Jane Eyre

Charlotte Brontë

1847

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»Man sagt, Frauen seien im allgemeinen sehr ruhigen Naturells, doch Frauen empfinden genauso wie Männer. Sie brauchen ebenso wie ihre Brüder einen Tätigkeitsbereich, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können…Es ist engstirnig von den bevorrechtigten Männer, wenn sie sagen, Frauen sollen sich darauf beschränken, Pudding zu kochen und Strümpfe zu stricken, Klavier zu spielen und Taschen zu besticken.«

Inhaltsverzeichnis

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Ein Spaziergang war an jenem Tage nicht möglich. Wir waren zwar am Vormittag eine Stunde lang im kahlen Gebüsch gewandert; aber seit dem Mittagessen (Frau Reed aß früh, wenn sie keine Gesellschaft hatte) waren im kalten Winterwind so dunkle Wolken und ein so durchdringender Regen heraufgezogen, daß weiteres Ausdemhausegehen nicht mehr in Frage kam. Mir war es nur recht; lange Spaziergänge hatte ich nie gemocht, besonders nicht an kalten Nachmittagen: Die Heimkehr im rauhen Zwielicht, mit vor Kälte schmerzenden Fingern und Zehen, das Geschelte des Kindermädchens Bessie, das mir das Herz schwer machte, die Demütigung, die ich jedesmal empfand, wenn mir meine physische Unterlegenheit Eliza, John und Georgiana Reed gegenüber zu Bewußtsein kam, waren mir ein Greuel.

Eliza, John und Georgiana hatten sich nun im Wohnzimmer um ihre Mama gedrängt: sie lag auf einem Sofa am Kamin und sah inmitten ihrer Lieblinge (die geradeeinmal nicht stritten oder heulten) restlos glücklich aus. Mich hatte sie nicht in ihre Gruppe eingeschlossen. Sie bedauere, mich fernhalten zu müssen, erklärte sie; aber solange sie nicht von Bessie hörte und sich selbst davon überzeugt hätte, daß ich mich ernstlich bemühe, mich verträglicher und kindlicher zu benehmen, mich angenehmer und munterer zu zeigen — etwas leichtherziger, offener und natürlicher als bisher —, so lange müsse sie mich nun wirklich von den nur zufriedenen, fröhlichen kleinen Kindern vorbehaltenen Freuden ausschließen. »Was hat denn Bessie gesagt, das ich getan habe?« fragte ich. »Jane, ich mag keine Nörgler und Quängler; außerdem ziemt es sich nicht für ein Kind, Erwachsenen gegenüber diesen Ton anzuschlagen! Setz dich irgendwo hin; und wenn du nichts Freundliches zu sagen hast, so schweige!«

Neben dem Wohnzimmer lag ein kleiner Frühstücksraum, dort huschte ich hinein. Es gab da einen Bücherschrank; bald hatte ich mir einen Band herausgenommen, wobei ich darauf achtete, daß er Bilder enthielt. Ich kletterte in den Fenstersitz, schlug die Beine wie ein Türke untereinander, zog den roten Moiré-Vorhang fast ganz zu und schloß mich doppelt von aller Welt ab.

Die Falten des scharlachroten Vorhangs verdeckten die Aussicht nach rechts, und von links schützte mich die blanke Fensterscheibe vor dem düsteren Novembertag, ohne mich von ihm zu trennen. Von Zeit zu Zeit, während ich die Seiten meines Buches umblätterte, beobachtete ich den draußen anbrechenden Winterabend. In der Ferne verdeckten Nebelschwaden und bleiche Wolken die Landschaft, und vor mir trieben heulende Windstöße nicht enden wollende Regenschauer über die nassen Wiesen.

Ich wandte mich wieder meinem Buch zu — es war Bewicks Naturgeschichte der Britischen Vögel —, dessen gedruckter Text mich eigentlich nicht sonderlich interessierte, obgleich einige Seiten der Einleitung selbst meinem kindlichen Unverstand aufgefallen waren. Es waren besonders die Stellen, in denen die Brutplätze der Seevögel beschrieben wurden, »die einsamen Felsen und Klippen«, auf denen nur sie lebten; die norwegische Küste mit ihren vielen Inseln, die sich von Lindesnes im Süden bis zum Nordkap hinziehen —

»Dort, wo des Nordmeers weite Wirbelfluten

im fernen Thule sich an öden Felsen brechen,

dort, wo die Brandung des Atlantik stürmend

die Küsten der Hebriden wild umspült.«

Auch konnte ich nicht die Beschreibung der kahlen unwirtlichen Küsten Lapplands, Sibiriens, Spitzbergens, Nova Zemblas, Islands und Grönlands übersehen, »das riesige Gebiet der arktischen Zone und jene weiten öden verlorenen Landstriche — dieser gigantische Speicher von Schnee und Eis, wo sich im Laufe jahrhundertelanger Winter felsstarke Eisberge von alpiner Höhe um den Pol herum aufeinandergetürmt hatten und in vielfachem Ausmaß die Bedingungen strengster und härtester Kälte bieten«. Von diesen Gefilden des weißen Todes machte ich mir mein eigenes Bild: wie alle halbverdauten Begriffe, die im Gehirn eines Kindes dämmern, war es ziemlich verwirrt, aber von seltsamer Eindruckskraft. Die Worte in den einführenden Seiten verbanden sich mit den folgenden Bildern und Vignetten und gaben ihnen ihren eigenen Sinn: dem einsam in der Gischt aufragenden Felsen, dem an verlassener Küste gestrandeten Boot, dem kalten und gespenstischen Mondlicht in finster wolkenverhangenem Himmel über einem sinkenden Schiff.

Ich vermag das Gefühl nicht zu beschreiben, das mich beim Anblick des einsamen Friedhofs, seinem beschrifteten Grabstein, seinem Tor, der beiden Bäume, der zerbröckelnden Mauer am niederen Horizont und der eben aufgegangenen Mondsichel in der Abenddämmerstunde überkam. Die beiden regungslos auf windstiller See liegenden Schiffe hielt ich für Meergespenste.

Den geflügelten Unhold mit seiner Diebesbeute fest in den Krallen überschlug ich rasch: Er flößte mir Schrecken ein.

Ebenso verfuhr ich mit dem schwarzen gehörnten Teufel, der ungerührt auf einem Felsen seiß und eine um einen Galgen versammelte Gruppe beobachtete.

Jedes Bild erzählte eine Geschichte; oft war sie geheimnisvoll, meinem unentwickelten Verstand und meinen kindlichen Gefühlen unauffaßbar, aber stets zutiefst interessant: ebenso interessant wie die Geschichten, die Bessie manchmal an Winterabenden erzählte, wenn sie zufällig einmal guter Laune war und wenn sie ihren Bügeltisch an den Kamin des Kinderzimmers stellte und uns erlaubte, uns um sie herum zu setzen. Während sie Frau Reeds Spitzenrüschen steifte und ihre Nachthäubchen plättete, erzählte sie uns, die wir mit größter Aufmerksamkeit lauschten, von Liebe und Abenteuern aus alten Märchen und noch älteren Balladen; oder auch (wie ich es später entdeckte) aus den Romanen »Pamela« und »Henry, der Graf von Moreland«.

Mit meinem Bewick auf dem Knie war ich glücklich; glücklich wenigstens auf meine Art.

Meine einzige Befürchtung war, unterbrochen zu werden, und das geschah allzubald. Die Tür des Frühstückszimmers wurde aufgerissen.

»Buh! Mamsell Griesgram!« rief die Stimme John Reeds. Dann hielt er inne: das Zimmer schien ihm leer zu sein.

»Wo zum Kuckuck steckt sie denn?« fuhr er fort. »Lizzy, Georgy!« Er rief seine Schwestern herbei. »Jane ist nicht hier; sagt Mama, daß sie in den Regen hinausgelaufen ist — das böse Biest!«

»Es war eine gute Idee, den Vorhang zuzuziehen«, dachte ich mir und wünschte sehnlichst, er möge mein Versteck nicht entdecken: John Reed selbst hätte es auch kaum gefunden; Begriff und Verstand waren bei ihm nicht rasch; aber Eliza steckte gerade den Kopf zur Tür herein und sagte sofort: »Sie hockt bestimmt auf dem Fenstersitz, Jack.«

Ich kam sofort hervor, denn ich zitterte bei dem Gedanken, besagter Jack könne mich herauszerren.

»Was willst du?« fragte ich verlegen und mißtrauisch.

»Sag ›Was wünschen Sie, Master Reed?‹« war die Antwort. »Ich wünsche, daß du herkommst«. Er setzte sich in einen Armstuhl und gebot mir mit einer Handbewegung, näher zu treten und mich vor ihn zu stellen. John Reed war ein Schuljunge von vierzehn Jahren; vier Jahre älter als ich, die ich kaum zehn war. Er war groß und kräftig für sein Alter, hatte eine ungesunde, fleckige Haut, einen dicken Kopf mit groben Gesichtszügen, plumpe Gliedmaßen und große Hände und Füße. Bei Tisch stopfte er sich gewöhnlich so voll, daß er davon gallig, trübäugig und schlaff hängebackig geworden war. Eigentlich hätte er in der Schule sein sollen, aber seine Mama hatte ihn für ein bis zwei Monate im Hause behalten, »weil er von so zarter Gesundheit war«. Herr Miles, der Lehrer, behauptete zwar, er würde sich besten Wohlergehens erfreuen, wenn man ihm von zu Hause weniger Kuchen und Zuckereien schickte; aber das mütterliche Herz sträubte sich gegen ein so hartes Urteil und neigte eher dazu, Johns bleiches und schlaffes Aussehen feineren Ursachen zuzuschreiben wie Überarbeitung und vielleicht sogar Heimweh.

John empfand nicht viel Zuneigung für seine Mutter und Schwestern, und mich mochte er überhaupt nicht. Er quälte und peinigte mich nicht etwa gelegentlich, zwei- oder dreimal in der Woche, ein- oder zweimal am Tag, nein, er tat es unablässig. Ich fürchtete ihn mit jeder Fiber meines Wesens, ich erschauderte bis in die Knochen, wenn er mir nahe kam. Es gab Augenblicke, an denen der Schrecken mir den Verstand zu rauhen schien, denn ich hatte keine Hilfe, keinen Schutz vor seinen Drohungen und Tätlichkeiten; die Dienerschaft wollte nicht gern ihren jungen Herren gegen sich aufbringen, indem sie Partei für mich nahm, und Frau Reed sah und hörte prinzipiell nichts Derartiges; nie hat sie bemerkt, daß er mich schlug oder übel beschimpfte, obgleich er es hie und da selbst in ihrer Gegenwart tat; allerdings tat er es lieber und öfter hinter ihrem Rücken.

Gehorsam wie gewöhnlich ging ich bis vor seinen Stuhl. Er verbrachte etwa drei Minuten damit, mir die Zunge so weit herauszustrecken, wie er es konnte, ohne sich dabei zu verletzen; ich wußte, daß er mich gleich schlagen würde, und während ich verängstigt den ersten Hieb erwartete, betrachtete ich sinnend das ekelerregende und häßliche Aussehen meines Peinigers.

Vielleicht hatte er mir meine Gedanken vom Gesicht abgelesen, denn plötzlich, ohne ein Wort, schlug er heftig und kräftig auf mich ein. Ich strauchelte und wich einige Schritte von seinem Stuhl zurück, während ich mich wieder ins Gleichgewicht brachte.

»Das ist für deine unverschämte Art vorhin, Mama zu antworten«, sagte er, »und dafür, daß du dich davonschleichst und hinter Vorhängen versteckst und für den frechen Blick in deinen Augen, seit ich dich hier entdeckte, du Ratte!«

Ich war an John Reeds Beschimpfungen gewöhnt, und es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, ihm zu antworten; meine Sorge war nur, wie ich den nächsten Schlag, der gewiß der Schmährede folgen würde, ertrug.

»Was hast du hinter dem Vorhang gemacht?« fragte er.

»Ich habe gelesen.«

»Zeig das Buch her.«

Ich ging zum Fenster und holte es von dort.

»Du hast unsere Bücher überhaupt nicht anzurühren; du bist hier nur geduldet, von uns abhängig, wie Mama sagt; du hast kein Geld, dein Vater hat dir nichts hinterlassen, und du solltest eigentlich betteln gehen, anstatt hier mit vornehmen Kindern wie uns zu leben, an unserem Tisch zu essen und dich auf Mamas Kosten zu kleiden. Jetzt werde ich dich lehren, in meinem Bücherschrank herumzuschmökern: denn die Bücher gehören mir; das ganze Haus gehört mir oder wird mir in ein paar Jahren gehören. Geh und stell dich an die Tür, weg von Spiegel und Fenstern.«

Ich tat, wie mir geheißen, ohne sogleich seine Absicht zu begreifen; aber als ich sah, wie er das Buch ergriff und auf mich werfen wollte, wich ich instinktiv mit einem Schreckensschrei zur Seite: doch nicht schnell genug, denn der schwere Band flog auf mich zu, traf mich, und ich fiel zu Boden, mit dem Kopf gegen die Tür und verletzte mich. Die Wunde blutete, ich empfand einen scharfen Schmerz; jetzt hatte mein Schrecken seinen Höhepunkt überschritten, und andere Gefühle stiegen in mir auf.

»Du gemeiner, böser, grausamer Junge!« sagte ich. »Du bist ein Mörder, ein Sklaventreiber — du bist ein römischer Kaiser!«

Ich hatte Goldsmiths »Römische Geschichte« gelesen und mir meine Meinung über Nero, Caligula und dergleichen gemacht. Auch hatte ich im stillen meine Vergleiche angestellt, ohne sie je, laut wie jetzt, auszusprechen.

»Was? Was?« schrie er. »Hat sie das zu mir gesagt? Habt ihr das gehört, Eliza und Georgiana? Warte nur, bis ich das Mama erzähle, aber zuerst —.«

Er stürzte mit einem Satz auf mich zu; ich spürte, wie er mich an den Haaren riß und an den Schultern packte, aber jetzt hatte er mich zur Verzweiflung gebracht. Ich sah in ihm nun wirklich einen Tyrannen, einen Mörder. Einige Blutstropfen rannen mir vom Kopf den Hals herunter, und ich verspürte einen stechenden Schmerz. Unter diesen Empfindungen war mir im Augenblick alle Furcht genommen, und ich wehrte mich wie eine Rasende. Was ich mit meinen Händen tat, weiß ich nicht mehr, aber er rief mir »Ratte! Ratte!« zu und schrie laut auf. Hilfe für ihn war schon auf dem Weg. Eliza und Georgiana waren nach oben geeilt, um Frau Reed zu holen. Jetzt erschien sie, gefolgt von Bessie und der Zofe Abbot. Man trennte uns. Ich hörte die Worte: »O Gott! O Gott! Was für eine Furie; sich so auf Master John zu stürzen!«

»Hat man je so etwas Wildes gesehen!«

Und schließlich Frau Reed: »Bringt sie ins rote Zimmer und schließt sie dort ein.« Vier Hände ergriffen mich und schleppten mich hinauf.

2

Ich wehrte mich unentwegt: das war etwas Neues für mich und dazu ein Umstand, der Bessies und Abbots schlechte Meinung von mir nur verstärken konnte. Tatsächlich war ich völlig außer mir.

Ich war mir bewußt, daß ich mich mit meiner kurzen Rebellion bereits neuen, mir bisher unbekannten Strafen ausgesetzt hatte, und wie jeder andere aufsässige Sklave war ich in meiner Verzweiflung entschlossen, bis zum Letzten zu gehen.

»Halten Sie ihr die Arme fest, Mamsell Abbot, sie ist wie eine tollwütige Katze.«

»Pfui! Pfui!« rief die Kammerzofe, »welch beschämendes Betragen, Fräulein Eyre, einen jungen Herren zu schlagen, den Sohn Ihrer Wohltäterin, Ihren eigenen Herrn!«

»Meinen Herrn? Wie kann er mein Herr sein? Bin ich eine Magd?«

»Nein, Sie sind weniger als eine Magd, denn Sie tun ja nichts für Ihren Lebensunterhalt. So, setzen Sie sich und denken Sie über Ihre Schlechtigkeit nach.«

Sie hatten mich inzwischen in das von Frau Reed bezeichnete Gemach gebracht und mich auf einen Stuhl gesetzt. Impulsiv wollte ich wie eine Sprungfeder gleich darauf emporschnellen, aber zwei Paar Hände hielten mich sofort fest.

»Wenn Sie nicht stillsitzen, müssen wir Sie anbinden«, sagte Bessie. »Mamsell Abbot, leihen Sie mir Ihre Strumpfbänder; meine würde sie sofort zerreißen.«

Die Zofe wandte sich ab, um eines ihrer kräftigen Beine seiner notwendigen Bindung zu enthüllen. Diese Vorbereitungen zur Fesselung und die damit verbundene zusätzliche Schmach setzten meiner Erregtheit entschieden einen Dämpfer auf.

»Nehmen Sie sie nicht ab«, schrie ich. »Ich werde bestimmt ganz still sitzen.«

Wie um es beweisen zu wollen, klammerte ich mich mit beiden Händen an meinen Stuhl.

»Dann tun Sie das gefälligst!« sagte Bessie, und nachdem sie sich vergewissert hatte, daß ich nun wirklich folgsam war, lockerte sie ihren Griff und ließ mich schließlich los. Dann stellte sie sich mit Mamsell Abbot vor mich mit gekreuzten Armen und betrachtete mich mit düster zweifelndem Blick, als sei sie um meinen Geisteszustand besorgt.

»So ist sie noch nie gewesen«, sagte Bessie endlich zur Abbot gewandt. »Aber es war schon immer in ihr«, war die Antwort. »Ich habe es schon oft zu Frau Reed gesagt, was ich für eine Meinung von dem Kind habe, und Frau Reed war ganz derselben Ansicht. Sie ist ein hinterlistiges kleines Ding; noch nie hab’ ich ein so heimtückisches Mädchen gesehen.«

Bessie sagte darauf nichts: aber sie wandte sich sogleich ermahnend an mich: »Sie sollten sich darüber klar sein, mein Fräulein, daß Sie Frau Reed gegenüber verpflichtet sind. Sie ernährt Sie, und wenn sie Sie wegschicken sollte, so müßten Sie ins Armenhaus.«

Auf diese Worte hatte ich nichts zu erwidern; sie waren mir nicht neu. Schon in den frühesten Erinnerungen meines Daseins hatte ich derlei Anspielungen gehört. Dieser Vorwurf meiner Abhängigkeit war in meinen Ohren ein altes, abgeleiertes Lied; ein schmerzhaftes, niederschmetterndes Lied, aber mir nur halb verständlich. Jetzt gab auch die Abbot noch ihren Senf dazu:

»Und glauben Sie nur nicht, mit den jungen Damen und Master Reed auf gleicher Stufe zu stehen, weil Frau Reed Ihnen gnädigst gestattet, mit ihnen aufzuwachsen. Die jungen Reeds werden einmal sehr viel Geld haben, und Sie haben gar nichts. Ihre Rolle ist es, sich demütig zu zeigen und zu versuchen, ihnen angenehm zu sein.«

»Was wir Ihnen sagen, ist nur zu Ihrem Guten«, fügte Bessie hinzu, und ihre Stimme wurde sanfter. »Sie sollten versuchen, sich nützlich zu machen und liebenswürdiger zu sein, dann werden Sie vielleicht hier ein Heim finden; aber wenn Sie noch weiter grob und ungestüm sind, dann wird Frau Reed Sie wegschicken. Dessen bin ich sicher.«

»Außerdem«, bemerkte Abbot, »Wird Gott Sie strafen: er könnte Sie inmitten Ihrer Wutanfälle einfach tot umfallen lassen, und wohin kämen Sie wohl dann? Kommen Sie, Bessie, wir werden sie allein lassen; ich möchte um alles in der Welt nicht ihr böses Herz haben. Beten Sie, Fräulein Eyre, wenn Sie wieder bei Vernunft sind; denn wenn Sie keine Reue zeigen, könnte etwas Schlimmes den Kamin heruntergeschickt werden und Sie wegholen.«

Sie gingen aus dem Zimmer, schlossen die Tür und riegelten sie hinter sich ab.

Das Rote Zimmer war ein Extraraum, in dem selten jemand schlief; ich könnte sagen: niemals, es sei denn, wenn einmal zufällig so viele Gäste nach Gateshead Hall kamen, daß es nötig war, alle verfügbaren Schlafgelegenheiten zu benutzen. Trotzdem war es eines der größten und stattlichsten Gemächer des Herrschaftssitzes. Ein von vier starken Mahagonipfosten getragenes und mit tiefroten Damastvorhängen ausgestattetes Bett stand wie ein Tabernakel in der Mitte; die beiden großen Fenster, deren Läden stets geschlossen blieben, waren mit Girlanden und schweren Vorhängen des gleichen Stoffes verhangen; der Teppich war rot. Der Tisch am Fuße des Bettes mit seiner roten Tischdecke, die hellbraun mit rosa Mustern tapezierten Wände, der Kleiderschrank, der Toilettentisch und die Stühle aus dunkel poliertem alten Mahagoni gaben dem Raum etwas düster Schattenhaftes: und inmitten dieses finsteren Rahmens erhoben sich, hoch aufgetürmt, in blendendem Weiß die mit einer feinen Marseiller Steppdecke überhangenen Matratzen und Kopfkissen des Bettes. Kaum weniger kontrastreich war ein ebenfalls weiß bezogener großer Polstersessel mit einem Fußschemel davor, der am Kopfende des Bettes stand und der mir wie ein bleicher Thron erschien.

Der Raum war kalt, da man hier selten Feuer machte; er war still, da er vom Kinderzimmer und den Küchen entfernt lag; und er war feierlich, da er, wie jeder wußte, nur selten betreten wurde. Nur das Zimmermädchen kam an den Samstagen hierher, um von Spiegeln und Möbeln den wöchentlichen stillen Staub zu wischen; und Frau Reed selbst kam gelegentlich, in langen Zeitabständen, um in einer gewissen Geheimschublade des Kleiderschranks zu kramen, in der verschiedene Pergamente, ihre Juwelenschatulle und ein Miniaturbildnis ihres verstorbenen Mannes aufbewahrt lagen. Und in diesen letzten Worten liegt das Geheimnis des Roten Zimmers — der Bann, unter dem dieser prachtvolle Raum zu einem Ort der Einsamkeit geworden war.

Herr Reed war vor neun Jahren gestorben; in diesem Zimmer hatte er seinen letzten Atemzug getan; hier war er aufgebahrt worden, und von hier hatten die Leichenbestatter seinen Sarg fortgetragen; und seitdem wurde dieser wie der Trauer geweihte Raum so selten und ungern betreten.

Mein Sitz, auf den mich Bessie und die verbitterte Abbot hatten festbinden wollen, war eine niedere Ottomane in der Nähe des Marmorkamins. Das Bett stand vor mir; zu meiner Rechten erhob sich der dunkle, hohe Kleiderschrank, auf dessen poliertem Flächen sich gedämpfte Lichtreflexionen abzeichneten; zu meiner Linken die verhüllten Fenster, und zwischen ihnen ein Spiegel, in dem sich die majestätische Öde des Zimmers und des Bettes wiederholte. Ich war mir nicht ganz sicher, ob man die Tür wirklich verschlossen hatte; als ich mich wieder zu bewegen wagte, stand ich auf, um nachzusehen. O ja! Kein Gefängnis konnte sicherer sein.

Während ich an meinen Platz zurückkehrte, mußte ich an dem Spiegel vorbei; unwillkürlich durchforschte mein Blick wie gebannt die geheimnisvolle Tiefe, die er verbarg. In seiner geisterhaften Perspektive sah alles viel kälter und finsterer aus, als es in Wirklichkeit war; und die seltsame kleine Gestalt, die mich mit angstvollen Augen anstarrte, mit bleichem Gesicht und dünnen Ärmchen, dieses Wesen, das als einziges sich bewegte, wo alles regungslos war, wirkte auf mich wie ein Gespenst. Ich fand es jenen Geisterwesen ähnlich, jenen winzigen Moorbewohnern, halb Elfe, halb Kobold, von denen Bessie uns an manchen Abenden erzählt hatte, die sich in den verlassensten Gegenden der Heide verirrten nächtlichen Wanderern zeigen. Ich ging an meinen Platz zurück.

Abergläubische Furcht begann mich in diesem Augenblick zu beschleichen: aber noch hatte sie nicht über mich gesiegt. Mein Blut war noch in Wallung, noch war ich der meuternde Sklave, und die Wut der Rebellion hielt mich noch mit ihrer verbitterten Gewalt aufrecht; erst hatte ich noch die Flut der sich angesammelten Gedanken an das eben Geschehene zu bewältigen, ehe ich an der gräßlichen Gegenwart verzagen konnte. Alle tyrannischen Gewalttätigkeiten John Reeds, alle hochmütige Gleichgültigkeit seiner Schwestern, die Abneigung seiner Mutter, die Parteilichkeit der Dienstboten, all das kam in meinem verstörten Geist hoch wie trüber Bodensatz in einem verschlammten Brunnen. Warum mußte ich immer leiden? Warum wurde ich stets gescholten, angeklagt und immer wieder verurteilt?

Warum konnte ich nie gefallen? Warum war es für mich aussichtslos, irgend jemandes Gunst zu suchen? Die dickköpfige und selbstsüchtige Eliza wurde geachtet. An Georgiana mit ihren verwöhnten Manieren, ihrer tückischen Boshaftigkeit und ihrem zänkischen unverschämten Benehmen fand niemand etwas auszusetzen. Ihre Schönheit, ihre roten Wangen und goldenen Locken schienen alle Blicke zu bezaubern und alle ihre Fehler gutzumachen. John wurde von niemandem verwarnt und noch weniger bestraft, obwohl er den Tauben den Hals umdrehte, die kleinen Pfauenküken tötete, die Hunde auf die Schafe hetzte, das Obst aus dem Gewächshaus stahl und die erlesensten Pflanzen im Wintergarten abriß. Er nannte sogar seine Mutter »die Alte«, machte sich über ihre schlechte Hautfarbe lustig, die der seinen ähnlich war, setzte sich grob und frech über ihre Wünsche hinweg, und nicht selten beschmutzte und zerriß er ihre Seidenkleider: aber trotz alledem war und blieb er »ihr allerliebster Herzensjunge«. Ich dagegen wagte nicht, auch nur den leisesten Fehler zu begehen; ich bemühte mich eifrig, allen meinen Pflichten nachzukommen, und dafür schimpfte man mich von morgens bis mittags und von mittags bis abends und nannte mich schlecht, unartig und griesgrämig, verstockt und hinterhältig.

Mein Kopf schmerzte und blutete noch von dem Schlag und dem Sturz. Niemand hatte John getadelt, obwohl er mich mutwillig geschlagen hatte; und weil ich mich gegen ihn gestellt, mich zu meiner Verteidigung zur Wehr gesetzt hatte, war ich nun eine Schande für alle.

»Ungerecht! Ungerecht!« sagte mir mein Verstand, der unter meinen qualvollen Lebensumständen früh gereift war, und ich begann wilde Entschlüsse zu erwägen, um mich von der unerträglich gewordenen Unterdrückung zu befreien — zu entfliehen, oder, wenn das nicht möglich war, nichts mehr zu essen und zu trinken und mich sterben zu lassen.

Wie bestürzt und aufgewühlt war meine kleine Seele an jenem düsteren Nachmittag! Wie erregt war mein Kopf, wie aufgeführt mein armes Herz! Und doch, in welchem Dunkel, in welch hoffnungsloser Unwissenheit mußte ich diesen inneren Kampf führen! Ich konnte ja keine Antwort auf die immer wiederkehrende Frage finden: Warum ich so litt. Heute, im Rückblick — nach all den Jahren (ich möchte nicht sagen wie vielen) —, sehe ich sie klar.

Ich war ein Mißklang in Gateshead Hall; ein Niemand. Mit Frau Reed, ihren Kindern oder ihrem Gesinde hatte ich nichts gemein. Wenn sie mich nicht liebten, so liebte ich sie ebensowenig. Sie waren schließlich nicht verpflichtet, einem Wesen Verständnis und Zuneigung entgegenzubringen, das ihnen allen fremd war und sie mied. Ich war ein denkbar unpassender Gefährte; grundverschieden in Temperament, Fähigkeiten, Neigungen; ein nutzloses Ding, denn ich teilte weder ihre Interessen, noch war ich ihnen zu Gefallen; ein schädliches Ding, denn ich gefiel mir darin, mich gegen sie aufzulehnen, und ich verachtete ihr Urteil. Jetzt weiß ich, daß ich Frau Reeds Wohlwollen hätte gewinnen können, wenn ich ein optimistisches, strahlendes, sorgloses, anspruchsvolles, hübsches und lebhaftes Kind gewesen wäre — obgleich ich auch dann meine Abhängigkeit und Freundlosigkeit hätte ertragen müssen —, aber die Kinder hätten mir gegenüber mehr Kameradschaftlichkeit gezeigt, und die Dienerschaft hätte mich weniger leicht zum ständigen Sündenbock gemacht.

Die Dämmerung brach herein, und im Roten Zimmer wurde es zusehends dunkler. Es war nach vier, und der wolkenverhängte Tag neigte sich schnell seinem Ende zu. Ich hörte den Regen an die Treppenfenster trommeln und den Wind durch den Garten fegen; nach und nach kam die Kälte über mich, und mein Mut: begann zu sinken. Das gewohnte Gefühl von Demütigung, Zweifel und Niedergeschlagenheit kehrte zurück und löschte die Glut meines anfänglichen Zorns. Alle hielten mich für böse, und vielleicht war ich es wirklich. Hatte ich nicht eben daran gedacht, mich verhungern zu lassen? War das nicht eine verbrecherische Sünde? War ich überhaupt zum Sterben bereit? Oder war die Gruft unter dem Altar von Gateshead etwa ein verlockendes Ziel? In einer solchen Gruft lag ja Herr Reed begraben, wie man mir erzählt hatte; und bei diesem Gedanken überkam mich Angst und Grauen. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern; ich wußte nur, daß er mein Onkel war, der Bruder meiner Mutter, und daß er mich als Waise in sein Haus aufgenommen hatte. In seiner letzten Stunde hatte er Frau Reed das Versprechen abgenommen, mich wie ihr eigenes Kind zu halten und aufzuziehen. Wahrscheinlich fand Frau Reed, sie habe ihr Versprechen gehalten; und das hatte sie wohl auch, soweit es ihr, ihrem Wesen nach, möglich war. Wie hätte sie einen Eindringling, der nicht ihres Blutes war und mit dem sie nichts verband, wirklich lieben können? Muß es ihr nicht lästig gewesen sein, sich durch ein aufgezwungenes Versprechen verpflichtet zu fühlen, ein Kind aufzuziehen, das sie nicht lieben konnte, und dieses fremde Wesen in ihrem Familienkreis zu dulden, wo es in keiner Weise hingehörte?

