestürzt, als der Alarm losging, um zu sehen, was passiert war.«

»Also hat der Dieb nur auf diesen Augenblick gewartet, in dem der Aufseher das Zimmer verließ. Ganz schön raffiniert!«

Tina sah sich vorsichtig nach den wartenden Besuchern um. War der Komplize des Diebes noch unter ihnen? Hinter welchem dieser harmlosen Gesichter verbarg sich der gerissene Verbrecher?

Inzwischen hatten die Polizeibeamten alle Besucher mitsamt den übrigen Insassen des Hauses in der Halle versammelt und die Besucher mehrfach abgezählt.

»Fünfundsechzig, es bleibt dabei«, sagte einer, »und die Aufseher. Kommen dazu die Kassiererin, die drei Jugendlichen vom Verkaufsstand und Herr Kellner.«

»Haben Sie in den Toiletten nachgesehen, Mayer?«

»Selbstverständlich, Herr Inspektor, wir haben das Schloß vom Keller bis zum Dach durchsucht. Uns wäre keine Maus entgangen.«

»Wieviel Ausgänge hat der Laden hier?« fragte der Inspektor mißmutig. Er hätte heute seinen freien Tag gehabt.

»Drei, Herr Inspektor. Aber zwei davon waren von innen abgeschlossen und zusätzlich verriegelt.«

»Und Sie sind sicher, daß niemand durch die Vordertür das Haus verlassen hat?« wandte sich der Inspektor an Gretchen.

»Ganz sicher.«

»Merkwürdig. Der Mann kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!«

»Sagten Sie nicht, er sei durchs Fenster entkommen?« fragte Gretchen. »Ich hörte, daß …«

»Einer, ja, das steht fest — von einem Mann haben wir Spuren unter dem Fenster gefunden. Aber wo ist der Komplize geblieben? Gibt es hier Geheimgänge oder versteckte Türen?«

»Davon habe ich noch nie etwas gehört. Genau wird Ihnen das allerdings nur Professor Willner sagen können, er besitzt die Baupläne des Schlosses und hat auch den Umbau überwacht. Wir erwarten ihn heute nachmittag zurück.«

»Ich weiß, ich weiß. Wie weit sind Sie mit der Zeugenvernahme, Hörmann?«

»Mit den Japanern sind wir fertig. Ingert spricht gerade mit den Damen aus USA.«

»Gut, dann lassen Sie die Touristen aus Japan gehen.« Der Inspektor wandte sich wieder den in der Halle wartenden Besuchern zu. »Von Ihnen, meine Herrschaften, möchte ich gern wissen: wer hat sich bei der Gruppe befunden, die mit Herrn Kellner in derGalerie war, als der Alarm ausgelöst wurde?«

Drei Dutzend Hände erhoben sich.

»Die anderen waren in der Gruppe der Japaner, wie ich gehört habe. Ist das richtig?«

»Ja!«

»Stimmt.«

»Wir waren gerade mit der Führung fertig und sahen uns noch ein bißchen um.«

»Schön, dann bitte ich jetzt alle, die bei Herrn Kellner waren, sich in einem Halbkreis aufzustellen. Bitte schauen Sie ihre Gruppe jetzt sehr genau an. Jeden einzelnen. Und überlegen Sie, ob Sie sich an jemanden erinnern, der jetzt nicht hier ist, den sie aber vorhin bei der Gruppe gesehen haben. Zwei Leute, die jetzt nicht mehr dabei sind, die aber vorhin bei ihrer Gruppe gewesen sein müssen!« wiederholte der Inspektor eindringlich. »Oder doch mindestens einer, der, der den Jungen an die Alarmanlage gestoßen hat.«

Die Besucher musterten sich angestrengt, es sah aus, als spielten sie ein Gesellschaftsspiel, am liebsten hätte Tina laut gelacht.

»Ich weiß, wer mich geschubst hat!« rief plötzlich der Junge.

»Ja?« Der Inspektor trat gespannt auf ihn zu, »Wer? Erzähl!«

»Der Toni war’s!« Damit zeigte er auf seinen jüngeren Bruder.

Der Inspektor seufzte hörbar.

»Stimmt überhaupt nicht! Du lügst, ich war’s nicht!«

»Kann mir sonst jemand von Ihnen etwas dazu sagen, können Sie sich an jemanden erinnern, der jetzt nicht hier ist?«

Die Besucher zuckten mit den Achseln oder schüttelten stumm den Kopf.

»Nun ja, wir… wir werden Sie dann jetzt einzeln vernehmen.«

»Können Sie uns nicht zuerst drannehmen, Herr Inspektor?« schob sich die Dicke näher. »Die Kinder werden unruhig, sie haben Hunger, und der Kleine braucht seinen Mittagsschlaf, er quengelt schon die ganze Zeit!«

»Mir soll’s recht sein, kommen Sie rein. Aber einzeln, bitte.«

Die Dicke warf ihrem Mann einen triumphierenden Blick zu und schritt hocherhobenen Hauptes ins Nebenzimmer, den Jüngsten an der Hand. Die übrigen Besucher warfen sich erleichterte Blicke zu.

Orakel um Mitternacht

Drei Stunden später fuhr Peter Kellner Tina, Tini und Tobbi nach Hause. Keiner sprach ein Wort. Das stundenlange Warten auf das polizeiliche Verhör hatte sie erschöpft, außerdem kreisten die Gedanken ständig um die Geschehnisse des Vormittags.

»Ich rufe euch dann an, wenn ich weiß, ob wir morgen wieder öffnen können oder nicht«, sagte Kellner, als sie ausstiegen. »Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis die mit ihren Ermittlungen fertig sind.«

»Okay.«

»Wiedersehen, und vielen Dank fürs Mitnehmen!«

Schweigend stolperten sie ins Haus.

»Nanu, so spät? Wart ihr zu Mittag eingeladen?« rief Vater Greiling aus dem Wohnzimmer. »Warum habt ihr nicht angerufen, Mutti war schon ärgerlich, daß ihr sie mit dem Essen habt sitzenlassen.«

»Entschuldigt, aber das Telefon war pausenlos belegt. Gibt’s noch was? Wir sterben vor Hunger!« rief Tina und ließ sich neben ihrem Vater aufs Sofa fallen. »Wenn du wüßtest, was heute passiert ist!«

»Ist Mutti schon in der Praxis?« Tobbi steckte den Kopf ins Zimmer. »Mist! Hoffentlich habt ihr uns was übriggelassen!«

»Was ist denn los mit euch? Ihr seht ja ganz verstört aus!«

»Erzählen wir gleich. Zuerst müssen wir uns was zu essen holen«, wehrte Tina ab und ging in die Küche hinüber. »Komm, Tini, hilf mir.«

»Zwei Leute in der Küche sind genug«, stellte Tobbi fest und verdrückte sich. »Dann werde ich inzwischen Bericht erstatten.«

Während Tobbi seinem Vater in allen Farben die aufregenden Ereignisse des Vormittags ausmalte, wärmten Tina und Tini Hackbraten, Kartoffeln und Gemüse auf und kamen bald darauf mit einem vollbeladenen Tablett ins Wohnzimmer.

Tina verteilte die Teller auf dem Wohnzimmertisch. »Nun, was sagst du zu unserem neuesten Abenteuer, Vati?«

»Wirklich eine unglaubliche Geschichte. Ich bin nur froh, daß in diesem Fall mehrere Polizisten mit dem Diebstahl beschäftigt sind und ihr euch nicht wieder als Privatdetektive betätigen müßt.«

»Nein, von müssen kann keine Rede sein«, sagte Tobbi und warf den beiden Mädchen einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Und hoffentlich auch nicht wollt«, fügte Greiling schnell hinzu. »Ich muß sagen, ruhige, ungestörte Ferien wären mir lieber!«

»Die sollst du auch haben, Vati!« beeilte sich Tina zu sagen. »Sicher hat die Polizei die Diebe in vierundzwanzig Stunden gestellt.«

»Eben. Und wir können inzwischen vergnügt Silvester feiern. Ich habe nämlich eine Überraschung für euch. Wir sind zu einer großen Silvester-Party eingeladen. Bei einer eurer Freundinnen.«

»Einer unserer Freundinnen?« wiederholte Tina fragend. »Vielleicht bei Frau Neumann drüben?«

»Die wird auch dabei sein. Nein, es handelt sich um jemand anderen. Ratet weiter!«

»Dann kann es nur Frau Hofer sein!« platzte Tini heraus. »Stimmt’s?«

»Stimmt genau. Da Ilse Neumanns Kinder wieder abgefahren sind, hat Frau Hofer ihre Freundin zu sich eingeladen, und damit es nicht so ein ›alte-Damen-Abend‹ wird, wie sie sich ausdrückte, hat sie uns und noch ein paar gute Freunde zu einem Abendessen mit musikalischer Umrahmung eingeladen. Sie hat euch übrigens ausrichten lassen, ihr möchtet euch auch etwas zu unserer Unterhaltung ausdenken. Vielleicht ein paar Spiele … nun, euch wird schon was einfallen.«

Lisa Hofer war früher einmal eine berühmte Sängerin gewesen. Jetzt bewohnte sie das obere Stockwerk der Nachbarvilla, die ihrer Freundin Ilse Neumann gehörte. Tina, Tini und Tobbi waren mit den beiden befreundet und besuchten sie, so oft sie in den Ferien Zeit hatten. Die alten Freundinnen ergänzten sich großartig, die stille, zarte Ilse Neumann war die ideale Partnerin für die temperamentvolle, kräftige Sängerin, die auf ihre Umwelt wie ein wandelndes Feuerwerk wirken konnte.

»Das wird bestimmt eine tolle Party!« freute sich Tina. »Nirgendwo gibt es so viel zu lachen, wie bei Frau Hofer, wenn sie Geschichten aus ihren Theaterjahren erzählt!«

»Und zu essen gibt es sicher auch wieder die tollsten Sachen«, fügte Tobbi hinzu. »Wenn die beiden gemeinsam in der Küche werkeln, dann stellen sie die berühmtesten Köche in den Schatten!«

»Da hast du recht«, sagte Vater Greiling lachend. »Dann überlegt euch mal, was ihr zu dem großen Fest beisteuern könnt. Ich lege mich jetzt ein wenig hin, meine Hilfe braucht ihr ja sicher nicht.«

»Habt ihr es gehört«, sagte Tina langsam, als Greiling das Zimmer verlassen hatte. »Wir müssen uns diesmal nicht als Privatdetektive betätigen…«

»Aber wir möchten es gern. Oder nicht?« Tini grinste. »Nun, wir werden sehen. Vorerst sollten wir uns nichts anmerken lassen.«

»Das klingt,als hättest du schon eine Idee«, meinte Tobbi. »Oder etwa eine heiße Spur?«

»Weder noch«, antwortete Tini bedauernd. »Dabei denke ich die ganze Zeit an nichts anderes. Aber zunächst mal müssen wir Informationen sammeln. Was wissen wir denn schon? Während wir mit Händen und Füßen und Köpfen zugleich eine Wagenladung japanischer Touristen bedient haben, nutzt jemand den günstigen Augenblick des Alarms und räumt die Vitrine mit den wertvollsten Münzen aus. Beim Durchzählen der Besucher fehlen zwei, aber niemand kann sich an ihre Gesichter erinnern…«

»Da sieht man mal wieder, wie selbstsüchtig die Menschen sind. Keiner interessiert sich für seinen lieben Nächsten«, brummte Tobbi. »Wahrscheinlich waren sie so betont unauffällig, daß man sie selbst nach genauer Betrachtung gleich wieder vergessen hätte.«

»Zumal die Japaner, die Amerikanerinnen und unsere kinderreiche Familie genug Augenweide waren«, fügte Tina hinzu.

»Eben.«

»Was wissen wir noch«, überlegte Tini. »Die polizeilichen Verhöre haben wir nicht mitbekommen. Wir haben nur gehört, daß einer der beiden Diebe durchs Fenster entkommen ist, während man den Fluchtweg des zweiten nicht kennt. Frage: gab es diesen Zweiten wirklich?«

»Muß es doch! Die verkauften Eintrittskarten, der absichtlich ausgelöste Alarm!« rief Tina. »Das sind doch Beweise genug!«

»Oder glaubst du, daß es sich tatsächlich nur um eine vom glücklichen Zufall diktierte Tat handelt?« fragte Tobbi.

»Ich weiß nicht. Ich stelle mir vor, Peter Kellner führt die Gruppe ins Münzkabinett, sagt sein Sprüchlein von dem Wert und der Seltenheit der Münzen, erklärt jede einzelne, einer der interessierten Besucher bleibt zurück, schaut verzückt in die Vitrine, der Aufseher hält ihn für einen Kenner, ein harmlosen stiller, gebildeter Mann, sicher hat er eine Brille aufgehabt und einen Hut, und als der Alarm losgeht, rennt der Wärter hinaus, und unser Freund sieht die Chance seines Lebens vor sich.«

»Ich weiß nicht.« Tobbi zog zweifelnd die Stirn in Falten. »Dann hätte sich doch der Wärter an den Mann erinnern müssen!«

»Vielleicht hat er das? Wir kennen doch die Protokolle der Polizei nicht!« sagte Tini. »Aber du hast recht. Es klingt sehr unwahrscheinlich. Zumindest setzt es voraus, daß dieser ›interessierte Besucher‹ kein unbeschriebenes Blatt war, sondern ein erfahrener Dieb, der sich vielleicht nur mal informieren wollte — und dem unverhofft das Glück des Augenblicks zu Hilfe kam.«

»Trotzdem, Tini!« sagte Tina bestimmt. »Alles deutet darauf hin, daß es einen Komplizen gab — auch wenn er sich später scheinbar in Luft aufgelöst hat.«

»Okay. Wir schließen also die Möglichkeit, daß es ein Einzelner war, aus. Wenn der Alarm absichtlich ausgelöst wurde, war die Tat sorgfältig geplant, das steht fest. Wie kann man aber einen Raub in einem Museum sorgfältig planen, in dem man sich nicht auskennt? Antwort: der Dieb — oder beide —- müssen sich ausgekannt haben. Zweite Frage: wie kann man sich in einem Museum gut auskennen, das erst vor wenigen Tagen eröffnet werden ist? Antwort…«

»Man muß schon vorher drin gewesen sein«, fiel Tina der Freundin ins Wort.

»Oder man hat einen guten Freund im Museum, der einem die nötigen Informationen zuspielt«, fügte Tobbi hinzu.

»Zum Beispiel einen der Wärter.«

»Der Wärter! Natürlich! So muß es gewesen sein! Er hat den Dieb begünstigt«, rief Tina aufgeregt. »Vielleicht hat er ihm sogar geholfen, aus dem Fenster zu kommen! Dann ist er in den Saal zu den anderen gelaufen, keiner konnte ihm etwas nachweisen!«

»Selbst wenn seine Fingerabdrücke auf der Vitrine und auf dem Fenstergriff sind, ist doch nur natürlich, kein Mensch würde etwas Verdächtigtes daran finden!«

»Nun, so weit ist die Polizei sicher auch schon«, meinte Tobbi seufzend. »Und sie haben uns eins voraus: sie brauchen nur einen Blick in ihre Kartei zu werfen, um festzustellen, ob der Wärter eine weiße Weste hat oder nicht. Sie werden sein ganzen Leben durchleuchten und ihn beschatten, so lange noch der kleinste Verdacht gegen ihn besteht. Da gibt es für uns überhaupt nichts zu tun.«

»Leider!« seufzte Tina.

»Ja, leider. Überhaupt nichts«, murmelte Tini. »Ich möchte zu gern wissen, ob sie schon etwas gefunden haben.«

»Heute abend rufen wir den Professor an. Dann wird er den Schock schon ein bißchen überwunden haben und uns nicht böse sein, wenn wir uns nach der Lage der Dinge erkundigen«, sagte Tina. »Schließlich gehören wir ja zu seinem Team.« ’

»Gut. Und jetzt laßt uns über Sylvester reden. Hat einer von euch schon eine Idee?« fragte Tobbi. »Wie wär’s mit dem Schiffchen-Orakel?«

___________

Am nächsten Abend gegen sieben Uhr versammelte man sich in der Nachbarvilla. Die beiden alten Damen hatten den Treppenaufgang mit Papierblumen geschmückt, Luftschlangen hingen von Lampen und Decke. Das mit schweren Teppichen und wuchtigen Möbeln eingerichtete Wohnzimmer Lisa Hofers glänzte im Licht Dutzender von Kerzen, die auf fünfarmigen silbernen Leuchtern Tische, Kommoden und den Flügel schmückten. Frau Hofer liebte prächtige Dekorationen und man kam sich in ihrer Wohnung immer ein wenig vor, als stünde man auf einer Opernbühne.

Lisa Hofer, in ein weites, schimmerndes Gewand aus burgunderrotem Taft gehüllt, das üppige Dekolleté mit etlichen Reihen Perlen geschmückt, begrüßte die Gäste wie lange verschollen geglaubte Kinder. Der Taft raschelte und rauschte, wenn sie einen an sich drückte, der Duft eines exotischen Parfüms nahm einem den Atem, Lisa Hofer schlug wie ein wild bewegtes Meer über einem zusammen. So jedenfalls empfanden es Tina und Tini.

Wirkte Lisa Hofer wie eine Meeresflut, so erinnerte Ilse Neumann neben ihr allenfalls an einen leise fächelnden Abendwind. Das feine Gesicht mit den vielen Lachfältchen, die sorgfältig aufgesteckte Frisur, das strenge, zartgraue Samtkleid mit ein paar verspielten Rüschen daran, die ruhigen Bewegungen und ihre leise, warme Stimme machten, daß man sich in ihrer Nähe sofort wohl fühlte.

»Meine Lieben! Wie schön, daß ihr alle bei mir seid!« schallte Lisa Hofers Opernstimme durch den Raum. »Tobbi, du verwaltest heute abend die Bar! Walte deines Amtes, dort drüben auf dem Tisch steht alles bereit. Und euch, meine Freunde, darf ich zum Essen bitten. Wir haben drüben im Speisezimmer ein kleines Essen aufgebaut, dort soll sich jeder selbst bedienen!«

»Kleines Essen ist gut!« flüsterte Tina. »Hast du schon jemals so viele herrliche Sachen auf einem Haufen gesehen?«

»Wer soll das bloß alles essen?« seufzte Tini. »Ist es nicht schrecklich, daß man bei solchen Gelegenheiten immer so schnell satt ist?«

»Ich nicht«, sagte Tobbi, der in der einen Hand eine Flasche Weißwein, in der anderen eine Flasche Rotwein trug. »Was wünschen die Damen zu trinken?«

»Champagner bitte!« flötete Tina.

»Quatsch. Ihr kriegt erst mal Orangensaft, damit ihr keinen Schwips bekommt. Ich hole ihn gleich. Reserviert mir inzwischen ein Brüstchen.«

»Wie bitte?« prustete Tina heraus.

»Eins von den glasierten Fasanenbrüstchen dort, was denn sonst?«

»Ach so.«

»Leute!« sagte Tobbi verächtlich und goß sich ein Glas Rotwein ein.

Die lebhaften Gespräche verstummten allmählich und machten dem Klappern der Teller und Bestecke Platz. Nur, entzückte Ausrufe waren hin und wieder zu hören. »Nein, dieser Salat ist einfach himmlisch« und »noch nie habe ich so einen zarten Rehrücken gegessen!«. »Diese Forellenfilets sind ein Gedicht, Liebste, du solltest ein Restaurant eröffnen!«, »ein Traum, diese Lachscreme, Sie müssen mir unbedingt das Rezept geben!«

Lisa Hofer strahlte und ermunterte immer wieder zum Essen. Tina, Tini und Tobbi ließen sich das nicht zweimal sagen, sie schmausten, als hätten sie eine Ozeanüberquerung auf einem Floß vor sich, mit der Aussicht, drei Wochen nur von trockenem Zwieback zu leben.

Erstaunlich, daß nach einem so üppigen Festmahl die Gastgeberin ohne ein Anzeichen von Erschöpfung am Klavier Platz nahm und für ihre Gäste ein kleines Privatkonzert gab. Die Gäste selbst hingen mehr oder weniger erschlafft in ihren Sesseln und waren froh, daß von ihnen außer einem interessierten Gesichtsausdruck im Augenblick nichts erwartet wurde.

Ilse Neumann brachte Kaffee, und dann begann der lustige Teil des Abends. Tina, Tini und Tobbi hatten sich ein paar Gesellschaftsspiele zurechtgelegt, von denen das Schiffchenorakel besonderen Anklang fand. In eine Schüssel mit Wasser wurde ein Schiffchen aus einer halben Nußschale gesetzt, in dem ein Kerzenstummel brannte. Rund um den Rand der Schüssel hingen schmale Streifen Papier, auf denen geheimnisvolle Sprüche standen.

»Jeder von euch darf nun einmal das Schiffchen in der Mitte aufs Wasser setzen«, erklärte Tina. »Das Schiffchen wird zu eurem Orakel schwimmen und den für euch zutreffenden Zettel anbrennen. Sobald er zu brennen anfängt, nehmt ihr ihn schnell heraus, löscht die Flamme und lest ihn. Es ist eine wichtige Voraussage für das kommende Jahr!«

»Frau Hofer beginnt!« rief Tini.

Die Sängerin ergriff mit großer Gebärde das Schiffchen und setzte es aufs Wasser. Es schwankte heftig und setzte sich sofort schaukelnd in Bewegung. Eine Weile schwamm es scheinbar unschlüssig zwischen zwei der Papierstreifen hin und her, dann näherte es sich rasch dem linken, und die Flamme züngelte hoch.

»Schnell!« riefen Tina und Tini zugleich.

Lisa Hofer blies so heftig auf das Flämmchen, daß zwei Kerzen des Tischleuchters ebenfalls erloschen. Dann hielt sie den Zettel ans Licht.

»Hüte dich, daß dir nicht die Luft ausgeht!« las sie vor und erntete schallendes Gelächter.

Einer nach dem anderen kam nun an die Reihe und las unter allgemeiner Anteilnahme den mehr oder weniger passenden Spruch vor.

Schließlich war Tina dran. Nur noch wenige Zettel hingen am Rand der Schüssel, das Schiffchen schien ziellos von einer Seite zur anderen zu schwimmen. Die Zuschauer begannen, die Geduld zu verlieren und sich über andere Dinge zu unterhalten. Selbst Tinas Gedanken schweiften ab.

»Achtung Tina, paß auf!«

Da war es schon geschehen. Das Schiffchen hatte sich blitzschnell einem der Zettel genähert und es angezündet, es begann an zwei Stellen zugleich zu brennen. Tina griff es und pustete kräftig darauf, aber es war nur noch ein Teil der Schrift zu lesen.

»Zeig her!« sagte Lisa Hofer. »Dies ist ein besonders aufregendes Orakel, denn es sind nur noch sechs geheimnisvolle Wörter übrig. Hört her! Was haltet ihr davon: ›… du nicht erwartet hast… ist es…‹ Oder gehört es anders herum? Dieser Teil nach vorn? ›es ist… du nicht erwartet hast…‹ Nun, da bin ich wirklich gespannt, was das Orakel meint, liebe Tina. Es wird sich doch nicht einer in dich verlieben, von dem du es nicht erwartet hast?«

»Es ist gleich Mitternacht«, mahnte Tobbi. »Soll ich den Sekt einschenken?«

»Tu das, mein Junge. Und wir werden ein anderes Orakel vorbereiten — Bleigießen! Es war bei uns zu Hause Tradition, und ich mache es jedes Jahr zu Sylvester gegen Mitternacht. Wer will anfangen? Nein halt, jetzt beginnt Tini, sie ist beim Schiffchen-Orakel nicht drangekommen.«

»Ja, los Tini, wir wollen wissen, was dir die Zukunft bringt!« rief Herr Greiling. »Hier hast du den Kasten mit Bleifiguren, such dir eine aus.«

»Ich nehme das Hufeisen!«

Tini legte die Bleifigur auf den dazugehörigen Löffel und hielt ihn über die Kerze, die Frau Hofer neben die Wasserschüssel gestellt hatte. Eine Weile geschah scheinbar nichts, aber ganz plötzlich gab das Hufeisen an einer Ecke nach, wurde flüssig, und gleich darauf war es ganz geschmolzen. Tini hob den Löffel über die Schüssel mit Wasser und kippte ihn blitzschnell um. Es gab ein von Zischen begleitetes, dumpfes »Plopp!«, dann lag ein runder, schwärzlicher Gegenstand am Boden der Schüssel. Tini hob ihn vorsichtig heraus.

»Was soll denn das sein? Sieht aus wie ein verschrumpelter Knopf! Tini, du wirst im kommenden Jahr viele Knöpfe annähen müssen!« meinte Frau Greiling lachend. »Dreh es mal um, vielleicht verrät uns die andere Seite mehr!«

»Sieht aus wie ein Gesicht«, sagte Tina nachdenklich. »Ein Gesicht mit dicken Backen. Komisch.«

»Mitternacht, meine Freunde! Prost Neujahr!« rief Lisa Hofer. »Viel Glück im neuen Jahr wünsche ich euch! Und nun laßt uns die Balkontür öffnen, wir wollen die Glocken hören und das Feuerwerk über dem Dorf sehen!«

Spuren im Schnee

»Immer noch keine Neuigkeiten aus dem Schloß?« fragte Vater Greiling am nächsten Morgen beim Frühstück.

»Nein, es ist zum Verrücktwerden!« seufzte Tina. »Vorgestern abend haben wir Herrn Kellner angerufen, da hat er uns abgewimmelt. Professor Willner war gerade nach Hause gekommen, und vermutlich herrschte dicke Luft. Er sagte nur, er würde sich melden. Seither nichts mehr, absolute Funkstille, Totenstille.«

»Und das macht euch vermutlich ganz kribbelig«, meinte Greiling und blickte lachend von einem zum anderen.

»Das kannst du wohl sagen! Schließlich möchte man informiert sein, was im eigenen Laden los ist. Wir gehören doch dazu, zu seiner Museumsmannschaft«, sagte Tobbi ärgerlich.

»Gewissermaßen jedenfalls.«

»Was haltet ihr davon, wenn wir drüben mal vorbeifahren, um ein gutes neues Jahr zu wünschen?« schlug Greiling mit gleichmütiger Miene vor. »Der gute Willner kann sicher ein wenig freundschaftlichen Zuspruch gebrauchen. Wir nehmen eine Flasche Sekt mit und …«

»Vati, du bist Klasse! Das ist die Idee!« Tina sprang wie elektrisiert auf.

»Ja wirklich, Vati! Du bist toll!« Auch Tobbi strahlte. »Nun werden wir doch endlich erfahren, was eigentlich los ist drüben!«

Tina und Tini begannen eilig das Frühstücksgeschirr zusammenzuräumen.

Herr Greiling seufzte. »Hab ich es doch befürchtet: aus ist es mit der Ruhe. Na schön, räumt ihr die Küche auf und macht euch fertig. Abfahrt in einer halben Stunde. Ich sage Mutti Bescheid. Wo steckt sie überhaupt?«

»Drüben in deinem Arbeitszimmer. Sie wollte einen Brief an die Großeltern schreiben.«

»Dann wird sie sicher froh sein, wenn wir sie in Ruhe lassen«, sagte Tobbi. »Zum Mittagessen sind wir wieder zurück.«

Eine Dreiviertelstunde später bogen sie in die Einfahrt zum Schloß Mönchsbuchen ein. Der Parkplatz lag verlassen da, weit und breit war eine Menschenseele zu sehen.

»Ein ungewohnter Anblick, wenn man an den Rummel der letzten Tage denkt«, meinte Tini. »Hoffentlich ist der Professor überhaupt zu Hause.«

»Das werden wir gleich wissen.«

Herr Greiling ging auf das Portal zu und zog an dem altmodischen Klingelzug. Ein schriller Ton hallte durchs Haus. Über ihnen wurde ein Fenster geöffnet.

»Hallo? Wer ist da?«

»Es ist der Professor«, sagte Tobbi, und Herr Greiling trat zurück und winkte hinauf.

»Besuch für dich! Wir wollten nur schnell ein gutes neues Jahr wünschen!«

»Moment, ich komme!«

Es dauerte eine Weile, bis sie seine Schritte in der Halle hörten, dann wurde das Portal geöffnet.

»Das ist eine nette Überraschung! Ich kann eine kleine Aufmunterung brauchen«, sagte Professor Willner. Er war blaß, um seine Augen lagen dunkle Ringe. »Ich habe kaum geschlafen die letzten Nächte«, sagte er wie zur Erklärung. »Diese Sache da geht mir mächtig an die Nieren.«

»Gibt’s schon irgendwelche Neuigkeiten?« platzte Tina heraus.

»Nein, das ist ja das Schlimme. Die Polizei hat alles auf den Kopf gestellt, sämtliche Besucher verhört, das Leben unserer Angestellten bis in den letzten Winkel durchleuchtet — alles vergeblich! Der Diebstahl bleibt ein Rätsel.«

Sie waren die Treppen hinaufgestiegen und in der Wohnung des Professors angekommen. Willner machte eine Handbewegung zu einer behaglichen Wohnküche hin.

»Wollt ihr einen Augenblick dort warten? Ich habe noch einen Besucher, den ich erst verabschieden muß. Fühlt euch inzwischen wie zu Hause, bedient euch —- ihr werdet genug zu trinken und zu essen finden.«

»Aber ich bitte dich, wir haben gerade gefrühstückt! Laß dir ruhig Zeit, wir werden hier auf dich warten. Es wird uns sicher an nichts fehlen«, beruhigte Herr Greiling seinen Freund.

»Er sieht wirklich total geschafft aus«, sagte Tobbi leise, als der Professor die Küche verlassen hatte. »Ein solcher Reinfall aber auch — wenige Tage nach der erfolgreichen Eröffnung!«

»Er tut mir so leid!« Tini sah nachdenklich hinter dem Professor her. »Ich würde ihm so gern helfen!«

»Nun, wenn nicht mal die Polizei etwas herausbekommen hat, wie solltet ihr ihm da helfen können?« meinte Herr Greiling. »Ist wohl auch besser so.«

Tina und Tini sahen sich an. Der Meinung waren sie ganz und gar nicht, aber sie hüteten sich, das auszusprechen. Plötzlich spitzte Tini die Ohren. Sie hatte etwas gehört, das den anderen bisher offenbar entgangen war.

Sie murmelte etwas Unverständliches und verließ die Küche.

An der Tür des Badezimmers machte sie halt. Sie drückte leise die Klinke hinunter und öffnete die Tür einen Spalt weit, so konnte sie jederzeit den Eindruck erwecken, sie wäre gerade aus dem Bad gekommen. Tini lauschte. Aus dem Wohnzimmer drangen erregte Stimmen.

»Das ist völlig unmöglich!« hörte Tini den Professor ärgerlich sagen. »Ich habe alle Schlösser auswechseln lassen, als der Umbau fertig war. Die besten Sicherheitsschlösser, die wir finden konnten! Unmöglich, sie mit einem Nachschlüssel zu öffnen!«

»Offensichtlich sind sie nicht sicher genug! Wo heben Sie sie denn auf, diese Schlüssel? Vermutlich hat man Ihnen einen davon gestohlen!«

Das war die Stimme des alten Grafen. Tini erinnerte sich genau an seine Stimme.

»Sie haben unverantwortlich gehandelt! Unverantwortlich! Läßt sich die wertvollsten Stücke der ganzen Sammlung klauen, am hellichten Tag! Keine Sekunde hätten Sie sie aus den Augen lassen dürfen! Einen bewaffneten Wärter daneben postieren mit der Anweisung, sich nicht von der Stelle zu rühren, nicht mal bei Alarm! Sind ja alles völlig unfähige Leute, die Sie da engagiert haben!«

Armer Professor, dachte Tini. Nicht genug, daß er den Arger wegen des Diebstahls hat, er muß sich von dem alten Giftzwerg auch noch abkanzeln lassen wie ein Schuljunge!

»Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, was das bedeutet? Ein unersetzbarer Verlust! Diese Stücke sind nicht wieder zu beschaffen! Sie waren einmalig. Einmalig!«

»Ich weiß«, sagte der Professor müde.