Ein seltsamer Gedanke dämmerte in mir auf. Ich zweifelte nicht daran, und hatte nie daran gezweifelt, daß Herr Reed, wenn er noch lebte, mich liebevoll behandelt hätte. Und nun, wie ich das weiße Bett und die im Dunkel liegenden Wände betrachtete, wie ich hie und da gebannt in den mattleuchtenden Spiegel schaute, begann ich mich an die Geschichten zu erinnern, die ich über die Verstorbenen gehört hatte, die im Grab keine Ruhe finden könnten, weil man ihre letzten Wünsche nicht erfüllt hatte, und die auf die Erde zurückkehrten, um die Eidbrecher zu strafen und die Bedrückten zu rächen. Und ich stellte mir vor, wie der Geist Herrn Reeds von dem Unrecht beunruhigt, das man seinem Schwesterkind zufügte, die Gruft verließ — oder aus dem unbekannten Reich der Toten aufgebrochen war —, um vor mir, in diesem Zimmer, zu erscheinen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und unterdrückte mein Schluchzen, denn ich fürchtete, eine zu heftige Schmerzbezeugung könne eine mitfühlende Stimme aus dem Jenseits erwecken. Oder ein geisterhaftes Antlitz würde plötzlich aus der Nacht auftauchen und sich gespenstisch milde über mich neigen. Dieser anfänglich tröstliche Gedanke flößte mir bald ein Gefühl des Grauens ein; mit aller Kraft bemühte ich mich, ihn zurückzudrängen — ich mußte jetzt um jeden Preis tapfer sein. Entschlossen strich ich mir das Haar aus den Augen und versuchte, mich mutig und erhobenen Hauptes im dunklen Zimmer umzusehen. In diesem Augenblick schimmerte ein fahler Lichtstrahl an der Wand. War es das Mondlicht, fragte ich mich, das durch eine Ritze des Fensterladens drang? Nein, Mondlicht war unbeweglich, und dieses bewegte sich; vor meinen entsetzten Augen huschte es die Wand empor bis an die Decke und flimmerte dort über mir. Heute kann ich mir wohl erklären, daß es sehr wahrscheinlich das Licht einer Laterne war, die draußen jemand über die Wiese trug; aber damals war ich schon so angstvoll auf den Schrecken gefaßt, meine Nerven waren von der Aufregung so überreizt, daß ich den hin und her zuckenden Lichtschein für den Vorboten einer Erscheinung aus anderen Welten hielt. Mein Herz schlug dumpf und wild, mein Kopf glühte, es sauste in. meinen Ohren — was ich für Flügelrauschen hielt —; etwas schien auf mich einzudringen, mich zu erdrücken, mich zu ersticken. Jetzt konnte ich es nicht mehr ertragen; ich rannte zur Tür und rüttelte verzweifelt an der Klinke.

Eilige Schritte hallten durch den Korridor, der Schlüssel wurde umgedreht, Bessie und Abbot traten ein.

»Fräulein Eyre, sind Sie krank?« fragte Bessie.

»Welch ein entsetzlicher Lärm! Es ging mir durch Mark und Bein«, rief Abbot aufgeregt.

»Lassen Sie mich heraus! Lassen Sie mich ins Kinderzimmer!« weinte ich.

»Warum denn? Sind Sie verletzt? Haben Sie vielleicht etwas gesehen?« fragte Bessie.

»Oh! Ich sah ein Licht und ich glaubte, ein Geist würde erscheinen.«

Ich hatte Bessies Hand ergriffen, und sie entzog sie mir nicht.

»Sie hat absichtlich geschrien«, erklärte Abbot in verächtlichem Ton. »Und wie sie geschrien hat! Hätte sie große Schmerzen gehabt, so wäre das noch entschuldbar, aber sie wollte uns ja nur alle hierher kriegen; ich kenne doch ihre unartigen Tricks.«

»Was soll denn das?« fragte nun eine gebieterische Stimme; Frau Reed kam mit wehender Haube und stürmisch raschelnden Röcken den Korridor herauf. »Abbot, Bessie! Ich habe euch strikte Anweisung gegeben, Jane Eyre im Zimmer einzuschließen, bis ich sie selber holen komme.«

»Fräulein Jane hat so laut geschrien«, verteidigte mich Bessie.

»Laß sie los!« war die Antwort. »Kind, laß Bessies Hände los! Mit derlei Mätzchen kommst du mir hier nicht heraus, das kann ich dir sagen. Ich hasse Heuchelei, besonders bei Kindern; ich werde dir beibringen müssen, daß dir Kniffe nichts helfen; du wirst jetzt noch eine Stunde länger hierbleiben: und nur wenn du ganz gehorsam und mucksmäuschenstill bist, dann werde ich dich herauslassen.«

»Ach, Tante! Haben Sie Mitleid! Verzeihen Sie mir doch! Ich kann es nicht ertragen! Strafen sie mich anderswie! Ich werde sterben, wenn —.«

»Schweige! Diese Heftigkeit ist ja widerlich.« Und so empfand sie es gewiß auch. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin; sie konnte mich nun einmal nicht anders sehen, hielt mich für einen Ausbund wilder Leidenschaften, einen bösen Geist voller gefährlicher Falschheit.

Bessie und Abbot hatten sich zurückgezogen, und Frau Reed, die meiner rasenden Angstbezeugungen und meines wilden Geheuls überdrüssig geworden war, stieß mich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit einem Schubs zurück, schloß mich ein und rauschte davon. Nachdem sie sich entfernt hatte, muß ich eine Art von Anfall gehabt haben; ich verlor das Bewußtsein.

3

Als ich wieder zu mir kam, hatte ich das Gefühl, aus einem entsetzlichen Alptraum zu erwachen; ich sah ein schreckliches rotes Glühen vor mir, durch das sich dicke schwarze Gitterstäbe zogen. Auch Stimmen vernahm ich, die hohltönig flüsterten, als drängten sie durch Windes- oder Wasserrauschen zu mir; Unruhe, Ungewißheit und ein alles überragendes Gefühl des Schreckens verwirrten meine Sinne. Bald darauf wurde mir bewußt, daß sich jemand um mich bekümmerte, mich aufrichtete und mich in Sitzstellung bettete: und das geschah liebevoller, als ich je aufgerichtet worden war. Ich lehnte den Kopf an ein Kissen oder an einen Arm und begann mich wohler zu fühlen.

Etwa fünf Minuten später löste sich die Nebelwolke auf, und ich erkannte, daß ich mich in meinem eigenen Bett befand und daß das rote Glühen vom Kamin des Kinderzimmers kam. Es war Nacht; eine Kerze brannte auf dem Tisch. Bessie stand am Fußende des Bettes mit einer Schüssel in der Hand, und ein Herr saß auf einem Stuhl neben meinem Kopfkissen und beugte sich über mich.

Ich empfand ein unbeschreibliches Gefühl von Erleichterung, Geborgenheit und Trost, als ich sah, daß ein Fremder im Zimmer war, eine Person, die nicht zu Gateshead gehörte und nichts mit Frau Reed zu tun hatte. Ich wandte mich von Bessie ab — obgleich ihre Gegenwart mich viel weniger störte, als es zum Beispiel die von Abbot getan hätte — und betrachtete das Gesicht des fremden Herrn. Ich erkannte ihn: Es war Herr Lloyd, ein Apotheker, den Frau Reed manchmal kommen ließ, wenn einem der Dienstboten etwas fehlte; für sich selbst und ihre Kinder pflegte sie einen Arzt zu rufen.

»Nun, wer bin ich?« fragte er.

Ich nannte seinen Namen und gab ihm dabei die Hand; er ergriff sie lächelnd und sagte: »Mit der Zeit werden wir schon wieder ganz gesund sein.« Dann legte er mich nieder und ermahnte Bessie, daß ich während der Nacht nicht gestört werden dürfe. Er gab ihr noch einige weitere Anweisungen, versprach, am nächsten Tag wiederzukommen, und erhob sich. Sein Fortgehen bereitete mir einigen Kummer, denn in seiner Gegenwart hatte ich mich so liebevoll umsorgt gefühlt, und nun, nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte, verdunkelte sich das Zimmer, und das Herz sank mir; unendliche Traurigkeit drückte es nieder.

»Glauben Sie nicht, daß Sie jetzt schlafen sollten, Fräulein Jane?« fragte Bessie mit ungewohnt sanfter Stimme.

Ich wagte kaum, ihr zu antworten, so sehr fürchtete ich, ihr nächster Satz würde grob sein. »Ich werde es versuchen.«

»Möchten Sie etwas trinken, oder könnten Sie jetzt essen?«

»Nein; vielen Dank, Bessie.«

»Dann werde ich wohl ins Bett gehen, denn es ist schon nach Mitternacht. Aber rufen Sie mich nur, wenn Sie während der Nacht irgend etwas brauchen.«

Wie liebenswürdig das alles klang! Das gab mir Mut zu einer Frage. »Bessie, was ist mit mir los? Bin ich krank?«

»Ich nehme an, es ist Ihnen im Roten Zimmer schlecht geworden, als Sie so furchtbar weinten. Aber sicher wird es Ihnen bald bessergehen.«

Bessie ging ins Mädchenzimmer nebenan. Ich hörte sie sagen: »Sarah, schlafen Sie doch bitte mit mir im Kinderzimmer. Ich möchte um die Welt nicht mit diesem armen Kind allein die Nacht verbringen. Ich habe Angst. Vielleicht stirbt sie sogar. Es ist doch seltsam, daß sie diesen Anfall hatte; ich frage mich, ob sie etwas gesehen hat. Frau Reed war wirklich zu hart mit ihr.«

Sarah kam mit ihr zurück; sie gingen beide zu Bett und flüsterten noch etwa eine halbe Stunde lang miteinander, ehe sie einschliefen. Ich erhaschte einige Brocken ihres Gesprächs, aus denen ich nur allzudeutlich erkannte, worum es ging.

»Etwas ist an ihr vorbeigehuscht, eine weißgekleidete Gestalt, und dann ist sie verschwunden —.« »Ein großer schwarzer Hund lief hinterher —.« »Dreimal hat es laut an die Tür geklopft —.« »Ein Licht auf dem Friedhof, gerade über seinem Grab — — — — —.«

Endlich waren sie eingeschlafen; das Feuer und die Kerze erloschen. Für mich aber vergingen die langen Stunden der Nacht in quälender Endlosigkeit. Ich lag in meinem Bett, hellwach, Ohr, Auge und Geist waren überreizt und von einem Grauen erfüllt, wie es nur Kinder empfinden können.

Es war keine ernstliche oder längere Krankheit auf den Anfall im Roten Zimmer gefolgt, aber meine Nerven hatten eine Erschütterung erlitten, deren Nachwirkungen ich noch heute spüre. Jawohl, Frau Reed, Ihnen verdanke ich so manche Pein und schweres Herzeleid. Aber ich sollte Ihnen vergeben, denn Sie wußten ja nicht, was Sie taten; als Sie mir das Herz brachen, glaubten Sie ja nur, mir meine schlechten Eigenschaften auszutreiben.

Am nächsten Tag um die Mittagsstunde war ich auf und angezogen und saß, in einen Schal gehüllt, am Kamin des Kinderzimmers. Ich fühlte mich körperlich schwach und niedergeschlagen, aber schlimmer als alles war das unsagbare Elend, das mein Gemüt empfand; ein solches Elend, daß ich still vor mich hin weinte. Kaum hatte ich eine Träne getrocknet, so lief eine neue meine Wange herunter. Eigentlich hätte ich froh sein sollen, denn keiner der Reeds war da; sie waren alle mit ihrer Mama im Wagen ausgefahren. Auch Abbot nähte in einem anderen Zimmer, und Bessie lief hin und her, räumte Spielsachen fort, kramte Schubladen aus und sprach zu mir von Zeit zu Zeit in ungewohnt liebevollem Ton. Das allein hätte mir wie ein Paradies des Friedens erscheinen sollen, denn bisher war ich von ihr nur an endloses Geschimpfe und unbarmherzige Heuchelei gewöhnt; aber meine Nerven waren so erbärmlich zerrüttet, daß alle Ruhe und alle Freundlichkeit sie nicht besänftigen konnten.

Bessie war in die Küche gegangen, und jetzt kam sie mit einem Stück Torte auf einem bunt bemalten Porzellanteller, einem Prachtstück, auf dem ein Paradiesvogel in einem Nest aus Rosenblüten abgebildet war und den ich stets mit Hingabe bewundert hatte. Oft hatte ich gebeten, diesen Teller in die Hand nehmen zu dürfen, um ihn mir näher zu betrachten, und stets wurde ich dieses Gefallens für unwürdig gehalten. Nun auf einmal lag dieses kostbare Gefäß auf meinen Knien, und ich wurde herzlich eingeladen, mir den Leckerbissen schmecken zu lassen. Vergebliche Gunst! Wie die meisten lang hinausgeschobenen und so häufig erhofften Freuden kam sie zu spät! Ich konnte die Torte nicht essen, und das Gefieder des Vogels, die Färbung der Blumen schienen seltsam verblieben. Ich stellte Torte und Teller beiseite. Bessie fragte, ob ich ein Buch haben wolle; das Wort »Buch« belebte mich vorübergehend, und ich bat sie, mir »Gullivers Reisen« aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich immer wieder mit Entzücken gelesen. Ich hielt es für eine auf Wahrheit beruhende Erzählung und entdeckte in ihm tiefere und interessantere Dinge als in Märchen. Denn die Elfen hatte ich vergeblich im Fingerhut, bei den Glockenblumen, unter Pilzen und im Efeu am alten Gemäuer gesucht; und ich war schließlich zu der traurigen Wahrheit gelangt, daß sie alle England verlassen und sich in ein wildes Land zurückgezogen hatten, wo die Wälder dichter und die Menschen seltener waren; während Lilliput und Brobdingnag in meinem Glauben feste Bestandteile der Erdoberfläche waren und ich sicher war, daß ich eines Tages, wenn ich eine weite Reise machte, die winzigen Felder, Häuser, Bäume, Menschen, Kühe, Schafe und Vögel des einen Reiches und die baumhohen Ähren, die Riesendoggen, die grausiggroßen Katzen und die turmhohen Männer und Frauen des anderen zu sehen bekäme. Aber jetzt, als ich das geliebte Buch in Händen hielt, als ich in ihm blätterte und in den herrlichen Bildern den Zauber suchte, den ich bisher stets in ihnen wiederfand, war alles farb- und freudlos geworden. Die Riesen waren hagere Kobolde, die Pygmäen böse und verschreckte Zwerge, Gulliver war ein trostloser Wanderer in grauen- und gefahrvollen Gegenden. Ich klappte das Buch, das ich nicht mehr länger ansehen mochte, zu und legte es auf den Tisch neben die unangetastete Torte.

Bessie war nun mit Staubwischen und Aufräumen fertig geworden, und nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, öffnete sie eine gewisse kleine Schublade, die mit Resten von Seide und Atlas angefüllt war, und begann, eine neue Haube für Georgianas Puppe zu nähen.

Dabei sang sie ein Lied:

»Als wir einst Zigeuner spielten,

Lang, lang ist’s her …«

Ich hatte das Lied schon oft gehört, und jedesmal hatte es mich entzückt, denn Bessie hatte eine schöne Stimme — wenigstens fand ich das. Aber jetzt, obwohl ihre Stimme immer noch ihren schönen Klang hatte, erschien mir die Melodie von einer unbeschreiblichen Traurigkeit. Zuweilen, wenn sie mit ihrer Arbeit beschäftigt war, sang sie sehr leise und langgedehnt ihr »Lang, lang ist’s her …«, und es klang wie die traurigste Klage eines Totenliedes. Danach sang sie eine andere Ballade, die nun wirklich kummervoll war:

»Meine Füße sind wund, meine Glieder sind schwer;

Lang ist der Weg über Fels und Gestein.

Die Dämmrung bricht an und Gewölk zieht daher;

Das Waisenkind wandert einsam, allein.

Warum sandten sie mich allein in die Ferne,

In das Moor, in die Wildnis, in Regen und Wind?

Die Menschen sind hart; mir die Englein sehn gerne

Herab auf das einsame Waisenkind.

Doch die Wolken ziehn fort, und die Winde erwarmen,

Und die Sterne am Himmel, sie leuchten so lind;

Denn Gottvater ist gütig, zeigt Gnad und Erbarmen,

Spendet Trost und Hoffnung dem Waisenkind.

Und sollt von der Brücke ich stürzen, ertrinken,

Im Moor versinken, wo das Irrlicht erglimmt,

Mein himmlischer Vater wird freundlich mir winken;

Er hat für das Waisenkind Gutes bestimmt.

Mein Hoffnungsgedanke, wenn die Kräfte mir schwinden,

Wenn Nahrung und Bett mir verwehret sind:

Im Himmel, da wird sich ein Heim für mich finden,

Denn Gott liebt das einsame Waisenkind.«

»Aber, aber! Fräulein Jane! Weinen Sie doch nicht!« sagte Bessie, als sie geendet hatte. Ach, ebenso hätte sie zum Feuer sagen können: »Brenne nicht.« Wie hätte sie auch den quälenden Kummer erraten können, der an mir nagte?

Im Laufe des Vormittags kam Herr Lloyd wieder.

»Was? Schon wieder auf?« sagte er, als er ins Kinderzimmer trat.

»Nun? Fräulein Bessie, wie geht es ihr?«

Bessie antwortete, mir ginge es sehr gut.

»Dann sollte sie aber fröhlicher aussehen! Kommen Sie mal her, Fräulein Jane. Sie heißen doch Jane, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr, Jane Eyre.«

»Also gut, Fräulein Jane Eyre. Sie haben ja geweint. Können Sie mir sagen, worüber? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, mein Herr.«

»Ach, ich nehme an, sie weint, weil sie nicht mit Frau Reed im Wagen ausfahren konnte«, fiel Bessie ein.

»Ach was! Für solche Kindereien ist sie gewiß zu alt.«

Das fand ich auch; und da mein Selbstbewußtsein durch diese falsche Anklage verletzt war, antwortete ich sofort: »Nie im Leben habe ich wegen so etwas geweint; ich hasse Spazierfahrten … Ich weine, weil ich unglücklich bin.«

»Pfui, Fräulein Jane«, rief Bessie.

Der gute Apotheker schien ein wenig ratlos zu sein. Ich stand vor ihm. Seine Augen waren klein und grau; sie waren nicht hell, aber heute würden sie mir klug erscheinen. Er hatte ein hartgeschnittenes, aber doch gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange, und eingehend betrachtet hatte, fragte er: »Was hat Sie gestern krank gemacht?«

»Sie ist gefallen«, mischte Bessie sich wieder ein.

»Gefallen? Das klingt ja wieder wie für ein Baby! Kann sie nicht richtig gehen? In ihrem Alter? Sie muß doch schon acht oder neun Jahre alt sein.«

»Ich wurde zu Boden geschlagen«, erklärte ich unverblümt und aus bereits erneut verletztem Stolz; »aber das hat mich nicht krank gemacht.«;

Herr Lloyd nahm eine Prise Schnupftabak. Während er die Dose wieder in die Westentasche steckte, ertönte laut die Glocke für das Essen der Dienerschaft; er kannte die Gewohnheiten des Hauses.

»Das ist für Sie, Fräulein Bessie«, sagte er; »gehen Sie nur herunter; ich werde Fräulein Jane ins Verhör nehmen, bis Sie zurück sind.«

Bessie wäre lieber geblieben, aber sie mußte gehen, denn in Gateshead Hall wurde streng auf Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten geachtet.

»Der Sturz war also nicht die Ursache Ihrer Erkrankung«, fuhr Herr Lloyd fort, nachdem Bessie gegangen war. »Was war es denn?«

»Ich wurde bis in die Nacht in einem Zimmer eingeschlossen, in dem ein Geist ist.«

Herr Lloyd lächelte, runzelte aber gleichzeitig die Stirn: »Geist! Was soll denn das? Dann sind Sie ja wirklich noch ein Kleinkind! Fürchten Sie sich vor Geistern?«

»Vor Herrn Reeds Geist gewiß; er starb in jenem Zimmer und wurde dort aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst irgendwer würde freiwillig dort bei Dunkelheit hineingehen; und es war grausam, mich dort ganz allein, ohne eine Kerze, einzusperren — so grausam, daß ich es niemals vergessen werde.«

»Unsinn! Und deshalb sind Sie unglücklich? Fürchten Sie sich vielleicht auch jetzt, bei Tageslicht?«

»Nein; aber bald wird es wieder Nacht sein; und außerdem bin ich aus anderen Gründen sehr unglücklich.«

»Was sind das für Gründe? Können Sie mir ein paar davon nennen?«

Wie gern hätte ich ihm ausführlich auf diese Frage geantwortet! Kinder vermögen zwar zu empfinden, aber sie können ihre Gefühle nicht erklären; und wenn sie sie auch hie und da in Gedanken erkennen, so wissen sie nicht, wie sie ihren Gedanken in Worten Ausdruck geben sollen. Da ich aber Angst hatte, diese erste und einzige Möglichkeit zu versäumen, meinen Kummer zu erleichtern und ihn mitzuteilen, zwang ich mich, nach angestrengtem Nachdenken, zu einer zwar unvollständigen, doch immerhin wahrheitsgetreuen Antwort.

»Erstens habe ich weder Vater noch Mutter, noch Brüder oder Schwestern.«

»Sie haben eine liebe Tante und Vettern.«

Wieder schwieg ich eine Weile; dann platzte ich plump heraus: »Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen, und meine Tante hat mich in das Rote Zimmer gesperrt.«

Herr Lloyd nahm zum zweiten Mal seine Tabaksdose heraus.

»Finden Sie nicht, daß Gateshead Hall ein herrliches Haus ist?« fragte er. »Und sind Sie nicht dankbar, an einem so schönen Ort leben zu dürfen?«

»Es ist ja nicht mein Haus, Herr Lloyd; und Abbot sagt, ich hätte weniger Anrecht auf ein Leben hier als eine Dienstmagd.«

»Ach was! Sie sind doch nicht so dumm, von einem so wundervollen Ort weg zu wollen?«

»Wenn ich anderswo hingehen könnte, wäre ich glücklich, aber ich werde nie von Gateshead loskommen, bis ich erwachsen bin.«

»Vielleicht aber doch — wer weiß? Haben Sie außer Frau Reed noch irgendwelche Verwandte?«

»Ich glaube nicht.«

»Niemand aus der Familie Ihres Vaters?«

»Ich weiß es nicht; einmal habe ich Tante Reed danach gefragt, und sie meinte, möglicherweise hätte ich noch ein paar arme. verkommene Verwandte namens Eyre, aber sie wisse nichts von ihnen.«

»Würden Sie zu diesen Verwandten gehen wollen, falls sie existierten?«

Ich überlegte. Armut erscheint schon Erwachsenen als etwas Schlimmes, um so mehr einem Kind, das sich unter arbeitsamer, ehrlicher und anständiger Armut nichts vorstellen kann. Für mich haftete dem Wort etwas von zerlumpten Kleidern, kärglichem Essen, ungeheizten Öfen, rohen Manieren und entwürdigenden Lastern an.

»Nein; zu armen Leuten möchte ich nicht gehören«, war meine Antwort.

»Auch nicht, wenn sie gut zu Ihnen wären?«

Ich schüttelte den Kopf. Daß arme Leute es sich leisten konnten, gut zu sein, wollte mir nicht einleuchten. Und dann sollte ich mich daran gewöhnen, wie sie zu reden, mich wie sie zu benehmen, ungebildet aufwachsen wie die armen Weiber, die ich im Dorf von Gateshead ihre Kinder stillen und Wäsche waschen sah? Nein; ich war nicht mutig genug, mir meine Freiheit um den Preis solcher Erniedrigung zu erkaufen.

»Aber sind denn Ihre Verwandten so arm? Sind es Arbeiter?«

»Das weiß ich nicht. Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt welche habe, dann könnten es nur lumpige Bettler sein; und betteln gehen möchte ich nicht.«

»Möchten Sie zur Schule gehen?«

Wieder überlegte ich. Ich wußte kaum, was eine Schule ist. Bessie hatte manchmal davon erzählt; es sollte ein Ort sein, an dem junge Mädchen reihenweise auf harten Bänken hockten, Rückenbretter trugen, um gerade zu sitzen, und stets äußerst anständig und peinlich genau sein mußten. John Reed haßte die Schule und schimpfte über seinen Lehrer; aber John Reeds Geschmack war schließlich für mich nicht maßgebend, und Bessies Erzählungen — sie stammten von den Töchtern der Familie, in der sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead kam — waren zwar etwas erschreckend, aber andrerseits ebenso anziehend. So hatte sie von gewissen Betätigungen und Leistungen der jungen Damen berichtet, von Landschafts- und Blumenbildern geprahlt, die sie dort gemalt hatten, vom Gesangsunterricht, in dem man schöne Lieder lernte, von Theateraufführungen, in denen sie mitspielen durften, vom Stricken und Häkeln, kunstvollen Nadelarbeiten, dem Übersetzen von französischen Büchern; und wenn ich ihr dabei zuhörte, wünschte ich mir, es ihnen gleichzutun. Außerdem wäre die Schule eine völlige Veränderung; eine lange Reise, eine endgültige Trennung von Gateshead, der Anfang eines neuen Lebens.

»Ich möchte wirklich sehr gerne zur Schule gehen«, war der hörbare Abschluß meiner Überlegungen.

»So, so; wer weiß, was alles noch geschehen kann?« sagte Herr Lloyd und erhob sich. »Das Kind braucht eine andere Umgebung«, fügte er wie zu sich selbst hinzu. »Die Nerven sind in keinem guten Zustand.«

Jetzt kam Bessie zurück; im gleichen Augenblick hörte man den Wagen den Kiesweg herauffahren.

»Ist das Frau Reed?« fragte sie Herr Lloyd; »ich möchte noch mit ihr sprechen, bevor ich gehe.«

Bessie lud ihn ein, ihr ins Frühstückszimmer zu folgen. In dem darauf folgenden Gespräch zwischen ihm und Frau Reed — so nehme ich aus den späteren Ereignissen an — schlug der Apotheker vor, man solle mich in eine Schule schicken, und Frau Reed war bereitwilligst damit einverstanden; denn Abbot sagte, als sie abends im Kinderzimmer mit Bessie über dieses Thema sprach — ich lag im Bett, und sie nahm an, ich schliefe —:

»Frau Reed war gewiß froh, ein so verdrießliches ungeratenes Kind loszuwerden, das immer so aussieht, als beobachte es alles und jeden, und stets irgendwelche Ränke schmiedet.« Ich glaube, Abbot traute mir zu, ein jugendlicher Verschwörer und Verbrecher zu sein.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, daß mein Vater ein armer Pfarrer gewesen war, daß meine Mutter ihn gegen den Willen ihrer Familie und Bekannten geheiratet hatte, die diese Ehe als nicht standesgemäß betrachteten, daß mein Großvater Reed über ihren Ungehorsam maßlos erbost war, sie enterbte und sie völlig mittellos ihrem Schicksal überließ. Ein Jahr darauf war mein Vater, der die Gemeinde einer großen Fabrikstadt betreute, bei seinen Armenbesuchen an Typhus erkrankt, und meine Mutter hatte sich bald danach bei ihm angesteckt, und beide starben innerhalb eines Monats.

Bessie, die dieser Erzählung Abbots teilnahmsvoll zugehört hatte, seufzte und sagte: »Das arme Fräulein Jane muß einem aber auch leid tun, Abbot.«

»Ja«, antwortete Abbot; »Wenn sie ein nettes hübsches Kind wäre, könnte man Mitleid mit ihrer Verlassenheit haben, aber; für so eine kleine Kröte kann ich mich wirklich nicht erwärmen.«

»Natürlich, sehr viel kann man da nicht empfinden«, pflichtete Bessie ihr bei; »jedenfalls würde eine Schönheit wie Fräulein Georgiana unter denselben Umständen viel rührender wirken.«

»Ach ja, in das Fräulein Georgiana bin ich ganz vernarrt!« rief Abbot begeistert. »Das süße Goldkind! Mit ihren langen Locken und den blauen Augen, diese herrlichen Farben; wie ein Gemälde! Ach, Bessie, ich hätte heute Lust auf gebackene Käseschnitten zum Nachtessen.«

»Ich auch — mit einer gerösteten Zwiebel drauf. Kommen Sie, gehen wir herunter.«

Sie gingen.

4

Aus meinem Gespräch mit Herrn Lloyd und der Unterhaltung zwischen Bessie und Abbot, von der ich eben berichtete, hatte ich genügend Hoffnung gefaßt, um wieder gesund werden zu wollen: eine baldige Veränderung schien bevorzustehen — ich wünschte sie mir und wartete schweigend. Sie zögerte sich jedoch lange hinaus; Tage und Wochen vergingen. Ich war wieder ganz hergestellt, aber das Thema, mit dem ich mich ständig in meinen Grübeleien beschäftigte, wurde nie auch nur angedeutet. Frau Reed beobachtete mich zuweilen mit prüfenden und strengen Blicken, aber sprach selten zu mir; seit meiner Krankheit hatte sie eine noch deutlichere Trennungslinie zwischen mir und ihren Kindern gezogen. Ich schlief allein in einer kleinen Kammer, die mir zugewiesen wurde, ich mußte allein essen und den ganzen Tag im Kinderzimmer verbringen, während mein Vetter und meine Kusinen sich ständig im Wohnzimmer aufhielten. Nie erwähnte sie die Schule, aber ich hatte das sichere Gefühl, daß sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dach dulden würde, denn ihre Blicke verrieten mir mehr denn je ihre unüberwindliche und tief verwurzelte Abneigung gegen mich.

Eliza und Georgiana — offensichtlich den Anweisungen ihrer Mutter folgend — sprachen so wenig als möglich mit mir. John grinste mich höhnisch an, wenn er mir begegnete, und einmal versuchte er, mich zu schlagen; aber ich setzte mich sofort mit der gleichen wilden Wut und mit derselben verzweifelten Aufsässigkeit zur Wehr, wie bei meinem letzten Auftritt, und er zog es vor davonzulaufen, Beschimpfungen auszustoßen und zu behaupten, ich hätte ihm die Nase eingeschlagen. Tatsächlich hatte ich ihm mit aller Kraft, deren meine Knöchel fähig waren, einen harten Schlag auf diesen vorspringenden Gesichtsteil versetzt, und als ich sah, daß er entweder infolgedessen oder infolge meiner haßerfüllten Blicke den Mut verlor, verspürte ich große Lust, meinen Erfolg weiter auszunutzen; aber da war er schon bei seiner Mama. Ich hörte ihn plärren und seine Geschichte erzählen: von »der garstigen Jane«, die ihn wie eine Wildkatze angesprungen hatte. Doch da wurde er ziemlich barsch unterbrochen:

»Sprich mir nicht von ihr, John, ich habe dir ausdrücklich gesagt, du solltest ihr nicht nahe kommen; sie ist die Beachtung nicht wert. Ich wünsche nicht, daß du oder deine Schwestern euch überhaupt mit ihr abgebt.«

Ich stand auf der Treppe, lehnte mich über das Geländer und schrie plötzlich, ohne lange über meine Worte nachzudenken:

»Sie sind es nicht wert, mit mir zu verkehren!«

Frau Reed war eine eher beleibte Frau; aber als sie diese seltsam tollkühn herausfordernde Erklärung hörte, kam sie hurtig die Treppe heraufgerannt, fegte mich wie ein Wirbelwind ins Kinderzimmer, drückte mich auf die Kante meines Bettes nieder und befahl mir mit eindringlicher Stimme, mich nicht vom Fleck zu rühren und für den Rest des Tages keine weitere Silbe mehr zu äußern.

»Was würde Onkel Reed dazu sagen, wenn er noch lebte?« fragte ich fast ungewollt. Ich sage: fast ungewollt, denn meine Zunge schien Worte zu formen, ohne daß mein Wille sie ihr eingab; etwas, worüber ich keine Macht hatte, sprach plötzlich aus mir.

»Was?« flüsterte Frau Reed entsetzt; ihre sonst kalten, beherrschten grauen Augen trübten sich angsterfüllt; sie ließ meinen Arm los und starrte mich an, als sei sie nicht mehr sicher, ob ich wirklich ein Kind sei oder ein Unhold. Jetzt mußte ich weitermachen.

»Mein Onkel Reed ist im Himmel, und er sieht alles, was Sie tun und denken; und Papa und Mama können das auch; sie wissen, wie Sie mich den ganzen Tag eingesperrt halten und daß Sie wünschen, ich wäre tot.«

Frau Reed hatte sich bald wieder beisammen; sie schüttelte mich heftig, gab mir zwei Ohrfeigen und verließ mich ohne ein Wort. Bessie füllte die restliche Zeit mit einer stundenlangen Strafpredigt aus, in der sie mir mit eindeutigen Beweisen klarmachte, daß ich das böseste und verworfenste Kind war, das je unter einem Dach gelebt habe. Ich glaubte es ihr fast, denn ich verspürte nur noch gehässige Gefühle in meiner Brust.