»Und das berührt Sie gar nicht? Das läßt Sie völlig kalt, wie?«

»Es läßt mich alles andere als kalt, lieber Graf!« antwortete der Professor mit einer Spur von Schärfe. »Aber ich kann die Münzen nicht wieder herbeizaubern! Es wird von uns und von der Polizei alles getan, um den Diebstahl aufzuklären und die Goldstücke zurückzubekommen. Aber Sie müssen uns schon etwas Zeit geben!«

»Zeit geben, Zeit geben, inzwischen sind die Diebe mit ihrer Beute längst im Ausland«, sagte der Graf. »Und wie gedenken Sie sich gegen künftige Einbrüche zu sichern?«

»Wir werden zusätzlich zwei Wärter einstellen und sie speziell für ihre Aufgabe schulen. Im übrigen werden wir uns genauso schützen wie bisher.«

»Wie bisher… wie bisher! Wo haben Sie denn Ihre fabelhaften Sicherheitsschlüssel? In der Tasche? Oder hier in Ihrem Schreibtisch, wo sich jeder bedienen kann?«

»In einem Schlüsselkasten, der seinerseits ein Sicherheitsschloß hat. Und diesen Schlüssel trage ich stets bei mir.«

»Und wo befindet sich dieser Schlüsselkasten?«

»Unten im Museum in meinem Büro.«

»Und wenn Sie nicht da sind?«

»Dann bekommt ihn Herr Kellner, mein Assistent. Er ist absolut zuverlässig und über jeden Zweifel erhaben, Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, Graf.«

»Und was ist mit der Alarmanlage«, bohrte der Graf weiter. »Die taugt doch nichts, oder? Wo befindet sie sich überhaupt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, die Stelle, wo man sie an- und abschaltet«, brummte der Graf ungeduldig. »Könnte doch sein, daß beim nächsten Einbruch sich jemand dran zu schaffen macht. Man muß alles in Erwägung ziehen, alles!«

»Der Schalter befindet sich ebenfalls in meinem Büro. Und ebenfalls in einem gesicherten Kasten«, sagte der Professor mit kaum verhohlenem Ärger. »Graf, es tut mir leid, aber drüben warten Gäste auf mich. Ich muß mich jetzt verabschieden.«

Tini schloß blitzschnell die Tür und lief in die Küche zurück. Sie zwinkerte Tina und Tobbi zu, keine Fragen zu stellen, und die beiden verstanden sofort. Kurz darauf betrat der Professor die Küche und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.

Vater Greiling öffnete die Sektflasche und schenkte die bereitgestellten Gläser voll, dann tranken sie auf das neue Jahr.

»Auf daß sich die Münzen wieder anfinden!« sagte Tobbi. »Und die Diebe geschnappt werden!«

»Ja, darauf wollen wir trinken!« rief Tina. »Um welche Münzen handelt es sich eigentlich?«

Professor Willner trank sein Glas aus und stellte es auf den Tisch zurück. Er atmete tief und lehnte sich zurück.

»Ja, das ist es gerade. Es sind nur sechs Münzen. Sechs kleine goldene Dinger — aber von großem Wert! Ich habe sie euch gezeigt, die Alexander-Maria-Sebastianus-Dukaten, eine Sonderprägung, von der es nur wenige Stücke gibt. Jemand hatte es ganz gezielt auf diese Dukaten abgesehen. Wer weiß, vielleicht hat er seit Jahren auf eine Chance gewartet, an sie heranzukommen.«

»Hatte der Graf sie denn so sicher verwahrt, daß sie nicht gestohlen werden konnten?« fragte Tini. »Mußte der Dieb wirklich erst warten, bis sie für die Öffentlichkeit in einer Vitrine mit einer komplizierten Alarmanlage zur Besichtigung auslagen, um an sie heranzukommen?«

»Der Graf verwahrte seine Münzsammlung in einem normalen Tresor unten in der Bibliothek. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der sicherer gewesen sein soll als unsere Alarmanlage«, bemerkte der Professor bitter. »Wir haben eben Pech gehabt.«

»Gibt es eigentlich noch mehr so einmalige Stücke in der Sammlung?« erkundigte sich Greiling. »Die ebenso gefährdet sind, um es mal so auszudrücken?«

»Du sprichst das aus, was mich in diesen Tagen am meisten beschäftigt. Ja, es gibt noch ein paar solche Stücke. Und ich überlege mir, ob ich sie nicht aus der Sammlung herausnehmen und in einem Banksafe deponieren soll, bis der Diebstahl aufgeklärt ist. Andererseits sind es gerade diese Münzen, die das Publikum anziehen.«

»Und wenn man Duplikate herstellt und statt der echten Münzen in die Vitrinen legt?«

»Auch darüber denke ich nach.«

Greiling schenkte noch einmal ein, und die Männer begannen über anderes zu reden. Tini zwinkerte den Freunden zu und deutete nach draußen.

»Wir wollten noch auf einen Sprung in den Park hinuntergehen«, sagte Tina, »zum Wildgehege. Ihr möchtet doch sicher noch ein bißchen ungestört sein, Vati, wir holen dich dann später hier ab.«

»Ist gut, geht nur, sonst langweilt ihr euch am Ende, da ihr meine Geschichten alle schon kennt«, sagte Vater Greiling lachend, »und verderbt mir meine Pointen!«

Tina, Tini und Tobbi nahmen ihre Mäntel und liefen die Wendeltreppe hinunter. Tobbi stemmte die schwere Eingangstür auf und ließ die Mädchen vorgehen. Als er sich umdrehte, um die Tür zu schließen, war ihm, als hätte sich hinter ihm ein Schatten bewegt.

»Ist da wer?« rief Tobbi ins Halbdunkel.

Alles blieb still.

»Nun komm schon, Tobbi, was ist denn?« drängte Tina.

»Ich dachte, ich hätte jemanden … na, war wohl nur Einbildung.«

Donnernd fiel hinter ihm die Tür ins Schloß. Tina hatte sich bei Tini eingehängt.

»Also? Was war denn los vorhin, warum warst du so lange weg?«

»Ich hörte streiten. Das hat mich neugierig gemacht«, berichtete Tini. »Ich weiß, das ist nicht gerade die feine englische Art, aber immerhin wollen wir einen Diebstahl aufklären.«

»Und?«

»Es war der Graf. Er war beim Professor und hat ihm fürchterliche Vorwürfe gemacht. Wie einen Schuljungen hat er ihn ausgefragt, ob auch alles abgesichert sei, wie er die Schlüssel verwahrt und was mit der Alarmanlage los ist.«

»Der tut wirklich, als ob er hier noch der Herr sei!« sagte Tobbi ärgerlich. »Dabei hat er doch überhaupt nichts mehr zu sagen! Warum mischt er sich ein?«

»Der Professor war auch ziemlich sauer, das hat man gemerkt, er konnte sich nur mühsam beherrschen. Er hat mir richtig leid getan.«

»Und warum wolltest du, daß wir jetzt in den Park gehen?« fragte Tina. »Glaubst du, daß wir noch irgendwelche Spuren finden, nachdem mehrere Polizisten da herumgetrampelt sind?«

»Nun, ansehen können wir es uns doch mal, oder? Selbst wenn wenig Aussicht besteht, etwas zu finden.«

Tina hatte recht, überall im Park waren die Fußabdrücke der Polizeibeamten zu sehen, jeden Baum, jeden Strauch hatten sie unter die Lupe genommen. In der dünnen Schneedecke gab es Hunderte von Fußspuren, die alle einander ähnlich waren, schwere Männerschuhe mit mehr oder weniger Profil, an denen absolut nichts Besonderes zu entdecken war.

»Schauen wir uns mal das Fluchtfenster an«, sagte Tini.

»Da werden wir genausowenig finden«, maulte Tobbi.

»Trotzdem.«

Die Stelle, an der der Dieb aus dem Fenster gesprungen war, war sorgfältig abgesteckt worden. Hier waren noch deutlich die Abdrücke zu erkennen, die der Fliehende hinterlassen hatte. Tini starrte die Stelle an, als könne sie aus dem zertretenen Schnee wie aus Kaffeesatz wahrsagen.

»Was ist los? Was bewegt deine kleinen grauen Zellen?« fragte Tobbi, der allmählich kalte Füße bekam.

»Ich denke nach.«

»Das sehe ich.«

»Ich versuche mir die Szene vorzustellen«, sagte Tini entschuldigend. Plötzlich bildete sich eine steile Falte auf ihrer Stirn. »Was für Wetter hatten wir an dem Tag, an dem der Diebstahl begangen wurde.«

»Mistwetter, wieso?« fragte Tina. »Es war naß, matschig und in der Nacht hatte es etwas geschneit.«

»Eben. Früh morgens hatte es zu schneien aufgehört, und nachmittags wurde es kalt. Seither herrscht trockenes Frostwetter.«

»Na und? Was soll das alles?« fragte Tobbi.

»Ich überlege mir nur, warum die Abdrücke des Diebes und die Abdrücke der Polizistenfüße alle gleich stark sind.«

»Wieso?«

»Sind sie doch, oder?«

»Na klar. Alles Abdrücke von Männerschuhen.«

»Von Männern, die alle so einigermaßen gleich groß und gleich schwer sind, meinst du?«

»Ist die Größe so wichtig?« fragte Tina kopfschüttelnd.

»Nein, aber das Gewicht.«

»Wieso das Gewicht? Na schön, sie waren alle ziemlich gleich groß und gleich schwer. Willst du daraus schließen, welche Größe und welches Gewicht der Dieb hatte? Okay, das gleiche, aber was nützt uns diese Erkenntnis?«

»Falsch. Er kann höchstens die Hälfte gewogen haben.«

»Warum denn das?« fragte Tobbi verständnislos.

Tini sah bedeutungsvoll von einem zum anderen. Einen Augenblick weidete sie sich noch an den ahnungslosen Gesichtern der Freunde. Dann platzte sie heraus: »Weil jemand vom gleichen Gewicht wie die Polizisten, der von einem mehr als zwei Meter hohen Fensterbrett springt, und das in ein vom Schneeregen aufgeweichtes Beet, viel tiefere Abdrücke hinterlassen würde als die Polizisten, die hier herumgegangen sind.«

»Superhirn hat wieder zugeschlagen!« stöhnte Tobbi.

»Und das sollten die Polizisten nicht gemerkt haben?« Tina schüttelte den Kopf. »Kaum vorstellbar. Aber wie ist es möglich, daß…«

»…daß der Dieb falsche Spuren hinterlassen hat? Ich wünschte, ich wüßte es!«

»Falsche Spuren«, murmelte Tobbi und starrte auf den Boden. »Falsche Spuren sind gleich gefälschte Spuren. Aber wie fälscht man Spuren?«

»Dahinter müssen wir jetzt kommen«, sagte Tini.

Tini geht ein Licht auf

Kaum waren sie wieder zu Hause, zogen sie sich zu einer geheimen Beratung zurück.

»Fangen wir bei den gefälschten Spuren an«, sagte Tina. »Wie sind sie entstanden? Hat er sich an einem Seil heruntergelassen?«

»Das hätte viel zu lange gedauert. Warum auch, wenn man springen konnte«, meinte Tobbi.

»Vielleicht handelt es sich um einen älteren Mann! Oder hat er eine Leiter benutzt?«

»Dann hätte man die Abdrücke der Leiter sehen müssen«, warf Tini ein. »Nein, nein, es gibt nur eine Erklärung…«

»Na?«

»Er ist gar nicht durch das Fenster entkommen. Er hat nur so getan als ob, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken!«

»Hm. Und kannst du mir vielleicht auch sagen, wie er seine Fährte angelegt hat?«

Tini stand auf und ging schweigend zur Tür. Dann bewegte sie sich langsam rückwärts auf das Fenster zu.

»Jetzt kapiere ich!« Tobbi schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Er ist rückwärts bis ans Fenster gegangen und in seinen eigenen Fußstapfen wieder vorwärts gelaufen!«

»Richtig. Da der Boden sehr weich war, konnte es nicht schwierig sein, die ersten Fußstapfen mit den zweiten zuzudecken.«

»Genau!« Tina bekam vor Aufregung Backen wie ein Weihnachtsapfel, so glühten sie. »Der Dieb wollte also die Polizei glauben machen, er sei durchs Fenster entkommen. In Wirklichkeit …«

»… in Wirklichkeit hatte er die Spuren schon vorher angelegt und hockte seelenruhig in einem Versteck im Schloß, zusammen mit seinem Komplizen. In einem Versteck, das so sicher war, daß es nicht einmal die Polizei finden konnte!«

»Moment mal.« Tobbi wurde blaß.

»Was ist?«

»Heute morgen… ich war ganz sicher, hinter mir wäre jemand in einen der dunklen Gänge gehuscht. Ich habe gerufen, aber nichts hat sich gerührt. Da glaubte ich, ich hätte mir das Ganze nur eingebildet.«

»Wenn es nun einen geheimen Eingang ins Schloß gibt, von dem nicht mal unser Professor etwas weiß?« überlegte Tina.

»Das glaube ich nicht. Dann hätten die Diebe doch nicht erst Eintrittskarten kaufen müssen, sondern hätten in aller Ruhe nachts ins Schloß spazieren können, um die Vitrine auszuräumen. Bis der Professor aus dem zweiten Stock unten angekommen wäre, hätten sie bereits über alle Berge sein können. Daß sie den Diebstahl am Tag begangen haben, beweist, daß es die einzige Möglichkeit war, an die Münzen heranzukommen«, sagte Tini.

»Na schön, aber du hast eins vergessen: ins Haus zu kommen ist nicht gleichbedeutend mit ›in das Münzkabinett kommen‹. Die Museumsräume sind nämlich extra abgesichert«, gab Tobbi zu bedenken. »Überleg doch mal: das große Hauptportal kannst du tagsüber jederzeit von innen öffnen, nur von außen nicht. Die Museumsräume aber sind mehrfach verschlossen, einmal durch Sicherheitsschlösser und dann zusätzlich durch eiserne Rolläden an Fenstern und Türen. Die sind so sicher wie ein Banktresor!«

»Stimmt. Die Diebe mußten also ein Versteck außerhalb der Museumsräume haben, von dem aus sie in einem günstigen Moment abbauen konnten. Und weiter?« fragte Tina.

»Weiter fällt mir nichts ein«, sagte Tini seufzend.

»Gut«, sagte Tobbi, »lassen wir das im Moment mal und rollen wir den Faden vom anderen Ende auf. Wer konnte an dem Diebstahl der Münzen interessiert sein?«

»Ein anderes Museum kommt nicht in Frage, man würde sofort Nachforschungen anstellen, wo sie die Dinger herbekommen haben«, meinte Tina. »Ein Händler? Dem wäre die Sache vermutlich auch zu heiß. Er müßte schon ziemlich weit vom Schuß sein, um nicht in Verdacht zu geraten. Bleibt nur …«

»… ein privater Liebhaber, ein Sammler, einer, der so auf Münzen spinnt wie unser Graf. Und von denen gibt es sicher einige!«

»Richtig, ein Sammler«, stellte Tini fest. »Nächste Frage: Würde er den Diebstahl selbst begehen? Nein, sicher nicht. Er würde sich für so ein schmutziges Geschäft ganz bestimmt einen Profi suchen, den er entsprechend gut bezahlt.«

»Klar. Nächste Frage. Wer konnte wissen, daß unsere Golddukaten neuerdings im Museum Mönchsbuchen zur Besichtigung ausgestellt sind?« fragte Tina.

»Da wird’s schon schwieriger.« Tobbi rich sich nachdenklich den Nasenrücken. »Ich würde sagen …«

»So was muß doch in der Fachpresse stehen!« fiel ihm Tini ins Wort. »Sicher haben die… diese Münzleute…«

»Numismatiker«, warf Tobbi ein und freute sich, daß er vor den Mädchen mit einem kürzlich gelernten Fachwort glänzen konnte.

»Also, diese Numismatiker müssen doch eine Fachzeitschrift haben, in der so eine Sensation allen Interessierten mitgeteilt wird!«

»Du wirst lachen, es hat auch in der Zeitung gestanden, ich habe die Besprechung gelesen.« Tina seufzte tief. »Da können wir ebensogut eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen, wenn wir rauskriegen wollen, wer sich alles für unsere Dukaten interessiert.«

»Wenn es nur in unserer Zeitung gestanden hat, wäre es gar nicht so schlimm«, widersprach Tobbi. »Aber eine Fachzeitschrift, die im In- und Ausland verbreitet ist…«

»Moment mal. Woher wollen wir wissen, daß es schon in einer Fachzeitschrift gestanden hat? Vielleicht berichtet man ja erst in der nächsten Ausgabe darüber?« warf Tini ein. »Das müssen wir rauskriegen. Am besten, wir fragen Kellner oder den Professor.«

»Machen wir. Laßt uns zusammenfassen, was wir bisher wissen«, sagte Tobbi. »Ein interessierter, skrupelloser Privatsammler erfährt, daß die Münzen aus dem bis dahin unerreichbaren Tresor des Grafen in eine Vitrine wandern, wo sie Museumsbesuchern zur Schau gestellt werden. Nachts ist an die Dinger nicht ranzukommen, weil die Räume zu gut abgesichert sind. Bleibt festzustellen: woher weiß er das? Weiter. Seine einzige Chance ist, die Dukaten am Tage klauen zu lassen. Er besorgt sich also einen Profi, der das für ihn erledigt. Der führt die Polizei an der Nase herum!«

»Der Diebstahl gelingt, die Dukaten verschwinden in einem Tresor, und nie wird jemand erfahren, wo sich dieser Tresor und damit die Golddukaten befinden. Amen«, sagte Tina und stöhnte auf. »Das perfekte Verbrechen.«

»Wißt ihr was?« Tini sprang auf und lief zum Fenster. »Mir ist da gerade ein Gedanke gekommen. Die Polizei … Profi… das paßt irgendwie nicht zusammen. Die Polizei wird doch als erstes alle ›Profis‹ wie du sagst, alle professionellen Diebe, die für so was in Frage kommen, überprüfen? Wenn sie nun aber nichts finden, ich meine, das könnte doch bedeuten, daß es sich nicht um einen Profi handelt!«

»Sondern ganz einfach um jemanden, der sich hier im Schloß besonders gut auskennt«, vollendete Tobbi den Satz. »Jemand, der bei den Vorbereitungen zur Eröffnung des Museums dabei war.«

»Eben. Und wer war dabei?«

»Nun, vor allem die Handwerker. Die Leute, die die Eisenrolläden und die Alarmanlage installiert haben. Die Maler und Elektriker und Dekorateure«, sagte Tini.

»Du lieber Himmel, und die sollen wir alle überprüfen?« jammerte Tina. »Das ist doch unmöglich.«

»Außerdem wird auch das sicher die Polizei besorgen«, gab Tobbi zu bedenken. »Soweit sind die sicher auch.«

»Genau. Sie werden sicher zwei, drei Tage dafür benötigt und diese Untersuchung inzwischen abgeschlossen haben. Wenn sie etwas entdeckt haben, werden wir es erfahren. Und wenn nicht…«

»Dann heißt das, daß wir woanders suchen müssen, klar!«

»Und wo?« fragte Tina ratlos.

Tini lächelte geheimnisvoll. Ihr war eben eine Erleuchtung gekommen. Tobbi entging es nicht.

»Unsere Tini hat plötzlich einen Gesichtsausdruck, den man schon fast als teuflisches Grinsen bezeichnen könnte! Was ist los, Tini?«

»Mir ist da jemand eingefallen, der ebenfalls genau Bescheid weiß. Vermutlich jedenfalls.«

»Wer?« fragten Tobbi und Tina atemlos. »Sag schon!«

»Der alte Graf.«

»Unmöglich! Genausogut könntest du den Professor selber verdächtigen, etwas damit zu tun zu haben!« sagte Tina entrüstet.

»Ich habe nicht gesagt, daß er etwas damit zu tun hat. Ich habe lediglich festgestellt, daß er sehr genau Bescheid weiß. Besser als jeder andere. Und ich behaupte, daß er auch weiterhin daran interessiert ist, alle nur möglichen Informationen zu sammeln. Warum schleicht er ständig durchs Schloß? Warum fragt er den Professor so genau nach den Schlüsseln und der Alarmanlage aus?«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Gleich darauf hörten sie, wie Herr Greiling nach ihnen rief.

»Vielleicht ist es Kellner!« sagte Tobbi, und sie rannten um die Wette zum Apparat. Tobbi war als erster dran. »Ja bitte? Hier Tobbi Greiling.«

Die Mädchen drängten sich mit an den Hörer und lauschten. Es war wirklich Peter Kellner. Man wolle am nächsten Tag das Museum wieder öffnen. Ob sie Lust hätten, wiederzukommen?

»Klar kommen wir!« sagte Tobbi schnell. »Ist doch Ehrensache!«

Tini machte ihm ein Zeichen.

»Ach, Herr Kellner, übrigens … ja, ja, sei doch ruhig, ich hab schon kapiert, Tini… wir wollten Sie gern noch was fragen. Wir haben uns nämlich gerade über diese Diebstahlgeschichte unterhalten und überhaupt über Münzen und so… da gibt’s doch sicher auch eine Fachzeitschrift, in der man alles nachlesen kann. Und da hat doch sicher etwas über unser Museum dringestanden, über die ausgestellten Münzen. Nein? Noch nicht? Erst in der nächsten Ausgabe, aha. So. Nicht an die große Glocke hängen wollen.« Tobbi zwinkerte den Mädchen verschwörerisch zu. »Dann wissen also nur sehr wenige davon. Hm, ach so, ja, hm, hm…«

Die beiden Mädchen rollten verzweifelt mit den Augen. Sie konnten nicht verstehen, was Kellner sagte, und aus Tobbis Antworten war auch nichts zu entnehmen. Endlich verabschiedete sich Tobbi und hängte ein.

»Na?« fragten Tina und Tini wie aus einem Munde.

»Also, offiziell ist die Nachricht bisher nicht sehr weit gedrungen. Aber er meint, in interessierten Kreisen spräche sich so etwas blitzschnell herum. Und das Netz aus interessierten Händlern und Sammlern spannt sich um die ganze Welt.«

»Na und?« sagte Tina nach kurzem Nachdenken. »Ich glaube trotzdem nicht, daß man aus der Ferne einen solchen Diebstahl in drei Tagen vorbereiten kann. Warum auch? Die Dukaten bleiben doch für alle Zeiten im Museum ausgestellt, weshalb dann also diese Eile?«

»Kluges Kind!« rief Tini überrascht aus. »Du hast uns ein großes Stück weitergebracht!«

»Wieso?« fragte Tina verständnislos.

»Du sagtest sehr richtig: ›Warum diese Eile?‹ Es muß also einen Grund für diese Eile geben!«

»Was könnte das für ein Grund sein?«

»Danach werden wir morgen an Ort und Stelle forschen. Vielleicht finden wir einen Hinweis«, sagte Tini nachdenklich. »Der Professor kann uns dabei helfen.«

Am nächsten Tag öffnete das Museum wieder seine Pforten. Die Besucher strömten wie gewohnt herein, nichts erinnerte an den Diebstahl und die damit zusammenhängenden Aufregungen. Gretchen saß wie immer freundlich lächelnd in ihrem Glaskasten und verkaufte Eintrittskarten, Tina, Tini und Tobbi standen hinter ihrer Auslage und berieten unentschlossene Kunden; die Museumswärter gingen schweigend herum und beobachteten die Besucher, und Peter Kellner und der Professor machten abwechselnd ihre Führungen.

»Mir gebt dieser Diebstahl einfach nicht aus dem Kopf«, erklärte Tini

Nur an der Stelle, an der bis vor drei Tagen die Alexander-Maria-Sebastianus-Dukaten gelegen hatten, war jetzt eine aufgeschlagene Katalogseite mit der Abbildung der Goldstücke zu sehen, mit einem Hinweis auf den Diebstahl.

Es blieb dabei, daß die drei Freunde ihre Pause in der Küche des Professors verbringen durften, wo eine kleine Erfrischung auf sie wartete. Tini wählte einen Zeitpunkt, zu dem der Professor ebenfalls hinaufging. Sie schenkte ihm Kaffee ein, schob ihm den Teller mit den belegten Broten hin und setzte sich ihm gegenüber. Eine Weile aßen sie schweigend, Tini beobachtete das Gesicht des Professors unauffällig, und als sie den Eindruck gewann, er wäre nun soweit entspannt und gestärkt, daß man auch über unangenehme Themen mit ihm reden könne, ging sie geradewegs auf ihr Ziel los.

»Mir geht diese Diebstahlsgeschichte einfach nicht aus dem Kopf«, sagte sie. »Ich grübele und grübele darüber nach! Wer zum Teufel könnte denn ein so großes Interesse an den Dukaten haben, daß er deshalb einen Diebstahl begeht?«

»Ja, nicht nur du stellst dir diese Frage. Wenn ich das wüßte! Aber hinter jedem Verbrechen, das nicht gerade einem kranken Hirn entspringt oder im Affekt begangen wird, steckt wohl die Sucht nach Geld und Macht.«

»Geld, Macht«, sagte Tini nachdenklich. »Was will er dann mit Münzen, die er nirgends verkaufen kann, ohne sofort geschnappt zu werden?«

»So einfach ist das nicht. Vielleicht hatte er einen Auftraggeber — weit weg, in Übersee. Einen dieser superreichen Sammler, die märchenhafte Summen ausgeben, um sich einen Wunsch zu erfüllen, was weiß ich.«

»Was ich nicht verstehe«, bohrte Tini weiter, »ist, daß er sich so beeilt hat. Warum gleich kurz nach der Eröffnung des Museums? Meinen Sie, da hat ein Auftraggeber gesagt, wenn du mir die Dinger nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden bringst, ist die Sache für mich gestorben?«

Der Professor lachte.

»Das ist kaum vorstellbar — bei einem solchen Objekt.«

»Vielleicht ist der Preis dieser Münzen in letzter Zeit sprunghaft in die Höhe gegangen?«

»Hab ich nicht gehört. Allerdings bin ich kein Numismatiker und kenne mich in dem Geschäft nicht so aus. Mein Gebiet sind Gemälde und Porzellan, da weiß ich besser Bescheid.«

»Und Sie haben über die Alexander—Maria-Sebastianus-Dukaten nichts gelesen — ich meine, von einer Preiserhöhung oder so?«

»Nein, nichts. Ich habe allerdings auch keine Zeit gehabt, neben der vielen Arbeit in den letzten Wochen meine Nase in Fachzeitschriften zu stecken.«

»Klar, das verstehe ich. Bis Sie das hier alles auf die Beine gestellt hatten …«

Der Professor seufzte tief und starrte ins Leere. Seine Gedanken schienen weit weg zu wandern, und Tini traute sich nicht, noch weitere Fragen zu stellen.

»Was mich verrückt macht«, sagte Professor Willner nach einer Weile, »das ist die Frage, wie zum Teufel der zweite Mann unerkannt aus dem Schloß kommen konnte! Alles war abgeschlossen und verriegelt! Und die Polizei hat das Gebäude bis in den letzten Winkel durchsucht! Wenn man wenigstens diesen Komplizen gefunden hätte, dann wäre es eine Kleinigkeit, den Dieb aufzuspüren. Aber nein, da ist nichts, nicht die kleinste Spur. Alle, die sich zu der Zeit im Haus befunden haben, sind über jeden Verdacht erhaben, die reinsten Unschuldsengel! Nichts haben sie gefunden! Sie wissen, daß da zwei Männer hineinspaziert sind, sie haben ordnungsgemäß ihre Eintrittskarten gelöst, zwei harmlose Besucher — und weg waren sie! Kein Mensch kann sich an sie erinnern!«

»Und wenn es eine Frau war?« überlegte Tini.

»Schön — möglicherweise war einer von beiden eine Frau. Aber das ändert nichts und hilft uns nicht weiter!«

Der Professor sah so ratlos aus, daß Tini ihm am liebsten über die kurzen, grauen Haarstoppeln gestrichen hätte, aber sie traute sich nicht. Statt dessen sprang sie auf und schenkte ihm noch eine Tasse Kaffee ein.

»Haben Sie eigentlich diese Fachzeitschrift für Numismatiker?« fragte sie nebenbei.

»Nein. Sie wird uns zugeschickt, wenn etwas über uns drinsteht, wie in der nächsten Ausgabe. Aber sonst… ich sagte dir ja schon, mein Fachgebiet sind andere Dinge.«

»Und wenn Sie was wissen wollen, können Sie ja den Grafen fragen, der hat sie doch sicher«, bemerkte Tini leichthin.

»Der hat sie, ja natürlich. Das ist so was wie die Bibel für ihn. Vermutlich liegt sie nachts unter seinem Kopfkissen.«

»Ach ja? Oh… schon so spät, jetzt muß ich aber wieder hinunter«, sagte Tini schnell und stellte Teller und Glas in die Abwäsche. »Wir sehen uns ja noch!«

Als sie in der Halle ankam, standen nur zwei Besucher am Verkaufstisch und blätterten in Kästen mit Postkarten.

»Könnt ihr mich noch fünf Minuten entbehren?« flüsterte Tini Tobbi zu. »Ich habe was zu tun.«

»Okay, aber beeil dich. Wir haben Hunger. Und die Führung ist auch gleich zu Ende!«

Tini schlüpfte durch das Portal und lief über die Brücke. Etwas seitlich, hinter großen Tannen und Buchen versteckt lag das Kutscherhaus mit den alten Stallungen darunter; eine überdachte Treppe führte außen am Haus in den ersten Stock hinauf, in der sich die Räume befanden, die jetzt der alte Graf bewohnte. Hoffentlich habe ich Glück, und er ist da! dachte Tini, als sie mit klopfendem Herzen auf den Klingelknopf drückte.

Drinnen blieb alles still. Als sich auch nach einem zweiten Klingeln nichts rührte, wollte Tini enttäuscht umkehren, aber da hörte sie Schritte.

»Wer ist da?« erklang die Stimme des alten Grafen.

Tinis Herz klopfte bis zum Hals hinauf.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber Professor Willner schickt mich zu Ihnen!«

Der alte Mann öffnete zögernd die Tür. Mißtrauisch blinzelte er Tini an. Tini schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.

»Es tut mir wirklich sehr leid, daß ich Sie gestört habe, aber …« während sie sprach, huschten ihre Blicke durch den Flur, erfaßten jede Einzelheit, drangen durch die offenstehende Wohnzimmertür bis zum Lehnstuhl des Grafen, auf dem eine aufgeschlagene Zeitschrift lag. Und neben dem Stuhl stapelte sich ein ganzer Haufen von Zeitschriften, die alle das gleiche Format und Aussehen hatten. Mehr als »… umisma.« konnte Tini vom Titel nicht lesen, aber das genügte. »Herr Professor Willner läßt fragen, eh… ich meine, er bittet Sie höflichst, ob Sie ihm die letzte Ausgabe dieser Münzen-Zeitschrift für ein paar Stunden überlassen könnten, er möchte etwas darin nachlesen.«

Tini wurde es fast ein bißchen unheimlich vor ihrem eigenen Mut, aber nun war es heraus.

Die Augen des Grafen wurden zu schmalen Schlitzen.

»Welche Zeitschrift? Ich habe keine mehr. Tut mir leid, die habe ich alle abbestellt. Hat keinen Sinn mehr für mich, in meinem Alter und wo ich nun nicht mehr … nun ja, sagen Sie ihm das. Kann ihm leider nicht helfen. Er wird sie sich anderswo besorgen müssen.«

Damit schloß er schnell die Tür.

Höchst merkwürdig, dachte Tini, als sie zum Schloß zurücklief. Ich könnte schwören, daß er gerade in der Zeitschrift gelesen hatte, als ich kam. Wie war noch mal die Überschrift? Irgendwas von Funden im Ägäischen Meer. Jetzt möchte ich doch wirklich mal wissen, was in dieser Zeitschrift alles steht! Wir werden sie uns anderswo besorgen müssen.

Als sie die Halle betrat, war gerade eine neue Busladung Besucher angekommen, die sich in einer langen Schlange an der Kasse drängten. Freunde und Familienangehörige warteten im Vorraum.

»Drei Erwachsene, ein Kind«, sagte ein Herr zu Gretchen und schob ihr einen Geldschein zu.

Tini stutzte. Wie hatte der Professor vorhin gesagt? Zwei Leute, die ordnungsgemäß ihre Eintrittskarten gelöst haben und an die sich nun keiner mehr erinnern kann!

Wer sagte eigentlich, daß sich zur Zeit des Diebstahls wirklich siebenundsechzig Personen in den Museumsräumen befanden und nicht —- wie abgezählt — fünfundsechzig? Konnte nicht einer an die Kasse gegangen sein und drei Karten verlangt haben, von denen er nur eine benutzte?