November, Dezember und der halbe Januar gingen vorüber. Weihnachten und Neujahr waren in Gateshead wie immer festlich-fröhlich gefeiert worden: Geschenke wurden ausgeteilt, Bankette und Abendgesellschaften veranstaltet. Natürlich war ich von allen diesen Vergnügungen ausgeschlossen; mein Anteil an der Fröhlichkeit bestand darin, täglich beim Ankleiden von Eliza und Georgiana zusehen zu dürfen und sie in ihren Musselinkleidern, roten Schärpen und sorgfältig geringelten Zöpfen zu bewundern, wenn sie sich die Treppe herunter begaben. Später hörte ich dem Klavier- oder Harfenspiel aus dem Salon zu, dem geschäftigen Kommen und Gehen der Diener, dem Klingen der Gläser und des Porzellans beim Herumreichen von Erfrischungen, den Gesprächsfetzen, die ich erhaschte, während die Türen auf und zu gingen. Wenn ich des Lauschens müde war, zog ich mich vom Treppenabsatz in das verlassene und stille Kinderzimmer zurück; dort war ich wohl etwas traurig, aber nicht unglücklich. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich eigentlich nicht den geringsten Wunsch, in Gesellschaft zu sein, denn dort hätte man mich ohnehin kaum beachtet; und wenn Bessie nur ein wenig freundlicher und geselliger gewesen wäre, hätte es mir viel mehr Freude gemacht, die Abende friedlich und ruhig mit ihr zu verbringen als in einem Raum voller Damen und Herren und unter dem gebieterischen Blick Frau Reeds. Aber Bessie pflegte, sobald sie die jungen Damen angekleidet hatte, in die Küchen und Gesindequartiere zu verschwinden, wo sich an jenen Abenden allerlei tat, und meistens nahm sie die Kerze mit. Dann saß ich mit meiner Puppe auf dem Schoß, bis das Kaminfeuer heruntergebrannt war, blickte mich von Zeit zu Zeit verstohlen um, ob auch wirklich kein anderes Wesen außer mir in diesem finstern Raum herumgeisterte; und wenn die Glut nur noch matt und dunkelrot schimmerte, zog ich mich hastig aus, zerrte so flink ich konnte an Bändern und Knoten und suchte in meinem Bett Schutz vor Dunkel und Kälte. Meine Puppe nahm ich immer zu mir ins Bett; jeder Mensch hat das Bedürfnis, etwas liebzuhaben, und in Ermangelung eines besseren Objektes vergnügte ich mich damit, dieses welke und kümmerliche Abbild, das eher einer Miniaturvogelscheuche glich, mit all meiner Zärtlichkeit zu bedenken. Heute erinnere ich mich oft staunend, wie ich damals in närrischer Aufrichtigkeit dieses unscheinbare Spielzeug verehrte und ihm halb bewußt Empfindungs- und Lebensfähigkeit beimaß. Ich konnte nicht einschlafen, ohne sie in die Falten meines Nachthemds eingewickelt zu haben; und erst wenn sie warm und geborgen bei mir lag, fühlte ich mich einigermaßen glücklich, weil ich glaubte, sie sei es auch.

Die Stunden schienen endlos lang, während ich wartete, daß die Gäste gingen oder daß Bessie die Treppe heraufkam. Manchmal kam sie im Laufe des Abends, um ihren Fingerhut oder die Schere zu holen oder auch, um mir ein kleines Nachtessen zu bringen — ein Brötchen oder ein Stück Käsekuchen—; dann saß sie an meinem Bett, bis ich fertig gegessen hatte, richtete meine Bettdecke, und zweimal gab sie mir einen Kuß und sagte: »Gute Nacht, Fräulein Jane.« Wenn sie so lieb zu mir war, erschien mir Bessie als das beste, hübscheste und liebste Geschöpf auf der Welt; und ich wünschte mir innigst, sie würde immer so nett und freundlich sein und mich nie mehr herumstoßen, scheiten und ungerecht tadeln, wie sie es so oft tat. Bessie Lee, so glaube ich heute, war gewiß ein Mädchen mit guter natürlicher Begabung, denn sie war geschickt in allem, was sie tat, und sie hatte ein besonderes Talent im Geschichtenerzählen; jedenfalls schließe ich das aus dem Eindruck, den ihre Erzählungen bei mir hinterlassen haben. Sie war auch hübsch — wenn meine Erinnerung mich nicht trügt: schlank und graziös, mit schwarzem Haar, dunklen Augen, einem freundlichen Gesicht und reinem, gesundem Teint. Sie war zwar oft launisch und heftig und nahm es mit Prinzipien und Gerechtigkeit nie sehr genau, aber selbst so, wie sie war, zog ich sie bei weitem allen anderen Bewohnern von Gateshead Hall vor.

Es war am fünfzehnten Januar, etwa um neun Uhr morgens. Bessie war zum Frühstück hinuntergegangen; die Kinder waren noch nicht zu ihrer Mama gerufen worden. Eliza machte sich in ihrem warmen Mantel und Mütze auf, um ihre Hühner zu füttern — eine Beschäftigung, der sie sich mit Begeisterung hingab, nicht zuletzt, weil sie die Eier an die Haushälterin verkaufte und das so erworbene Geld sparsam verwahrte. Sie hatte eine Begabung für den Handel und einen ausgesprochenen Hang zum Sparen von Geld — eine Begabung, die sich nicht nur im Verkauf von Eiern und Hühnern zeigte, sondern auch in ihrer Geschäftstüchtigkeit gegenüber dem Gärtner, dem sie Knollen, Samen und Setzlinge zu hohen Preisen veräußerte — Frau Reed hatte ihn nämlich angewiesen, der jungen Dame alle Produkte ihres Privatgärtchens nach ihrem Wunsch abzukaufen; und Eliza hätte selbst ihr eigenes Haar verkauft, wenn sie dabei ein gutes Geschäft hätte machen können. Zuerst pflegte sie ihr Geld in allen möglichen Ecken, in Lappen oder Lockenwickler gehüllt, zu verstecken; aber nachdem das Zimmermädchen einige dieser Verstecke entdeckt hatte, fürchtete Eliza, ihr Schatz könnte ihr eines Tages geraubt werden, und erklärte sich bereit, ihn ihrer Mutter anzuvertrauen, wobei sie wucherhafte Zinsen von fünfzig oder sechzig Prozent verlangte, die sie alle Vierteljahr eintrieb und sorgsam in einem kleinen Heft verbuchte.

Georgiana saß auf einem hohen Schemel vor dem Spiegel und flocht künstliche Blumen und verblaßte Federn in ihr lockiges Haar; sie hatte diesen Schmuck haufenweise in einer Schublade auf dem Estrich gefunden. Ich machte mein Bett, wie es mir Bessie strikt befohlen hatte. Alles sollte bis zu ihrer Rückkehr sauber und aufgeräumt sein. (Bessie zog mich jetzt oft als eine Art von Hilfskindermädchen heran und beauftragte mich mit kleinen Arbeiten wie Zimmeraufräumen, Staubwischen und so weiter.) Nachdem ich die Daunendecke glatt ausgebreitet und mein Nachthemd zusammengefaltet hatte, ging ich zur Fensterbank, um von dort einige umherliegende Bilderbücher und Puppenmöbel aufzulesen; aber ein barscher Befehl Georgianas, ihre Spielsachen nicht anzurühren, unterbrach meine Tätigkeit. (All die winzigen Stühle und Spiegel, die zierlichen Tellerchen und Täßchen waren ja ihr Eigentum.) Nun hatte ich nichts weiter zu tun und ging zum Fenster, wo ich mit meinem Atem ein kleines Fleckchen inmitten der Frostblumen freihauchte, durch das ich nach draußen blicken konnte; der Garten und alles ringsum lag still und wie versteinert, vom Frost erstarrt.

Vom Fenster aus konnte man das Pförtnerhaus und die Wagenauffahrt sehen, und gerade als ich genügend Silberreif weggewischt hatte, um richtig herauszuschauen, wurde das Tor aufgerissen, und ein Wagen fuhr herein. Ich schenkte dem ankommenden Gefährt wenig Interesse; Wagen kamen oft nach Gateshead, aber keiner brachte je einen Besucher, der mir etwas bedeutete. Er hielt vor dem Haus an, die Türglocke erschallte laut, und der Ankömmling wurde eingelassen. Das alles war mir recht gleichgültig, und meine Aufmerksamkeit wurde bald durch ein hungriges Rotkehlchen abgelenkt, das sich zwitschernd auf einem Zweig des kahlen Kirschbaums an der Mauer niedergelassen hatte. Die Reste meines Frühstücks — Milch und Brot — standen noch auf dem Tisch. Ich zerkrümelte ein Stückchen Brot und zerrte gerade am Fensterrahmen, um die Krumen auf das äußere Fensterbrett zu streuen, als Bessie in das Kinderzimmer gerannt kam.

»Fräulein Jane, ziehen Sie sich die Schürze aus. Was tun Sie da? Haben Sie sich schon Gesicht und Hände gewaschen?«

Ich zog noch einmal am Fenster, bevor ich antwortete, denn ich wollte, daß der Vogel sicher sein Brot bekam: das Fenster gab nach, ich streute die Krumen heraus — einige fielen auf den Sims, andere auf den Kirschbaum — dann schloß ich das Fenster und antwortete:

»Nein, Bessie; ich bin eben erst mit dem Staubwischen fertig.«

»Garstiges, unachtsames Kind! Und was tun Sie denn da? Sie sind ja ganz rot, als ob sie schon wieder etwas angestellt haben; warum haben Sie das Fenster geöffnet?«

Die Antwort blieb mir erspart, denn Bessie schien es viel zu eilig zu haben, um Erklärungen anzuhören; sie schleppte mich an den Waschtisch und unterzog mich einer gnadenlosen, aber Gott sei Dank kurzen Abreibung an Gesicht und Händen, wobei sie Wasser, Seife und ein rauhes Handtuch benutzte, traktierte mein Haar mit einer harten Bürste, zog mir die Schürze aus und bugsierte mich eiligst zur Treppe: Ich solle sofort hinuntergehen, man erwarte mich im Frühstückszimmer.

Ich wollte fragen, wer mich erwarte — ich wollte wissen, ob Frau Reed auch da war; aber Bessie war schon fort und hatte die Kinderzimmertür hinter sich verschlossen. Ich ging langsam hinunter. Während fast drei Monaten war ich nicht mehr zu Frau Reed gerufen worden; nach so langer Verbannung im Kinderzimmer waren Frühstücks-, Eß- und Wohnzimmer beängstigende Gebiete, und der Gedanke, sie betreten zu müssen, flößte mir Schrecken ein. Jetzt stand ich in der leeren Eingangshalle; vor mir die Tür zum Frühstückszimmer; ich zögerte, zitternd und verschüchtert. Was für einen elenden kleinen Feigling hatten die Angst und die willkürlich ungerechten Strafen in jenen Tagen aus mir gemacht! Ich hatte Angst, ins Kinderzimmer zurückzugeben, Angst in den Raum vor mir zu treten; zehn Minuten lang stand ich da, erregt und zaudernd; schließlich entschied das energische Klingeln der Frühstückszimmerglocke für mich; ich mußte eintreten.

Wer konnte mich zu sehen wünschen? fragte ich mich, während ich mit beiden Händen an der harten Türklinke drehte, die ein paar Sekunden lang meinen Kräften widerstand. Wen würde ich außer Tante Reed im Zimmer zu sehen bekommen — einen Mann oder eine Frau?

Die Klinke gab nach, die Tür ging auf, ich trat ein, machte einen tiefen Knieks und sah — an einer schwarzen Säule empor! So jedenfalls erschien mir auf den ersten Blick die kerzengerade, schmale, schwarzgekleidete Gestalt auf dem Teppich vor mir; das finster strenge Gesicht, das von hoch oben auf mich hinabblickte, war wie eine geschnitzte Maske, ein Kapitell auf der Spitze der Säule.

Frau Reed saß auf ihrem gewohnten Platz beim Kamin; sie winkte mir, näher zu treten; ich gehorchte, und sie stellte mich dem steinernen Fremden mit den Worten vor:

»Das ist die Kleine, deretwegen ich mich an Sie gewandt habe.«

Er — denn es war ein Mann — drehte langsam den Kopf nach mir um; seine forschenden grauen Augen, die unter buschigen Bremen blinzelten, betrachteten mich prüfend, und dann sprach er mit einer feierlich tiefen Baßstimme:

»Sie ist recht klein; wie alt ist sie?«

»Zehn Jahre.«

»Schon so alt?« war die zweifelnde Antwort; wieder betrachtete er mich prüfend einige Minuten lang. Dann wandte er sich an mich:

»Wie ist dein Name, kleines Mädchen?«

»Jane Eyre, mein Herr.«

Während ich antwortete, sah ich zu ihm auf; er schien mir ein sehr großer Herr zu sein, aber ich war a auch sehr klein. Seine Gesichtszüge waren stark ausgeprägt, und alles an ihm war streng und steif.

»Nun, Jane Eyre, bist du ein artiges Kind?«

Unmöglich, diese Frage mit Ja zu beantworten; meine kleine Welt war der gegenteiligen Ansicht; ich schwieg. Frau Reed antwortete für mich mit ausdrucksvollem Kopfschütteln und fügte bald hinzu: »Je weniger wir darüber sagen, desto besser ist es vielleicht, Herr Brocklehurst.«

»Es tut mir leid, das hören zu müssen! Da muß ich aber mit ihr reden.«

Er neigte sich aus seiner senkrechten Lage und ließ sich in einem Armsessel gegenüber Frau Reed nieder. »Komm her, Kind«, sagte er.

Ich ging auf ihn zu, und er stellte mich gerade vor sich hin. Was für ein Gesicht! Jetzt sah ich es aus gleicher Höhe. Welch riesige Nase! Welch breiter Mund! Was für hervorstehende Zähne!

»Kein Anblick ist trauriger als der eines unartigen Kindes«, begann er; »ganz besonders, wenn es ein kleines Mädchen ist. Weißt du auch, wo die Bösen nach dem Tode hinkommen?«

»Sie kommen in die Hölle«, war meine prompte und rechtgläubige Antwort.

»Und was ist die Hölle? Kannst du mir das sagen?«

»Eine Grube voller Feuer.«

»Und möchtest du in diese Grube fallen und dort für immer und ewig brennen?«

»Nein, mein Herr.«

»Was hast du zu tun, um es zu vermeiden?«

Ich überlegte einen Augenblick; die Antwort, die ich schließlich gab, war nicht einwandfrei: »Ich muß bei guter Gesundheit bleiben und nicht sterben.«

»Wie kannst du bei guter Gesundheit bleiben? Täglich sterben Kinder, die jünger sind als du. Erst vor ein oder zwei Tagen habe ich ein fünfjähriges Kind begraben — ein gutes, kleines Kind, dessen Seele nun im Himmel weilt. Es ist zu befürchten, daß man von dir nicht dasselbe sagen könnte, wenn du abberufen würdest.«

Ich war nicht in der Lage, seinen Zweifel zu zerstreuen, und senkte meinen Blick, wobei ich seine riesengroßen Füße auf dem Teppich betrachtete und mich weit weg wünschte; dabei seufzte ich.

»Ich hoffe, dieser Seufzer kommt von Herzen, und du bereust, deiner vortrefflichen Wohltäterin je Unbehagen verursacht zu haben.« Wohltäterin! Wohltäterin! dachte ich mir. Alle nennen Frau Reed meine Wohltäterin; war es wirklich so, so mußte eine Wohltäterin gewiß etwas Unangenehmes sein!

»Sagst du morgens und abends deine Gebete?« fragte er weiter.

»Ja, mein Herr.«

»Liest du deine Bibel?«

»Manchmal.«

»Tust du es gern? Bereitet es dir Freude?«

»Ich lese gern die Offenbarung und das Buch Daniel und die Schöpfungsgeschichte und Samuel und einiges vom Auszug aus Ägypten und Teile aus den Königen und den Chroniken von Hiob und Jonas.«

»Und die Psalmen? Ich hoffe doch, daß du auch sie liebst?«

»Nein, mein Herr.«

»Nein? Das ist ja unerhört! Ich habe einen kleinen Knaben, der jünger ist als du und der bereits sechs Psalmen auswendig weiß; und wenn man ihn fragt, ob er lieber einen Lebkuchen essen oder einen Psalmvers lernen möchte, so sagt er: ›Oh, den Psalmvers! Engel singen Psalmen‹; und dann sagt er noch: ›Ein Engel möchte ich sein, ein Engel hienieden.‹ Dann bekommt er zwei Pfeffernüsse zur Belohnung für seine kindliche Frömmigkeit.«

»Psalmen sind nicht interessant«, bemerkte ich.

»Das beweist, daß du ein böses Herz hast; und du mußt zu Gott beten, es zu ändern: dir ein neues, reines Herz zu schenken. Dir den harten Stein aus der Brust zu reißen und dir ein Herz aus Fleisch und Blut hereinzusetzen.«

Ich wollte gerade fragen, in welcher Weise eine solche Herzauswechslung vorgenommen werden sollte, als Frau Reed dazwischenkam; sie gebot mir, mich zu setzen; dann führte sie das Gespräch selber fort.

»Herr Brocklehurst, ich glaube, ich wies in meinem Brief an Sie vor drei Wochen bereits darauf hin, daß dieses Kind nicht die Charakter- und Gemütsanlagen besitzt, die ich für wünschenswert halte; sollten Sie sie in die Schule von Lowood aufnehmen, so wäre es mir lieb, wenn Schulleiter und Lehrerinnen zur Strenge ihr gegenüber angewiesen würden und ihr vor allem ihren allerschlimmsten Fehler austreiben würden: ihren Hang zur Falschheit. Ich erwähne das in deiner Gegenwart, Jane, damit du nicht etwa versuchst, Herrn Brocklehursts Vertrauen zu mißbrauchen.«

Mußte ich nicht Frau Reed fürchten und verabscheuen? Lag es nicht in ihrer Natur, mich stets grausam zu verletzen? In ihrer Gegenwart war ich nie glücklich. Mochte ich mich auch anstrengen, ihr zu gehorchen, ihr zu Willen zu sein und es ihr recht zu machen; stets wurden meine Bemühungen zurückgewiesen und nicht anerkannt; und dann wurde ich durch Urteile, wie das eben ausgesprochene, belohnt! Jetzt, in Gegenwart eines Fremden, schnitt mir diese Anklage tief ins Herz. Ich spürte halb bewußt, wie sie bereits in der neuen Lebensphase, die sie für mich bestimmt hatte, alle Hoffnung vernichtete. Ich spürte, obgleich ich das Gefühl in Worten nicht ausdrücken konnte, daß sie Abneigung und Lieblosigkeit auf den Pfad meiner Zukunft säte; ich sah mich in Herrn Brocklehursts Augen schon wieder als ein verschlagenes, verderbtes Kind. Und was hätte ich tun können, um mein verletztes Ehrgefühl wiederherzustellen?

»Nichts kann ich tun, gar nichts!« dachte ich, während ich mich bemühte, ein Schluchzen zu unterdrücken und eilig ein paar Tränen wegzuwischen; sie waren der einzige Weg, meiner ohnmächtigen Drangsal Luft zu machen.

»Falschheit ist in der Tat ein bedauerlicher Fehler bei einem Kind«, sagte Herr Brocklehurst; »sie ist der Lüge verwandt, und alle Lügner werden im Meer von Feuer und Schwefel elendiglich versinken. Sie wird jedoch gewiß überwacht werden, Frau Reed; ich werde mit Fräulein Temple und den Lehrerinnen darüber reden.«

»Ich wünsche, daß sie ihren zukünftigen Aussichten und Erwartungen gemäß erzogen wird«, fuhr meine Wohltäterin fort; »zu Nützlichkeit und Demut. Ihre Ferien soll sie, wenn Sie es gestatten, stets in Lowood verbringen.«

»Ihre Anweisungen sind vollkommen richtig und sinnvoll, gnädige Frau«, antwortete Herr Brocklehurst. »Demut ist eine christliche Gnade, die ganz besonders den Zöglingen von Lowood angemessen ist; daher erachte ich es als meine Pflicht, daß besonderes Augenmerk auf die Pflege dieser Tugend gewendet wird. Ich habe ergründet, wie man am besten das weltliche Gefühl des Stolzes und der Eitelkeit in ihnen ausmerzt; und vor ein paar Tagen erst hatte ich einen erfreulichen Beweis meines Erfolges. Meine zweite Tochter, Augusta, kam mit ihrer Mutter die Schule besuchen, und bei ihrer Rückkehr rief sie aus: ›‘Ach, liebster Papa, wie still und schlicht sehen all diese Mädchen in Lowood aus! Mit ihrem hinter die Ohren gekämmten Haar, ihren langen Schürzen und ihren außen auf die Kleider genähten Taschen — fast gleichen sie armer Leute Kinder! Und‹, fügte sie hinzu, ›sie starrten mich und Mama an, als hätten sie noch nie ein Seidenkleid gesehen.‹«

»Das sind Verhältnisse, die ich durchaus billige«, erwiderte Frau Reed.

»In ganz England hätte ich kaum ein angemesseneres Erziehungssystem für ein Kind wie Jane Eyre finden können. Konsequenz, lieber Herr Brocklehurst — in allen Dingen bin ich für Konsequenz.«

»Konsequenz, gnädige Frau, ist die erste Christenpflicht; und sie wird in allen Maßnahmen in der Anstalt Lowood befolgt: einfache Kost, schlichte Kleidung, bescheidene Unterkunft, Abhärtung, aktive Betätigung, Fleiß — das ist die tägliche Regel für das Haus und seine Bewohnerinnen.«

»Ganz richtig, Herr Brocklehurst. Ich kann mich also darauf verlassen, daß dieses Kind als Zögling in Lowood aufgenommen wird und daß es seinem Stande und seinen Zukunftsaussichten gemäß erzogen wird?«

»Das können Sie, gnädige Frau; sie wird in dieses Treibhaus erwählter Pflanzen versetzt werden, und ich nehme an, daß sie sich für den unschätzbaren Vorzug, den sie als Ausgewählte genießt, dankbar erweisen wird.«

»Dann werde ich sie so bald wie möglich schicken, Herr Brocklehurst; denn ich muß Ihnen gestehen, daß ich mir sehnlichst wünsche, einer Verantwortung enthoben zu werden, die mir gar zu lästig wurde.«

»Gewiß, gewiß, Frau Reed. Und nun darf ich mich verabschieden. Während ein oder zwei Wochen werde ich daheim in Brocklehurst Hall sein; mein guter Freund, der Erzdekan, läßt mich nicht früher weg. Ich werde Fräulein Temple benachrichtigen, so daß sie auf die Ankunft der neuen Schülerin vorbereitet ist. Es wird keine Schwierigkeiten geben. Leben Sie wohl, Frau Reed.«

»Leben Sie wohl, Herr Brocklehurst; empfehlen Sie mich Frau und Fräulein Brocklehurst und auch Augusta, Theodor und dem kleinen Herren Broughton.«

»Ich werde es ausrichten, Frau Reed. Hier, kleines Mädchen, ist ein Buch für dich. Es heißt ›Führer des Kindes‹. Lies es im Gebet, und beachte besonders das Kapitel ›Vom schrecklichen und plötzlichen Tode der Martha G‹. Es handelt von einem unartigen Mädchen, das der Falschheit und Lüge verfallen war.«

Mit diesen Worten überreichte er mir ein dünnes in Pappe geheftetes Traktätchen, ließ seinen Wagen vorfahren und ging hinaus. Frau Reed und ich blieben allein; schweigend saßen wir uns gegenüber; sie nähte, und ich beobachtete sie. Frau Reed mag zu jener Zeit sechs- oder siebenunddreißig Jahre alt gewesen sein; sie war eine kräftig gewachsene Frau, breitschultrig, langgliedrig, nicht sehr groß, füllig, aber nicht dick. Ihr Gesicht war verhältnismäßig breit, der Unterkiefer stark ausgeprägt und hart; die Stirn war niedrig, das Kinn dagegen hervorstehend, Mund und Nase eher regelmäßig; unter den hellen Brauen leuchteten zwei kalte erbarmungslose Augen; ihre Haut war matt und eher dunkel, das Haar dagegen fast flachsblond. Sie erfreute sich stets bester Gesundheit. Sie war eine tüchtige, umsichtige Hausfrau, führte Haus und Dienerschaft unter ihrem strengen Regiment; nur ihre Kinder mißachteten zuweilen ihre Autorität, spotteten ihrer sogar. Sie war stets gut gekleidet und verstand es, in ihrem Auftreten ihre natürlichen und künstlichen Vorteile hervorzuheben.

Ich saß auf einem niedrigen Schemel, nicht weit von ihrem Sessel entfernt, und betrachtete sie prüfend und kritisch. Ich hielt das Büchlein mit der Geschichte vom jähen Tod der Lügnerin in der Hand; ich sollte mir die Lektüre als eine geziemende Warnung zu Herzen nehmen. Das eben Geschehene, was Frau Reed Herrn Brocklehurst über mich erzählt hatte, der Ton und die Art des Gesprächs waren noch frische Wunden, die mein Bewußtsein schmerzten; ich hatte jedes verletzende Wort genauso körperlich gespürt, wie ich es deutlich vernommen hatte, und nun gärte leidenschaftliche Empörung in mir.

Frau Reed sah von ihrer Arbeit auf; sie blickte mich durchdringend an, und ihre behenden Finger ruhten einen Augenblick.

»Verlasse das Zimmer; geh ins Kinderzimmer zurück«, befahl sie. Sie muß meinen Gesichtsausdruck oder irgend etwas anderes an mir als feindselig und beleidigend empfunden haben, denn ihre Stimme verriet verhaltenen, aber heftigen Zorn. Ich erhob mich. Ich ging bis zur Tür; dann kam ich wieder zurück, durchquerte das Zimmer und stellte mich gerade vor sie.

Jetzt mußte ich sprechen: man hatte mich übel erniedrigt, und ich mußte mich endlich zur Wehr setzen. Aber wie? Welche Kraft hatte ich denn überhaupt, um meiner Feindin zu begegnen? Ich nahm all meine Energie zusammen und schleuderte ihr entgegen:

»Ich bin keine Lügnerin! Wäre ich eine, so könnte ich wohl sagen, ich liebe Sie; aber ich sage es Ihnen rundheraus: Ich liebe Sie nicht! Ich verabscheue Sie mehr als irgendwen auf der Welt, ausgenommen John Reed. Und was dieses Buch über eine Lügnerin anbetrifft, so können Sie es Ihrer Tochter Georgiana geben, denn sie lügt und nicht ich!«

Frau Reeds Hände ruhten in ihrem Schoß; sie maß mich mit eisigem Blick.

»Hast du sonst noch etwas zu sagen?« fragte sie in einem Ton, den man eher einem erwachsenen Gegner als einem Kind gegenüber anschlägt. Ihr Blick, ihre Stimme wühlten meinen Zorn und meine ganze Abneigung auf. Ich zitterte von Kopf bis Fuß und geriet in einen Zustand unbeherrschbarer Erregung. Ich fuhr fort:

»Ich bin froh, daß Sie nicht mit mir verwandt sind. Ich werde Sie nie mehr Tante nennen, so lange ich lebe. Wenn ich einmal erwachsen bin, werde ich Sie nie besuchen. Und sollte mich je jemand fragen, ob ich Sie gern hätte und wie Sie mich behandelt hätten, so werde ich sagen, daß schon der Gedanke an Sie mir Übelkeit bereitet und daß Sie mich mit erbärmlicher Grausamkeit behandelt haben!«

»Wie wagst du es, derartige Behauptungen aufzustellen, Jane Eyre?«

»Wie ich es wage, Frau Reed? Wie ich es wage? Weil es die Wahrheit ist. Sie glauben, ich sei ohne jedes Gefühl und könne Liebe und Güte leicht entbehren; aber ich kann es nicht, und Sie sind erbarmungslos. Bis zu meiner letzten Stunde werde ich es Ihnen nie vergessen, wie Sie mich hart und grausam zurückstießen, wie Sie mich in das Rote Zimmer gestoßen haben und trotz meiner Todesangst und Verzweiflung dort einschlossen, trotz meiner flehentlichen Bitten, ›hab Erbarmen! hab Erbarmen, Tante Reed!‹ Und diese Strafe haben Sie mir auferlegt, weil Ihr böser Sohn mich geschlagen hatte, um nichts und wieder nichts zu Boden geschlagen! jedem, der mich danach fragt, werde ich das genau erzählen. Die Leute glauben, Sie seien eine gutherzige Frau, aber Sie sind schlecht und hartherzig. Sie sind es, die falsch und heuchlerisch ist!«

Bevor ich noch meine Rede beendet, verspürte ich ein seltsames Gefühl der Befreiung, des Triumphes, ein inneres Jubilieren, wie ich es noch nie gekannt hatte. Es war mir, als seien unsichtbare Fesseln und Bande zersprungen, als hätte meine Seele unverhoffte Freiheit errungen. Und dieses Gefühl hatte auch seinen Grund: Frau Reed sah entsetzt und erschrocken aus: ihre Handarbeit war zu Boden geglitten; sie hatte die Hände erhoben, bewegte sich unruhig hin und her und verzerrte sogar ihr Gesicht, als ob sie weinen wollte.

»Jane, du bist im Irrtum. Was ist denn plötzlich mit dir los? Warum zitterst du nur so? Möchtest du ein Glas Wasser trinken?«

»Nein, Frau Reed.«

»Vielleicht hast du einen anderen Wunsch? Jane, ich versichere dir, ich will ja deine Freundin sein.«

»Nein, das wollen Sie nicht! Sie haben Herrn Brocklehurst erzählt, ich sei böse, lügnerisch und falsch; aber in Lowood werde ich jedem erzählen, wie Sie sind und was Sie getan haben.«

»Jane, das sind Dinge, die du nicht verstehst. Kinder müssen nun einmal für ihre Fehler bestraft werden.«

»Aber ich bin nicht verlogen!« schrie ich wild mit kreischender Stimme.

»Aber du bist wild und heftig, Jane; das mußt du doch zugeben; und jetzt geh ins Kinderzimmer zurück — sei so lieb — und leg dich ein wenig hin.«

»Ich kann nicht ›so lieb‹ sein; und ich kann mich nicht hinlegen. Senden Sie mich bald zur Schule, Frau Reed, denn das Leben hier ist mir eine verhaßte Qual.«

»Das werde ich allerdings tun! So bald wie möglich stecke ich sie in die Schule«, murmelte Frau Reed vor sich hin. Dann raffte sie ihre Arbeit zusammen und verließ eiligst das Zimmer.

Ich blieb allein zurück — der Sieger auf dem Schlachtfeld. Es war die härteste Schlacht, die ich je gekämpft hatte, und der erste Sieg, den ich je errang. Ich verweilte einen Augenblick auf meinem Platz auf dem Teppich — dort wo Herr Brocklehurst vorher gestanden hatte, und genoß meinen einsamen Triumph.

Zuerst lächelte ich innerlich und fühlte mich in gehobener Stimmung; aber dieses verwegene Hochgefühl hielt nur so lange an, wie die Erregung meinen Puls höher schlagen ließ. Ein Kind kann nicht mit Erwachsenen streiten, wie ich es getan hatte; es kann nicht, wie ich soeben, seine Wut an ihnen unbeherrscht auslassen, ohne gleich darauf einen Stich der Reue und ein kaltes Angstgefühl zu empfinden. Das lodernde, sprühende Feuer, mit dem ich meine Anklagen und Drohungen gegen Frau Reed ausgestoßen hatte, war verloschen; und nun, nach einer halben Stunde der Besinnung und des Schweigens, war es zu einem Häufchen Asche zusammengesunken. Ich war mir des Wahnsinns meines Betragens und meiner trostlosen Lage als verhaßtes und gehässiges Wesen wieder voll bewußt.

Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich Rache genossen: Sie erschien mir wie ein Wein, erwärmend, würzig und feurig beim ersten Schluck, aber mit einem bitteren, ätzenden Nachgeschmack, der wie ein Gift wirkte. Am liebsten wäre ich zu Frau Reed gegangen, um sie um Verzeihung zu bitten, aber aus Erfahrung und Instinkt wußte ich, daß sie mich dann nur mit doppelter Schmach zurückgestoßen und so meine heftige Abneigung gegen sie aufs neue angefacht hätte.

Wie gern wollte ich beherrschter sein, anstatt stets aufzubrausen! Wie gern hegte ich sanfte Gefühle und ging friedlicheren Gedanken nach als denen des Aufruhrs und der Empörung! Ich nahm ein Buch zur Hand — es waren arabische Märchen. Ich setzte mich und versuchte zu lesen. Ich vermochte dem Inhalt keinen Sinn abzugewinnen; meine eigenen Gedanken beschäftigten mich noch zu stark, und ich blätterte gleichgültig in dem sonst für mich so bezaubernden Band. Ich öffnete die Glastür des Frühstückszimmers; vor mir lag der stille Garten; kein Sonnenstrahl fiel, kein Lüftchen wehte im frosterstarrten Gelände. Ich bedeckte Kopf und Arme mit meinem Rock und lief hinaus; auch im abgelegensten Teil des Parks fand ich weder Ruhe noch Zufriedenheit. Die starren Bäume, die fallenden Tannenzapfen, die erfrorenen Herbstblätter waren steif und leblos. Ich lehnte mich an ein Gitter und blickte auf ein ödes! Feld hinaus, wo keine Schafe weideten und wo niedere Grasstoppeln, von weißem Reif bedeckt, erstorben lagen. Es war ein grauer Tag; vom dunklen schneeschweren Himmel fielen hie und da vereinzelte Flocken, bedeckten Flur und Wege mit einer dünnen Eisschicht; alles war grau und trostlos. Und da stand ich, hilflos und elend, und immer wieder fragte ich mich verzweifelt: Was soll ich tun? Was soll ich tun?

Plötzlich hörte ich eine helle Stimme rufen: »Fräulein Jane, wo sind Sie? Kommen Sie zum Mittagessen!«

Es war Bessie; ich hatte sie wohl erkannt, rührte mich aber nicht vom Fleck.

»Sie unartiges kleines Ding!« rief sie. »Warum kommen Sie nicht, wenn man Sie ruft?«

Im Vergleich zu den finsteren Gedanken, denen ich nachgehangen hatte, war Bessies Gegenwart geradezu eine freudige Erlösung, wenn sie auch, wie üblich, etwas mürrisch tat. Nach meinem Auftritt mit Frau Reed und meinem Sieg machte mir die vorübergehende Launenhaftigkeit des Kindermädchens nicht mehr viel aus; aber ihre jugendliche Leichtherzigkeit war mir jetzt mehr als willkommen. Ich schlang ihr meine Arme um den Hals und sagte nur:

»Schon gut, Bessie! Nicht schimpfen!«

Dabei verhielt ich mich irgendwie freier und furchtloser als gewöhnlich, und das schien ihr zu gefallen.

»Sie sind ein seltsames Kind, Fräulein Jane«, sagte sie und sah auf mich herunter. »Ein verstörtes, einsames, kleines Ding! Und jetzt werden Sie wohl bald zur Schule gehen?«

Ich nickte.

»Und wird es Ihnen gar nicht leid tun, die arme Bessie zu verlassen?«

»Was kann das Bessie schon ausmachen? Sie schilt mich ja immer.«

»Weil Sie so ein wunderliches, schreckhaftes, scheues kleines Geschöpf sind. Sie sollten kühner sein.«

»Was? Damit ich noch mehr Schläge bekomme?«

»Unsinn! Aber Sie haben es schon ziemlich schwer, das ist wahr. Meine Mutter sagte letzte Woche, als sie hier zu Besuch war, sie möchte keines ihrer Kleinen an Ihrer Stelle sehen. So, und nun kommen Sie herein; ich habe gute Nachrichten für Sie.«

»Ach, Bessie, das glaube ich Ihnen nicht.«

»Kind! Was soll das heißen? Warum schauen Sie mich so traurig an? Hören Sie doch! Frau Reed, die jungen Damen und Herr John gehen heute nachmittag aus, und wir beide bleiben hier zum Tee. Ich werde die Köchin bitten, uns einen kleinen Kuchen zu backen, und dann helfen Sie mir Ihre Schubladen ausräumen, denn ich soll bald Ihre Koffer packen. Frau Reed wünscht, daß Sie Gateshead in ein bis zwei Tagen verlassen, und Sie können sich aussuchen, welche Spielsachen Sie mitnehmen wollen.«

»Bessie, du mußt mir versprechen, nicht mehr mit mir zu schimpfen, bis ich weggehe.«

»Gut, das will ich tun; aber Sie müssen auch ganz artig sein und keine Angst vor mir haben. Schrecken Sie nicht immer zusammen, wenn ich einmal die Stimme erhebe: das ist nämlich aufreizend.«

»Ich glaube, ich werde nie mehr vor dir Angst haben, Bessie, denn ich weiß ja jetzt, wie du bist; und bald werde ich ganz andere Leute fürchten müssen.«

»Wenn Sie sie fürchten, machen Sie sich bei ihnen nur unbeliebt.«

»Wie bei dir, Bessie?«

»Nein, mein Fräulein, das stimmt nicht. Ich glaube, ich habe Sie viel lieber als all die anderen.«

»Das läßt du dir aber nicht anmerken.«

»Sie freches kleines Ding! Sie haben sich ja eine ganz neue Ausdrucksweise zugelegt. Was macht Sie heute so kühn und verwegen?«

»Ach, jetzt gehe ich ja doch bald fort von hier, und außerdem—.« Ich war nahe daran, etwas über das zwischen Frau Reed und mir Vorgefallene zu erwähnen, fand es dann aber doch ratsamer, über dieses Thema zu schweigen.

»Dann sind Sie also froh, mich zu verlassen?«

»Ganz und gar nicht, Bessie; jetzt bin ich sogar fast traurig.«

»›Jetzt gerade‹! und ›Fast‹! Wie kühl die kleine Dame das sagt! Wenn ich Sie jetzt um einen Kuß bäte, würden Sie womöglich ablehnen und sagen: ›Jetzt gerade, fast lieber nicht‹?«

»Ich will dir aber einen Kuß geben, und von Herzen gern! Bück dich.«

Wir umarmten uns fest und innig, und dann folgte ich ihr, völlig getröstet, ins Haus zurück. Der Nachmittag verlief friedlich und harmonisch; und am Abend erzählte mir Bessie einige ihrer zauberhaftesten Geschichten und sang mir ihre süßesten Lieder vor. Selbst für mich hatte das Leben zuweilen eine sonnige Stunde.

5

Am Morgen des neunzehnten Januar, als es kaum fünf Uhr geschlagen hatte, kam Bessie mit einer Kerze in meine Schlafkammer, aber ich war schon aus dem Bett und fast fertig angezogen. Ich war seit einer halben Stunde auf, hatte mir das Gesicht gewaschen und mich im Schimmer des gerade untergehenden Halbmonds, dessen Licht durch das kleine Fenster bis an mein Bett drang, angekleidet. Ich sollte Gateshead an jenem Morgen mit einer Postkutsche verlassen, die um sechs Uhr am Tor beim Pförtnerhaus vorbeikam. Bessie war als einzige so früh aufgestanden; sie hatte im Kinderzimmer ein Feuer gemacht und bereitete mir ein Frühstück. Kaum ein Kind mag sich hinsetzen und essen, wenn es in Gedanken schon auf der Reise ist, und ich machte da keine Ausnahme. Bessie drängte mich vergebens, ein wenig Milch zu trinken und wenigstens eine Scheibe Brot zu essen; schließlich wickelte sie ein paar Zwiebacke in Papier und steckte sie in meine Reisetasche; dann half sie mir in Mantel und Mütze, warf sich einen Schal um und begleitete mich aus dem Kinderzimmer. Als wir an Frau Reeds Schlafzimmer vorbeikamen, fragte sie mich: »Wollen Sie nicht hineingehen und Frau Reed Lebewohl sagen?«

»Nein, Bessie; sie kam gestern abend noch an mein Bett, während du unten beim Essen warst, und sagte, ich brauche weder sie noch meine Kusinen heute früh zu stören; und sie sagte auch, ich solle nie vergessen, daß sie stets meine beste Freundin gewesen sei, und ich solle dementsprechend nur gut von ihr sprechen und ihr dankbar sein.«

»Was haben Sie darauf geantwortet, Fräulein Jane?«

»Nichts; ich habe das Bettlaken über das Gesicht gezogen und mich nach der Wand gedreht.«

»Das hätten Sie nicht tun sollen, Fräulein Jane.«

»Doch, Bessie, das war ganz richtig. Deine Herrin ist nie meine Freundin gewesen. Sie war mein Feind.«

»Aber, Fräulein Jane, sagen Sie das nicht!«

»Gateshead, Lebewohl!« rief ich, als wir durch die Halle hinausgingen.

Der Mond war untergegangen, und es war dunkel; Bessie trug eine Laterne, deren schwaches Licht auf nasse Stufen und Pfützen auf dem kürzlich aufgetauten Kiesweg fiel. Der Wintermorgen war bitter kalt; meine Zähne klapperten, während ich den Fahrweg hinuntereilte. Im Pförtnerhaus brannte Licht als wir ankamen, schürte die Frau gerade ihr Feuer; mein Koffer, den man am letzten Abend herausgebracht hatte, stand verschnürt an der Tür. Es war kurz vor sechs, und sobald die Uhr geschlagen hatte, kündigte schon ein fernes Rädergeratter die Ankunft der Postkutsche an. Ich ging zur Tür und sah die Wagenlichter rasch aus dem Dunkel auftauchen.

»Reist sie denn ganz allein?« fragte die Pförtnersfrau.

»Ja.«

»Und wie weit ist es?«

»Fünfzig Meilen.«

»Das ist aber weit! Und Frau Reed läßt sie einfach allein auf so eine lange Reise gehen?«

Die Kutsche fuhr vor. Da stand sie nun vor dem Tor mit ihren vier Pferden und ihrem Verdeck voller Passagiere. Der Kutscher rief laut, man solle sich beeilen; mein Koffer wurde aufgeladen; man mußte mich von Bessie losreißen, die ich umarmte und mit Küssen bedeckte.

»Paßt gut auf sie auf!« rief sie dem Beifahrer zu, der mich auf den Wagen hob.

»Wird gemacht!« war die Antwort. Der Schlag fiel zu, eine Stimme befahl: »Abfahren!«, und wir rollten los. Das war mein Abschied von Bessie und Gateshead; so wurde ich in eine unbekannte und, wir mir schien, ferne und geheimnisvolle Welt hinausgeschleudert.

An die Reise kann ich mich kaum erinnern; ich weiß nur noch, daß mir der Tag unnatürlich lang schien und daß ich den Eindruck hatte, wir durchführen Hunderte von Meilen. Wir kamen durch mehrere Städte, und in einer sehr großen hielten wir. Die Pferde wurden gewechselt, und die Reisenden begaben sich zum Mittagessen. Man trug mich in ein Gasthaus, und der Postillion ermunterte mich, etwas zu essen; da ich aber keinen Hunger hatte, ließ er mich in einem riesigen Saal mit einem Kamin auf jeder Seite, einem Kronleuchter in der Mitte des Raumes und einem kleinen roten Regal an der Wand, auf dem Musikinstrumente lagen. Hier spazierte ich lange herum, fühlte mich sehr fremd und verlassen und schwebte in tödlicher Angst, es könne jemand kommen und mich entführen, denn ich glaubte fest an Räuber und Banditen, von denen Bessie so oft in ihren Erzählungen am Kamin berichtet hatte. Endlich kam der Postillion zurück; wieder wurde ich in die Kutsche gehoben, mein Beschützer kletterte auf seinen Sitz, blies in sein Horn, und weiter rollten wir ratternd über das Kopfsteinpflaster zur Stadt hinaus.

Der Nachmittag war feucht und neblig, und als die Abenddämmerung hereinsank, begann ich mich erst wirklich sehr entfernt von Gateshead zu fühlen. Wir kamen durch keine Städte mehr, die Landschaft veränderte sich; graue Hügel erhoben sich am Horizont. Als es dunkler wurde, fuhren wir in ein Tal hinab, durch finstere Wälder. Es war schon lange Nacht, und ich hörte einen wilden Wind durch die Baumkronen rauschen.

Das Windesrauschen schläferte mich ein. Ich hatte noch nicht lange geschlafen, als mich das plötzliche Aufhören des Räderrollens weckte. Der Kutschenschlag war offen, und eine Person, die wie eine Dienstmagd aussah, stand davor; ich sah ihr Gesicht und ihr Kleid im Licht der Wagenlaterne.

»Ist da ein kleines Mädchen namens Jane Eyre?« fragte sie.

Ich sagte schüchtern »Ja«, man hob mich hinaus; mein Koffer wurde abgeladen, und die Kutsche fuhr sogleich weiter.

Meine Glieder waren steif vorn langen Sitzen, ich war noch vom Rattern und Schaukeln der Kutsche benommen, und während ich allmählich wieder zu mir kam, begann ich mich umzuschauen. Regen, Wind und Dunkelheit umgaben mich; dennoch erkannte ich die Umrisse einer Mauer vor mir und eine offene Tür. Meine neue Begleiterin führte mich hinein; sie schloß die Tür hinter sich und verriegelte sie. Jetzt sah ich ein Haus, oder es konnten auch mehrere Häuser sein — es war jedenfalls etwas mit vielen Fenstern, von denen einige erleuchtet waren. Wir gingen auf einem breiten Kiesweg, durch viele Pfützen, und wurden in eines der Gebäude eingelassen. Dann geleitete mich das Mädchen durch einen Gang in ein Zimmer, in dem ein Kaminfeuer brannte, und ließ mich dort allein.

Ich ging zum Feuer und wärmte meine vor Kälte starren Finger; dann sah ich mich um. Es gab keine Kerze, aber im flackernden Licht der Glut erkannte ich verschiedene Gegenstände: Teppiche, Vorhänge, glänzende Mahagonimöbel, tapezierte Wände; es war ein Salon. Er war zwar nicht so groß und prunkvoll wie der von Gateshead, aber er war behaglich.

Ich war gerade dabei zu ergründen, was ein an der Wand hängendes Gemälde wohl darstellen mochte, als die Tür aufging und jemand mit einem Licht eintrat; gleich dahinter folgte eine zweite Person.

Die erste war eine schlanke, hochgewachsene Dame mit dunklem Haar, dunklen Augen, einer blassen und hohen Stirn. Sie war in einen Schal gehüllt und sah schön und ernsthaft aus.

»Das Kind ist aber sehr jung; wie kann man es allein reisen lassen?« sagte sie und stellte ihre Kerze auf den Tisch. Sie betrachtete mich aufmerksam, und nach einer Weile fuhr sie fort.

»Man sollte sie bald zu Bett bringen; sie sieht müde aus. Bist du müde?« Sie legte mir die Hand auf die Schulter.

»Ein wenig, Madame.«

»Und sicher auch hungrig; lassen Sie ihr etwas zu essen bringen, bevor sie zu Bett geht, Fräulein Miller. Ist es das erste Mal, daß du deine Eltern verläßt, um zur Schule zu gehen, kleines Mädchen?«

Ich erklärte ihr, daß ich keine Eltern habe. Sie fragte mich, wie lange sie schon tot seien, wie alt ich sei, wie ich heiße, ob ich lesen, schreiben und etwas nähen könne; dann strich sie mir sanft mit ihrem Finger über die Wange und sagte: »Hoffentlich bist du ein gutes Kind.« Damit ließ sie mich mit Fräulein Miller allein.

Die Dame, die mit mir gesprochen hatte, mochte etwa neunundzwanzig Jahre alt sein; die bei mir gebliebene schien mir einige Jahre jünger. Die erstere hatte mich durch ihre Stimme, Aussehen und Haltung beeindruckt. Fräulein Miller wirkte dagegen eher gewöhnlich; sie hatte rote Wangen, sah aber müde und abgespannt aus; ihr Gang, ihre Bewegungen waren hastig und unstet wie bei jemandem, der immer zu viel zu tun hat; sie war in der Tat — wie ich später feststellen sollte — eine typische Hilfslehrerin. Sie führte mich durch zahlreiche Gänge und Räume in ein großes, weitverzweigtes Gebäude; nach der bedrückenden Stille und Dunkelheit im anderen Haus schlug uns plötzlich Stimmengewirr entgegen. Wir traten in einen langen Saal, an dessen beiden Seiten große Brettertische mit ein paar brennenden Kerzen standen, und ringsum saßen Mädchen aller Altersklassen von neun bis etwa zwanzig Jahren. Im schwachen Kerzenschimmer erschienen sie mir zahllos; in Wirklichkeit waren es nicht mehr als achtzig. Sie waren alle gleich gekleidet: altmodisch zugeschnittene braune Stoffkleider und lange Schürzen. Sie waren alle mit ihren Hausaufgaben beschäftigt, bereiteten sich auf den Unterricht des nächsten Tages vor; und das Stimmengesumm, das den Raum erfüllte, kam vom halblauten Repetieren der Schulaufgaben.

Fräulein Miller wies mir einen Platz auf der Bank nahe der Tür an; dann ging sie an das Ende des langen Saales und rief:

»Klassenordner! Sammelt die Lehrbücher ein und stellt sie an ihren Platz.« Vier größere Mädchen erhoben sich von verschiedenen Tischen, machten ihre Runde, sammelten die Bücher ein und trugen sie fort. Dann befahl Fräulein Miller:

»Klassenordner! Holt das Nachtessen.«

Die vier Mädchen gingen hinaus und kamen nach kurzer Zeit zurück; jede trug ein Tablett, auf dem sich Portionen irgendeiner Speise, ein Krug mit Wasser und ein Trinkbecher befanden. Die Portionen wurden ringsum verteilt; wer durstig war, konnte Wasser trinken; der Trinkbecher wurde gemeinsam benutzt. Als ich an der Reihe war, trank ich, denn die Kehle war mir ausgetrocknet, aber ich rührte das Essen nicht an; nach den Aufregungen der Reise konnte ich nichts zu mir nehmen. Ich sah allerdings, daß die Mahlzeit aus einem in Scheiben geschnittenen, dünnen Haferkuchen bestand.

Nach beendeter Mahlzeit las Fräulein Miller die Abendgebete, und dann begaben sich die Mädchen klassenweise und in Zweierreihen nach oben. Ich war bereits so übermüdet, daß ich den Schlafsaal kaum noch sah; ich erkannte gerade noch, daß er, wie das Schulzimmer, sehr lang war. Heute nacht durfte ich bei Fräulein Miller im Bett schlafen; sie half mir beim Ausziehen. Als ich mich hinlegte, blickte ich auf eine endlos lange Reihe von Betten, in denen je zwei Mädchen schliefen; nach zehn Minuten wurde die einzige Kerze gelöscht, und in der Stille und Dunkelheit schlief ich bald ein.

Die Nacht verging rasch. Ich war so müde, daß ich nicht einmal träumte; nur einmal erwachte ich und hörte den Wind heulen und den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln; dann spürte ich die Nähe Fräulein Millers an meiner Seite. Als ich dann später wieder die Augen öffnete, erklang ein lauter Glockenton; die Mädchen waren schon aus den Betten und kleideten sich an; es war noch dunkel, und ein oder zwei Binsenlichter brannten im Saal. Ich stand ungern auf; es war bitter kalt, und ich zog mich zitternd an, so gut ich konnte, und wartete dann auf eine Gelegenheit, mich zu waschen, was nicht leicht war, da je sechs Mädchen über nur ein Waschbecken verfügten und sich in der Mitte des Schlafsaals um die Waschtische drängten. Wieder ertönte die Glocke; wir stellten uns in Zweierreihen auf, gingen die Treppe hinunter in das kalte, spärlich beleuchtete Schulzimmer; hier las Fräulein Miller die Morgengebete und rief danach:

»In Klassen einteilen!«

Während einiger Minuten gab es ein lärmendes Durcheinander, und Fräulein Miller rief mehrere Male: »Ruhe!« und »Ordnung!« Schließlich hatte sich der Tumult gelegt, und ich sah alle Mädchen sich in vier Halbkreisen um vier Tische stellen; an jedem dieser Tische stand ein Stuhl; die Mädchen hatten ein Buch in der Hand, und auf den Tischen lag ein großes Buch, wahrscheinlich eine Bibel. Es trat eine kurze Pause ein, und wieder hob ein Summen und Flüstern an, das Fräulein Miller, von Klasse zu Klasse gehend, zu beschwichtigen versuchte.

Ein fernes Glöckchen erklang, und gleich darauf traten drei Damen ein. Jede ging an einen der Tische und setzte sich; Fräulein Miller nahm am vierten Tisch Platz, der nahe der Tür war und um den die Kleinsten versammelt waren. Ich gehörte zu dieser untersten Klasse und war ganz hintangestellt.

Jetzt begann die Morgenandacht: das Tagesgebet wurde wiederholt und im Respons aufgesagt, dann wurden Bibelzitate ausgegeben und endlos lange Kapitel der Heiligen Schrift gelesen. So ging es eine ganze Stunde. Als die Andacht beendet war, schien volles Tageslicht. Die unermüdliche Glocke ertönte zum vierten Male; die Klassen schritten geschlossen in ein anderes Zimmer zum Frühstück. Wie froh war ich jetzt beim Gedanken, etwas zu essen zu bekommen! Da ich am Vortag nichts zu mir genommen hatte, war ich fast krank vor Hunger.

Der Speisesaal war ein düsterer Raum mit niedriger Decke. Auf zwei langen Tischen dampften Schüsseln mit etwas Heißem; aber der Duft war, trotz meines Hungers, alles andere als appetitanregend. Überall um mich herum sah ich gerümpfte Nasen und enttäuschte Gesichter, und die Aussicht auf ein so schlecht riechendes Frühstück schien niemandem zu behagen. Aus der Gruppe der ältesten Mädchen erhob sich ein deutlich hörbares Murmeln:

»Abscheulich! Schon wieder angebrannter Haferbrei!«

»Ruhe!« schrie eine Stimme; diesmal war es nicht Fräulein Miller, sondern eine der höheren Lehrerinnen, eine kleine, dunkelhaarige, feingekleidete, aber irgendwie verdrießlich aussehende Person, die sich an das eine Ende eines Tisches setzte, während eine eher dralle Dame am anderen Ende präsidierte. Ich schaute vergebens nach der schönen Dame aus, die mit mir am Vorabend gesprochen hatte, aber sie war nirgends zu sehen. Am unteren Ende meines Tisches saß Fräulein Miller, und ihr gegenüber nahm eine fremd aussehende ältere Dame den Ehrenplatz ein; es war, wie ich später erfuhr, die Französischlehrerin. Ein langes Tischgebet wurde gesprochen, ein Kirchenlied gesungen; dann brachte eine Magd den Lehrerinnen Tee, und das Mahl begann.

Gierig und fast schwindlig vor Hunger verschlang ich ein oder zwei Löffel voll von meiner Portion, ohne mir über den Geschmack Gedanken zu machen, aber kaum war der erste Heißhuhger gestillt, da spürte ich den ekligen Brei auf der Zunge und ließ den Löffel sinken — angebrannter Haferbrei ist fast so schlimm wie verfaulte Kartoffeln; selbst einem Verhungernden wird schlecht davon. Die anderen Mädchen stocherten zögernd in ihren Tellern herum; fast jede versuchte, wenigstens einen Löffel voll zu schlucken, aber meist war die Mühe umsonst. Bald war das Frühstück beendet, und keine von uns hatte gefrühstückt. Ein Dankgebet wurde gesprochen, und keine von uns hatte etwas erhalten, wofür sie danken konnte. Nach einem zweiten Kirchenlied verließen wir den Speisesaal und begaben uns in das Schulzimmer. Ich ging als eine der letzten hinaus und sah eine der Lehrerinnen den Haferbrei kosten; sie schaute die anderen an; alle verzogen die Gesichter, und eine, es war die Dralle, flüsterte:

»Widerlicher Fraß! Es ist eine Schande!«

Eine Viertelstunde verging, bevor der Unterricht begann. In dieser Pause ging es laut und hoch her. Für kurze Zeit schien es uns erlaubt zu sein, lauter und freier zu reden, und davon wurde reichlich Gebrauch gemacht. Es gab nur ein Gesprächsthema: das Frühstück; und alle schimpften sich gründlich darüber aus. Die Armen! Es war ihr einziger Trost. Fräulein Miller war jetzt die einzige Lehrerin im Raum; eine Gruppe der älteren Mädchen stand um sie herum, sie redeten ernsthaft und mit trotzigen Mienen auf sie ein. Ich hörte mehrere Male den Namen von Herrn Brocklehurst, worauf Fräulein Miller tadelnd den Kopf schüttelte; aber sie schien sich nicht sehr zu bemühen, der allgemeinen Empörung Einhalt zu gebieten; vermutlich war sie der gleichen Ansicht.

Die Glocke im Schulzimmer schlug neun; Fräulein Miller verließ ihren Kreis, ging in die Mitte des Saals und rief:

»Ruhe! Auf eure Plätze!«

Es herrschte Disziplin: Im Nu löste sich das Gedränge in Ordnung auf, und das aufgeregte Stimmengewirr verstummte. Die Lehrerinnen waren pünktlich zur Stelle, aber alle schienen auf etwas zu warten. Die achtzig Mädchen saßen regungslos und aufrecht auf den Bänken längs der Saalwände. Fürwahr, eine wunderliche Gesellschaft! Alle hatten das Haar aus dem Gesicht gekämmt; kein Löckchen war zu sehen; überall die gleichen braunen, hochschließenden Kleider mit schmalen Halsstreifen, leinene kleine, vorn angebundene Taschen (ähnlich den Beuteln, die die Hochländer tragen), wollene Strümpfe, Bauernschuhe mit Messingschnallen. Über zwanzig der so gekleideten Mädchen waren schon erwachsen, eigentlich eher junge Frauen; die Tracht stand ihnen schlecht, und auch die Hübschesten sahen darin linkisch und reizlos aus.

Während ich sie betrachtete, warf ich auch hie und da einen Blick auf die Lehrerinnen — keine gefiel mir wirklich. Die Dralle war etwas ordinär, die Dunkelhaarige griesgrämig, die Fremde barsch und grotesk, und Fräulein Miller, die Arme, war puterrot, verschwitzt und überarbeitet. Ich sah sie mir der Reihe nach an und machte mir meine Gedanken, als plötzlich die ganze Schulgemeinde, wie von einer Sprungfeder emporgeschnellt, sich von ihren Sitzen erhob.

Was war vorgefallen? Ich hatte keinen Befehl gehört und war verwirrt. Kaum hatte ich Anstalten gemacht aufzustehen, da hatten alle Mädchen wieder Platz genommen, aber aller Augen waren in eine Richtung gewandt, und als ich ihnen folgte, erblickte ich die Dame, die mich bei meiner Ankunft begrüßt hatte. Sie stand an einem der beiden Kamine und musterte schweigend und ernst die Reihen längs der Wände, wo die Schülerinnen saßen. Fräulein Miller trat zu ihr und schien sie etwas zu fragen; dann ging sie an ihren Platz zurück und sagte laut:

»Klassenordner der ersten Klasse! Den Globus holen!«

Während der Befehl ausgeführt wurde, schritt die Dame langsam durch den Saal. Ich muß einen besonderen Sinn für Verehrung haben, denn noch heute verspüre ich ehrfürchtige Bewunderung, wenn ich mich daran erinnere, wie meine Augen jedem ihrer Schritte folgten. Im hellen Tageslicht erschien sie groß, hell und wohlgestalt; braune, freundlich leuchtende Augen, feine, lange dunkle Wimpern unterstrichen die hohe, bleiche Stirn; das dunkelbraune Haar war, der damaligen Mode entsprechend, in runden Locken um die Schläfen gelegt (glatte Haarbänder und lange Ringellocken trug man damals nicht); ihr ebenfalls modisch geschnittenes Kleid war aus purpurnem Tuch, mit schwarzem, spanischem Samtbesatz verziert, und an ihrem Gürtel trug sie eine goldene Uhr — das war damals noch eine Seltenheit. Um das Bild zu vervollkommnen, sei hinzugefügt: äußerst feine Gesichtszüge, ein blasser, aber reiner Teint, eine stattliche Haltung von natürlicher Würde … das war die äußere Erscheinung von Fräulein Temple — Maria Temple, wie ich später aus ihrem Gebetbuch ersah, das sie mir auf dem Kirchgang anvertraute — das war sie, soweit Worte sie überhaupt beschreiben können.

Die Schulleiterin von Lowood — denn diese Stellung bekleidete sie — setzte sich nun vor zwei Globen, die man auf den Tisch gestellt hatte, versammelte die Mädchen der ersten Klasse um sich und begann mit dem Geographieunterricht. Die anderen Lehrerinnen nahmen sich der unteren Klassen an. Eine Stunde lang wurde Geschichte und Grammatik gelehrt, dann folgten Schönschreiben und Arithmetik, und Fräulein Temple erteilte einigen der älteren Mädchen Musikunterricht. Jede Stunde begann und endete mit dem Glockenzeichen, und als es endlich zwölf schlug, erhob sich die Schulleiterin und kündigte an: »Ich habe noch ein Wort an die Schülerinnen zu richten.«

Die schon nach dem befreienden Zeichen lärmenden und schwatzenden Mädchen verstummten augenblicklich. Sie fuhr fort:

»Ihr hattet heute morgen ein Frühstück, das ihr nicht essen konntet; ihr seid gewiß hungrig. Ich habe Anweisung gegeben, daß euch allen ein zweites Frühstück aus Brot und Käse ausgeteilt wird.«

Die Lehrerinnen blickten sie überrascht an.

»Es geschieht auf meine Verantwortung«, erklärte sie ihnen darauf und verließ sofort den Saal.

Brot und Käse wurden nun hereingebracht, verteilt und von allen mit Vergnügen und Genuß verzehrt. Jetzt ertönte der Befehl: »In den Garten!« Jede band sich eine rauhe Strohkapuze um, die man mit farbigen Kattunbändern befestigte, und schlüpfte in einen grauen Friesmantel. Ich bekam die gleiche Ausrüstung und folgte den andern ins Freie.

Der Garten war ein weitläufiges, von hohen, jeden Blick nach außen verbietenden Mauern umgebenes Gelände, an dessen Seite sich eine gedeckte Veranda hinzog und durch das breite Wege liefen, und in dessen Mitte eine große, in Beete eingeteilte Fläche lag. Diese Beete waren der Pflege der Schülerinnen anvertraut, und jedes hatte seine Besitzerin. Voller bunter Blumen waren sie gewiß hübsch anzusehen, aber im späten Januar lagen sie in öder Bräune und wintriger Starre da. Ich schauderte, als ich dort stand und mich umblickte; es war ein unfreundlicher Tag, zum Spiel im Freien kaum geeignet. Es regnete zwar nicht, aber ein feuchter gelber Nebel verfinsterte die Luft, und wo man hintrat, stapfte man in den Pfützen von gestern und bekam nasse Füße. Die kräftigeren Mädchen rannten und sprangen spielend umher, die Bleichen und Dünnen aber drängten sich, Schutz und Wärme suchend, auf der Veranda, und viele von ihnen hörte ich tief und hohl husten und sah sie in der durchdringenden Nebelluft zittern.