»Tina!« Tini stürzte auf die Freundin zu. »Tina, mir ist eben ein Licht aufgegangen, groß wie ein Leuchtturm!«

Der Graf auf Abwegen

»Polizist müßte man sein!« stöhnte Tina. »Dann hätten wir jetzt eine Liste sämtlicher Besucher, die während des Diebstahls anwesend waren. Fünfundsechzig Leute — und zwei schwarze Schafe darunter. Wie sollen wir das jemals herausfinden?«

»Nur nicht den Mut verlieren. Mindestens die Hälfte kommt auf keinen Fall in Frage: die Japaner, die alten Amerikanerinnen, die Kinder«, sagte Tobbi. »Versuchen wir doch, uns an die Leute zu erinnern. Lange genug haben sie ja dagesessen und auf ihr Verhör gewartet.«

»Ich weiß nicht, mir fallen nur Leute ein, die bestimmt nicht in Frage kommen. Die alten Damen, die sich stundenlang Verbrechergeschichten erzählt haben. Das Liebespaar, das die ganze Zeit aneinander rumgeknabbert hat. Die zwei alten Herren, die sich darüber gestritten haben, ob es ein oder zwei Täter waren, die Mutter mit ihren beiden pickligen Töchtern…«

»Bist du so sicher, daß die beiden alten Herren nichts damit zu tun hatten? Das kann doch auch nur eine Schau gewesen sein, die sie abzogen, um von sich abzulenken. Aber nein, die waren zu alt für so was, du hast recht. Aber das Liebespaar …«

»… kann auch eine Schau abgezogen haben. Du siehst, es ist hoffnungslos!« Tina sprang nervös von ihrem Sessel auf und rannte zum Fenster hinüber. »Wo Tini nur bleibt? Sie müßte doch längst zurück sein!«

»Eifersüchtig?«

»Worauf?«

»Darauf, daß sie allein mit unserem lieben Peter Kellner zusammen ist.«

»Quatsch. Ich bin nur neugierig, ob sie was erreicht hat. Da kommen sie!«

Vor dem Haus ertönte das asthmatische Tuckern von Kellners vorsintflutlichem Auto. Als Tina an die Haustür kam, winkte Tini ihm gerade nach, und er fuhr davon.

»Wo wart ihr denn so lange?« fragte Tina gedehnt.

»Das war gar nicht so einfach!« Tini schwenkte lachend eine Zeitschrift. »Aber schließlich hatten wir doch Erfolg. Sieben Zeitschriftenhändler haben wir abgeklappert. Scheint, als hätte jemand alle Exemplare dieser Nummer, die es in der Umgebung gab, aufgekauft.«

»Zeig her!«

Tina griff sich die Zeitschrift und lief ins Wohnzimmer zurück.

»He, laß uns die Arbeit aufteilen, dann geht’s schneller«, sagte Tobbi. »Jeder kriegt ein paar Seiten. Und daß ihr ja nichts auslaßt!« ‘

»Okay, hier hast du deinen Teil. Der hier ist für Tini.«

Im Wohnzimmer wurde es still. Drei Augenpaare wanderten angespannt über die Seiten, lasen Zeile für Zeile, obgleich der Text stellenweise sehr langweilig war. Immer öfter waren verzweifelte Seufzer zu hören.

»Nimmt denn das überhaupt kein Ende«, jammerte Tina, »also eins weiß ich bestimmt — ich heirate nie einen Münzsammler! So was Ödes! Halt! Ich hab’s! Kommt her, schnell!«

»Schrei doch nicht so«, mahnte Tini. »Wo, lies vor!«

»Hier unten! Kaum zu finden.«

»Ölmillionär kauft Alexander-Maria-Sebastianus-Dukaten auf. Für den märchenhaften Preis von zweieinhalb Millionen Dollar erwarb der texanische Olmagnat sechs der legendären Golddukaten aus dem fünfzehnten Jahrhundert, von denen, wie man weiß, auf der ganzen Welt nur vierundzwanzig Stück existieren, die als unverkäuflich gelten. Der Millionär ließ wissen, daß er das Dutzend voll machen wolle. Er verhandele bereits über den Ankauf weiterer Stücke. Es sei sein Lebenstraum, seinem Sohn die schönste und vollständigste Münzsammlung der Welt zu hinterlassen.«

»Na bitte«, murmelte Tobbi. »Wer hätte das gedacht.«

»Jetzt brauchen wir ihn nur noch zu fragen, mit wem er verhandelt.«

Tini lehnte sich zurück und schloß zufrieden die Augen.

»Zum Beispiel mit einem Herrn, dem noch vor kurzem sechs dieser kleinen goldenen Eierchen gehört haben, und der leider zu spät bemerkt hat, welch ein phänomenales Geschäft er sich damit hat aus der Nase gehen lassen. Er hätte damit seine Pleite verhindern können!«

»Das sind ziemlich kühne Behauptungen, meine liebe Tini. Wie willst du das beweisen?« fragte Tobbi onkelhaft. »Der gute alte Graf! Paß auf, daß man dich nicht wegen Verleumdung hinter Gitter setzt! Dem Sproß einer so edlen Familie so etwas Niedriges zuzutrauen…«

»Ich glaube, wir sollten dem Professor erzählen, was wir entdeckt haben. Er kann auf jeden Fall den Alten unauffällig im Auge behalten, wenn er im Schloß umherschleicht.«

»Der arme Professor«, sagte Tini scheinheilig. »Er hat so viel zu tun und ist so schrecklich überarbeitet! Ich finde, man sollte ihm ein bißchen Arbeit abnehmen!«

Tobbi grinste.

»Das finde ich auch. Ich frage mich nur …«

»Was?«

»Wenn der Alte plötzlich haufenweise Geld hat … das muß doch auffallen?«

»Nicht unbedingt«, meinte Tina. »Wie ich ihn einschätze, versteckt er es irgendwo und kauft bei der nächsten Gelegenheit haufenweise Münzen dafür.«

Die Frage, ob sie ihre Entdeckung dem Professor mitteilen sollten, blieb zunächst unbeantwortet. Am nächsten Tag hatten sie frei, das Museum blieb geschlossen, und sie nützten die Gelegenheit für eine Fahrt in die Stadt.

Zuerst bummelten sie durch die Hauptgeschäftsstraßen, um die Schaufenster zu betrachten. Für später stand ein Kinobesuch auf dem Programm, und danach wollten Tina und Tini eine neue Pizzeria ausprobieren, in der es vierundzwanzig verschiedene Sorten Pizza geben sollte.

»Wo führt denn diese Gasse hin?« fragte Tini. »Dort sind wir noch nie langgegangen!«

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht, daß es interessante Geschäfte da gibt. Aber wenn du willst, können wir ja mal einen Blick hineinwerfen.«

Tina ging voraus, und Tobbi und Tini folgten in einigem Abstand.

»Scheinen vor allem Antiquitätenhändler zu sein«, murmelte Tobbi. »Und Buchhandlungen.«

»Mir sieht’s eher nach Ramschläden aus«, widefsprach Tini. »Ein paar Antiquitäten und sonst nur Sperrmüllkram und Kitsch.«

Vor ihnen war Tina an einem Fenster stehengeblieben und schaute durch die Auslage in den Innenraum des Geschäfts. Plötzlich erstarrte sie, ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen, sie stieß fast mit der Stirn an die Schaufensterscheibe. Die Hand halb hinter dem Rücken versteckt, winkte sie den beiden anderen.

Als Tini und Tobbi neben sie traten, sah Tina sie nicht an, sie tat, als ob sie etwas ganz Besonderes in der Auslage entdeckt habe. Tobbi schaute sie fragend an.

»Such mal ganz schnell was, was wir kaufen könnten. Wir müssen in den Laden!« flüsterte Tina. »Schau nicht hin, aber dort drinnen verhandelt der alte Graf mit zwei Leuten, die mir irgendwie bekannt vorkommen. Nicht hinschauen! Sie dürfen nicht merken, daß wir sie kennen!«

»Gut, wir fragen nach dem Preis dieses kitschigen Kaffeebechers dort mit dem Soldaten und dem schluchzenden Mädchen zwischen Vergißmeinnicht. Kommt!« sagte Tini und steuerte auf die Eingangstür zu.

Die Tür setzte beim Öffnen ein altmodisches Glockenspiel in Gang. Der Graf und die dicken Ladeninhaber, die in einer heftigen Auseinandersetzung begriffen waren, verstummten plötzlich. Dann wandte sich der Graf ab und beschäftigte sich mit einem Stapel alter Bücher, die auf einem Tisch zur Ansicht auslagen. Tina bemerkte, wie er bemüht war, ihnen den Rücken zuzudrehen und sich dabei langsam dem Ausgang zumogelte.

»Uns interessiert dieser schöne altmodische Kaffeebecher im Fenster«, sagte Tini liebenswürdig zu der dicken Frau hinter dem Ladentisch. »Wieviel kostet er?«

Tobbi stieß Tini unbemerkt an, der Graf war jetzt dicht bei der Tür. Im nächsten Augenblick ertönte das Glockenspiel.

»Fünfundzwanzig«, sagte die dicke Frau.

»Oh, das ist schade, das ist leider ein bißchen zu teuer für mich«, hauchte Tini und sah die Frau treuherzig an. Tobbi stieß noch einmal. »Na, dann vielleicht ein andermal.«

»Was möchten Sie denn dafür ausgeben?« fragte die Frau hinter ihr her, aber Tini war schon am Ausgang.

»Ein andermal. Herzlichen Dank auch, auf Wiedersehen!« sagte Tini und folgte Tina und Tobbi auf die Straße.

»Unauffällig hinter ihm her«, flüsterte Tobbi. »Er darf auf keinen Fall etwas merken. Tut so, als sähet ihr in die Schaufenster.«

»Was macht er?« wisperte Tina.

»Er geht ziemlich schnell die Straße hinunter. Jetzt biegt er rechts ein. Los, hinterher!«

Sie rannten bis zur Straßenecke, stoppten, sahen sich vorsichtig um und entdeckten den Grafen auf der anderen Straßenseite.

»Hat der’s aber eilig!« murmelte Tini. »Da, er geht in die Post. Wartet dort drüben am Eingang zum Kino, ich folge ihm.«

Tini wechselte auf die andere Straßenseite hinüber. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß der alte Graf wartend vor einer der Telefonzellen stand. Zum Glück drehte er ihr den Rücken zu. Tini schlug den Mantelkragen hoch, steckte die Hände tief in die Taschen und tat, als warte sie auf jemanden. Als die Telefonzelle frei wurde und der Graf sie betrat, tat Tini, als winke sie jemandem im Eingang des Postamts zu und lief die Stufen hinauf an der Telefonzelle vorbei. Dann schlug sie einen Haken wie ein Kaninchen auf der Flucht und trat von der anderen Seite an die Telefonzelle heran, als warte sie darauf, daß sie frei würde. Sie lehnte sich lässig gegen die Wand, keinem Vorbeigehenden fiel auf, wie angestrengt sie ins Innere lauschte.

»… ich bin lieber gegangen«, sagte der Graf, er sprach laut, wie viele Schwerhörige, »diese jungen Leute da, die bei Ihnen im Laden waren, arbeiten im Schloß. Müssen nicht unbedingt mitkriegen… na ja, Sie wissen schon. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich muß Sie sprechen, Frentzler! Die Sache eilt! Was heißt nicht mehr mitmachen? Sie reden wie ein altes Weib! Es springt eine Summe für Sie dabei heraus, von der Sie nur träumen können! Mann, Frentzler, Sie sind doch Geschäftsmann! Die Sache ist ohne jedes Risiko für Sie! Sie haben doch bei unserem letzten Geschäft gut abgeschnitten, oder? Na sehen Sie. Hören Sie sich erst mal an, was ich Ihnen zu sagen habe … wo wir ungestört sind … ich schlage vor, in der Jagdhütte, morgen abend um sechs, wenn es dunkel ist. Lassen Sie den Wagen bei der Kapelle stehen, von da aus sind es höchstens acht Minuten zu Fuß. Schon gut, nur mal… ja, ganz unverbindlich, nur eine Unterhaltung. Dann bis morgen, Frentzler!«

Tini machte einen Blitzstart von der Telefonzelle weg in das Postgebäude hinein. Im Schatten einer Säule konnte sie durch die große Glastür sehen, wie der Graf aus der Telefonzelle trat, sich einmal nach allen Seiten umschaute und dann davonschlurfte, die Hand auf dem silbernen Stockknauf, den abgewetzten grünen Filzhut tief in die Stirn gezogen.

Tini wartete noch einen Augenblick, dann verließ sie das Postgebäude und ging zum Kino hinüber.

»Habt ihr schon Karten gekauft?« fragte sie.

»Nein, wieso? Nun erzähl doch erst mal!« drängte Tina.

»Erst kaufen wir die Karten, die nächste Vorstellung fängt gleich an. Ich will ja nichts berufen, aber es scheint, als hätten wir das große Los gezogen. Das muß gefeiert werden!« verkündete Tini. »Die beiden Herren stehen nämlich in enger geschäftlicher Verbindung, müßt ihr wissen. Sie haben gerade ein Geschäft abgeschlossen, bei dem unser Altwarenhändler offenbar sehr gut verdient hat, und das durch die Vermittlung des Grafen zustande gekommen ist. Und nun möchte der Graf den Herrn Frentzler, so heißt unser Freund, für einen neuen Handel gewinnen, bei dem er mehr verdienen könne, als er sich jemals erträumt habe!«

»Hochinteressant!« sagte Tobbi. »Und woher weißt du, daß es sich um das Geschäft mit den geklauten Golddukaten handelt?«

»Vorläufig vermute ich es nur. Aber erfahren werden wir es hoffentlich morgen — bei einem ungestörten Gespräch unter vier Augen in der Jagdhütte um sechs Uhr!«

»Welche Jagdhütte?« fragte Tina.

»Das weiß ich nicht. Ich dachte, ihr wüßtet es, ihr wohnt doch schon so lange hier? Von einer Kapelle war die Rede, von dort aus sollen es höchstens noch acht Minuten sein.«

»Leute, tut mir leid«, sagte Tobbi entschlossen, »aber aus dem Kino wird nichts. Wir müssen sofort herausfinden, wo sich diese Jagdhütte befindet und wie man sich dort verstecken kann. Sonst suchen wir morgen noch, wenn die beiden Herren mit ihrer geschäftlichen Besprechung längst fertig sind.«

»Klar!« stimmte ihm Tina zu. »Viel Zeit haben wir sowieso nicht mehr bis zum Dunkelwerden.«

»Wenn wir uns beeilen, erwischen wir noch den Bus um drei Uhr. Wir steigen an der Allee nach Mönchsbuchen aus und gehen zum Schloß hinauf«, schlug Tobbi vor. »Hinten im Park gibt es einen Wegweiser zur Mönchsbuchener Kapelle, es ist so eine Art Familiengruft. Da sehen wir dann weiter, irgendwie werden wir das Jagdhaus schon finden.«

Im gestreckten Dauerlauf rannten sie zur Bushaltestelle. Der Busfahrer ließ gerade den Motor an und war dabei, die Türen zu schließen.

»Glück gehabt!« schnaufte Tina, als die Türen sich noch einmal öffneten und der Fahrer sie einsteigen ließ. »Bitte dreimal Mönchs … aua, Tini, mußt du mich so treten!«

»Dreimal Feldham!« posaunte Tini heraus und streckte dem Busfahrer das Geld hin.

Tina sah die Freundin verständnislos an. Dann fiel ihr Blick auf die Fahrgäste, und sie erstarrte. Gleich in der zweiten Reihe saß der Graf, das Kinn auf den Krückstock gestützt, und starrte zum Fenster hinaus.

Der Busfahrer drückte Tini Fahrscheine und Wechselgeld in die Hand und gab Gas. Wie von einem Sog angezogen stolperten sie durch den Gang und setzten sich in die letzte Reihe.

»Er muß ja nicht unbedingt mitkriegen, daß wir uns im Mönchsbuchener Wald hemmtreiben wollen«, flüsterte Tini.

»Wir müssen eben eine Haltestelle später aussteigen und zurücklaufen.«

»Mist! Hoffentlich ist es nicht schon ganz dunkel, wenn wir die Jagdhütte gefunden haben«, wisperte Tina zurück. »Und wir haben nicht mal eine Taschenlampe bei uns.«

»Hauptsache, wir wissen erst mal, wo die Hütte überhaupt ist. Alles andere findet sich«, beruhigte Tobbi sie. »Im schlimmsten Fall sehen wir uns morgen früh noch mal um.«

»Ja, und hinterlassen jede Menge Spuren im Schnee!«

»Das ist wahr, da müssen wir uns was einfallen lassen. Hat einer von euch Schnürsenkel oder Bindfaden oder so was bei sich?« fragte Tini.