Noch hatte ich mit keinem der Mädchen gesprochen, und niemand schien von mir Notiz zu nehmen. Ich stand einsam da, lehnte an einem Pfeiler der Veranda, zog meinen grauen Mantel fest um mich, versuchte die Kälte um mich und den ungestillten Hunger in mir zu vergessen und gab mich meinen Betrachtungen und Gedanken hin. Worüber? Es war alles zu vage und sprunghaft, um der Erwähnung wert zu sein; ich wußte ja kaum erst, wo ich war. Gateshead und mein vergangenes Leben waren in unendlich weiter Ferne zerflossen. Die Gegenwart war fremd und unbestimmt, und über die Zukunft konnte ich nicht einmal Mutmaßungen anstellen. Ich sah mich in dem Garten, der dem eines Klosters glich, um und blickte auf das Haus hinüber — ein großes Gebäude, von dem ein Teil grau und verfallen, ein anderer fast neu war. Der neue Teil mit Schulraum und Schlafsaal hatte mit Pfosten vergitterte Fenster, die ihm ein klösterliches Aussehen verliehen. Über der Tür befand sich eine Steintafel mit der Inschrift: »Lowood-Stift. Dieser Teil wurde A.D…. durch Naomi Brocklehurst, von Brocklehurst Hall in dieser Grafschaft, neu erbaut. — Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, auf daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Matth. V, 16.«

Wieder und wieder las ich diese Worte. Ich spürte, daß sie eine besondere Bedeutung hatten, fand aber keine Erklärung. Ich sann über das Wort »Stift« nach und versuchte einen Zusammenhang zwischen den ersten Worten und dem Bibelzitat herzustellen, als ich dicht hinter mir jemanden husten hörte. Ich wandte mich um und sah ein Mädchen auf einer Steinbank sitzen. Sie war über ein Buch gebeugt und schien es mit großem Interesse zu lesen. Ich konnte den Titel erkennen: »Rasselas« — welch ein seltsamer und zugleich anziehender Name! Beim Umblättern sah sie zufällig zu mir auf, und ich redete sie geradehinaus an: »Ist dein Buch interessant?« Ich beabsichtigte bereits, sie eines Tages zu bitten, es mir zu leihen.

»Mir gefällt es«, antwortete sie nach einer Pause und betrachtete mich prüfend.

»Wovon handelt es?« fuhr ich fort. Noch heute weiß ich nicht, woher ich die Kühnheit nahm, eine Unbekannte ins Gespräch zu ziehen. Ein solcher Schritt lag nicht in meiner Art und meinen Gewohnheiten; aber ihre Beschäftigung mußte irgendwie meine Sympathie erregt haben, denn auch ich las gern, wenn auch bisher nur kindlich unbedeutende Dinge. Ernste und schwerere Lektüre war für mich noch zu mühsam und unverständlich.

»Du kannst es dir anschauen«, sagte das Mädchen und reichte mir das Buch. Ich nahm es. Ein kurzer Blick überzeugte mich, daß der Inhalt weniger fesselnd war als der Titel. »Rasselas« war für meinen kindlichen Geschmack langweilig. Nichts über Elfen und Geister; keine bunte, abwechslungsreiche Phantasie leuchtete mir aus den dichtbedruckten Seiten entgegen. Ich gab es ihr zurück, sie nahm es wortlos und schickte sich an weiterzulesen, als ich es von neuem wagte, sie zu unterbrechen.

»Kannst du mir sagen, was die Inschrift auf der Steintafel über der Tür bedeutet? Was ist Lowood—Stift?«

»Das ist das Haus, in dem du jetzt leben wirst.«

»Und warum nennt man es Stift? Unterscheidet es sich von anderen Schulen?«

»Es ist zum Teil eine Freischule. Du und ich und all die anderen sind Freischülerinnen. Ich nehme an, du bist eine Waise. Ist nicht dein Vater oder deine Mutter tot?«

»Beide starben, bevor ich sie kannte.«

»Nun, alle Mädchen hier haben Vater, Mutter oder beide Eltern verloren, und diese Schule ist für die Erziehung von Waisenkindern bestimmt.«

»Bezahlen wir also nichts? Werden wir hier umsonst erhalten?«

»Wir bezahlen; oder Freunde tun es für uns: Fünfzehn Pfund jährlich.«

»Und warum nennt man uns dann Freischülerinnen?«

»Weil fünfzehn Pfund für Unterhalt und Schulunterricht nicht ausreichen; der fehlende Betrag wird aus Stiftungsgeldern bestritten.«

»Wer stiftet die nötigen Beiträge?«

»Verschiedene wohltätige Damen und Herren aus der Umgebung und in London.«

»Wer war Naomi Brocklehurst?«

»Die Dame, die den neuen Teil des Hauses errichten ließ, wie die Inschrift besagt, und deren Sohn hier alles überwacht und leitet.«

»Warum?«

»Weil er der Schatzmeister und Verwalter des Stifts ist.«

»Dann gehört das Haus nicht der schlanken Dame, die eine Uhr trägt und gesagt hat, wir könnten Brot und Käse haben?«

»Fräulein Temple? Ach, nein! Ich wünschte, es gehörte ihr. Sie muß Herrn Brocklehurst über alles, was sie tut, berichten und ist ihm gegenüber verantwortlich. Herr Brocklehurst kauft unsere Nahrung und Kleidung.«

»Lebt er hier?«

»Nein — zwei Meilen entfernt, in einem großen Herrenhaus.«

»Ist er ein guter Mensch?«

»Er ist ein Geistlicher, und man sagt, er tue viel Gutes.«

»Sagtest du, die schlanke Dame heiße Fräulein Temple?«

»Ja.«

»Und wie heißen die anderen Lehrerinnen?«

»Die mit den roten Backen heißt Fräulein Smith; sie überwacht die Handarbeiten und ist Zuschneiderin — denn wir nähen uns unsere Kleider, Röcke und Mäntel selbst, die Kleine mit dem schwarzen Haar ist Fräulein Scatcherd; sie lehrt Geschichte und Grammatik und überwacht die Schulaufgaben der zweiten Klasse; und die mit dem Schal, die ihr Taschentuch an der Seite mit einem gelben Band angebunden trägt, ist Madame Pierrot; sie kommt aus Lille in Frankreich und unterrichtet Französisch.«

»Hast du die Lehrerinnen gern?«

»Es geht. Ganz gern.«

»Magst du die kleine Schwarze und die Madame —? Ich kann ihren Namen nicht so aussprechen wie du.«

»Fräulein Scatcherd ist heftig — du darfst sie nicht verärgern; Madame Pierrot ist ganz nett.«

»Aber Fräulein Temple ist die beste — nicht wahr?«

»Fräulein Temple ist sehr gütig und sehr klug; sie steht über den anderen, weil sie viel mehr weiß.«

»Bist du hier schon lange?«

»Zwei Jahre.«

»Bist du eine Waise?«

»Meine Mutter ist tot.«

»Bist du glücklich hier?«

»Du fragst aber wirklich zu viel. Ich habe dir schon genug geantwortet. Nun möchte ich lesen.«

Doch im selben Augenblick ertönte die Essensglocke. Wir kehrten alle ins Haus zurück. Der Geruch im Speisesaal war kaum verlockender und appetitlicher als der, der unsere Nasen beim Frühstück umweht hatte. Das Essen wurde in zwei riesengroßen verzinnten Schüsseln aufgetragen, aus denen sich ein ranziger Dampf erhob. Die Speise bestand aus zerkochten Kartoffeln und seltsam rotfaserigen Fleischstückchen, die daruntergemengt worden waren. Jede Schülerin erhielt eine reichliche Portion dieser Kost. Ich aß, soviel ich konnte, und fragte mich, ob uns wohl jeder Tag solch eine Nahrung bescheren würde.

Nach dem Essen gingen wir gleich ins Schulzimmer. Der Unterricht wurde wiederaufgenommen und bis fünf Uhr fortgesetzt.

Das einzige erwähnenswerte Ereignis des Nachmittags war, daß das Mädchen, mit dem ich auf der Veranda gesprochen hatte, von Fräulein Scarcherd mit Schimpf und Schande aus der Geschichtsstunde entlassen und in die Mitte des großen Schulsaals gestellt wurde, wo sie zur Strafe, allen Blicken ausgesetzt, stehen mußte. Mir erschien diese Art der Bestrafung, besonders für ein größeres Mädchen (sie war mindestens dreizehn), als im höchsten Grade beschämend. Ich erwartete auch, daß sie von dieser Schmach zutiefst betroffen und verletzt sein würde, aber zu meiner Überraschung sah ich keine Träne; sie errötete nicht einmal. Gefaßt und ernst stand sie da, als Zielscheibe aller Blicke. Wie kann sie es so ruhig ertragen? fragte ich mich und dachte: Ich an ihrer Stelle würde in den Erdboden versinken wollen. Sie sieht aus, als dächte sie an etwas weit von ihrer Strafe Entferntes — als sei sie weit weg von hier, als sähe sie gar nicht, was um sie vorging. Ich hatte schon einmal von Wachträumen gehört— Ist sie in einem Wachtraum? Ihre Augen blicken zu Boden, aber ich bin sicher, sie sehen ihn nicht — sie ist ganz in sich versunken, bis in ihren Herzensgrund; sie sieht etwas, an das sie sich erinnert, und nicht die Wirklichkeit, so muß es sein. Was für ein Mädchen mag sie wohl sein? Ist sie gut, ist sie unartig?

Kurz nach fünf bekamen wir noch einen Imbiß; einen kleinen Becher Kaffee und eine halbe Scheibe Graubrot. Ich verschlang meine Portion mit Behagen; gern hätte ich noch mehr gehabt — ich war immer noch hungrig. Es folgte eine halbe Stunde Pause, dann kamen die Hausaufgaben dran; schließlich das Glas Wasser, das Stück Haferkuchen, Abendgebete und Bett. Das war mein erster Tag in Lowood.

6

Am nächsten Tag wiederholte sich das Frühaufstehen und; Ankleiden bei Binsenlicht; aber an diesem Morgen mußten wir auf das Waschzeremoniell verzichten, denn das Wasser in den 3 Waschkrügen war gefroren. Das Wetter war während der Nacht umgeschlagen, und ein eisiger Nordostwind, der die ganze Nacht hindurch an den schlechtschließenden Schlafsaalfenstern gerüttelt hatte und uns in unseren Betten vor Kälte erzittern ließ, hatte den Inhalt von Kannen und Schüsseln zu Eis erstatten lassen.

Bei der anderthalbstündigen Morgenandacht, den Gebeten und Bibelvorlesungen glaubte ich vor Kälte umzukommen. Endlich kam die Frühstückszeit, und der Haferbrei war diesmal nicht angebrannt; er war durchaus eßbar, aber die Portionen waren klein; meine schien mir winzig, und ich wünschte mir sehnlichst das doppelte Quantum.

Im Laufe des Tages wurde ich der vierten Klasse zugeteilt und erhielt meine ersten Aufgaben. Hatte ich am Vortag das Schulsystem von Lowood als Zuschauerin genossen, so war ich jetzt ein aktives Mitglied geworden. Zuerst erschien mir der Unterricht lang und schwierig, da ich bisher keine Übung im Auswendiglernen hatte; auch der rasche Übergang von einem Fach zum andern verwirrte mich, und ich war froh, als mir Fräulein Smith um drei Uhr nachmittags ein zwei Meter langes Stück Musselin, Nadel, Fingerhut und Faden gab, mich in eine stille Ecke des Schulzimmers setzte und mir auftrug, es zu säumen. Die meisten Mädchen nähten um diese Zeit, nur eine Klasse war noch um Fräulein Scatcherd versammelt, und da es sonst still im Saal war, konnten wir den Unterricht verfolgen, hörten, Wie die einzelnen Mädchen ihre Antworten gaben und was Fräulein Scatcherd dazu zu sagen hatte. Es war englische Geschichte. Unter den Schülerinnen beobachtete ich besonders meine Bekannte von der Veranda; zu Beginn der Stunde nahm sie den ersten Platz in der Klasse ein, aber wegen eines Fehlers in der Aussprache oder einer Unachtsamkeit beim Lesen wurde sie plötzlich auf den allerletzten Platz verwiesen. Und selbst dort blieb sie immer noch die Zielscheibe von Fräulein Scatcherds tadelnden Bemerkungen; sie schien nicht von ihr abzulassen und redete ständig auf sie ein: »Burns (so hieß sie also, denn alle Mädchen wurden bei ihren Familiennamen gerufen), Burns, du hast die Füße verdreht, stell dich sofort gerade hin.«

»Burns, du streckst schon wieder das Kinn hervor; ich mag das nicht.« — »Burns, halte gefälligst den Kopf hoch; ich verbitte mir diese schlechte Haltung.« Und dergleichen mehr.

Nach zweimaliger Lektüre eines Kapitels wurden die Bücher geschlossen und die Mädchen geprüft. Man hatte gerade einen Teil der Regierungszeit Karls des Ersten durchgenommen, und nun wurden allerlei Fragen über Schiffstonnage, Pfundwährung und Kriegsschiffsteuer gestellt, die die wenigsten Mädchen befriedigend beantworten konnten; nur Burns wußte stets sofort über alles Bescheid. Sie schien alles auswendig gelernt zu haben und konnte sich an die kleinsten Einzelheiten erinnern. Ich nahm an, daß Fräulein Scarcherd sie jetzt für ihre Aufmerksamkeit während des Unterrichts loben würde, statt dessen aber schrie sie sie plötzlich an:

»Pfui, du garstiges, schmutziges Ding! Du hast dir heute früh nicht die Fingernägel gereinigt!«

Burns antwortete nichts; ich war erstaunt.

Warum erklärt sie ihr nicht, daß sie sich weder die Fingernägel noch das Gesicht hatte waschen können, da das Wasser gefroren war?

Meine Beobachtungen wurden von Fräulein Smith unterbrochen, die mich rief, damit ich ihr beim Garnwickeln helfe. Während ich ihr das Knäuel hielt, sprach sie mit mir, fragte, ob ich schon einmal in einer Schule gewesen sei, ob ich markieren, nähen, stricken könne und so weiter, und als sie mich schließlich entließ, hatte ich Fräulein Scatcherd aus dem Auge verloren. Erst als ich wieder auf meinen Platz zurückgekehrt war, hörte ich, wie sie gerade einen Befehl erteilte, dessen Wortlaut ich nicht verstand. Burns verließ die Klasse, ging in den kleinen Nebenraum, in dem die Bücher aufbewahrt wurden, kehrte gleich wieder zurück und hatte eine Rute in der Hand. Dieses schändliche Gerät überreichte sie Fräulein Scatcherd mit einem artigen Knicks, nahm, ohne weitere Befehle abzuwarten, ihre Schürze ab und beugte den Nacken, auf den die Lehrerin wohl ein Dutzend harte Schläge niedersausen ließ. Burns weinte nicht, und während ich vor ohnmächtiger, stiller Wut und Empörung über dieses beschämende Schauspiel so zitterte, daß ich meine Näharbeit unterbrechen mußte, veränderte sich kein Zug in ihrem ruhigen, nachdenklichen Gesicht.

»Abgebrühtes, verstocktes Ding!« rief Fräulein Scatcherd aus. »Nichts kann dich von deinen schlampigen Gewohnheiten heilen! Bring die Rute zurück.« Burns gehorchte; ich sah sie gespannt an, als sie aus dem Bücherraum kam. Sie steckte hastig ihr Taschentuch ein, und die Spur einer Träne glänzte auf ihrer Wange.

Die Spielstunde am Abend war der angenehmste Teil des Tages in Lowood. Das Stückchen Brot und der Schluck Kaffee wirkten belebend, wenn sie auch nicht den Hunger stillten; die strenge Zucht des Tages war gelockert: Das Schulzimmer war wärmer als am Morgen — das Kaminfeuer brannte etwas heller, zum Teil um die Kerzen zu ersetzen, die es hier nicht gab; die rötliche Glut, die Freiheit, plaudern zu dürfen, und das fröhliche Stimmengewirr schafften willkommene Entspannung.

Am Abend des Tages, an dem Fräulein Scatcherd ihre Schülerin Burns mit der Rute geschlagen hatte, ging ich, wie gewöhnlich, allein zwischen den Gruppen lachender Mädchen herum. Ich war allein, fühlte mich aber nicht einsam; von Zeit zu Zeit ging ich an ein Fenster und schob den Vorhang etwas zur Seite, um hinauszuschauen. Es schneite in dichten Flocken, und Schneewehen formten sich bis an den unteren Teil der Scheiben. Wenn ich mein Ohr an das Fenster hielt, konnte ich draußen den Wind heulen hören.

Hätte ich ein gutes Heim und liebe Eltern verlassen, so wäre dies wohl die Stunde gewesen, in der ich sie am schwersten vermißt hätte. Das Heulen des Windes hätte mein Herz traurig gestimmt, die chaotische Finsternis der Nacht mir den Frieden geraubt; aber so, wie es war, verschafften sie mir ein seltsam erregendes, fieberhaftes Hochgefühl; ich hätte den Wind noch wilder, die Dunkelheit noch finsterer, das Chaos noch höflischer haben mögen. Ich sprang über Bänke, kroch unter Tischen hindurch und gelangte zu einem der Kamine; dort fand ich Burns. Sie kniete dicht am Feuer; den Lärm um sie herum schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen; sie war ganz und gar mit einem Buch beschäftigt, das sie im Feuerschein las. »Immer noch ›Rasselas‹?« fragte ich.

»Ja«, sagte sie, »ich bin gerade am Ende.«

Bald hatte sie das Buch zugeklappt, und ich war froh. Vielleicht konnte ich sie jetzt zum Sprechen bringen. Ich hockte mich neben sie auf den Boden nieder.

»Wie heißt du noch, außer Burns?«

»Helen.«

»Kommst du von weit?«

»Ich komme aus einem Ort im Norden, fast an der Grenze von Schottland.«

»Gehst du je wieder dorthin zurück?«

»Ich hoffe es; aber niemand ist seiner Zukunft sicher.«

»Du möchtest doch sicher aus Lowood fort?«

»Nein; warum sollte ich? Ich wurde zu meiner Erziehung nach Lowood geschickt, und es hätte doch keinen Sinn fortzugehen, bevor ich dieses Ziel erreicht habe.«

»Aber diese Lehrerin, dieses Fräulein Scatcherd, ist doch so grausam zu dir?«

»Grausam? Überhaupt nicht! Sie ist streng, sie haßt meine Fehler.«

»Nun, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich sie hassen; ich würde mich ihr widersetzen; wenn sie mich mit dieser Rute schlagen sollte, würde ich sie ihr aus der Hand reißen. Ich würde sie ihr vor der Nase entzweibrechen.«

»Wahrscheinlich würdest du nichts dergleichen anstellen, und wenn du es doch tätest, so würde Herr Brocklehurst dich von der Schule verjagen, und das würde deinen Verwandten großen Kummer bereiten. Es ist viel besser, geduldig einen Schmerz zu ertragen, den man nur selbst spürt, als sich zu einer übereilten Tat hinreißen zu lassen, deren schlimme Folgen sich auf andere Menschen auswirken; und außerdem lehrt uns die Bibel, Böses mit Gutem zu vergelten.«

»Aber es ist doch beschämend, geschlagen zu werden, und dann mußtest du auch noch mitten im Schulzimmer stehen und dich anstarren lassen; und du bist doch schon groß. Ich bin viel jünger als du, und ich könnte es nicht ertragen.«

»Und doch wäre es deine Pflicht, es zu ertragen, da du es nicht vermeiden kannst. Es ist ein Zeichen von Schwäche und Dummheit, wenn du sagst: ›Ich kann es nicht ertragen‹; denn du mußt nun einmal ertragen, was dir dein Schicksal bestimmt hat.«

Ich hörte ihr verwundert zu; ein solches Duldertum war mir unbegreiflich, und noch weniger vermochte ich. die Nachsicht zu teilen, mit der sie ihre Peinigerin beurteilte. Und doch spürte ich, daß Helen Burns die Dinge in einem meinen Augen verborgenen Licht sah. Ich mutmaßte, sie könnte recht und ich könnte unrecht haben; aber ich war jetzt nicht bereit, lange darüber nachzudenken, und verschob das auf unbestimmte Zeit.

»Du sagst, du habest Fehler, Helen; was sind das für Fehler? Mir erscheinst du als ein sehr artiges Mädchen.«

»Dann lerne von mir, daß der Schein trügen kann. Ich bin, wie Fräulein Scatcherd ganz richtig sagte, äußerst schlampig; ich bin unordentlich und nicht sorgfältig mit meinen Sachen; ich bin unachtsam, verstoße gegen die Regeln; ich lese, wenn ich lernen sollte; ich bin flüchtig und zerstreut; und manchmal sage ich wie du, ich könne diese methodische Genauigkeit ›nicht ertragen‹. Das verärgert natürlich besonders Fräulein Scatcherd, die immer so ordentlich, pünktlich und peinlich genau ist.«

»Und böse und grausam dazu«, fügte ich hinzu; aber Helen wollte es nicht gelten lassen und schwieg.

»Ist Fräulein Temple auch so streng zu dir?«

Beim Klang dieses Namens huschte ein leises Lächeln über ihr ernstes Gesicht. »Fräulein Temple ist ja so gütig! Es tut ihr weh, wenn sie streng sein muß, sogar bei den Allerschlimmsten. Sie sieht auch meine Fehler und ermahnt mich sanft und liebevoll; und wenn ich einmal eine gute Leistung vollbracht habe, so lobt sie mich großzügig. Ist es nicht ein starker Beweis meines erbärmlich fehlerhaften Charakters, daß selbst ihre so milden, gutgemeinten und vernünftigen Vorhaltungen mich nicht von meiner Schlechtigkeit abbringen und daß sogar ihr Lob, das mir über alles geht, mich nicht zu besserer Sorgfalt und Aufmerksamkeit anspornen konnte?«

»Das ist merkwürdig«, sagte ich. »Es ist doch so einfach, sorgfältig und aufmerksam zu sein.«

»Für dich ist es zweifellos einfach. Ich habe dich heute früh in deiner Klasse beim Unterricht beobachtet, und ich sah, wie aufmerksam du warst. Sicher sind deine Gedanken nie abgeschweift, während Fräulein Miller die Lektion durchnahm und dir dann Fragen stellte. Aber meine Gedanken sind ständig woanders, während ich Fräulein Scatcherd zuhöre und alles von ihr Gesagte in mich aufnehmen sollte; oft höre ich nicht einmal mehr ihre Stimme; ich bin wie in einem Traumzustand; dann bilde ich mir ein, zu Hause in Northumberland zu sein, und die Geräusche um mich herum sind das Sprudeln eines Bachs, der durch Deepden an unserem Haus vorbeifließt. Und wenn ich dann plötzlich aufgerufen werde und eine Frage beantworten soll, muß ich erst wieder erwachen, und da ich keine Ahnung vom eben Vorgelesenen und Gesagten habe, weil ich über dem Plätschern des herbeigeträumten Baches alles vergaß, weiß ich keine Antwort.«

»Heute nachmittag hast du aber sehr gut geantwortet.«

»Das war nur ein Zufall; das Thema hatte mich interessiert. Heute nachmittag dachte ich, anstatt von Deepden zu träumen, darüber nach, wie ein König, der das Beste wollte, derart ungerecht und töricht handeln konnte wie Karl der Erste, und daß es ein Jammer war, so viel Gewissenhaftigkeit und Rechtschaffenheit einzig und allein in den Dienst der Erhaltung von Kronprivilegien zu setzen. Hätte er nur ein wenig mehr Weitblick gehabt, und hätte er den sogenannten Zeitgeist erkennen und deuten können! Und doch habe ich Karl I. gern; ich achte ihn und ich bemitleide ihn, den armen ermordeten König! Ja, seine Feinde waren noch viel schlimmer als er! Sie hatten kein Recht, das Blut des Königs zu vergießen. Wie konnten sie es wagen!«

Helen sprach zu sich selbst. Sie hatte vergessen, daß ich ihr gar nicht folgen konnte, daß ich von diesem Kapitel der Geschichte so gut wie nichts wußte. Ich rief sie auf mein Niveau zurück. »Wandern deine Gedanken auch fort, wenn Fräulein Temple unterrichtet?«

»Nein, gewiß nicht oft, denn Fräulein Temple hat im allgemeinen Dinge zu sagen, die neuartiger und interessanter als meine eigenen Gedanken sind. Ihr zuzuhören macht mir besondere Freude, und was sie zu sagen hat, ist meist gerade das, was ich gern wissen möchte.«

»So bist du also bei Fräulein Temple artig?«

»Ja, schon; aber ich tue ja nichts dazu. Ich geb’ mir keine Mühe und folge nur einfach meiner Neigung. Auf diese Weise artig zu sein, ist kein Verdienst.«

»Doch ist es das; du bist artig, wenn man gut zu dir ist. Du bist lieb, wenn man lieb zu dir ist. Ich möchte niemals anders sein. Wenn man den grausamen und ungerechten Leuten stets lieb und brav gehorcht, dann hätten die Bösen ja völlig freie Hand, brauchten nichts zu fürchten und würden sich niemals bessern, sondern immer schlechter werden. Wer zu Unrecht geschlagen wird, sollte hart zurückschlagen — ganz gewiß —, und zwar so hart, daß der andere daraus seine Lehre zieht und es nie wieder tut.«

»Du wirst deine Ansicht hoffentlich noch ändern, wenn du älter wirst. Jetzt bist du ja noch ein kleines, unwissendes Kind.«

»Aber, Helen, ich spüre es ganz deutlich. Wer mich nicht ausstehen kann, auch wenn ich mir die größte Mühe gebe zu gefallen, den muß ich hassen. Wer mich ungerecht bestraft, dem muß ich mich widersetzen. Das ist genauso natürlich wie den zu lieben, der mir Liebe entgegenbringt, und mich der Strafe zu unterwerfen, die mir gerecht erscheint.«

»So denken auch die Heiden und die Wilden; aber Christen und zivilisierte Völker sind anderer Meinung.«

»Warum denn? Das verstehe ich nicht.«

»Gewalt kann nicht über Haß siegen — und Rache macht kein Unrecht wieder gut.«

»Was sonst?«

»Lies das Neue Testament und achte darauf, was Christus sagt und wie er handelt. Mach dir sein Wort zur Regel und nimm dir an seinem Leben ein Beispiel.«

»Was sagt er denn?«

»Liebet eure Feinde, segnet, die euch Böses tun, tut Gutes denen, die euch hassen.«

»Dann müßte ich Frau Reed lieben, und das kann ich nicht; und ihren Sohn John müßte ich segnen? Das ist unmöglich.«

Helen Burns wollte das erklärt haben, und ich erzählte ihr, in meiner Art, die Geschichte meiner Leiden und Enttäuschungen.

Ich machte meinem angestauten Groll reichlich Luft, gab meiner Erregung nach und redete heftig und verbittert, so wie ich es empfand, ohne Zurückhaltung.

Helen hörte mir geduldig bis zum Ende zu; ich erwartete eine Bemerkung, aber sie sagte nichts.

»Nun«, fragte ich ungeduldig, »ist Frau Reed nicht eine hartherzige, böse Frau?«

»Sie ist gewiß hart mit dir gewesen, weil ihr dein Charakter zuwider ist, so wie meiner Fräulein Scatcherd mißfällt. Aber wie genau du dich an alles erinnerst, was sie dir zugefügt hat! Welch seltsam tiefen Eindruck hat ihre Ungerechtigkeit in deinem Herzen hinterlassen! An meinen Gefühlen hat keine schlechte Behandlung je etwas geändert. Wärst du nicht glücklicher, wenn du versuchtest, ihre Strenge und deine heftige Empörung darüber zu vergessen? Das Leben scheint mir zu kurz, um es mit gehegtem Haß und Erinnerung an einst ertragenes Unrecht zu verbringen. Wir haben alle unsere Fehler, und so muß es wohl sein; aber die Zeit wird kommen, da wir sie, wie unseren vergänglichen Leib, ablegen; da Verderbnis und Sünde von unserem vergänglichen Fleisch abfallen und nur der Funke des Geistes erhalten bleibt; jener unfaßbare Grundbestandteil aus Leben und Gedanken. Und dann sind wir so rein, wie der Schöpfer uns geformt hat. Dieser Funke kehrt dann zu seinem Ursprung zurück, vielleicht um einem Wesen zugeteilt zu werden, das höher als der Mensch ist — vielleicht, um sich auf stufenweiser Wanderung von der blassen Menschenseele in einen leuchtenden Seraph zu verwandeln! Niemals aber darf die Seele vom Menschen zum Teufel hinabsinken! Nein, das kann ich nicht glauben. Ich habe meinen eigenen Glauben, den mich niemand gelehrt hat und von dem ich selten spreche, aber der mich beglückt und an dem ich festhalte, denn er birgt Hoffnung für alle; in ihm ist die Ewigkeit nur Ruhe und Frieden — ein großes Zuhause — und kein schrecklicher Abgrund.

Mit diesem Glauben kann ich auch klar den Verbrecher vom Verbrechen unterscheiden; dem Menschen, der gefehlt hat, kann ich ehrlich verzeihen und trotzdem das Böse verabscheuen; mit diesem Glauben trübt kein Rachegedanke mein Herz, keine Erniedrigung verletzt mich, keine Ungerechtigkeit erdrückt mich, und ich lebe in Ruhe dahin und sehe dem Ende gefaßt entgegen.«

Während Helen sprach, war ihr Kopf gesunken, und als sie zu Ende war, sank er noch tiefer. Ich sah ihr an, daß sie nicht weiter mit mir zu reden wünschte und lieber ihren eigenen Gedanken nachhängen wollte. Allerdings hatte sie nicht viel Zeit dazu, denn eine der Klassenordner, ein großes, ungeschlachtes Mädchen, kam auf sie zu und fuhr sie in ihrem starken Cumberlanddialekt an: »Helen Burns, wenn du nicht gleich deine Schublade in Ordnung bringst und deine Arbeitssachen auf der Stelle fort tust, sage ich es Fräulein Scatcherd.«

Helen seufzte, als sie so roh aus ihrer Träumerei gerissen wurde, erhob sich und folgte dem Befehl ohne Widerrede.

7

Mein erstes Quartal in Lowood schien endlos, und es war durchaus keine goldene Zeit. Ich kämpfte mühsam und hatte große Schwierigkeiten, mich an die neuen Lebensregeln und ungewohnten Aufgaben zu gewöhnen.

Die Angst, etwas falsch zu machen, plagte mich mehr als die Härten der Schulordnung, obwohl auch diese recht anstrengend waren.

Während des Januars, Februars und eines Teils des März hatten zuerst der Schnee, dann die Schneeschmelze, die fast unbegehbaren Wege und Straßen, Spaziergänge jenseits der Mauer, ausgenommen Kirchgänge, unmöglich gemacht; aber innerhalb des Grundstücks mußten wir jeden Tag eine Stunde im Freien verbringen. Unsere Kleidung war bei der strengen Kälte nicht ausreichend und bot uns keinen genügenden Schutz. Wir hatten keine Stiefel, und der Schnee drang in unsere Schuhe und schmolz. Wir hatten keine Handschuhe und unsere erstarrten und mit Frostbeulen bedeckten Finger litten dieselbe Qual wie unsere Füße. Ich erinnere mich noch gut an das unerträgliche Jucken am Abend und die Tortur am Morgen, wenn ich meine geschwollenen, steifen und wunden Zehen in die Schuhe zwängen mußte. Auch das kümmerlich spärliche Essen gab Anlaß zu Unzufriedenheit; aufwachsende Kinder haben ohnehin starken Appetit, und unsere Portionen hätten kaum ausgereicht, um einen schwächlichen Kranken am Leben zu erhalten. Das mangelhafte Essen war besonders für die Kleinsten schwer zu ertragen, denn die hungrigen großen Mädchen nahmen jede Gelegenheit wahr, den Kleinen durch Zureden oder mit Gewalt ihre Portionen wegzuessen. So manches Mal mußte ich das Stückchen Graubrot und den Schluck Kaffee am Nachmittag mit älteren Schülerinnen teilen und verschlang dann den kargen Rest unter Tränen, weil mich der Hunger quälte.

Die Sonntage waren zur Winterszeit besonders trübe. Wir mußten zwei Meilen weit gehen, um zur Brocklebridge-Kirche zu gelangen, wo unser Schulvorsteher den Gottesdienst hielt. Wir froren beim Fortgehen, froren noch mehr in der Kirche und erstarrten vor Kälte während des Gottesdienstes. Da es zu weit war, um zu Mittag zurückzukehren, bekamen wir zwischen den Gottesdiensten eine Portion kaltes Fleisch und Brot, die genauso kärglich war wie in Lowood.

Nach dem Nachmittagsgottesdienst kehrten wir auf einer hügligen Straße heim, wo der bitterkalte Winterwind uns den Schnee ins Gesicht blies und uns dabei fast die Haut vom Gesicht riß.

Ich erinnere mich noch, wie Fräulein Temple, in ihrem wallenden, fest um sich geschlungenen Plaidmantel, leichten und raschen Schritts an unseren matt sich dahinschleppenden Reihen entlangging und uns durch dieses Beispiel und mit aufmuternden Worten Mut zusprach. Sie pflegte uns aufzufordern, »Wie standhafte Soldaten« zu marschieren. Die anderen Lehrerinnen, die Armen, waren meist selbst so mitgenommen, daß sie uns schon gar nicht aufheitern konnten.

Wie sehnten wir uns nach Licht und Wärme am prasselnden Kaminfeuer, wenn wir endlich ankamen! Aber den Kleinsten war auch das verwehrt. Beide Kamine wurden sofort von einer Doppelreihe großer Mädchen umlagert, und dahinter standen die Jüngeren in Gruppen und hielten ihre erfrorenen Arme in die Schürzen gewickelt.

Ein kleiner Trost wurde uns dann zur Teestunde beschert; es gab eine doppelte Portion Brot — eine ganze statt einer halben Scheibe — mit der herrlichen Zugabe einer hauchdünn aufgestriebenen Schicht Butter. Das war das wöchentliche Ereignis, dem wir alle von Sonntag zu Sonntag sehnlichst entgegensahen. Meist gelang es mir, wenigstens die Hälfte dieser Köstlichkeit für mich zu behalten, aber den Rest mußte ich wohl oder übel abgeben.

Der Sonntagabend wurde mit auswendigem Aufsagen des Katechismus verbracht, dem fünften, sechsten und siebenten Kapitel aus dem Evangelium des Matthäus, und beim Anhören einer langen, von Fräulein Miller vorgelesenen Predigt; sie war selbst so müde, daß sie dabei ständig gähnte. Häufig wurde dann noch als Zwischenspiel eine Episode des Eutychus aus der Kirchengeschichte von einem halben Dutzend kleiner Mädchen vorgespielt, die, vor Müdigkeit völlig erschöpft, zu Boden sanken und in halb bewußtlosem Zustand wieder aufgerichtet wurden. Zur Strafe wurden sie dafür in die Mitte des Saals geschubst, wo sie sich stehend den Rest der Predigt anhören mußten. Manchmal gaben ihre Füße nach, und sie plumpsten in einem Haufen zusammen; dann schob man ihnen einige Hocker zu, an die sie sich lehnen durften.

Ich habe Herrn Brocklehursts Besuche noch nicht erwähnt; und er war tatsächlich während des größten Teils meines ersten Monats nicht in Lowood. Vielleicht hat ihn der Aufenthalt bei seinem Freund, dem Erzdekan, so lange ferngehalten; jedenfalls war es für mich eine Erleichterung, ihm nicht zu begegnen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich gute Gründe hatte, sein Erscheinen zu fürchten; aber schließlich kam er doch.

Eines Nachmittags (ich war schon seit drei Wochen in Lowood), als ich über meiner Schiefertafel saß und mich mit einer langen Addition abmühte, sah ich zufällig aus dem Fenster und erblickte eine gerade vorübergehende Gestalt. Sofort hatte ich diese hagere Silhouette erkannt, und als sich zwei Minuten später alles, Lehrerinnen inbegriffen, von den Plätzen erhob, brauchte ich nicht aufzublicken, um zu wissen, wessen Ankunft man so respektvoll begrüßte. Lange Schritte hallten durch den Saal, und nun stand dieselbe schwarze Säule, die mich vor dem Kamin in Gateshead so finster und unheilvoll mißbilligend betrachtet hatte, bei Fräulein Temple, die auch aufgestanden war. Ich warf einen Seitenblick auf dieses Denkmal in Schwarz; es gab keinen Zweifel: es war Herr Brocklehurst; er trug einen bis nach oben zugeknöpften Gehrock und sah länger, dürrer und steifer denn je aus.

Ja, ich hatte gute Gründe, sein Erscheinen zu fürchten: Nur allzugut waren mir die heimtückischen Anspielungen Frau Reeds über meinen Charakter und Herrn Broeklehursts Versprechen, Fräulein Temple und die Lehrerinnen vor meinen bösen Veranlagungen zu warnen, in Erinnerung geblieben. Die ganze Zeit seit meiner Ankunft hatte ich mit Schrecken auf die Erfüllung dieses Versprechens gewartet — täglich hatte ich nach dem »Unheilverkünder« Ausschau gehalten, dessen Enthüllungen über mein Vorleben und unser Gespräch in Gateshead mich für immer und ewig als ein unartiges Kind brandmarken würden; und jetzt war er da. Er stand neben Fräulein Temple und redete leise auf sie ein. Ich zweifelte nicht daran, daß er ihr schon von meiner Schlechtigkeit erzählte, und ich beobachtete ängstlich den Ausdruck ihres Gesichts und erwartete jeden Augenblick, von ihr mit Abscheu und Widerwillen angesehen zu werden. Ich versuchte, seinen Worten zu lauschen, und da ich ziemlich weit vorne saß, konnte ich fast alles hören. Was er sagte, enthob mich wenigstens vorläufig meiner Befürchtungen.

»Fräulein Temple, ich nehme an, daß der Faden, den ich in Lowton eingekauft habe, genau das ist, was Sie brauchen: Ich fand die Qualität gerade richtig für Kalikohemden, und ich habe auch die passenden Nähnadeln ausgesucht. Sie können Fräulein Smith sagen, daß ich vergaß, mir wegen der Stopfnadeln eine entsprechende Notiz zu machen, aber ich werde ihr in der nächsten Woche etwas Schreibpapier schicken. Sie soll aber auf keinen Fall mehr als ein Blatt pro Schülerin verteilen — mehr würde die Mädchen nur zu Nachlässigkeit verführen, und sie könnten sie sogar verlieren. Und, ach, Fräulein Temple, ich wünsche, daß die Wollstrümpfe in besserem Zustand gehalten werden! Als ich das letzte Mal hier war, ging ich in den Küchengarten und sah mir die Kleider auf der Wäscheleine an; eine Menge schwarzer Strümpfe schien mir äußerst reparaturbedürftig, und aus der Größe der Löcher konnte ich schließen, daß sie nicht oft genug gestopft werden.«

Er hielt inne.

»Ihre Anweisungen werden ausgeführt, Herr Brocklehurst«, sagte Fräulein Temple.

»Und dann«, fuhr er fort, »sagte mir die Waschfrau, daß einige der Mädchen zwei reine Kragen pro Woche haben: das ist zu viel; die Hausregel gestattet nur einen.«

»Ich glaube, das kann ich erklären. Agnes und Catherine Johnstone waren am letzten Donnerstag bei Freunden in Lowton zum Tee eingeladen, und da habe ich ihnen erlaubt, saubere Kragen anzuziehen.«

Herr Brocklehurst nickte.

»Nun gut, für einmal mag es hingehen; aber lassen Sie bitte derartige Dinge nur in den seltensten Fällen durch. Und dann hat mich noch etwas anderes überrascht: Ich ersehe aus der Haushaltsrechnung, daß die Mädchen in den letzten vierzehn Tagen zweimal Brot und Käse bekommen haben. Was bedeutet das? Im Haushaltsbericht steht diese Mahlzeit nicht als Mittagessen verzeichnet. Wer hat diese Neuerung eingeführt? Und kraft welcher Befugnis?«

»Dafür bin ich verantwortlich, Herr Brocklehurst«, antwortete Fräulein Temple. »Das Frühstück war so schlecht zubereitet, daß die Schülerinnen es unmöglich essen konnten; und ich konnte sie nicht bis zum Mittagessen fasten lassen.«

»Erlauben Sie, daß ich da nicht Ihrer Ansicht bin. Sie wissen, welche Erziehung ich für diese Mädchen geplant habe; sie sollen ja nicht zu Luxus und Verwöhntheit, sondern zu Abhärtung, Geduld, Demut und Selbstverleugnung erzogen werden. Wenn nun einmal der Appetit zufällig durch eine kleine Mißlichkeit, wie eine verdorbene Mahlzeit, eine zu lang oder zu kurz gekochte Speise, enttäuscht wird, so braucht man deswegen doch nicht gleich den verlorenen Genuß durch etwas Wohlschmeckenderes zu ersetzen und damit gleichsam den Leib verzärteln und die Aufgabe des Stifts außer acht lassen. Eine solche Gelegenheit sollte vielmehr wahrgenommen werden, um die geistige Erbauung unserer Schülerinnen zu fördern, indem man sie ermutigt, in der zeitweiligen Entbehrung Seelenstärke zu beweisen. Eine kurze Rede wäre bei einem solchen Vorfall durchaus angebracht, und ein einsichtsvoller Erzieher könnte an diesem Beispiel an die Leiden der frühen Christen erinnern, an die Qualen der Märtyrer, an den Aufruf unseres Gelobten Herrn Jesus Christus, der da sagte: ›Nehmet Euer Kreuz und folget mir‹, an seine Worte ›Der Mensch lebt nicht vom Brot allein‹ oder ›Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden‹. Und Sie, Fräulein Temple, füttern die Münder dieser Mädchen mit Brot und Käse anstatt mit angebranntem Haferbrei und stärken wahrlich den verderbten Leib; aber Sie vergessen dabei, daß Sie ihren Seelen die Nahrung vorenthalten!«

Herr Brocklehurst legte eine Pause ein; wahrscheinlich war er von seinen Gefühlen überwältigt. Fräulein Temple hatte anfangs zu Boden geschaut, als er zu ihr sprach; jetzt blickte sie starr vor sich hin, und ihr schon ohnehin marmorblasses Gesicht schien nun auch wie versteinert. Besonders ihr Mund war so fest geschlossen, daß man vermeinte, nur der Meißel eines Bildhauers könne ihn öffnen, und ihre Miene war wie kalter Stein.

Herr Brocklehurst stand am Kamin mit auf dem Rücken verschränkten Händen und ließ einen majestätischen Blick über die Schulgemeinde schweifen. Plötzlich zuckte sein Auge, als sei es geblendet oder verletzt; er wandte sich um und sprach in hastigerem, weniger salbungsvollem Ton als zuvor: »Fräulein Temple, Fräulein Temple, was — ja, was ist denn das? Ein Mädchen mit Locken? Rotes Haar, Fräulein Temple, und mit Locken?! Ein Kopf voller Locken?« Mit der Spitze seines Spazierstockes wies er auf den Gegenstand seines Entsetzens hin, wobei ihm die Hand zitterte.

»Das ist Julia Severn«, antwortete Fräulein Temple äußerst gelassen.

»Julia Severn, Fräulein Temple! Und warum trägt sie Locken? Warum wagt sie es, allen Grundsätzen und Regeln dieses Hauses zuwiderzuhandeln und bekennt sich ganz offenkundig zu sündiger Weltlichkeit — hier, in einem Hort des Evangeliums und der Wohltätigkeit —, indem sie Locken trägt, einen ganzen Schopf voller Locken?«

»Julias Haar ist von Natur aus lockig«, antwortete Fräulein Temple noch ruhiger.

»Von Natur aus! Wir haben uns nicht nach der Natur zu richten! Diese Mädchen sollen Kinder der Gande sein: Warum also dieser Überfluß? Wieder und wieder habe ich verlangt, das Haar solle straff, schlicht und züchtig gekämmt sein. Fräulein Temple, das Haar diese Mädchens muß völlig glattgeschoren werden. Ich werde morgen einen Barbier herschicken. Ich sehe da noch andere, denen das Haar viel zu lang gewachsen ist — das große Mädchen da, sagen Sie ihr, sie solle sich umdrehen. Lassen Sie die ganze erste Klasse aufstehen, mit dem Gesicht zur Wand.«

Fräulein Temple fuhr sich mit dem Taschentuch über die Lippen, wie um ein Lächeln zu verbergen; sie gab den Befehl, und die ganze erste Klasse führte ihn gehorsam aus. Wenn ich mich auf meiner Bank etwas zurücklehnte, konnte ich die spöttischen Blicke und Grimassen sehen, mit denen diese Maßnahme kommentiert wurde. Schade, daß Herr Brocklehurst es nicht sah, er hätte vielleicht feststellen können, daß er, trotz aller Mühe um die äußere Schale, vom Inhalt weiter entfernt war, als er glaubte.

Er prüfte eingehend die Kehrseiten dieser lebenden Medaillen, und dann fällte er sein Urteil.

Seine Worte hallten wie die Glocke des Jüngsten Gerichts:

»Alle diese Haarknoten müssen abgeschnitten werden.«

Fräulein Temple schien etwas zu erwidern.

»Madame«, fuhr er fort, »ich stehe im Dienste eines Herrn, dessen Reich nicht von dieser Welt ist; meine Aufgabe ist es, in diesen Mädchen die eitle Fleischeslust zu kasteien, sie zu lehren, sich züchtig, verschämt und schlicht zu kleiden, und nicht mit Zöpfen und verschwenderischem Tand. Jedes dieser Mädchen hier hat einen aus Flechten gewundenen Haarkranz, den die Eitelkeit selbst gewoben haben könnte: und diese Haarknoten müssen, wie ich bereits gesagt habe, abgeschnitten werden. Denken Sie doch nur einmal an den Zeitverlust, an …«

Hier wurde Herr Brocklehurst unterbrochen. Drei neue Besucher — Damen — betraten den Schulsaal. Sie hätten ein wenig früher kommen sollen, um die Predigt über Kleidung zu hören, denn sie waren prächtig in Samt, Seide und Pelz gekleidet. Die beiden jüngeren (zwei schmucke, sechzehn- und siebzehnjährige Mädchen) trugen graue, mit Straußenfedern besetzte Biberpelzhüte, die damals sehr modern waren, und unter den Hutkrempen ringelten sich wahre Ströme kunstvoll gewickelter blonder Locken. Die ältere Dame war in einen kostbaren, mit Hermelin besetzten Samtschal gehüllt, und falsche Fransenlocken hingen ihr in die Stirn. Diese Damen wurden respektvoll von Fräulein Temple begrüßt und mit Frau und Fräulein Brocklehurst angeredet. Man geleitete sie auf die Ehrenplätze am Endes des Saales. Anscheinend waren sie mit ihrem geistlichen Vater und Gemahl zusammen im Wagen angekommen und hatten die oberen Räume gründlich durchschnüffelt und durchstöbert, während er mit der Haushälterin abgerechnet, die Wäscherin ausgefragt und der Schulaufseherin eine Predigt gehalten hatte. Sie sprachen jetzt mit Fräulein Smith, die für die Bettwäsche und die Schlafsäle verantwortlich war, und teilten ihr ihre Bemerkungen und Kritiken mit. Ich hatte keine Zeit, ihnen zuzuhören, denn andere Dinge lenkten meine Aufmerksamkeit ab.

Bisher, da ich Herrn Brocklehursts Rede und Fräulein Temples Antworten zugehört hatte, hatte ich wohlweislich Vorsichtsmaßnahmen zu meinem Schutz getroffen, den ich vor allem im Unentdecktbleiben sah. Dabei hatte ich mich auf die hintere Kante der Bank gesetzt, und während ich vorgab, in meine Rechenaufgabe vertieft zu sein, hielt ich meine Schiefertafel so vor mir, daß sie das Gesicht verdeckte. So wäre ich der Aufmerksamkeit entgangen, wenn die vertrackte Tafel mir nicht plötzlich aus der Hand geglitten und krachend zu Boden gefallen wäre. Aller Augen waren nun auf mich gerichtet, und als ich mich bückte, um die Scherben aufzulesen, machte ich mich auf das Schlimmste gefaßt. Es kam.

»Ein unachtsames Mädchen!« sagte Herr Brocklehurst, und gleich darauf: »Aha, die neue Schülerin, wie ich sehe!« Und bevor ich Atem schöpfen konnte: »Ich wollte ja noch ein Wort sagen, das sie besonders betrifft.« Und dann mit lauter Stimme — ach, wie laut schien es mir!: »Lassen Sie das Kind, das seine Schiefertafel zerbrach, vortreten!«

Aus eigener Kraft hätte ich mich nicht rühren können: ich war wie gelähmt. Aber die beiden großen Mädchen, die neben mir saßen, stellten mich auf die Beine und schoben mich dem schrecklichen Richter entgegen. Fräulein Temple geleitete mich sanft bis vor seine Füße und flüsterte mir noch rasch zu: »Habe keine Angst, Jane, es war ja nicht deine Schuld. Du wirst nicht bestraft.«

Diese guten Worte trafen mich wie ein Dolchstoß mitten ins Herz.

Nur noch einen Augenblick; dann wird sie mich als Heuchlerin verachten, dachte ich, und eine wilde Wut auf Reed, Brocklehurst und ihresgleichen stieg in mir auf. Ich war keine Helen Burns.

»Bringt mir diesen Schemel«, sagte Herr Brocklehurst und wies auf einen sehr hohen Hocker, von dem sich eben eine der Klassenordner erhoben hatte. Man brachte ihn.

»Stell das Kind drauf.«

Jemand hob mich empor. Wer es war, weiß ich nicht, denn ich war in keinem Zustand, Beobachtungen anzustellen; aber ich befand mich direkt Herrn Brocklehursts Nase gegenüber, er stand einen Meter von mir entfernt, und unter mir leuchteten purpurne und orangene Seidenmäntel, über denen silberne Federwolken schwebten.

Herr Brocklehurst räusperte sich.

»Meine Damen«, sagte er zu seiner Familie gewandt; »Fräulein Temple, Lehrerinnen und Schulkinder, seht ihr dieses Mädchen?«

Natürlich sahen sie mich, denn ihre Blicke brannten mir wie die Strahlen von Brenngläsern auf der Haut.

»Ihr seht, sie ist noch jung; Ihr könnt beobachten, daß sie der Gestalt nach die gewöhnlichen Züge eines Kindes aufweist. Gott in Seiner Gnade hat sie gebildet wie uns alle auch; kein Makel, keine Entstellung weist darauf hin, daß sie bereits gezeichnet ist. Wer würde es ahnen, daß der Böse bereits in ihr eine Magd und Helferin gefunden hat? Und doch muß ich mit Betrübnis sagen, daß dem so ist.«

Eine Pause — während der ich meine gelähmten Nerven bezwang und spürte, daß der Rubikon überschritten war und daß es nun galt, den so lange gefürchteten Prozeß gefaßt und tapfer zu überstehen.

»Meine lieben Kinder«, fuhr der steinern-schwarze Gottesmann pathetisch fort: »Dies ist ein schmerzlicher, trauervoller Anlaß; denn es ist meine Pflicht, euch vor diesem Mädchen zu warnen; sie, die ein Lamm Gottes sein könnte, ist ein räudiges Schaf, eine Verworfene — sie gehört nicht zur wahren Herde, sie ist hier nur ein Eindringling, ein Fremdkörper. Vor ihr müßt ihr auf der Hut sein; folget nicht ihrem Beispiel — wenn nötig, meidet ihren Umgang, schließt sie von euren Spielen aus und laßt sie nicht an euren Gesprächen teilhaben! Lehrerinnen! Haltet sie unter strenger Bewachung, haltet ein Auge auf jede ihrer Bewegungen, wägt ihre Worte, prüft ihre Taten, straft ihren Leib, um ihre Seele zu retten — wenn eine Rettung überhaupt noch möglich ist, denn — meine Zunge strauchelt, wenn ich es ausspreche — dieses Mädchen, dieses Kind, dieses in einem christlichen Land geborene Geschöpf ist schlimmer als manches kleine Heidenkind, das zu Brahma betet oder vor Juggernaut auf die Knie fällt — dieses Mädchen— ist eine Lügnerin!«

Eine längere Pause trat ein, während derer ich — nun wieder völlig gesammelt — die weiblichen Brocklehursts beobachtete, welche sich mit ihren Taschentüchern die Augen wischten. Die ältere Dame wiegte sich auf ihrem Stuhl hin und her, und die beiden jüngeren flüsterten: »Pfui, wie entsetzlich!«

Herr Brocklehurst erklärte:

»Dieses erfuhr ich von ihrer Wohltäterin — von der frommen, gütigen Dame, die dieses Mädchen als Waise adoptierte, sie wie ihr eigenes Kind erzog und deren Liebe und Großmütigkeit von diesem unseligen Mädchen mit so schlechtem, schwarzem Undank gelohnt wurde, daß die vortreffliche Frau sich schließlich genötigt sah, sie von ihren eigenen Kindern zu trennen, da sie fürchten mußte, das böse Beispiel könne die reinen Seelen beflecken. Sie hat sie hierher zur Heilung gesandt, so wie die alten Juden ihre Kranken an die trüben Wasser des Teichs Bethesda führten. Und, Lehrerinnen, Schulleiterin, ich bitte Euch, lasset die Wasser um sie nicht stille werden.«

Mit dieser erhabenen Schlußbemerkung knöpfte Herr Brocklehurst den obersten Knopf seines Gehrocks zu, murmelte etwas zu seiner Familie, die sich erhob, verneigte sich vor Fräulein Temple und segelte gravitätisch mit den Seinen dem Ausgang zu. An der Tür wandte sich mein Richter nochmals um:

»Laßt sie noch eine halbe Stunde länger auf dem Schemel; und lassen Sie für den Rest des Tages niemand mit ihr sprechen.«

Da hockte ich nun hoch oben; ich, die behauptet hatte, nicht einmal die Schande des Stehens in der Mitte des Zimmers ertragen zu können, war nun gleichsam auf einem Sockel der Schmach allen Blicken ausgesetzt. Was ich fühlte, kann ich in Worten nicht beschreiben; doch gerade als die Erregung mir den Atem erstickte und die Kehle zuschnürte, ging ein Mädchen an mir vorbei; im Vorübergehen hob sie den Kopf und lächelte mir zu. Ihre Augen leuchteten; welch wunderbares Licht strahlten sie aus! Welch herrliche Wärme empfand ich dabei! Und welche Kraft es mir spendete! Es war, als hätte ein Märtyrer oder ein Held einem Sklaven oder einem Opfer im Vorbeigehen neuen Mut und neue Hoffnung gespendet. Ich beherrschte den aufsteigenden Weinkrampf, erhob den Kopf und stellte mich aufrecht auf den Schemel. Helen Burns hatte irgendeine belanglose Frage wegen ihrer Arbeit an Fräulein Smith gestellt, wurde deswegen gescholten, ging an ihren Platz zurück und lächelte mir wieder zu. Welch ein Lächeln! Ich sehe es noch heute und weiß, daß es der Ausdruck überlegener Intelligenz und wahrhaftigen Mutes war; es hellte ihr eingefallenes dünnes Gesicht und ihre müden grauen Augen wie ein himmlischer Wiedersehein auf und gab ihr das Aussehen eines Engels. Und doch trug Helen in diesem Augenblick das mit »Liederlich« beschriftete Schild an ihrem Arm; vor kaum einer Stunde war sie von Fräulein Scatcherd zu Brot und Wasser verurteilt worden, weil sie beim Abschreiben einer Schulaufgabe einen Tintenklecks gemacht hatte. So unvollkommen ist die menschliche Natur! Kleckse gibt es auf den reinsten Planeten; aber Augen wie die von Fräulein Scatcherd können nur diese geringfügigen Fehler sehen und sind blind für den vollen Glanz des Gestirns.

8

Ehe die halbe Stunde verstrichen war, schlug es fünf Uhr. Der Unterricht war beendet, und alle gingen in den Speisesaal zum Tee. Jetzt wagte ich mich auch von meinem Schemel herunter; es war dunkel geworden, und ich verzog mich in eine Ecke und saß dort auf dem Fußboden. Die Selbstbeherrschung, die ich mir auferlegt hatte, um durchzustehen, ließ nach, und die Reaktion setzte ein. Mein Kummer war bald so überwältigend, daß ich mit dem Gesicht zu Boden sank und bitterlich weinte. Helen Burns war nicht da, nichts ringsum bot mir Trost und Stütze, ich war mir selbst überlassen, gab mich ganz meinen Tränen hin und meiner Verzweiflung. Ich wollte ja in Lowood so artig sein und so fleißig! Ich wollte mir Freundschaften, Respekt und Zuneigung verschaffen. Ich hatte schon große Fortschritte gemacht: Noch heute früh war ich zur Klassenersten aufgerückt; Fräulein Miller hatte mich wärmstens gelobt, und Fräulein Temple hatte zustimmend gelächelt. Sie hatte versprochen, mir Zeichenunterricht zu geben und mich Französisch lernen zu lassen, wenn meine Fortschritte in den nächsten zwei Monaten nicht nachließen; meine Mitschülerinnen hatten mich gut aufgenommen, die Mädchen meines Alters mochten mich gern, und von den Älteren belästigte mich keine — und jetzt war ich wieder in den Abgrund gesunken, vernichtet und mit Füßen getreten! Konnte ich mich je wieder aufrichten?

Niemals, dachte ich und wünschte mir sehnlichst den Tod. Diesen Wunsch stammelte ich schluchzend vor mich hin, und plötzlich war jemand neben mir. Ich schreckte auf; es war Helen Burns, die mir Kaffee und Brot brachte.

»Komm, iß etwas«, sagte sie; aber ich wies beides von mir, denn ich hatte das Gefühl, ein Krumen oder ein Tropfen müßten mich in meinem jetzigen Zustand ersticken. Helen sah mich an, und sie schien erstaunt zu sein: Ich konnte meiner Erregung nicht Herr werden, so sehr ich mich bemühte, und fuhr fort, laut zu weinen. Sie setzte sich neben mich auf den Boden, schlang die Arme um ihre Knie und stützte den Kopf darauf. In dieser Stellung blieb sie schweigsam sitzen wie ein Indianer. Ich sprach als erste: »Helen, warum sitzt du hier bei einem Mädchen, das alle für eine Lügnerin halten?«

»Alle, Jane? Nur etwa achtzig Menschen haben das gehört, und in der Welt gibt es Hunderte von Millionen Menschen.«

»Was habe ich mit den Millionen zu schaffen? Die achtzig, die ich kenne, verachten mich.«

»Jane, da irrst du dich: Wahrscheinlich verachtet dich keine einzige hier in der Schule; und ich bin sicher, daß viele dich bemitleiden.«

»Wie können sie Mitleid mit mir haben, nach dem, was Herr Brocklehurst gesagt hat?«

»Herr Brocklehurst ist kein Gott; er ist nicht einmal ein großer, vielbewunderter Mann; er ist hier nicht sehr beliebt, und er hat auch nie irgend etwas unternommen, um sich beliebt zu machen. Hätte er dich als seine besondere Lieblingsschülerin behandelt, dann hättest du dir im Hause viele offene und versteckte Feinde gemacht; so aber würden die meisten dir gern Teilnahme zeigen, aber sie trauen sich nicht. Lehrerinnen und Schülerinnen werden dich vielleicht ein oder zwei Tage lang kühl behandeln, deshalb bleiben sie dir aber auch weiterhin freundlich gesinnt; und wenn du beharrlich fortfährst, brav zu sein und gut zu arbeiten, so wird man es dich bald wieder offen fühlen lassen, daß man dich gern hat, und du wirst dich um so mehr darüber freuen. Außerdem, Jane —.« Sie hielt inne.

»Ja, Helen?« sagte ich und legte meine Hand in die ihre. Sie streichelte sanft meine Finger, um sie zu wärmen, und fuhr fort:

»Wenn auch die ganze Welt dich hassen und dich für schlecht halten sollte, und dein Gewissen ist rein und spricht dich frei, dann bist du nie ohne Freunde.«

»Nein; ich weiß, daß ich gut von mir selbst denken muß, aber das genügt nicht. Wenn andere mich nicht lieben, dann möchte ich lieber sterben — ich kann es nicht ertragen, einsam und geächtet zu sein, Helen. Sieh mich an; um die wahre Zuneigung einer Person zu erlangen, die ich ehrlich liebe, wie dich oder Fräulein Temple, würde ich gern und willig alles tun; mir den Arm brechen lassen, von einem Stier umgerannt werden, mich hinter ein wildes Pferd stellen, so daß seine Hufschläge mich in die Brust treffen —.«

»Halt ein, Jane! Du denkst zuviel an menschliche Liebe, du bist zu impulsiv, zu leidenschaftlich; die göttliche Hand, die dich geschaffen und dir Leben gab, hat dir Größeres vermacht als dein schwaches Selbst und deine Mitmenschen, die ebenso schwach sind wie du. Über dieser Erde und über der Menschheit gibt es eine unsichtbare Welt und ein Reich der Geister: Diese Welt ist überall, und wir leben auch in ihr. Diese Geister wachen über uns, denn wir sind ihrem Schutz anbefohlen; und sollten wir auch in Schmerz und Schande sterben, sollte Willkür und Haß uns vernichten, so sehen die Engel unsere Qualen und erkennen unsere Unschuld (wenn wir unschuldig sind, und du bist es trotz jener Anklage, die Herr Brocklehurst aus Informationen von zweiter Hand durch Frau Reed so pompös und unüberzeugend erhob; denn dein leuchtender Blick und deine klare Stirn verraten deinen ehrlichen Charakter). Und Gott wartet nur auf unsere endgültige Trennung von Fleisch und Geist, um uns reich und voll für alles Erlittene zu belohnen. Warum sollen wir uns von Kummer überwältigen lassen, wenn das Leben so rasch vorübergeht und der Tod der wahre Beginn der Glückseligkeit ist — und der Pracht und der Herrlichkeit?«

Ich schwieg: Helen hatte mich beruhigt; aber in der Ruhe, die sie ausstrahlte, lag eine unerklärliche Traurigkeit. Ich hatte ein seltsames Gefühl, wie eine unheilvolle Ahnung, während sie sprach, aber ich wußte nicht, warum. Als sie geendet hatte, begann sie etwas rasch zu atmen und hustete kurz und hohl auf. Da vergaß ich meinen eigenen Kummer für einen Augenblick, denn ich empfand eine unbestimmte, aber wachsende Besorgnis.

Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und umschlang sie mit meinen Armen; sie zog mich fester an sich heran, und so ruhten wir aneinandergeschmiegt in der Ecke des dunklen Saals. Wir hatten nicht lange gesessen, als jemand eintrat. Draußen hatte der stärker werdende Wind die Wolken am Himmel in Fetzen gejagt, und nun schien das volle Mondlicht durch ein nahes Fenster direkt auf uns und die eintretende Gestalt, die wir sofort erkannten: Es war Fräulein Temple.

»Ich kam gerade deinetwegen, Jane Eyre«, sagte sie; »ich möchte, daß du in mein Zimmer kommst; und da Helen Burns bei dir ist, kann sie gleich mitkommen.«

Wir gingen; unter ihrer Führung schlängelten wir uns durch ein Wirrwarr enger und dunkler Gänge, stiegen eine Treppe hoch und kamen in ihre Wohnung. Ein gutes Feuer brannte im Kamin, und das Zimmer war warm, behaglich und freundlich. Fräulein Temple wies Helen Burns einen kleinen Sessel nahe am Kamin an, setzte sich ihr gegenüber und rief mich zu sich.