»Ja, Schnürsenkel«, sagte Tobbi.

»Und ich könnte die beiden Schnüre aus meinem Anorak herausziehen. Die aus der Kapuze und die andere unten an der Jacke. Warum?«

»Wir könnten uns Tannenzweige unter die Schuhe binden. Da geht man zwar unbequem, aber es verwischt unsere Spuren oder macht sie doch wenigstens unkenntlich.«

»Kluges Köpfchen! Und am nächsten Tag meldet der Förster, er habe die Spuren eines Dinosauriers im Schnee entdeckt!«

Der Bus hielt an der Allee nach Mönchsbuchen, und der alte Graf stieg aus. Zwei Kilometer weiter stoppte der Bus in einem kleinen Dorf, das nur aus fünf Bauernhöfen und einer Kapelle bestand, die etwas abseits neben einem Friedhof auf einem kleinen Hügel stand und von einer Hecke aus dichtem Tannengestrüpp umgeben war. Hinter dem Friedhof befand sich ein kleiner Parkplatz, der vom Dorf aus nicht zu sehen war.

Tina, Tini und Tobbi hatten einen Fußweg eingeschlagen, der an der Kapelle vorbei zum Wald führte und von dort aus am Waldrand entlang auf eine Landstraße zulief, die auf die Allee nach Mönchsbuchen traf. Sie hatten die Kapelle schon hinter sich gelassen, als Tini plötzlich anhielt und zum Friedhof zurückschaute.

»Findet ihr nicht, daß dieser Parkplatz ideal für jemanden ist, der nicht gesehen werden möchte? Und er liegt an einer Kapelle.«

»Du meinst — nun ja, man sollte es zumindest in Erwägung ziehen«, meinte Tobbi. »Laß sehen, von hier aus gibt es nur einen Weg zum Wald. Am Waldrand teilt er sich dann und verläuft in vier verschiedene Richtungen. Links auf die Landstraße zu, den können wir vergessen. Rechts in die Felder und weiter zum Nachbardorf. Auch nicht interessant. Aber zwei führen in den Wald hinein. Der eine nach Südwesten und der andere nach Südosten. Weiteres scharfes Nachdenken bringt uns zu dem Schluß, daß der nach Südwesten vom Mönchsbuchener Grund wegführt. Probieren wir es also mit dem, der in südöstliche Richtung geht.«

»Der geborene Pfadfinder«, bemerkte Tina. »Okay, beeilen wir uns, es wird bald dunkel. Wenn du dich geirrt hast, stehen wir schön da.«

Fast im Laufschritt marschierten sie auf den Wald Zu. Tini sah auf die Uhr.

»Bis hierhin haben wir zwei Minuten gebraucht. Höchstens acht Minuten hat der Graf gesagt. Geben wir dem Dicken eine Minute mehr — dann müßten wir in fünf Minuten an der Jagdhütte sein. Haben wir sie bis dahin nicht gefunden, können wir ebensogut umkehren.«

Sie brauchten nicht lange zu gehen. Nach ein paar hundert Metern teilte sich der Weg von neuem. Tobbi wählte den rechten, breiteren, die beiden Mädchen den linken, der schmal und vielfach gewunden in dichten Tannenwald hineinführte. Es war dämmrig geworden, und sie mußten aufpassen, daß ihnen die Zweige nicht in die Augen peitschten.

»Ich glaube nicht, daß es Sinn hat, hier noch weiterzugehen«, jammerte Tina. »Du siehst doch, es ist ja kaum noch ein Weg zu erkennen. Der endet im Nichts!«

»Da!« rief Tini im gleichen Augenblick. »Das muß sie sein!«

»Tatsächlich! Ein ziemlich armseliger Schuppen, wird wohl seit ewigen Zeiten nicht mehr benutzt.« Tina schüttelte sich aus Haaren und Anorak den Schnee, der bei der engen Berührung mit den Tannen an ihr hängen geblieben war. »Soll ich Tobbi holen?«

»Tu das«, sagte Tini. »Und verwischt auf jeden Fall eure Spuren.«

Tini machte einen Umweg durch das dichte Gestrüpp zu ihrer Linken und schlug einen Halbkreis um die Hütte herum. Auf der Rückseite war Brennholz gestapelt. Unter dem Giebel gab es eine Luke, die mit einer Klappe verschlossen wurde. Die allerdings schien morsch zu sein. Sie hing nur noch an einem Punkt durch ein verrostetes Scharnier lose an der Wand herunter. Hier war wohl lange niemand mehr gewesen, Unkraut und Gestrüpp waren bis an den Holzstoß herangewachsen und drohten ihn zu überwuchern.

Hinter Tini tauchten Tina und Tobbi auf.

»Seht mal, gar nicht so schlecht, wie? Wenn wir aufpassen und nicht wie eine Herde Elefanten hier herumtrampeln, kann man unsere Spuren in dem Gestrüpp nicht sehen. Bleibt nur die Frage, ob man da oben durch die Luke in die Hütte einsteigen kann, denn vorn ist sie mit einem dicken Vorhängeschloß versperrt.«

»Das werden wir gleich haben.«

Tobbi ging auf Zehenspitzen an die Hütte heran, kletterte am Holzstoß hinauf und zog sich durch die Luke ins Innere. Die beiden Mädchen hörten ihn fluchen.

»Du lieber Himmel, hoffentlich ist er nicht eingebrochen und liegt jetzt zerschmettert am Boden der Hütte!« sagte Tina halb im Scherz, halb in echter Sorge.

»Den Krach hätten wir sicher gehört!« beruhigte Tini sie.

Und da tauchte Tobbis Kopf auch schon wieder in der Luke auf, grau von Staub und die Haare voller Spinnweben.

»Also, angenehm ist der Aufenthalt hier nicht gerade«, stöhnte er. »Und in die Hütte hinunter kommt man auch nicht. Aber der Bretterboden hat so breite Fugen, daß man sicher jedes Wort hören kann, das dort unten gesprochen wird.«

»Dann nichts wie weg hier. Morgen werden wir pünktlich zur Stelle sein!«

Verschwörung in der Jagdhütte

»Wißt ihr, was mich am meisten beschäftigt?« sagte Tina, als sie am nächsten Morgen beim Frühstück saßen. »An wen mich diese Frentzlers erinnern! Ich muß sie irgendwo schon mal gesehen haben.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Und mir ist eingefallen, an…«

Tini unterbrach sich, denn Frau Greiling kam aus der Küche und brachte frischen Tee. Sie stellte die Kanne auf den Tisch, nahm zwei Apfel aus dem Korb, die sie in ihre Handtasche steckte, und strich Tina übers Haar.

»Ihr Lieben, ich muß gehen, ich habe schon um acht Uhr eine Patientin zur Bestrahlung da. Seid bitte leise, wenn ihr das Haus verläßt, Vati möchte ausschlafen.«

»Alles klar, Mutti. Tschüs!«

»Wiedersehen!«

»Also, was wolltest du gerade sagen?« drängte Tina, als Frau Greiling gegangen war.

»Ja, im ersten Augenblick dachte ich, sie erinnerten mich an das dicke Ehepaar mit den vielen Kindern«, meinte Tini nachdenklich. »Aber die können es nicht sein. Der Dicke hatte doch fast eine Glatze, und Herr Frentzler besitzt eine sehenswerte Künstlermähne. Der Dicke hatte einen Schnauzbart und Herr Frentzler nicht. Außerdem trug der Dicke eine Brille. Und dann die Frau — glattes, schwarzes Haar und einen Knoten, keine Spur von Make-up. Während die Mutter dieser lauten Kinder eine auffallend rote Lockenmähne besaß und geschminkt war wie eine Hollywood-Diva aus alten Zeiten!«

»Vielleicht sind sie Geschwister?« meinte Tobbi. »Vielleicht hat Herr Frentzler einen Bruder — einen stillen Teilhaber an seinen Geschäften? Vor allem an den krummen!«

»Rätsel über Rätsel. Aber vielleicht bilden wir uns diese Ähnlichkeit auch nur ein, und sie besteht in nichts weiter als in den beachtlichen Bäuchen.«

»Wir müssen los«, mahnte Tina. »Vergeßt die Taschenlampe nicht! Und zieht euch bloß warm an, es wird saukalt in der Hütte sein! Nicht, daß mir einer anfängt zu niesen!«

»Das fehlte noch. Hast du deinen Eltern Bescheid gesagt?« fragte Tini.

»Klar! Ich hab gesagt, wir wollten heute noch mal in die Stadt, weil’s einen besonderen Film gibt, und vorher vielleicht ins Schwimmbad.«

»Sehr gut.«

»Und Proviant habe ich auch. Hier — belegte Brote, Obst und eine ganze Tüte voller Weihnachtsgebäck. Das muß sowieso vor dem Eintrocknen gerettet werden.«

Der Vormittag schien sich endlos in die Länge zu ziehen, aber endlich war es doch soweit, das Museum schloß seine Pforten. Tina, Tini und Tobbi packten ihren Proviant aus und hielten ein improvisiertes Mittagsmahl.

»Soll ich euch nicht nach Hause fahren?« fragte Herr Kellner erstaunt.

»Nein danke, heute nicht«, sagte Tina schnell. »Wir haben noch was vor… in der Stadt. Wir nehmen später den Bus.«

Sie blieben, bis Gretchen ihre Abrechnung gemacht hatte und sich anschickte abzuschließen. Dann machten sie sich auf Umwegen auf den Weg zur Jagdhütte.

Es war Tinas Idee gewesen, man müsse zwei Stunden vor der Verabredung der beiden Männer an der Hütte sein, falls der Graf schon am Tage dort Posten bezöge, vielleicht, um den Ofen zu heizen oder um den Weg nicht in der Dunkelheit machen zu müssen? Tobbi hielt diese Vorsichtsmaßnahme zwar für übertrieben, aber es konnte nicht schaden, wenn man das ungemütliche Versteck noch bei Helligkeit bezog und sich dort oben einigermaßen bequem einrichten konnte. Er war den Mädchen ohnehin dankbar, daß sie ihn nicht allein den Horchposten beziehen ließen und inzwischen behaglich zu Hause im warmen Zimmer saßen.

Im Schutz des Unterholzes näherten sie sich der Hütte. »Alles noch still. Wir können es riskieren«, flüsterte Tina. »Warte, ich gehe vor. Werde mal ganz harmlos einen Blick hineinwerfen«, sagte Tini leise, »wie ein neugieriger Spaziergänger.«

»Und deine Fußspuren?«

»Ganz einfach: Ich laufe ein Stück zurück, komme den Weg entlang und gehe in der anderen Richtung weiter. Mehr als hundert Meter wird sicher keiner die Spuren verfolgen.«

»Okay.«

Tinayund Tobbi warteten gespannt, bis Tina am Ende des Waldpfades auftauchte. Sie trat an die Hütte heran, schaute durchs Fenster und ging weiter. Nach fünf Minuten tauchte sie hinter ihnen wieder auf.

»Alles klar. Sieht alles ziemlich verkommen aus dort drinnen, oft scheint der Graf sich hier nicht aufzuhalten. Ein Tisch, zwei Stühle, eine Liege ohne Matratze, ein alter Kanonenofen, das ist alles.«

»Okay, dann also los.«

Tini schlich als erste bis zu dem Holzstoß, kletterte geschickt wie eine Gemse an ihm hoch und zog sich durch die Luke. Tina folgte ihr etwas schwerfälliger. Tobbi bildete die Nachhut.

»Drückt euch ganz an den Rand!« raunte Tini. »Wer weiß, ob die Bretter unser Gewicht aushalten.«

»Und was ist, wenn er nachschaut, ob hier oben alles in Ordnung ist?« überlegte Tina.

»Dazu müßte er erst mal hier heraufklettern. Aber du hast recht, sicher ist sicher. Dort ist altes Heu, schiebt es so vor die Luke, daß es den Blick auf uns versperrt. Hier!« Tobbi zerrte große Büschel aus dem Heu.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es draußen dunkel wurde. Die Kälte kroch ihnen langsam durch den ganzen Körper, da halfen auch die dicken Stiefel und gefütterten Anoraks wenig. Tina wollte gerade sagen: »hoffentlich verraten uns unsere klappernden Zähne nicht!«, da rührte sich unten endlich etwas.

»Der Spazierstock des Grafen!« hauehte Tini. »Er schlägt damit die Zweige zur Seite!«

Nach einer Weile hörte man das Schnappen des Schlosses, dann knarrten die Dielen unter den schlurfenden Schritten des Grafen. Ein Streichholz wurde angerissen, durch die Ritzen des Bretterbodens drang schwacher Lichtschein nach oben.

Jetzt wurde leise an die Tür geklopft. Wieder Schritte, der alte Graf öffnete, und sein Besucher betrat die Hütte. Tobbi beugte sich vor, um durch eine der Ritzen nach unten zu schauen. Eine Wolke von Staub und Heu rieselte in die Hütte hinunter. Vor Schreck hielten die drei den Atem an.

»Bruchbude«, murmelte der alte Graf.

»Sind wir hier wirklich sicher?« fragte der dicke Frentzler beunruhigt.

»Wer sollte sich um diese Zeit hier herumtreiben — mitten im Winter? Aber bitteschön, wenn es Sie beruhigt, gehen Sie einmal um die Hütte herum, leuchten Sie alles ab. Haben Sie eine Taschenlampe?«

»Selbstverständlich.«

Tina, Tini und Tobbi stockte der Atem. Wie versteinert lagen sie da, als der dicke Frentzler jetzt die Hütte verließ, mit schweren Schritten näher kam und mit der Taschenlampe zu ihnen hinaufleuchtete. Offensichtlich war er noch nicht völlig beruhigt, denn er setzte einen Fuß auf den Holzstoß und versuchte, so weit hinaufzuklettern, daß er bis ins Innere der dunklen Höhle sehen konnte.

Tina glaubte, man müsse ihr Herz meterweit klopfen hören. In diesem Augenblick rutschte der Holzstoß unter dem Dicken weg, er verlor das Gleichgewicht, schrie auf und hinkte fluchend in die Hütte zurück. Für einen Augenblick hatte der Lichtstrahl der Taschenlampe sein Gesicht beleuchtet. Und diesem Gesicht fehlte etwas — Tini hatte es gesehen— die üppige Künstlermähne war verschwunden. Herr Frentzler hatte eine Halbglatze, wie jener Mann im Trachtenanzug damals im Museum. Nur, daß ihm Schnurrbart und Brille fehlten.

»Kommen wir zur Sache«, sagte unten der Graf. »Ich möchte nicht ewig hier in der Kälte herumstehen. Ich brauche diese Münzen hier. Schauen Sie sich die Abbildung genau an! Mein Kunde hat den Preis noch einmal heraufgesetzt, als ich ihm sagte, der Besitzer wolle auf keinen Fall verkaufen. Fünfzig Prozent für Sie, Frentzler, wenn Sie es bis übermorgen schaffen. Mein Kunde muß zurück nach Amerika, und wer weiß, ob diese Chance jemals wiederkommt. Seit sie wissen, daß er alles kauft, was gut und teuer ist, sind die Händler wie Hyänen hinter ihm her. Wir müssen unsere Chance nützen, Frentzler!«

»Ich weiß nicht, Herr Graf. Einmal hat das funktioniert. Aber ein zweites Mal — sie sind mir doch sofort auf den Fersen, wenn ich ein zweites Mal zur Zeit eines Diebstahls da auftauche!«

»Wählen Sie eine andere Maske. Und lassen Sie Ihre Frau mit den Kindern diesmal zu Hause. Für den Alarm sorge ich persönlich, Sie werden freie Hand haben. Und den Wärter habe ich in der Hand, der Mann ist gekauft. Das ist schon geregelt, wir müssen nur den genauen Zeitpunkt abstimmen. Sie haben für nichts anderes zu sorgen, als die Münzen sicher aus dem Schloß rauszubringen.«

»Das ist das wenigste!« Frentzler lachte.

»Aber passen Sie auf, diesmal wird man vielleicht eine Leibesvisitation machen!«

»Macht nichts, der Trick ist hieb- und stichfest, sie werden nicht draufkommen.« Wieder lachte Frentzler glucksend in sich hinein. »Mit der Leibesvisitation habe ich schon das letzte Mal gerechnet, aber kein Mensch hat daran gedacht, mich zu durchsuchen.«

»Nun gut, das ist Ihr Problem. Also übermorgen. Und danach verhalten Sie sich ruhig, bis ich mit Ihnen Verbindung aufnehme, klar? Die Münzen hinterlegen Sie so wie das letzte Mal.«

»Geht in Ordnung, Herr Graf.«

»Ich rufe Sie morgen an und sage nichts weiter als die Uhrzeit. Sie antworten ›Falsch verbunden‹ und hängen wieder ein. Es war ein Fehler, daß ich zu Ihnen in den Laden kam, aber Sie waren ja nicht zu erreichen. Sie wollten sich drücken, wie, Frentzler? Wollten mich abschütteln! Einmal ist genug, haben Sie sich gedacht. Einmal ist keinmal, wie?« Der Graf lachte höhnisch. »Aber was wollen Sie, Mann? Ist doch alles glattgegangen! Denken Sie an das fette Sümmchen, das diesmal wieder für Sie rausspringt. Mit dem Geld können Sie sich am anderen Ende der Welt eine neue Existenz aufbauen! Mit dem Geld sind Sie ein gemachter Mann! Und Ihre Familie ist für alle Zeiten versorgt.«

»Schon gut, Herr Graf, dieses eine Mal noch. Ich gehe dann jetzt.«

Der dicke Frentzler stapfte davon, und kurz darauf verließ auch der Graf die Jagdhütte. Tina, Tini und Tobbi hörten, wie sich das gleichmäßige Geräusch seines Spazierstocks langsam entfernte.

»Konnte der Idiot nun nicht noch erklären, wie er die Münzen aus dem Schloß gebracht hat?« platzte Tina heraus.

»In der Hosentasche wahrscheinlich«, sagte Tobbi achselzuckend.

»Quatsch! Du hast doch gehört, daß er damit gerechnet hat, durchsucht zu werden! Er ist sich seiner Sache völlig sicher, es auch ein zweites Mal auf dieselbe Art zu schaffen! Wenn ich nur wüßte, wie!«

»Laßt uns gehen«, seufzte Tini. »Ich spüre meine Beine schon gar nicht mehr, so kalt ist mir geworden!«

»Ja, nichts wie nach Hause und in ein heißes Bad. Und dann rufen wir den Professor an und sagen ihm, daß wir ihn dringend sprechen müssen. Der wird staunen!«

Sie liefen, so schnell es die Dunkelheit zuließ, zurück. Erst als sie auf den Weg zum Dorf einbogen, wagten sie, die Taschenlampe zu benutzen, aber von dem Grafen war weit und breit nichts mehr zu sehen, vermutlich war er in der anderen Richtung davongegangen. Vom Laufen wurde ihnen warm, und als sie den Bus von weitem herankommen sahen und einen tüchtigen Endspurt einlegen mußten, glühten ihre Gesichter bereits wieder von der Anstrengung.

»Das war eine Roßkur gegen die drohende Erkältung«, meinte Tini lachend. »Jetzt fühle ich mich schon bedeutend besser.«

»Auf ein heißes Bad und einen wärmenden Punsch freue ich mich trotzdem«, sagte Tina. »Leute, war das ein Tag! Ich kann’s noch gar nicht fassen, daß wir jetzt die Lösung des Rätsels in der Tasche haben. Wenn das kein Glück ist!«

»Erinnerst du dich an das Orakel in der Silvesternacht?« neckte Tini die Freundin. »Von wegen verlieben, hat sich was! Das Orakel bezog sich eindeutig auf unseren Fall. Der, von dem du es am wenigsten erwartet hast, ist der Dieb.«

Zu Hause angekommen, riefen sie sofort den Professor an. Sie baten ihn um eine Unterredung früh am nächsten Morgen, noch bevor das Museum für die Besucher geöffnet wurde.

»Wir haben eine Beobachtung gemacht«, erklärte Tina, »die vielleicht bei der Suche nach dem Dieb nützlich sein kann. Mehr möchte ich jetzt nicht sagen, es ist eine… eine etwas peinliche Sache, und wir möchten niemanden grundlos verdächtigen.«

»Warum so vorsichtig?« fragte Tini erstaunt. »Du hättest ihm ruhig ein bißchen mehr verraten können.«

»Damit er sich sofort ins Auto setzt und herkommt? Und Mutti und Vati die ganze Sache mitkriegen und uns aus Sorge, es könne uns etwas zustoßen, nicht mehr ins Museum lassen? Nein, jetzt möchte ich auch mitkriegen, wie die Sache ausgeht, ich möchte dabeisein, wenn sie die beiden schnappen!«

»Tina hat recht. Mutti und Vati würden vermutlich gerade noch zulassen, daß wir unsere Aussage bei der Polizei machen, mehr nicht. Und das wäre doch jammerschade, oder?« Tobbi grinste breit. »Das hätten wir auch nicht verdient, wo wir so gute Arbeit geleistet haben.«

So machten sie sich einen gemütlichen Abend und freuten sich auf die Enthüllungen am nächsten Tag. Den letzten Akt des Dramas würden sie auf keinen Fall verpassen!

Der Professor hatte sie zum Frühstück eingeladen. Er empfing sie freundlich lächelnd, aber mit deutlicher Skepsis, was ihre angebliche Entdeckung betraf.

»Nun setzt euch erst mal und greift tüchtig zu. Und dann könnt ihr mir von euren Beobachtungen erzählen.«

Tina, Tini und Tobbi sahen sich vergnügt an. Wenn der Professor ahnte, was sie ihm zu sagen hatten! Sie griffen nach dem angebotenen Brötchenkorb, bedienten sich mit Butter, Schinken und Eiern, tranken einen Schluck Tee, dann begann Tini beiläufig zu erzählen.

»Morgen wird der nächste Diebstahl stattfinden. Der Graf wird persönlich dafür sorgen, daß der Alarm fälschlich ausgelöst wird, der Wärter ist bestochen worden, aus dem Münzkabinett zu verschwinden, wenn es soweit ist, und der Dieb wird genauso seelenruhig und unerkannt mit den Münzen davonspazieren wie das erste Mal.«

Dem Professor fiel die Wurstsemmel aus der Hand. Mit offenem Mund starrte er Tini an.

»Hast du das geträumt?« fragte er tonlos.

»Wir haben es gehört. Wir haben gehört, wie der Graf mit seinem Komplizen verhandelt hat. Gestern nachmittag in der Jagdhütte.«

»Moment mal, ich fürchte, das müßt ihr mir ganz langsam und in aller Ruhe von Anfang an erzählen, ich begreife nämlich überhaupt nichts! Graf — Komplize —Jagdhütte — was für eine Jagdhütte, und wie seid ihr da hingekommen? Was habt ihr gehört und gesehen? Und wer ist dieser Dieb?«

»Bei dem Dieb handelt es sich um einen gewissen Herrn, der ziemlich eitel sein muß, denn er trägt ein Perücke, um seine Glatze zu verbergen, wenn er unter die Leute geht. Bei seinen Diebestouren allerdings verzichtet er darauf und trägt statt dessen Schnurrbart und Brille.« Tini machte sich einen Spaß daraus, die Geschichte genüßlich auszumalen. »Sein Name ist übrigens Frentzler, Antiquitäten- und Gebrauchtwarenhändler. Er hat eine Frau, die offenbar ebensogern Perücken und an Feiertagen ein auffallendes Make-up trägt, außerdem einen Haufen Kinder und einen beachtlichen Bauch.«

»Sagten Sie nicht, Verbrechen habe immer etwas mit Geldgier zu tun?« warf Tina ein. »Unser Freund Frentzler hat mit dem Diebstahl das Geschäft seines Lebens gemacht, wenn ich richtig vermute. Los, Tobbi, zeig mal den Zeitungsausschnitt!«

Tobbi zog sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm den sorgfältig zusammengefalteten Artikel aus der Fachzeitschrift. Der Professor griff hastig danach. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er die Zeilen überflog.

»Begreifen Sie nun?« sagte Tini. »Der Graf hat diesen Artikel in dem Augenblick zu Gesicht bekommen, als er das Schloß mit allen Kunstschätzen und der Münzsammlung hatte verkaufen müssen. Vielleicht hat er gehofft, auf diese Weise genug Geld zusammenzubekommen, um alles zurückzukaufen. Auf jeden Fall war es eine Chance, mit einem Schlag wieder zu Geld zu kommen.«

»Durch ein Verbrechen? Ich kann es nicht glauben.«

Tina, Tini und Tobbi sahen sich an.

»Durch einen Zufall haben wir die beiden zusammen gesehen und haben gehört, wie sie sich verabredet haben«, berichtete Tina weiter. »Und da alles darauf hindeutete, daß es sich bei dieser Verabredung um ein Gespräch über die gestohlenen Dukaten handeln würde, sind wir ebenfalls zu diesem Treffen gegangen — unerkannt natürlich. Und dabei haben wir gehört, wie der Graf den Frentzler beauftragt hat, morgen noch mehr Münzen zu klauen.«

»Wart ihr schon bei der Polizei?« fragte der Professor.

»Nein, wir wollten erst mit Ihnen sprechen«, sagte Tobbi.

»Dann müssen wir das sofort nachholen!«

»Ja, natürlich, aber… darf ich mal was vorschlagen?« fragte Tini und sah den Professor treuherzig an. »Vielleicht wäre es doch gut, wenn man die Diebe in flagranti erwischte. Ich meine, wenn sie morgen einen neuen Diebstahl begehen. Für den ersten haben wir ja keine anderen Beweise als das Gespräch, das wir belauscht haben. Und das würden die beiden sicher abstreiten.«

Der Professor sah Tini an. Dann lachte er.

»Ich weiß schon, worauf du hinauswillst. Ihr möchtet das Abenteuer miterleben. Nun, ich glaube, da kann ich dich beruhigen. Die Polizei wird gewiß der gleichen Ansicht sein. Auf jeden Fall werde ich nicht versäumen, es zu erwähnen.«

Das Geheimnis der Knöpfe

Noch dreimal hatten sie dem Professor die ganze Geschichte erzählen müssen. Dann fuhren sie gemeinsam zur Polizei. Der Verkaufsstand blieb heute geschlossen. Allerdings hüteten sie sich, jemandem den wahren Grund ihres Fernbleibens zu erklären, um den bestochenen Wärter nicht zu warnen.

Auf der Polizeiwache mußten sie ihre Beobachtungen dann noch einmal zu Protokoll geben.

»Warum seid ihr nicht früher gekommen?« fragte der Inspektor ärgerlich.

»Früher?« fragte Tini naiv. »Aber wir wissen es doch erst seid gestern abend! Wir hatten keine Ahnung, daß der Graf … nein, so etwas konnte man doch wirklich nicht vermuten!«

»Auf eigene Faust Detektiv zu spielen«, brummte der Inspektor. »Na ja, lassen wir das, immerhin habt ihr uns ja sehr geholfen.«

Es war, wie der Professor vermutet hatte. Man beschloß, das Museum unauffällig mit Polizeibeamten zu besetzen und den zweiten Diebstahl abzuwarten, um die Diebe auf frischer Tat zu ertappen und festzunehmen.

»Ihr tretet morgen euren Dienst an wie immer«, sagte der Inspektor, »und laßt euch um Himmels willen nichts anmerken. Bleibt auf eurem Platz und haltet die Augen offen.«

»Ist doch klar!« sagte Tobbi fast ein bißchen beleidigt. »Wir sind doch nicht von gestern!«

Der Professor fuhr die drei Freunde nach Hause und kehrte ins Museum zurück. Tina, Tini und Tobbi beschlossen, sich nun wirklich mal einen richtigen Ferientag zu gönnen, und da die Sonne schien und die Straßen trocken waren, fuhren sie zum Wellenbad hinüber und vergnügten sich dort bis zum Nachmittag.

Zu Hause angekommen übernahmen Tina und Tini den Küchendienst und ersannen ein Schlemmermenü, mit dem sie die restliche Familie zum Abendbrot überraschten. Dann räumten sie die Küche auf, setzten sich noch für eine halbe Stunde zu den Eltern ins Wohnzimmer und verabschiedeten sich bald, da sie — wie sie behaupteten — vom Schwimmen todmüde seien.

»Es ist zum Verrücktwerden!« stöhnte Tina. »Das war doch wirklich ein schöner Tag. Aber glaubst du, ich hätte auch nur eine Minute an etwas anderes denken können, als an den geplanten Diebstahl morgen früh, und wie der Graf das Ganze inszeniert hat?«

»Glaubst du, mir geht es anders? In Gedanken habe ich bereits sämtliche Möglichkeiten durchgespielt. Ich fühle mich wie vor einem aufregenden Film, dessen Inhalt ich noch nicht kenne.«

»Laß uns schlafen, um so schneller wird es Morgen.« Tina zog sich die Decke bis ans Kinn und löschte das Licht. »Und morgen werden wir endlich wissen, wie er die Dukaten aus dem Museum geschmuggelt hat. Gute Nacht!«

»An!« quiekte Tini.

»Was ist los?«

»Ich habe mich auf etwas Spitzes gelegt. Mach noch mal das Licht an!«

»Na? Was war’s?«

»Dieses komische Stückchen Blei vom Sylvesterabend. Es muß vom Regal in mein Bett gepurzelt sein!«

»Das geheimnisvolle Orakel!« Tina kicherte. »Das besagt, daß du in diesem Jahr viele Knöpfe annähen mußt. Du wirst; doch wohl nicht so dick werden, daß dir dauernd die Knöpfe abplatzen?«

»Bloß nicht. Blödes Ding!«

Tini legte das Bleistückchen zurück aufs Regal und kuschelte sich unter die Bettdecke. »Kannst das Licht wieder ausmachen. Gute Nacht!« sagte sie gähnend.

Knöpfe annähen! dachte Tini. Ausgerechnet. Aber vielleicht meinte das Orakel ja auch etwas anderes? Das dickbackige Gesicht zum Beispiel. Ob es etwas mit dem Dich zu tun hatte? Mit dem dicken Herrn Frentzler? Tini stellte sich den Dicken vor, wie er neulich erschienen war — mit aufgeklebtem Schnurrbart und in diesem zu engen Trachtenanzug. Sie sah noch die Blümchensamtweste und die himbeerrosa Krawatte. Wie er daran herumgezupft hatte! Eitler Tropf, ganz deutlich sah sie ihn vor sich. Und plötzlich stutzte sie. Ein Bild hatte sich in ihr Gedächtnis geschoben, etwas, das sie neulich gar nicht beachtet hatte! Knopf! dachte Tini. Die Knöpfe an der Weste! Sie waren auffallend groß und hatten golden geblitzt. Und sie hatte sich eine Sekunde lang gefragt, warum er die Krawatte über der Weste trug und nicht darunter, damit man die schönen Trachtenknöpfe sehen konnte.

Tini war auf einmal hellwach. Sollte das wirklich die Lösung sein? Aber wie konnte er die Dukaten so schnell als Knöpfe an seine Weste bekommen? Nein, der Gedanke war zu absurd. Immerhin hatte er gesagt, auf den Trick fiele jeder herein, er wäre todsicher. Aber wie? Mit Klebstoff? Nein, das ging nicht. Eingeklemmt? Vielleicht, aber dann hätte er an seiner Weste Fassungen haben müssen, die auf den Millimeter genau paßten! Tini grübelte darüber nach, bis sie einschlief.

Am nächsten Morgen waren sie besonders pünktlich zur Stelle. Auf dem Parkplatz stand ein neuer Parkwächter. Der andere sei krank, sagte er, sein Schwager hätte sich erbeten, ihn zu vertreten.

In einer Ecke des Parkplatzes stand ein Wohnmobil. Die buntkarierten Vorhänge waren geschlossen, die Bewohner des Wagens schienen noch zu schlafen. Im Park arbeiteten zwei neue Gärtner, und in der Einfahrt gruben drei Kanalarbeiter ein Loch.

»Alles Polizeibeamte«, flüsterte Tobbi. »Wetten?«

»Die Wette hast du gewonnen«, wisperte Tina zurück. »Und bestimmt sind die Hälfte der Museumsbesucher heute auch Polizisten in Zivil.«

Es war gar nicht so leicht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es im Magen flatterte, und wie die Hände vor Aufregung zitterten, wenn man Wechselgeld herausgab oder Postkarten in eine Tüte steckte. Immer wieder wanderten die Augen der drei Freunde zum Portal und prüften unauffällig, ob nicht der dicke Frentzler endlich unter den hereinströmenden Besuchern sei. Aber er ließ sich nicht blicken.