»Ist es jetzt vorüber?« fragte sie und blickte mich an. »Hast du deinen Kummer ausgeweint?«

»Das werde ich leider nie können.«

»Warum?«

»Weil ich zu Unrecht angeklagt worden bin; und Sie und alle anderen werden jetzt denken, ich sei böse und schlecht.«

»Wir werden von dir denken, was du bist, wie du dich erweist, mein Kind. Sei weiterhin artig und lieb, und wir werden mit dir zufrieden sein.«

»Soll ich das, Fräulein Temple? Wirklich?«

»Wirklich; so ist es«, sagte sie und legte ihren Arm um mich. »Und nun erzähle mir einmal, wer diese Dame ist, die Herr Brocklehurst deine Wohltäterin nannte?«

»Frau Reed, die Frau meines Onkels. Mein Onkel ist gestorben, und er hat mich ihrer Obhut anvertraut.«

»Dann hat sie dich also nicht von sich aus aufgenommen und adoptiert?«

»Nein, Fräulein Temple, sie tat es auch gar nicht gerne; aber mein Onkel hat ihr kurz vor seinem Tode das Versprechen abgenommen, daß sie mich immer bei sich behalten und wie ihr eigenes Kind erziehen sollte. Das habe ich oft von der Dienerschaft gehört.«

»Nun, Jane, wie du weißt — und wenn nicht, so sage ich es dir jetzt —, hat jeder Verbrecher, jeder Angeklagte das Recht, sich zu verteidigen. Du wurdest der Verlogenheit angeklagt; verteidige dich vor mir, so gut du kannst. Sag alles, was dir als wahr in Erinnerung kommt; aber füge nichts hinzu und übertreibe nichts.«

Ich beschloß aus tiefstem Herzen, gewissenhaft und maßvoll zu sein, überlegte kurz noch einmal genau, was ich zu sagen hatte, und erzählte ihr dann die Geschichte meiner traurigen Kindheit. Ich war von den Aufregungen des Nachmittags zu erschöpft und sprach verhaltener, als ich es gewöhnlich tat, wenn ich dieses Thema berührte. Ich hatte auch nicht Helens Mahnungen vergessen, bemühte mich, meine Haß- und Rachegefühle zu unterdrücken, enthielt mich bitterer Bemerkungen und blieb ruhig und beherrscht. So vereinfacht und sachlich vorgetragen klang alles viel glaubhafter, und je weiter ich fortfuhr, desto mehr gewann ich Gewißheit, daß Fräulein Temple mir Glauben schenkte.

Im Laufe meiner Erzählung hatte ich Herrn Lloyd erwähnt, der mich nach meinem Nervenanfall besuchte; denn niemals hätte ich diese für mich so entsetzliche Episode des Roten Zimmers vergessen können, und auch jetzt, vor Fräulein Temple und trotz meiner guten Vorsätze, muß mich bei der Erinnerung an den schrecklichen Augenblick, als Frau Reed mich, die ich sie wild flehend um Verzeihung bat, kalt und hart zurückstieß und mich ein zweites Mal in das finstere verwunschene Zimmer einschloß, eine heftige Erregung gepackt haben.

Ich hatte geendet. Fräulein Temple schaute mich lange schweigend an, und dann sagte sie:

»Ich habe schon von Herrn Lloyd gehört; ich werde ihm schreiben. Und wenn seine Antwort mit deiner Aussage übereinstimmt, wirst du öffentlich von jeder Beschuldigung freigesprochen; für mich bist du es schon jetzt, Jane.«

Sie küßte mich und behielt mich an ihrer Seite, wo ich froh war, bleiben zu dürfen, denn ich bewunderte mit kindlicher Freude ihr Gesicht, ihre Kleidung, ihren Schmuck, ihre glänzenden Locken und ihre wunderschönen Augen. Jetzt wandte sie sich an Helen Burns:

»Helen, wie geht es dir heute abend? Hast du viel gehustet?«

»Ich glaube, nicht so viel, Fräulein Temple.«

»Und die Schmerzen in der Brust?«

»Ein wenig besser.«

Fräulein Temple stand auf, nahm ihre Hand und fühlte den Puls; dann ging sie zu ihrem Sessel zurück, und als sie sich setzte, hörte ich sie leise seufzen. Sie blieb eine Weile nachdenklich und schweigend, dann erhob sie sich und sagte fröhlich:

»Ihr beide seid heute abend meine Gäste; und so will ich euch auch wie Gäste behandeln.« Sie zog die Glocke.

»Barbara«, sagte sie zu der eintretenden Magd, »ich habe noch keinen Tee gehabt; bringen Sie ihn herein, und stellen Sie noch zwei Tassen für die jungen Damen dazu.«

Gleich darauf wurde der Tee aufgetragen. Wie hübsch leuchteten die zierlichen Porzellantassen und die helle Teekanne auf dem kleinen runden Tisch am Kamin! Wie herrlich dufteten das Getränk und das geröstete Brot! Nur war es leider herzlich wenig, und ich begann hungrig zu werden. Fräulein Temple hatte es auch bemerkt.

»Barbara«, sagte sie, »können Sie noch etwas mehr Brot und Butter bringen? Es ist nicht genug für drei.«

Barbara ging hinaus und kam gleich wieder zurück.

»Madame, Frau Harden sagt, sie habe das gewohnte Quantum heraufgeschickt.«

Frau Harden war die Haushälterin, eine Frau nach Herrn Brocklehursts Herzen, hart wie Eisen und zäh wie ein Walfischknochen.

»Nun gut«, antwortete Fräulein Temple; »da müssen wir halt mit dem vorliebnehmen, was da ist, nicht wahr, Barbara?« Und als das Mädchen verschwand, fügte sie lächelnd hinzu: »Zum Glück habe ich dafür gesorgt, daß wir für diesmal genug haben.«

Sie lud Helen und mich ein, am Tisch Platz zu nehmen, gab uns jeder eine Tasse Tee und eine Scheibe köstlichen, wenn auch dünn gebutterten Rostbrots, ging an eine Schublade und nahm ein Paket heraus. Als sie es geöffnet hatte, entdeckten wir einen schönen Kuchen.

»Eigentlich wollte ich jeder von euch ein Stück davon mitgeben, aber da wir so wenig Brot haben, müßt ihr es jetzt essen«, sagte sie und teilte großzügige Portionen aus.

Das war ein Fest! Wie Nektar und Ambrosia! Und zum Schönsten gehörte auch das zufriedene Lächeln unserer Gastgeberin, die sich offensichtlich darüber freute, unseren Heißhunger einmal mit so köstlicher Speise stillen zu können. Nachdem das Mahl vorüber und das Tablett hinausgetragen war, setzten wir uns wieder ans Feuer, zu beiden Seiten von Fräulein Temple, und nun begann eine Unterhaltung zwischen ihr und Helen, der zuzuhören wahrlich eine seltene Ehre für mich war.

Fräulein Temple strahlte stets Ruhe und Gelassenheit aus; ihre Haltung, der Ausdruck ihres Gesichts, die Vornehmheit ihrer Sprache schlossen von vornherein ein Abgleiten in heftige, begierige und triviale Diskussionen aus. Sie hatte etwas Ehrfurchtgebietendes, das ihre Gesprächspartner oder Zuhörer als mäßigend empfanden. Das war auch jetzt mein Gefühl; aber was Helen Burns betraf, so war sie mir heute ein Wunder.

Die belebende Mahlzeit, das hell prasselnde Kaminfeuer, die Gegenwart ihrer geliebten Lehrerin, oder vielleicht eher noch etwas in ihrem eigenen Wesen, hatten ungeahnte Kräfte in ihr geweckt. Sie war wie zu neuem Leben erwacht; ihre sonst so blutleeren, blassen Wangen leuchteten sanftrot, ihre Augen strahlten in ausdrucksvollem Glanz und übertrafen an Schönheit selbst die von Fräulein Temple — eine Schönheit, die nicht durch feine Farbtönung, lange Wimpern oder zart gezeichnete Brauen bezauberte, sondern durch Geist, Bewegung und Ausdruckskraft. Ihre Lippen waren beseelt, die Worte flossen wie aus einer Quelle, deren Ursprung mir unergründlich war: Wo nahm ein vierzehnjähriges Mädchen die Eingebung zu solch reiner, glühender und kluger Beredsamkeit? So war Helen an jenem unvergeßlichen Abend. Es schien mir, ihr Geist beeile sich, in einer kurzen Spanne Zeit all das aufzunehmen, was viele im Laufe einer langen, vollen Existenz erleben.

Sie sprachen von Dingen, von denen ich in meinem Leben noch nie gehört hatte; von fernen Ländern, erforschten und unerforschten Geheimnissen der Natur. Und sie sprachen von Büchern: wie belesen sie waren! Wieviel Kenntnisse sie angesammelt hatten! Die französische Literatur war ihnen geläufig, sie kannten alle Autoren beim Namen. Aber am meisten war ich beeindruckt, als Fräulein Temple Helen fragte, ob sie noch hie und da Gelegenheit habe, sich im Latein zu üben, das sie von ihrem Vater gelernt hatte, und als sie einen Band Virgil aus dem Bücherschrank nahm und sie bat, ihr eine Seite daraus zu übersetzen; und Helen gehorchte, während meine Bewunderung bei jedem vorgetragenen Satz bis ins Grenzenlose stieg. Sie hatte kaum geendet, als die Glocke zur Schlafenszeit läutete; da war kein Aufschub mehr möglich. Fräulein Temple umarmte uns beide, drückte uns an ihr Herz und sagte:

»Gott segne euch, meine lieben Kinder!«

Helen hielt sie etwas länger als mich; die Trennung von ihr war ihr schwerer. Ihr galt der letzte Blick bis zur Tür; ihr galt ein zweiter Seufzer, ihretwegen rann ihr eine verstohlene Träne von der Wange.

Als wir im Schlafsaal ankamen, hörten wir schon die Stimme Fräulein Scatcherds: Bei der Schubladenkontrolle war sie auf die von Helen Burns gestoßen, und als wir eintraten, wurde Helen mit einer Schimpftirade begrüßt. Morgen sollte sie zur Strafe ein halbes Dutzend liederlich gefalteter Wäschestücke an ihre Schürze geheftet tragen!

»Meine Sachen waren wirklich in schandbarer Unordnung«, flüsterte Helen mir leise zu. »Ich wollte sie aufräumen, aber dann vergaß ich es.«

Am nächsten Morgen malte Fräulein Scatcherd in großen Buchstaben das Wort »Schlampe« auf ein Stück Pappe und band es mit Schnur wie ein hebräisches Schemen um Helens milde, intelligente und gütige Stirn. Sie trug es geduldig, willig und ergeben bis zum Abend, und sie betrachtete es als eine gerechte Strafe. Sowie Fräulein Scatcherd bei Ende des Nachmittagsunterrichts das Schulzimmer verlassen hatte, rannte ich zu Helen, riß ihr das Schild ab und warf es ins Feuer. Die Wut, derer sie nicht fähig war, hatte den ganzen Tag in mir gekocht, und heiße, dicke Tränen hatten mir auf den Wangen gebrannt, denn der Anblick ihres traurigen, stummen Duldertums schnitt mir zutiefst ins Herz.

Etwa eine Woche später erhielt Fräulein Temple die Antwort auf ihr Schreiben an Herrn Lloyd: er bestätigte alles, was ich erzählt hatte. Fräulein Temple versammelte daraufhin die ganze Schule, verkündete, daß man eine Untersuchung der gegen Jane Eyre hervorgebrachten Anklagen eingeleitet habe und daß sie sich freue, im Lichte des vorliegenden Resultats, mich von allen Anklagepunkten freisprechen zu können. Die Lehrerinnen schüttelten mir die Hand und küßten mich, und ein freudiges Gemurmel lief durch die Reihen meiner Kameradinnen.

Jetzt war ich von einer kummervollen Last befreit und begann von dieser Stunde an mit frischem Mut zu arbeiten; ich war fest entschlossen, jede Schwierigkeit zu meistern, und scheute keine Anstrengung. Da ich mir große Mühe gab, verbesserte sich auch mein bis dahin nicht besonders gut geübtes Gedächtnis, was mir ein schnelleres Auffassen und Lernen ermöglichte. Der Erfolg blieb nicht aus; ein paar Wochen später wurde ich in eine höhere Klasse versetzt; kurze Zeit darauf durfte ich Französisch und Zeichnen lernen. Ich lernte die ersten beiden Zeitformen des Verbs »être« und zeichnete am gleichen Tag mein erstes Haus. (Die Mauern dieses Hauses übertrafen an Schrägheit den schiefen Turm von Pisa.) An jenem Abend vergaß ich sogar beim Schlafengehen, mir mein Phantasie-Festessen aus Röstkartoffeln, weißem Brot und frischer Milch vorzuträumen, wie ich es gewöhnlich tat, um meinen inneren Hunger zu stillen; statt dessen schwelgte ich in der Vorstellung idealer Zeichnungen, die ich im Dunkeln sah — und die alle Werke meiner eigenen Hand waren: Häuser und Bäume, malerische Burgruinen auf hohen Felsen, weidende Kühe (in der Art der flämischen Meister), Schmetterlinge beim Flattern um Rosenknospen, an reifen Kirschen pickende bunte Vögel, ein Zaunkönignest mit Perleneiern, um das sich Efeuranken schlingen. Auch überlegte ich mir, ob ich wohl jemals imstande sein würde, ein französisches Märchenbuch zu übersetzen, das mir Madame Pierrot an diesem Tag gezeigt hatte. Ehe ich mir diese Frage beantwortet hatte, war ich bereits sanft und selig eingeschlafen.

Wie richtig sagte Salomo: »Besser ein Mahl von Kräutern, wo Liebe ist, denn ein gemästeter Ochse und Haß.«

Jetzt hätte ich Lowood mit all seinen Entbehrungen nie mehr gegen Gateshead und seinen alltäglichen Luxus eintauschen mögen.

9

Doch auch die Entbehrungen und Härten des Lebens in Lowood verringerten sich. Der Frühling war gekommen, der winterliche Frost gewichen, der Schnee geschmolzen, der rauhe Wind bezähmt. Meine armen, im Winter fast lahm gefrorenen, geschwollenen und geschundenen Füße verheilten langsam in der linden Aprilluft; wir mußten des Nachts nicht mehr in unseren Betten zittern, und das morgendliche Aufstehen war weniger beschwerlich. Auch die Spielstunde im Garten wurde erträglich; an sonnigen Tagen war sie sogar schon ein Vergnügen, und mit den grünen Keimen, die aus den braunen Beeten sprossen, erwachte die Hoffnung, die mit jedem Morgen leuchtendere Spuren hinterließ. Blumen kamen aus den blassen Blättern hervor: Schneeglöckchen, Krokusse, Primeln und bunte Stiefmütterchen. An den freien Donnerstagnachmittagen machten wir Spaziergänge und fanden noch hübsche Blumen an Wegen und Hecken. Ich entdeckte auch, daß hinter den mit eisernen Spitzen versehenen Mauern, die uns bisher den Horizont eingeengt hatten, eine schöne, erfreuliche Welt lag. Der Blick schweifte über eine um eine weite Talmulde gruppierte, an Grün und Schatten reiche Hügelkette und ein munter plätscherndes Bächlein mit schillernden Ufern und dunkel glänzenden Steinen. Wie anders hatte es hier ausgesehen, als noch der eiserne Winterhimmel sich darüber wölbte, als alles im Frost erstarrt, im Schnee begraben war! — als todeskalte Dunstschwaden im Osten über die roten Hügelspitzen gefegt waren und dann ins flache Uferland absanken, wo sie sich mit dem Eisnebel des Baches vermengten. Damals war der Bach ein unbändiger, schlammiger Strom, der große Holzklötze mit sich schleppte und tosend, bald regengepeitscht, bald hagelprasselnd, durch den Wald zu Tal donnerte, durch einen Wald, der nur aus kahlen Reihen gespenstischer Skelette bestand.

Der Mai folgte dem April — und es war ein wahrhaft lieblicher Mai; blauer Himmel, warme Sonne, milde Süd- und Südwestwinde begleiteten das beständig heitere Wetter. Überall grünte und blühte es; Lowood erstrahlte in neuem Glanz; seine Wiesen, Blumenbeete, die alten Ulmen, Eschen und Eichen erwachten aus skelettischer Starre zu einem majestätischen Leben. Waldpflanzen füllten die verborgensten Ecken, unzählige Moosarten bedeckten die Mulden, und die wilden Schlüsselblumen leuchteten wie ein zweiter aus dem Boden strahlender Sonnenschein. Ich sah sie in den schattigsten Winkeln und bewunderte ihren seltsam wohligen Glanz. Und all das genoß ich nun ganz offen, in voller Freiheit, ohne jede Überwachung und fast allein. Allerdings hatte solch ungewöhnlich großmütige Behandlung einen Grund, über den ich jetzt berichten muß.

Habe ich eben eine freundlich angenehme Landschaft beschrieben, mit lieblichen Hügeln, Wäldern und einem munter plätschernden Bach? Gewiß war sie recht reizvoll, aber ob sie gesund war, ist eine andere Frage.

Das enge, waldige Tal, in dem Lowood lag, war von gesundheitsschädlichem Nebel verpestet, der mit dem fortschreitenden Frühling bis in die Gemäuer der Waisenschule vordrang und dort in den überfüllten Schul- und Schlafsälen den Typhus verbreitete. Bis zum Mai hatte sich die Schule in ein Krankenhaus verwandelt.

Ungenügende Nahrung und vernachlässigte Erkältungen hatten die meisten Mädchen so geschwächt, daß sie leicht der Ansteckung ausgesetzt waren. Fünfundvierzig der achtzig Schülerinnen lagen gleichzeitig krank zu Bett, Klassen wurden aufgelöst und die Hausregeln gelockert. Die wenigen, die bei guter Gesundheit blieben, genossen fast unbeschränkte Freiheit, denn die Krankenpflegerin bestand darauf, daß wir uns möglichst viel im Freien aufhielten, um gesund zu bleiben; doch auch ohne ihren Rat hätte niemand Zeit und Lust gehabt, uns zu überwachen oder zu maßregeln. Fräulein Temple hatte sich voll und ganz den Kranken gewidmet; sie lebte im Krankenzimmer und verließ es nur, um sich einige wenige Stunden Nachtruhe zu gönnen. Die Lehrerinnen waren vollauf mit Kofferpacken und Abreisevorbereitungen für die Glücklichen beschäftigt, deren Freunde oder Verwandte fähig und willens waren, sie aus dieser ständigen Ansteckungsgefahr zu befreien. Viele waren bereits infiziert und kehrten nach Haus zurück, um dort zu sterben; andere starben in der Schule und wurden rasch und in aller Stille begraben, denn gerade bei dieser Krankheit ist kein Aufschub möglich.

Die Krankheit hatte sich in Lowood eingenistet, und der Tod war ein häufiger Gast; im Inneren der Gebäude herrschten Angst und Sorge, die Zimmer und Korridore rochen nach Krankenhaus, vergebens versuchte man mit Räucherkerzen und Chemikalien den Ausdünstungen des fortschreitenden Todes beizukommen, und währenddessen schien draußen die herrliche Maisonne an wolkenlosem Himmel über schmucken Hügeln und lieblichen Waldungen. Auch im Garten grünte und blühte es; die Stockrosen waren baumhoch emporgeschossen, Lilien, Tulpen und Rosen entfalteten ihre Blüten, die kleinen Beete bedeckten sich mit rosa Nelken, roten Chrysanthemen, und die aufgeblühten Geisblattsträucher verbreiteten ihren würzigen, apfelähnlichen Duft. Aber all diese aromatische Pracht blieb den meisten Bewohnern Lowoods vorenthalten, außer wenn man hie und da eine Handvoll Blumen auf einen Sarg legte.

Wir wenigen jedoch, die nicht erkrankt waren, genossen in Fülle die Schönheiten der Landschaft und das wunderbare Maiwetter. Wie die Zigeuner durften wir von früh bis spät in den Wäldern streifen; wir taten und ließen, was uns beliebte, und niemand gab uns Befehle. Wir lebten auch besser: Herr Brocklehurst und seine Familie hüteten sich, in die Nähe von Lowood zu kommen; niemand schnüffelte im Haushalt herum; die böse Haushälterin war gegangen, weil sie sich vor der Ansteckungsgefahr fürchtete, und ihre Nachfolgerin, die mit den Gepflogenheiten Lowoods nicht vertraut war, verpflegte uns großzügiger. Sie hatte auch für weniger Essen zu sorgen, denn die Kranken aßen fast nichts. Unsere Frühstücksteller waren voller, und wenn sie nicht dazu kam, ein richtiges Mahl zu kochen, gab sie uns große Stücke kalter Pastete oder eine dicke Scheibe Brot mit Käse, die wir mit uns in den Wald nahmen und an unseren liebsten Aufenthaltsplätzen verspeisten.

Ich hatte mir ein Plätzchen auf einem großen, glatten Stein ausgesucht, der weiß und trocken mitten aus dem Bach ragte; um dorthin zu gelangen, watete ich barfuß durch das Wasser. Er bot gerade genug Platz für zwei; und gewöhnlich saß ich dort mit meiner damaligen Freundin und Begleiterin, einer gewissen Mary Ann Wilson — einem klugen, scharf beobachtenden Mädchen, dessen Gesellschaft mir viel Spaß machte, denn sie war witzig und originell und hatte eine freundliche Art, die mich meine Schüchternheit vergessen ließ. Sie war einige Jahre älter als ich, kannte die Welt besser und hatte immer viel Interessantes zu erzählen. Geduldig befriedigte sie meine Neugierde, war nachsichtig meinen Fehlern gegenüber und wies mich nie zurecht, wenn ich einmal etwas Ungehöriges sagte. Ihre Stärke lag im Erzählen, meine im Forschen und Prüfen; sie liebte es, Dinge zu erklären, und ich wurde es nie müde, Fragen zu stellen. So kamen wir glänzend miteinander aus, unterhielten uns ausgezeichnet und lernten allerlei voneinander.

Und wo war Helen Burns geblieben? Warum verbrachte ich diese goldenen Tage der Freiheit nicht mit ihr? Hatte ich sie vergessen? Oder war ich so unwürdig, daß ich ihres reinen Wesens überdrüssig geworden war und sie nicht mehr mochte? Gewiß war ihr Mary Ann Wilson in jeder Hinsicht unterlegen; sie konnte zwar amüsante Geschichten erzählen und lebhaft-witzig über jeden Klatsch plaudern, der gefade im Umlauf war; Helen hingegen vermochte denen, die sie mit ihrer Freundschaft beehrte, einen Einblick in unendlich viel höhere Weisheit zu vermitteln.

So unvollkommen und wandelbar ich auch sein mochte, mit all meinen Fehlern und so wenig versöhnenden Eigenschaften, nie und nimmer hätte ich mich von Helen Burns abgewandt, nie hätte ich das Gefühl tiefster Zuneigung, zärtlicher Anhänglichkeit und respektvoller Bewunderung für sie aus meinem Herzen verdrängt. Wie hätte es auch anders sein können? Helen war stets meine treue Freundin gewesen; keine Umstände, keine Launen, kein Streit hatten je unser enges Verhältnis getrübt. Aber jetzt war Helen krank: Vor einigen Wochen; war sie verschwunden und in irgendeins der Zimmer im Obergeschoß gebracht worden. Wie ich hörte, lag sie nicht mit den anderen Fieberpatienten in der Krankenabteilung, denn sie hatte nicht Typhus, sondern Schwindsucht; und ich, in meiner Unwissenheit, bildete mir ein, Schwindsucht müsse eine leichte, milde Krankheit sein, die man mit Zeit und guter Pflege ausheilen würde.

In diesem Glauben wurde ich noch bestätigt, als ich sie ein- oder zweimal an besonders warmen Nachmittagen herunterkommen sah. Fräulein Temple führte sie in den Garten, verbot mir aber, zu ihr zu gehen und mit ihr zu sprechen. Ich sah sie vom Fenster des Schulzimmers aus, aber sie war ganz in Decken eingehüllt und kaum zu erkennen.

Eines Abends im Juni war ich mit Mary Ann sehr spät draußen im Wald. Wir hatten uns wie üblich von den anderen getrennt und waren weit gewandert; so weit, daß wir uns schließlich verlaufen hatten. Wir fanden eine einsame Hütte, in der ein Schweinehüter und seine Frau lebten. Wir fragten dort nach dem Weg und hatten dann noch ein gutes Stück bis nach Lowood zurückzulaufen. Der Mond war inzwischen aufgegangen, und als wir an das Gartentor kamen, sahen wir dort das Pony des Arztes stehen. Mary Ann meinte, jemand müsse wohl sehr schwer krank sein, wenn Herr Bates zu so später Stunde noch gerufen werde. Sie ging ins Haus, während ich noch ein paar im Wald gefundene Wurzeln in meinem Beet eingrub, denn ich fürchtete, sie könnten bis zum Morgen verwelken. Danach blieb ich noch ein wenig draußen: Die Blumen dufteten so lieblich im nächtlichen Tau, der Abend war so milde und warm, und der klare Himmel im Westen versprach für morgen wieder schönes Wetter. So stand ich im linden Mondlicht, betrachtete und genoß die Welt ringsum, so wie ein Kind sich an derlei Dingen nur erfreuen kann — und dann schoß mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf und bewegte mich eindringlicher als je zuvor: »Wie traurig, jetzt auf dem Krankenbett zu liegen und vielleich sterben zu müssen! Die Welt ist so schön — wie schrecklich, abberufen zu werden und nicht zu wissen, wohin man kommt!«

Zum ersten Male versuchte ich ernstlich zu verstehen, was man mich über Himmel und Hölle gelehrt hatte, und zum ersten Male schreckte ich bei dem Gedanken verwirrt zurück. Ob ich vorwärts, rückwärts oder zur Seite blickte, überall sah ich einen bodenlosen Abgrund. Ich fühlte, daß es nur einen festen Punkt gab — die Gegenwart. Alles andere war verschwommener Nebel, leere Untiefe; die Angst, daß auch ich einmal schwanken und in dieses Chaos stürzen mußte, machte mich erschaudern. Während ich so in finsterer Grübelei versunken dastand, kam Herr Bates aus dem Haus, von einer Krankenpflegerin begleitet. Er stieg auf sein Pferd und ritt davon. Die Pflegerin wollte gerade die Pforte schließen, als ich ihr entgegenrannte.

»Wie geht es Helen Burns?«

»Gar nicht gut«, war die Antwort.

»Ist Herr Bates bei ihr gewesen?«

»Ja.«

»Und was hat er gesagt?«

»Er sagte, sie wird nicht mehr lange hier sein.«

Hätte man mir das gestern gesagt, so hätte ich mir vorgestellt, man würde sie nach Northumberland zu ihrem Vater schicken. Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, daß sie bald sterben könne; aber jetzt wußte ich es, jetzt erkannte ich klar, daß Helen Burns’ Tage auf dieser Welt gezählt waren, daß sie in ihr Reich der Geister eingehen würde, wenn es ein solches Reich gab. Schrecken erfaßte mich, dann schmerzender Kummer. Ich wollte — ich mußte sie sehen.

Ich fragte, in welchem Zimmer sie liege.

»Sie liegt in Fräulein Temples Zimmer.«

»Darf ich heraufgehen und mit ihr sprechen?«

»O nein, Kind! Das ist ganz ausgeschlossen. Und überhaupt mußt du jetzt hereinkommen, sonst bekommst du auch noch das Fieber, wenn du in der feuchten Nacht draußen bleibst.«

Sie schloß das Haupttor, und ich schlüpfte durch einen Seiteneingang ins Schulzimmer. Gerade noch zu rechter Zeit; es war neun Uhr, und Fräulein Miller rief die Schülerinnen zum Zubettgehen.

Es mochte zwei Stunden später gewesen sein, wahrscheinlich gegen elf, als ich mich leise erhob — ich konnte nicht schlafen und hatte vorsichtig gewartet, bis sich im Schlafsaal nichts mehr regte —, mir mein Kleid über das Nachthemd zog und mich barfuß hinausschlich, um Fräulein Temples Zimmer zu suchen. Es lag am anderen Ende des Hauses, aber ich kannte den Weg, und der helle Mond, der durch die Fenster in den Gängen schien, half mir, mich mühelos zurechtzufinden. Ein scharfer Geruch von Kampfer und Essig schlug mir warnend entgegen, als ich am Saal mit den Typhuskranken vorbeikam, und ich beeilte mich weiterzukommen, aus Angst, die Nachtschwester könnte mich hören und zurückschicken. Denn ich mußte Helen sehen — ich mußte sie umarmen, bevor sie starb, ich mußte sie ein letztes Mal küssen, ein letztes Wort mit ihr wechseln.

Es gelang mir, die Treppe hinunter, durch die Gänge des unteren Stockwerks zu schleichen, zwei Türen leise zu öffnen und zu schließen, eine weitere Treppe emporzusteigen — und nun stand ich direkt vor Fräulein Temples Zimmer. Durch das Schlüsselloch und unter der Tür drang ein schwacher Lichtschimmer hervor, ringsum war alles still. Als ich näher kam, fand ich die Tür nur angelehnt, wahrscheinlich, um etwas frische Luft einzulassen.

Voll innerer Spannung, Unruhe und Ungeduld stieß ich die Tür auf und blickte hinein; meine Augen suchten Helen und fürchteten, den Tod zu finden.

Neben Fräulein Temples Bett und halb von dessen weißen Vorhängen verdeckt, stand ein Kinderbett. Unter der Decke zeichnete sich die Form eines Körpers ab, aber das Gesicht war von den Vorhängen verborgen. Die Pflegerin, mit der ich im Garten gesprochen hatte, saß in einem Sessel und schlief. Auf dem Tisch flackerte trübe eine ungeputzte Kerze. Fräulein Temple war nicht zu sehen; später erfuhr ich, daß man sie zu einem an Typhus erkrankten Mädchen gerufen hatte, das im Fieberwahn lag. Ich trat näher, bis an das Bett. Meine Hand faßte nach dem Vorhang, aber ich zögerte: bevor ich ihn zurückzog, wollte ich ein Wort, ein Lebenszeichen hören. Mir grauste es beim Gedanken, eine Leiche zu sehen.

»Helen«, flüsterte ich. »Bist du wach?«

Sie bewegte sich und zog den Vorhang beiseite. Ich sah ihr blasses, eingefallenes, jedoch ruhiges Gesicht; sie sah so wenig verändert aus, daß meine Befürchtungen sich sogleich zerstreuten.

»Jane, bist du es wirklich?« fragte sie in ihrer sanften Stimme.

Ach, dachte ich, sie wird nicht sterben, die Leute haben sich geirrt; sie könnte doch nicht so ruhig aussehen und sprechen, wenn sie im Sterben läge.

Ich ging an ihr Bett und küßte sie: Ihre Stirn war kühl, die Wangen waren abgezehrt und kalt wie die Hände und Handgelenke, aber sie lächelte wie immer.