Gegen halb zwölf Uhr erschien der alte Graf, schlecht gelaunt und mit quäkender Stimme fragte er nach dem Professor und ließ ihm sagen, er erwarte ihn in seinem Büro, er müsse ihn dringend sprechen. Tobbi geleitete den Grafen in das Büro des’ Professors und versprach, ihn sofort zu holen.

»Wir brauchen dringend Wechselgeld«, sagte Tina zu Tini, »kannst du schnell mal zu Gretchen an die Kasse gehen? Ich kann hier nicht weg.«

»Okay, mach ich.«

Tini zog einen Fünfzigmarkschein aus einem Bündel, das unter dem Kleingeldfach ihrer Kasse lag und lief zu Gretchen hinüber. Wie sie erst jetzt bemerkte, steckte die Büroklammer, die die Geldscheine zusammengehalten hatte, noch an dem Schein in ihrer Hand, und sie zog sie heraus.

Vor der Kasse stieß sie um ein Haar mit einem dicken alten Herrn zusammen. Sein gewaltiger Bauch schob sich ihr ins Blickfeld, darüber das ausgeleierte Jacken und eine verschossene Samtweste, die zum Teil von einem lose darüberhängenden Schal, zum anderen Teil von einem langen weißen Bart verdeckt war. Der Mann hatte schneeweiße, lange Haare und buschige Augenbrauen, er trug eine Baskenmütze, und alles an ihm ließ an einen in seiner Kleidung etwas nachlässigen Künstler oder Wissenschaftler denken.

Bei dem Zusammenprall war Tini die Büroklammer aus der Hand gefallen. Tini hätte es nicht bemerkt, wenn die Klammer nicht zu ihrem Erstaunen am untersten Knopf der Weste des Mannes gehangen hätte, als wäre sie dort festgeklebt. Tini traf es wie ein Blitzschlag. Sie murmelte »Entschuldigung« und wandte sich Gretchen zu, als hätte sie den Mann gar nicht richtig wahrgenommen.

»Ich brauche ganz schnell Wechselgeld«, stotterte sie und hatte Mühe, ihre Aufregung zu verbergen.

Aus den Augenwinkeln verfolgte Tini, wie sich der dicke alte Mann zum Eingang begab, wo er sich der Führung Herrn Kellners anschloß. Seine Augen schienen mit lebhaftem Interesse an Kellner zu hängen, als wäre jedes Wort, das der junge Wissenschaftler sprach, eine Offenbarung für ihn. Mit übertriebenem Eifer folgte er jeder seiner Handbewegungen und brauchte lange, ehe er jedes einzelne Stück im Empfangssaal studiert hatte. Dann ging die Gruppe in den Nebenraum, und Tini konnte ihn nicht weiter beobachten.

»Achtung!« raunte sie Tina zu. »Jetzt geht es gleich los. Er ist drin.«

»Wie? Wo? Warum hast du ihn mir nicht gezeigt?«

»Das wäre womöglich aufgefallen. Eine tolle Maske hat er sich einfallen lassen, das muß ich sagen.«

Tobbi kam aus dem Büro des Direktors zurück und nahm seinen Platz hinter dem Verkaufsstand wieder ein.

»Was habt ihr da zu flüstern? Neuigkeiten?« fragte er.

»Wo ist der Professor?« fragte Tini schnell. »Hast du den Grafen etwa allein im Büro gelassen?«

»Keine Sorge, der Professor ist bei ihm. Der Alte hält ihm einen Vortrag über eine neue Alarmanlage, die angeblich wesentlich sicherer sein soll. Er demonstriert ihm gerade, wie unzuverlässig unsere …«

In diesem Augenblick gellte die Sirene, und durch die Räume schallte das bekannte ohrenbetäubende Klingeln. Gretchen sprang wie von der Tarantel gestochen von ihrem Sitz auf und stürzte zur Tür, um sie abzuschließen.

Im gleichen Augenblick kam der Professor aus seinem Büro, zwinkerte im Vorbeigehen Tina, Tini und Tobbi zu und rief in den Saal: »Keine Aufregung, meine Herrschaften, das war blinder Alarm! Der Herr Graf hat aus Versehen die Alarmanlage ausgelöst!«

»Nun bin ich gespannt!« flüsterte Tini.

Der Professor kehrte in sein Büro zurück, und einer der Besucher postierte sich unauffällig vor seiner Tür und tat, als läse er die Anschläge auf dem schwarzen Brett. Drinnen ging die Führung offenbar weiter, man hatte das Münzkabinett hinter sich und war durch das Jagdzimmer in die Bibliothek gelangt, wo Herr Kellner eine kostbar verzierte Bibel vorführte.

»Ich würde zu gern mal nachsehen«, murmelte Tobbi.

Leider kamen gerade jetzt zwei junge Besucherinnen und ließen sich von ihm eine endlose Reihe von Postern zeigen.

In diesem Augenblick erschien der dicke alte Herr in der Tür zum Empfangssaal. Er wurde von einem jüngeren Mann gestützt, in dem Tini einen der Beamten von gestern erkannte.

»Danke, herzlichen Dank, junger Mann, ich muß nur einen Augenblick an die frische Luft. Der Schreck ist mir derart in die Glieder gefahren, wissen Sie… und… und der Arzt hat mir jede Aufregung verboten! Das Herz, verstehen Sie…«

»Soll ich Sie nach Hause bringen?« fragte der junge Mann liebenswürdig. Er spielte seine Rolle ausgezeichnet.

»Nein, nein, vielen Dank, nicht nötig. Ich gehe draußen ein wenig auf und ab und sehe mir dann noch den Rest der Räume an.«

Lügner, dachte Tini und zwinkerte Tina zu, die für einen Kunden gerade Postkarten abzählte. Der dicke alte Mann betupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch, ächzte hörbar und ging mit unsicheren Schritten auf den Ausgang zu. Der junge Mann riß mit übertriebener Höflichkeit die Tür für ihn auf und ließ ihn an sich vorbeigehen.

»Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr«, murmelte Tini.

»Sie haben mir eine Mark zuviel rausgegeben, Fräulein«, sagte der Kunde zu Tina, die ihre Augen ständig zwischen Saaltür und Ausgang hin und her wandern ließ.

»Oh, wie dumm von mir. Vielen Dank!« beeilte sich Tina zu sagen und betete zum Himmel, es möchten vorerst keine weiteren Käufer erscheinen.

Tobbi stand wie auf Kohlen und hätte den beiden jungen Mädchen am liebsten den ganzen Stapel Poster geschenkt, nur um sie loszuwerden.

Jetzt kam der Graf aus dem Büro des Professors und spazierte hinaus. Der wartende Besucher vor dem schwarzen Brett zog ein Funkgerät aus seinem Mantel und hob es dicht an den Mund.

»Er ist draußen, übernehmen Sie, Baumeister.«

Tina und Tini konnten es kaum verstehen, denn gerade in diesem Augenblick schrie eines der beiden jungen Mädchen glücklich: »Hier ist es ja! Genau das, was ich suchte! Das nehme ich!«

»Zwölf Mark«, sagte Tobbi mit einem Seufzer der Erleichterung. »Hätten Sie’s zufällig passend da?«

Tini rollte das Poster zusammen und wickelte die Rolle in Papier, Tina nahm den Zwanzigmarkschein entgegen, und Tobbi grabschte nach dem Wechselgeld. Die jungen Mädchen schauten leicht irritiert ob dieser blitzartigen Bedienung. Kaum hatten sie sich abgewandt, tauchte der Professor auf, neben sich zwei weitere Beamte.

»Macht euren Laden zu und kommt mit, es ist soweit«, sagte er leise. »Wir steigen in die dunkelblaue Limousine hinter dem Torbogen ein.«

Der Professor setzte sich neben den Inspektor auf den Beifahrersitz; Tina, Tini und Tobbi drängten sich mit einem der jüngeren Polizeibeamten auf dem Rücksitz zusammen. Atemlos lauschten sie auf die Durchsagen, die aus dem Lautsprecher kamen.

»Frentzler ist in einen Waldweg eingebogen … er fährt links auf den Parkplatz vor dem Wildgehege … wir können nicht näher ran, haben keine Deckung… jetzt steigt er aus!«

»Was macht er?« drängte der Inspektor.

»Er zieht sich den Mantel aus und die Jacke. Jetzt die Weste!«

»Und jetzt?«

»Jetzt zieht er Jacke und Mantel wieder an. Ist ihm wohl heiß geworden bei der Sache!«

Der Inspektor stöhnte auf.

»Warum haben Sie ihn eigentlich nicht gleich vorhin verhaftet?« rutschte es Tina heraus.

»Dann würden wir den zweiten Mann vermutlich nie erwischen«, brummte der Inspektor. »Wir wollen die beiden bei der Übergabe des Diebesguts stellen. Weber, hören Sie mich? Was ist los?«

»Er hat die Weste in den Kofferraum geworfen. Jetzt geht er in den Wald. Ich gehe mal hinterher, Chef!«

»In Ordnung, Ende. Baumeister … Baumeister, bitte kommen. Wie sieht’s bei Ihnen aus?«

»Der Alte macht einen Spaziergang durch den Wald. Kennt ziemlich kreuz und quer!«

»Wo sind Sie?«

»Hinten beim Trimm-Pfad. In der Nähe des Wildgeheges, beim Parkplatz. Er beobachtet den Parkplatz mit dem Feldstecher. Jetzt geht er rüber!«

»Bleiben Sie in Deckung, Mann, wenn er Sie sieht, war alles vergebens!« beschwor ihn der Inspektor.

Tina, Tini und Tobbi hatten das Gefühl, meterlange Ohren zu bekommen vor angestrengtem Hinhorchen. Der Professor zog nervös an seiner Zigarette.

»Chef, hören Sie?«

»Ja, was ist, Baumeister?«

»Er geht zu dem Wagen rüber, jetzt schaut er sich um, sieht aus, als warte er, nein, ich glaube, er will nur sicher sein, daß niemand in der Nähe ist. Er geht an den Kofferraum. Ts, das ist ja ‘n Ding…«

»Was ist los, reden Sie doch!«

»Er hat eine Jacke da rausgenommen, nein, eine Weste. Jetzt zieht er seinen Mantel und die Jacke aus und zieht sich die Weste an.«

»Und?«

»Er zieht seine Klamotten wieder an, er macht den Kofferraum zu und geht!«

»Bleiben Sie ihm auf den Fersen, Baumeister. Ich komme!«

Der Inspektor ließ den Motor an und startete. Wenn Tobbi gehofft hatte, sie würden nun mit Blaulicht und Sirenengeheul durch die Gegend rasen, so hatte er sich getäuscht. Der Inspektor fuhr in aller Ruhe zum Wald hinüber und unterhielt sich dabei über Funk weiter mit seinen Beamten.

»Weber, wo stecken Sie, melden Sie sich!«

»Bin schon da, Chef. Das läuft alles wie geschmiert. Da ist so ein Schuppen, bei der Wildfütterung. Frentzler ist rein, und als er wieder rauskam, war er weg.«

»Reden Sie keinen Unsinn, Weber, der Frentzler?«

»Nein, der Bart. Und die Perücke. Keine Spur mehr von altem, herzkrankem Mann. Das Zeug hat er wohl in der Hütte vergraben. Jetzt geht er zurück zum Wagen.«

»Ich bin gleich da.«

Jetzt gab der Inspektor Gas. In wenigen Minuten erreichten sie den versteckten Parkplatz im Wald. Frentzler stand, flankiert von zwei Beamten, neben seinem Auto und protestierte heftig. Jetzt brauste auch das zweite Polizeiauto heran. Der Wagen bremste, die Türen wurden geöffnet, und zwei Beamte schoben den alten Grafen vor sich her.

Der Inspektor stieg aus, der Professor, Tina, Tini und Tobbi folgten ihm in einigem Abstand.

»Tut mir leid, lieber Graf, diesmal wird es wohl nichts mit dem Millionengeschäft. Sie erlauben?«

Der Inspektor trat auf den Grafen zu, der ihm hoch aufgerichtet mit verkniffenem Gesicht entgegenstarrte. Der Inspektor schlug seinen Mantel auseinander und tastete die Taschen der Weste ab. Dann befühlte er das Futter.

»Was erlauben Sie sich!« rief der Graf. »Harmlose Spaziergänger im Wald festnehmen zu lassen! Ich werde Sie verklagen!«

»Das werden wir sehen. Zunächst einmal gibt es Zeugen dafür, daß Sie diese Weste aus dem Wagen entwendet haben. Und vermutlich nicht nur, um sich damit gegen die Kälte zu schützen.«

»Das ist eine unverschämte Behauptung!« schimpfte der Graf. »Sie können mir nichts beweisen!«

Tini beobachtete, wie der Inspektor zusehends nervöser wurde, da er weder in den Taschen der Weste noch im Futter etwas finden konnte. Schließlich trat sie neben ihn.

»Darf ich, Herr Inspektor? Ich weiß, wo die Münzen versteckt sind. Hier!«

Damit nahm sie einen der Knöpfe zwischen die Finger, rupfte kräftig daran und hielt eine Münze in der Hand.

»Tini!« rief Tina fassungslos. »Wie bist du darauf gekommen?«

»Ich sag’s ja! Unser Superhirn!« stöhnte Tobbi erleichtert auf. »Sie ist uns immer um eine Nasenlänge voraus!«

»Der Zufall ist mir zu Hilfe gekommen«, wehrte Tini ab.

»Ein glücklicher Zufall in Form einer winzigen Büroklammer, die vor einer Stunde am Westenknopf dieses Herrn dort hängenblieb!« Tini zog eine Geldmünze aus der Tasche und hielt sie an die Weste. »Da, sehen Sie — Klebefolie. Klebefolie auf Knöpfen. Auf die gleiche Weise sind auch die Golddukaten aus dem Museum verschwunden — als Knöpfe an einer geblümten Samtweste! Auf doppelseitiger Klebefolie!«

»Gratuliere, junge Dame! Das ist wirklich großartig!« lobte sie der Inspektor. »So, meine Herren, Sie begleiten uns jetzt. Wir reden in meinem Büro weiter. Sie, Weber, holen das Gepäck des Herrn Frentzler aus der Wildhütte, und Sie, Baumeister, fahren diese Herrschaften zurück ins Museum. Ich melde mich dann später noch mal bei Ihnen, Herr Professor, wegen des Protokolls. Und wo kann ich euch heute nachmittag erreichen?« wandte er sich an Tina, Tini und Tobbi.

»Bei mir!« sagte der Professor. »Denn den Erfolg müssen wir ausgiebig feiern. Ich lade die jungen Leute zum Tee und zu einem anschließenden feierlichen Abendessen ein. Natürlich sind auch Sie herzlich willkommen, Herr Inspektor!«

»Vati und Mutti werden Augen machen, wenn sie die Geschichte hören!« sagte Tobbi, als sie vor dem Schloß hielten. »Dürfen wir sie gleich anrufen?«

»Selbstverständlich!« sagte der Professor. »Ladet sie ein. Sie sollen nur gleich herkommen.«

Tina lief zum Telefon und wählte. Ihre Mutter kam an den Apparat, sie schien außer Atem zu sein.

»Tina, lieb, daß du anrufst!« sagte sie und sprach sofort weiter. Tina versuchte vergeblich zu Wort zu kommen.

»Kinder, ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich für einen Tag erlebt habe! Das Wartezimmer war voll wie noch nie, der Doktor zu einem dringenden Fall gerufen, das Telefon stand nicht still, und dann kam der Steuerprüfer und wollte noch in derselben Stunde ein paar Unterlagen haben, die ich ihm vor Weihnachten versprochen hatte zu schicken. Und als ob das noch nicht genug sei, blieb für eine Stunde der Strom weg! Ich kann dir sagen — das reinste Abenteuer! Und wie geht es euch?« ‘

»Danke.« Tina lachte vergnügt. »Ausgezeichnet. Wir hatten einen sehr amüsanten Vormittag. Der Professor läßt euch fragen, ob ihr nicht Lust hättet, zum Tee herüberzukommen. Eine kleine Erholung wird dir sicher guttun nach all den Aufregungen. Abgemacht? Fein, dann bis gleich, Mutti. Wie? Einen besonderen Grund? Ach, nicht direkt. Man muß die Feste feiern wie sie fallen!«

»Und wenn gerade keins fällt, muß man eins erfinden«, rief Tobbi dazwischen.

»Zum Beispiel das Knopf-Fest«, lachte Tini.