»Warum bist du gekommen, Jane? Es ist schon nach elf Uhr; vor ein paar Minuten hörte ich es schlagen.«

»Ich kam, um dich zu sehen, Helen. Ich hörte, du seist sehr krank, und ich konnte nicht schlafen, bevor ich mit dir gesprochen hatte.«

»Dann kamst du, um Abschied zu nehmen; und wohl gerade zur rechten Zeit.«

»Gehst du denn fort von hier? Gehst du nach Hause?«

»Ja, nach Hause — in mein letztes, ewiges Heim.«

»Nein, nein, Helen!« Ich hielt entsetzt inne. Während ich mit meinen Tränen kämpfte, hatte Helen einen Hustenanfall, der jedoch die Pflegerin nicht zu wecken schien. Als er vorüber war, lag sie eine Weile erschöpft, und dann flüsterte sie:

»Jane, du hast nackte Füße; leg dich nieder und deck dich mit meiner Decke zu.«

Ich gehorchte; sie legte ihren Arm um mich, und ich kuschelte mich ganz nah an sie. Nach langem Schweigen flüsterte sie wieder:

»Ich bin sehr glücklich, Jane. Und wenn du hörst, daß ich gestorben bin, dann mußt du bestimmt nicht traurig sein. Das ist nichts Trauriges. Wir müssen alle einmal sterben, und die Krankheit, die mich hinrafft, ist nicht schmerzhaft; sie schreitet sanft und allmählich fort; mein Geist ist ganz ruhig. Ich hinterlasse niemand, der mich braucht. Ich habe ja nur meinen Vater, und er hat sich kürzlich wieder verheiratet; ihm werde ich kaum fehlen. Indem ich jung sterbe, bleibt mir viel Leid erspart. Ich hatte keine Talente und Fähigkeiten, um in der Welt gut vorwärtszukommen; ich hätte doch nur Schwierigkeiten gehabt.«

»Aber wohin gehst du, Helen? Kannst du es sehen? Weißt du es?«

»Ich glaube; ich habe meine Zuversicht: Ich gehe zu Gott.«

»Wo ist Gott? Was ist Gott?«

»Er ist mein Schöpfer und deiner; er wird nicht zerstören, was er erschaffen hat. Ich vertraue mich seiner Macht und seiner Güte an. Ich zähle die Stunden, bis zu jener — meiner Stunde, da ich zu ihm zurückkehre und da er sich mir offenbaren wird.«

»Bist du sicher, Helen, daß es einen Himmel gibt und daß unsere Seelen dorthin kommen, wenn wir sterben?«

»Ich bin sicher, daß es ein Jenseits gibt; ich glaube an die Güte Gottes; ihm vertraue ich mich an; ich fürchte ihn nicht, denn er ist mein Vater, er ist mein Freund; ich liebe ihn, und ich glaube, daß auch er mich liebt!«

»Und werde ich dich wiedersehen, wenn ich sterbe, Helen?«

»Du wirst in dieselbe Glückseligkeit einkehren, und derselbe allmächtige, allumfassende Vater wird dich empfangen, Jane. Das ist gewiß, mein Liebes.«

Ich fragte weiter; aber diesmal nur in Gedanken: Wo ist diese Glückseligkeit, was für ein Ort ist das? Gibt es das? Ich schlang meine Arme fester um Helen, die mir teurer war als je zuvor; mir war, als wollte ich sie zurückhalten, sie nicht fortgehen lassen. Ich vergrub mein Gesicht an ihrem Hals. Jetzt sprach sie so lieb und zärtlich:

»Ich fühle mich so wohl! Der letzte Hustenanfall hat mich etwas ermüdet; ich glaube, ich könnte jetzt schlafen. Aber bleib bei mir, Jane. Ich hab’ dich so gern bei mir.«

»Ich bleibe bei dir, liebe, liebe Helen; niemand kann mich von dir trennen.«

»Ist es dir warm genug, Liebling?«

»Ja«

»Gute Nacht, Jane.«

»Gute Nacht, Helen.«

Wir küßten uns, und bald waren wir eingeschlafen.

Als ich erwachte, war es Tag; eine ungewohnte Bewegung schreckte mich auf: Ich sah mich um und erkannte, daß ich in den Armen der Pflegerin lag; sie trug mich durch den Gang in den Schlafsaal zurück. Niemand machte mir wegen meines unerlaubten Verlassens des Schlafsaals einen Vorwurf. Man hatte anderes zu tun. Auch wollte niemand auf meine vielen Fragen antworten: aber einige Tage später erfuhr ich, daß mich Fräulein Temple, als sie im Morgengrauen in ihr Zimmer zurückkehrte, in einem Kinderbett fand, mein Gesicht an Helen Burns’ Schulter, meine Arme um ihren Hals. Ich schlief, und Helen — war tot. Ihr Grab ist auf dem Friedhof von Brocklebridge; fünfzehn Jahre lang bedeckte es nur ein grasbewachsener Hügel, doch heute steht dort ein Grabstein aus grauem Marmor, auf dem ihr Name und das Wort »Resurgam« eingemeißelt sind.

10

Bisher habe ich die Ereignisse meines recht unbedeutenden Lebens in allen Einzelheiten geschildert; und alle vorigen Kapitel waren meinen ersten zehn Jahren gewidmet. Es ging mir jedoch nicht darum, eine regelrechte Autobiographie zu schreiben. So beschränke ich mich auf die Erinnerungen, Ereignisse und Reaktionen, von denen ich weiß, daß sie mein späteres Leben beeinflußt haben, und aus diesem Grunde überspringe ich jetzt einen Zeitraum von acht Jahren und widme ihm nur ein paar Zeilen, mit denen das Wichtigste gesagt sei.

Nachdem die Typhusepidemie in Lowood lange genug gewütet hatte, ebbte sie allmählich ab und verschwand schließlich. Immerhin hatten ihre Heftigkeit und die Zahl ihrer Opfer die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Schule gelenkt. Nachforschungen über den Ursprung dieser verheerenden Plage wurden angestellt, und das Resultat rief helle Empörung hervor. Das ungesunde Klima, die ungenügende und schlechte Ernährung der Kinder, das brackige, stinkende Wasser, das zum Kochen verwendet wurde, die erbärmliche Bekleidung und Unterkunft — das alles kam jetzt ans Licht; und das Ergebnis war eine schwere Niederlage für Herrn Brocklehurst, hatte aber eine wohltuende Wirkung auf das Stift.

Einige reiche und wohltätige Personen in der Grafschaft stifteten große Summen für die Errichtung eines anständigen Gebäudes in besserer Lage, eine neue Hausordnung wurde aufgestellt, man sorgte für besseres Essen und angemessene Kleidung, und die Verwaltung der Stiftungsgelder wurde einem Komitee anvertraut. Herr Brocklehurst, der seines Reichtums und seiner guten Beziehungen wegen nicht übergangen werden konnte, behielt zwar weiterhin den Posten des Schatzmeisters, hatte jetzt aber bei der Ausübung seines Amtes Männer zur Seite, die großzügiger und wohlwollender waren; und auch die Oberaufsicht unterlag ihm nicht mehr allein, sie wurde zum großen Teil von Leuten übernommen, die Strenge mit Vernunft, Sparsamkeit mit Behaglichkeit, Rechtschaffenheit mit Barmherzigkeit zu verbinden wußten. Die so verbesserte Schule entwickelte sich bald zu einer wirklich nützlichen und segensreichen Institution. Ich blieb nach diesem Umschwung noch acht Jahre dort — sechs als Schülerin und zwei als Lehrerin; und in beiden Rollen lernte ich ihren Wert und ihre Wichtigkeit schätzen.

Mein Leben verlief eintönig in diesen acht Jahren, aber ich war nicht unglücklich, weil ich nie untätig war. Ich nahm die gebotene Möglichkeit zu einer ausgezeichneten Erziehung wahr, hatte eine Vorliebe für einige Unterrichtsfächer, bemühte mich aber, in allen hervorragend zu sein, und freute mich über das Lob meiner Lehrerinnen, besonders derer, die ich liebte. Ich nutzte voll und ganz die mir gewährten Chancen aus. Ich wurde schließlich Klassenerste der ersten Klasse, und danach wurde ich mit einem Lehramt betraut, das ich zwei Jahre lang mit großer Hingabe ausübte. Jedoch am Ende dieser Zeit hatte ich mich verändert.

Fräulein Temple war durch all die Wechsel hindurch unsere Schulleiterin geblieben. Ihrer Führung verdankte ich die beste Seite meines Wissens. In ihrer Freundschaft und ihrer Gesellschaft fand ich stets Stärkung und Trost. Sie war für mich Mutter, Erzieherin und später auch die beste Freundin. Und nun heiratete sie und zog mit ihrem Mann, einem Pfarrer, einem vortrefflichen, ihrer fast würdigen Gemahl, in eine ferne Grafschaft und war für mich verloren.

Vom Tage ihrer Abfahrt an war ich nicht mehr die gleiche; mit ihr war in mir jedes Gefühl der Seßhaftigkeit verschwunden; alles, was mir Lowood zu einem Heim machen konnte, war plötzlich nicht mehr da. Unter ihrem Einfluß hatte ich etwas von ihrer Wesensart und viele ihrer Gewohnheiten angenommen. Meine Gedanken waren harmonischer, meine Gefühle beherrschter geworden. Ich hatte mich an Pflichterfüllung und Ordnung gewöhnt, ich war ruhig und ausgeglichen und glaubte zufrieden zu sein. In den Augen der anderen, und meist auch in meinen eigenen, war ich ein diszipliniertes und zurückhaltendes Wesen.

Doch das Schicksal in Gestalt von Pastor Nasmyth trat zwischen mich und Fräulein Temple. Ich sah sie kurz nach der Trauung in ihrem Reisekleid in die Postkutsche steigen, blickte der Kutsche nach, wie sie den Hügel hinauffuhr und hinter der Kuppe verschwand, und ging auf mein Zimmer, wo ich den größten Teil des freien Nachmittags in Einsamkeit verbrachte.

Ich schritt im Zimmer auf und ab und bildete mir zuerst ein, daß ich meinem Verlust nachtrauerte und ihn irgendwie wiedergutmachen müßte; aber als ich mit meinen Überlegungen am Ende war, aufblickte und den hereingebrochenen Abend sah, dämmerte in mir eine neue Erkenntnis, nämlich daß ich mich in dieser Stunde verwandelt hatte, daß mein Geist alles, was er von Fräulein Temple angenommen hatte, plötzlich abgelegt hatte — oder vielmehr, daß sie die Atmosphäre heiterer Ruhe, die ich in ihrer Nähe geatmet hatte, mit sich fortgenommen und mich in meinem natürlichen Element zurückgelassen hatte. Alte, lang verdrängte Empfindungen stiegen in mir wieder auf. Nein, es war keine Stütze, die ich verlor; nur ein Antrieb war verschwunden. Nicht die Kraft, gleichmütig zu sein, hatte mich verlassen; es war einfach kein Grund dazu mehr da. Lowood war jahrelang meine Welt gewesen; meine Lebenserfahrungen gingen nicht über die Grenzen der Schule hinaus; und jetzt erinnerte ich mich, daß die wirkliche Welt groß und weit vor mir lag, daß denen, die den Mut dazu hatten, ein breiter Weg voller Hoffnung und Ängste, voller Eindrücke und Anregungen offenstand, auf dessen gefahrvollen Wendungen man die einzig wahre Kenntnis des Lebens finden kann.

Ich ging an mein Fenster und blickte hinaus. Vor mir lagen die beiden Flügel des Schulgebäudes, dahinter der Garten, die Mauern von Lowood und in der Ferne der hüglige Horizont. Den Dingen in meiner Nähe schenkte ich kaum einen Blick; nur das Entfernteste nahm mich in seinen Bann: die blauen Gipfel. Hinter ihnen lag meine Sehnsucht; alles was vor ihnen lag, der Wald, die Felsen, die Heide, war Gefängnisgebiet, Exilgrenze. Mein Auge folgte der Straße, die sich in Windungen am Fuße des einen Berges hinzog und dann in einer Mulde zwischen zwei Hügeln verschwand. Wie gern wäre ich ihr weiter gefolgt! Auf dieser Straße war ich einst in einer Postkutsche hier angekommen; ich erinnerte mich, wie wir am Abend den Hügel heruntergefahren waren. Eine Ewigkeit schien seit dem Tage meiner Ankunft in Lowood vergangen zu sein, und ich hatte es seither nie verlassen. Alle meine Ferien hatte ich in der Schule verbracht. Nie hatte mich Frau Reed nach Gateshead kommen lassen, nie hatte sie oder ein Mitglied ihrer Familie mich besucht, kein Brief, keine Nachricht war mir je von der Außenwelt zugekommen. Schulregeln, Schulaufgaben, Schulgewohnheiten und Begriffe, Stimmen, Gesichter, Gespräche, Kleider, Freundschaften und Feindschaften — das war alles, was ich vom Leben wußte. Und jetzt wurde es mir klar, daß das nicht genügte. In einem Nachmittag war ich plötzlich des Lebens satt, das ich acht Jahre lang geduldig ertragen hatte. Freiheit war jetzt mein Wunsch; nach Freiheit lechzte ich, um Freiheit betete ich; doch sie schien im Winde zu verwehen. Ich besann mich und gab sie für einen bescheideneren Wunsch auf Abwechslung, Anregung. Aber auch diese Bitte schien unerfüllbar. »Dann«, rief ich halb verzweifelt, »gib mir wenigstens eine neue Dienstarbeit!«

In diesem Augenblick läutete die Glocke zum Nachtessen, und ich ging hinunter.

Bis zum Schlafengehen mußte ich meine Gedanken unterbrechen, aber selbst dann hielt mich eine Lehrerin, mit der ich das Zimmer teilte, mit ihrem Geplapper von weiterem Nachdenken ab. Wie sehnlich wünschte ich mir, daß sie endlich einschlafen möge!

Mein Gefühl sagte mir, daß ich nur den am Fenster angefangenen Gedanken weiter verfolgen müsse, und der erlösende Einfall würde sich ganz von selbst einstellen.

Endlich schnarchte Fräulein Gryce. Sie war eine plumpe Waliserin, und bisher hatte ich ihre lautstarken Schlafgewohnheiten stets als ein Ärgernis empfunden, aber heute hörte ich ihre ersten Schnarchtöne mit wahrer Erleichterung. Jetzt war ich der lästigen Unterbrechung enthoben und konnte meine Gedanken wiederaufnehmen.

Eine neue Dienstarbeit! Das war keine schlechte Idee, sagte ich mir. Es müßte sogar eine gute Idee sein, denn sie klingt nicht allzu verlockend. Sie klang nicht wie »Freiheit«, »Begeisterung« oder »Vergnügen«; wahrlich verführerische Worte, aber für mich eben nur Worte, hohle und verschwommene Begriffe, denen zu lauschen nichts als Zeitverlust bedeutet. Aber »Dienst«! Das muß doch etwas Mögliches sein. Jeder kann dienen. Ich habe es hier acht Jahre lang getan; und nun wünsche ich mir ja nur, es anderswo zu tun. Kann ich das nicht aus meinem eigenen Willen erreichen? Wäre das nicht durchaus ausführbar? Ja — ja — das Ziel ist gar nicht schwer zu erreichen, ich muß nur mein Gehirn anstrengen, um einen Weg zu finden.

Ich setzte mich in meinem Bett auf und versuchte, mein Gehirn anzustrengen. Die Nacht war kühl, ich nahm mir meinen Schal um die Schultern und begann erneut, mit aller Kraft nachzudenken.

Was will ich eigentlich? dachte ich. Eine neue Stellung in einem neuen Heim, neue Gesichter, neue Lebensumstände. Das will ich, denn es hat keinen Sinn, etwas Besseres zu verlangen. Was muß man tun, um eine neue Stelle zu bekommen? Man wendet sich wahrscheinlich an Freunde und Bekannte. Ich habe aber keine Freunde und Bekannte. Gewiß gibt es viele andere Menschen, die in meiner Lage sind; und was unternehmen sie, wenn sie eine Stelle suchen?

Ich wußte es nicht, fand keine Antwort.

Da befahl ich meinem Gehirn, sich etwas einfallen zu lassen, und zwar schnell. Es arbeitete schneller und schneller; ich fühlte die Adern an meinem Kopf bei jedem Pulsschlag schwellen, aber eine gute Stunde lang ereignete sich nichts; trotz aller Anstrengung war die Antwort ausgeblieben. Erschöpft von der nutzlosen Mühe stand ich auf und ging im Zimmer auf und ab. Ich zog den Vorhang auf und sah ein paar Sterne am nächtlichen Himmel. Vor Kälte zitternd kehrte ich in mein Bett zurück.

In meiner Abwesenheit hatte wohl eine gute Fee die ersehnte Antwort auf mein Kopfkissen gelegt, denn als ich mich niederlegte, kam sie mir ganz ruhig und natürlich in den Sinn: Wer eine Stelle sucht, gibt eine Anzeige in der Zeitung auf; du mußt eine Anzeige im Herald erscheinen lassen.

Aber wie? Ich habe in solchen Dingen gar keine Erfahrung.

Jetzt stellten sich die Antworten wie von selbst ein:

Du mußt die Anzeige und das Geld dafür an die Redaktion des Herald schicken. Du mußt bei der ersten Gelegenheit auf die Post in Lowton gehen. Antworten sind an J. E. postlagernd zu richten. Dann kannst du eine Woche später nachfragen und, wenn dann ein Brief gekommen ist, eine Entscheidung treffen.

Ich überlegte mir den Plan noch einige Male genau, bis ich mir über alles im klaren war. Dann schlief ich zufrieden ein.

Vor Tagesgrauen war ich schon auf und hatte meine Anzeige geschrieben, in einen Umschlag gesteckt und adressiert, bevor die Morgenglocke läutete:

»Eine im Unterricht bewanderte junge Dame« (war ich nicht zwei Jahre lang Lehrerin gewesen?) »bewirbt sich um eine Stellung in Privathaushalt mit Kindern unter vierzehn Jahren.« (Ich dachte, daß ich mit meinen knapp achtzehn Jahren nicht gut die Leitung von Schülern übernehmen konnte, die fast in meinem Alter waren.) »Sie ist befähigt, Unterricht in den üblichen Fächern einer guten englischen Erziehung zu erteilen sowie in Französisch, Zeichnen und Musik.« (In jenen Tagen betrachtete man diese vielleicht mager erscheinende Liste als umfassend.) »Anschrift: J.E., Postamt Lowton.«

Ich verschloß das Dokument in meiner Schublade, und erst nach dem Tee bat ich die neue Schulleiterin um Erlaubnis, nach Lowton gehen zu dürfen, wo ich einige Besorgungen für mich und ein paar Kolleginnen zu machen hatte. Meine Bitte wurde sofort bewilligt, und ich machte mich auf den Weg. Ich hatte zwei Meilen zu wandern, und der Abend war feucht, aber die Tage waren in dieser Jahreszeit noch lang. Nachdem ich einige Läden besucht hatte, warf ich den Brief in den Kasten an der Post und kam bei strömendem Regen und mit durchnäßten Kleidern, aber leichten Herzens wieder zurück.

Die folgende Woche schien mir endlos lang, aber schließlich ging auch sie, wie alle irdischen Dinge, ihrem Ende zu, und wiederum war ich eines schönen Herbsttages auf dem Weg nach Lowton. Die Straße schlängelte sich am Bach entlang und lief durch den hübschesten Teil des Tals, aber ich dachte nur an die Briefe, die vielleicht eingetroffen waren, und schenkte dem plätschernden Wasser und den bunten Wiesen nicht viel Beachtung.

Der offizielle Anlaß zu meinem Gang war diesmal ein Besuch beim Schuhmacher, der mir ein neues Paar Schuhe anmessen sollte. Ich erledigte das zuerst und überquerte dann die stille und saubere kleine Straße, die vom Schuhmacher zum Postamt führte. Eine alte Dame mit Hornbrille und schwarzen Pulswärmern saß hinter dem Schalter.

»Sind Briefe für J. E. angekommen?« fragte ich.

Sie sah mich über den Rand ihrer Brille hinweg an, öffnete eine Schublade und kramte darin lange herum; so lange, daß meine Hoffnung zu schwinden begann. Schließlich hatte sie ein Schriftstück herausgefischt und hielt es fast fünf Minuten lang prüfend vor ihren Brillengläsern, bis sie es mir mit einem letzten mißtrauisch forschenden Blick über den Tisch reichte. Es war an J. E. gerichtet.

»Nur der eine Brief?« fragte ich.

»Mehr sind nicht da«, sagte sie. Ich steckte ihn in meine Tasche und machte mich auf den Heimweg. Da ich Punkt acht in der Schule sein mußte und es schon halb acht war, konnte ich ihn jetzt nicht lesen.

Eine Reihe von Pflichten erwartete mich bei meiner Rückkehr. Ich mußte während der Hausaufgabenstunde bei den Mädchen sitzen, dann hatte ich die Gebete zu lesen und das Schlafengehen zu beaufsichtigen. Schließlich kam das Abendessen mit den anderen Lehrerinnen, und selbst als wir uns endlich zur Nachtruhe zurückzogen, war das unvermeidliche Fräulein Gryce noch zu berücksichtigen. Wir hatten nur einen ganz kurzen Kerzenstummel, und ich befürchtete sehr, sie würde mit ihrem Schwatzen nicht aufhören, bis er ausgebrannt war. Gott sei Dank aber hatte das schwere Abendessen, das sie eingenommen hatte, eine einschläfernde Wirkung, und sie schnarchte schon, bevor ich mich ausgezogen hatte. Das schwache Kerzenlicht flackerte noch, und ich nahm meinen Brief heraus. Das Siegel trug den Buchstaben F; ich erbrach es und las. Der Inhalt war kurz:

»Wenn J.E. die laut ihrer Anzeige im Herald vom letzten Donnerstag erwähnten Fähigkeiten besitzt und in der Lage ist, befriedigende Referenzen bezüglich ihres Charakters und ihrer Eignung für eine solche Stelle anzugeben, kann ihrer Bewerbung stattgegeben werden; sie hätte nur ein kleines Mädchen, das noch nicht zehn Jahre alt ist, zu unterrichten, und das Gehalt beträgt dreißig Pfund pro Jahr. J.E. wird ersucht, Referenzen, Name, Adresse und alle weiteren Angaben an folgende Anschrift zu senden: Frau Fairfax, Thornfield bei Millcote.«

Lange prüfte ich das Schriftstück. Die Handschrift war altmodisch und etwas unsicher wie die einer alten Dame; und dieser Umstand beruhigte mich, denn ich hatte Angst, ich könne durch mein eigenmächtiges Handeln in eine unangenehme Lage geraten, und ich wünschte vor allem, daß das Ergebnis meiner Bemühungen schicklich, anständig und en régle sei. Da paßte eine ältere Dame durchaus in mein Vorhaben. Frau Fairfax! Ich stellte sie mir in einem schwarzen Kleid mit Witwenhaube vor; vielleicht etwas kühl, doch nicht barsch abweisend, der Inbegriff altenglischer Respektabilität. Thornfield! Das war zweifellos der Name des gepflegten, sauberen und ordentlichen Hauses; dessen war ich sicher, obgleich ich mir nicht nähere Einzelheiten auszumalen vermochte. Millcote! — ich suchte im Geiste die Landkarte Englands ab und fand sowohl die Grafschaft als auch die Stadt. Sie lag siebzig Meilen näher bei London als das abgelegene Nest, in dem ich jetzt lebte: Das allein war schon verlockend. Ich sehnte mich nach einem Ort mit Leben und Bewegung. Millcote war ein bedeutender Industrieort und lag an einem großen Fluß; wahrscheinlich gab es dort ziemlich viel Betrieb; um so besser: das wäre eine Abwechslung. Nicht daß ich die hohen Fabrikschlote und die schweren Rauchwolken für besonders anziehend hielt, aber ich dachte mir, Thornfield liegt bestimmt ein gutes Stück von der Stadt entfernt.

Inzwischen war die Kerze ganz heruntergebrannt, und das Flämmchen erlosch.

Am nächsten Tag mußten weitere Schritte unternommen werden; ich konnte meine Pläne nicht länger für mich behalten, und um sie auszuführen, brauchte ich Hilfe. Ich bat die Schulleiterin um ein kurzes Gespräch in der Mittagspause und erzählte ihr, ich hätte Aussicht auf eine Stellung, in der ich doppelt soviel Gehalt bekäme wie bisher (in Lowood erhielt ich nur fünfzehn Pfund pro Jahr), und ich wäre ihr dankbar, wenn sie Herrn Brocklehurst oder andere Mitglieder des Komitees für mich um Erlaubnis bitten würde, sie als Referenzen angeben zu dürfen. Sie erbot sich bereitwilligst, mir zu helfen, und setzte Herrn Brocklehurst am nächsten Tage von meiner Angelegenheit in Kenntnis. Dieser teilte ihr mit, daß er zuerst an Frau Reed schreiben müßte, da sie mein zuständiger Vormund sei. Frau Reed antwortete, ich könne tun und lassen, was ich wolle, denn sie habe seit langem beschlossen, sich nicht mehr um meine Angelegenheiten zu kümmern. Dieser Erklärung wurde dem Komitee vorgelegt, und nach einer Wartezeit, die mir endlos lang erschien, wurde mir schließlich meine Entlassung offiziell bestätigt, um mir den Antritt »einer günstigeren Stellung zu gestatten«. Außerdem wurde mir versichert, daß man mir, in Anbetracht meiner guten Führung als Lehrerin und Schülerin in Lowood, ein von den Inspektoren der Anstalt unterzeichnetes Charakter- und Eignungszeugnis ausstellen würde.

Ich erhielt es einen Monat später, sandte eine Abschrift davon an Frau Fairfax und erhielt zur Antwort, sie sei mit den Zeugnissen zufrieden, und ich solle in vierzehn Tagen meine Stelle als Erzieherin in ihrem Haus antreten.

Nun begannen die Vorbereitungen zur Abreise, und dabei vergingen die vierzehn Tage rasch. Ich hatte zwar keine sehr große Garderobe, aber sie genügte meinen Ansprüchen, und der letzte Tag reichte voll aus, um meinen Koffer — denselben, mit dem ich vor acht Jahren aus Gateshead gekommen war — zu Packen, zuzuschnüren und mit meiner neuen Adresse zu versehen.

In einer halben Stunde sollte der Koffer abgeholt und nach Lowton gebracht werden, wo ich am nächsten Morgen die Postkutsche nehmen wollte. Ich hatte mein schwarzes, wollenes Reisekleid gebürstet, Haube, Handschuhe und Muff zurechtgelegt, alle meine Schubladen durchsucht, um sicher zu sein, daß ich nichts vergessen hatte, und da nun nichts weiter zu tun blieb, setzte ich mich und versuchte mich auzuruhen. Es war vergebens; obgleich ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und nun müde war, konnte ich mich nicht entspannen. Ich war zu erregt. Eine Phase meines Lebens ging heute abend zu Ende, und morgen früh sollte eine neue beginnen; wie war es da möglich, in der Zwischenzeit zu schlafen? Ich mußte hellwach sein, während der Wechsel sich vollzog.

»Fräulein Eyre«, sagte das Dienstmädchen, das ins Zimmer getreten war, wo ich wie ein geplagter Geist hin und her wanderte; »jemand wünscht Sie zu sprechen.«

Das muß der Dienstmann sein, sagte ich mir und rannte nach unten, ohne weitere Fragen zu stellen. Ich ging am Lehrerzimmer, dessen Tür halb offenstand, vorbei und wollte in die Küche, als jemand auf mich zulief. »Das ist sie, da bin ich sicher! — Ich hätte sie doch überall sofort erkannt!« rief die Person, die mir in den Weg getreten war und jetzt meine Hand ergriff.

Ich schaute auf. Sie war eine kräftige, aber noch junge, sehr hübsche, schwarzhaarige Frau mit dunklen, lebhaften Augen und sah wie ein gutgekleidetes Dienstmädchen aus.

»Nun, wer bin ich?« fragte sie. Diese Stimme, dieses Lächeln kannte ich doch! »Sie haben mich hoffentlich noch nicht vergessen, Fräulein Jane?«

Im nächsten Augenblick fiel ich ihr stürmisch um den Hals und herzte und küßte sie! »Bessie! Bessie! Bessie!« Mehr brachte ich nicht heraus; und sie lachte und weinte darüber zur gleichen Zeit. Wir gingen in das Wohnzimmer, wo ein kleiner, etwa dreijähriger, in karierter Jacke und Hose gekleideter Junge vor dem Kamin stand.

»Das ist mein kleiner Bub«, erklärte Bessie.

»Dann bist du ja verheiratet, Bessie?«

»Ja. Schon fast fünf Jahre. Mit Robert Leaven, dem Kutscher; und außer Bobby hier habe ich noch ein kleines Mädchen, das ich Jane getauft habe.«

»Und du lebst nicht mehr in Gateshead?«

»Ich wohne im Pförtnerhaus. Der alte Pförtner ist weggezogen.«

»Und wie geht es allen? Erzähl mir alles, Bessie, aber bitte setze dich zuerst; und du, Bobby, komm auf meinen Schoß.«

Bobby zog es jedoch vor, bei seiner Mutter zu bleiben.

»Sie sind nicht sehr groß geworden, und kräftig sehen Sie nicht gerade aus, Fräulein Jane«, fuhr sie fort. »Ich nehme an, man hat nicht besonders gut für Sie gesorgt in dieser Schule. Fräulein Reed ist einen ganzen Kopf größer als Sie, und Fräulein Georgiana ist bestimmt doppelt so breit.«

»Georgiana ist wohl sehr hübsch, nicht wahr, Bessie?«

»Sehr. Letzten Winter war sie mit ihrer Mama in London, und dort wurde sie allgemein bewundert; ein junger Lord hat sich in sie verliebt, aber seine Familie fand eine Verbindung nicht standesgemäß. Und was glauben Sie, haben sie getan? Sie sind einfach zusammen durchgebrannt! Allerdings hat man sie bald entdeckt und zurückgebracht. Fräulein Eliza hat das Versteck ausgeschnüffelt; ich glaube, sie war einfach nur neidisch. Seitdem sind die Schwestern wie Hund und Katze und streiten sich ständig.«

»Nun, und was ist aus John Reed geworden?«

»Ach, der macht seiner Mama viel Kummer. Er ging auf die Hochschule und ist beim Examen durchgefallen. Seine Onkel wollten, daß er Anwalt wird und die Rechtswissenschaften studiert, aber er ist ein so liederlicher junger Kerl, daß er es dazu wohl nie bringen wird.«

»Wie sieht er aus?«

»Er ist sehr groß. Manche Leute finden, er sähe gut aus, aber er hat so schwülstige Lippen.«

»Und Frau Reed?«

»Frau Reed sieht äußerlich noch recht gut aus, aber ich glaube, sie hat viele Sorgen. Herrn Johns Betragen macht ihr gar keine Freude — er gibt sehr viel Geld aus.«

»Hat sie dich hierhergeschickt, Bessie?«

»O nein! Aber ich wollte Sie schon seit langem sehen, und als ich hörte, daß da ein Brief Ihretwegen angekommen war und daß Sie in eine andere Gegend ziehen, da habe ich mir gedacht, es sei besser, gleich zu kommen und Sie noch einmal zu sehen, bevor Sie außer Reichweite sind.«

»Ich habe dich leider enttäuscht, nicht wahr, Bessie?« sagte ich lachend, denn ich hatte Bessies respektvollen, aber keineswegs bewundernden Blick bemerkt.

»Nein, Fräulein Jane, enttäuscht bin ich eigentlich nicht. Sie sehen recht vornehm aus, Sie sind eine Dame; und das hatte ich auch erwartet; Sie waren ja auch als Kind keine Schönheit.«

Lächelnd nahm ich Bessies freimütige Antwort hin. Ich wußte, daß sie recht hatte, und doch muß ich gestehen, daß mir ihre Meinung nicht gleichgültig war. Mit achtzehn Jahren möchte jedes Mädchen gefallen, und die Gewißheit, äußerlich nicht besonders anziehend zu wirken, bereitet nicht gerade Vergnügen.

»Jedenfalls sind Sie sehr intelligent«, fügte Bessie tröstend hinzu. »Was können Sie alles? Können Sie auch Klavier spielen?«

»Ein wenig.«

Ein Klavier stand im Zimmer; Bessie öffnete es und bat mich, ihr etwas vorzuspielen. Ich setzte mich und spielte einen Walzer; sie war begeistert.

»Die beiden Fräulein Reed spielen nicht so gut«, rief sie triumphierend. »Ich habe es schon immer gesagt: im Lernen können Sie sie weit überflügeln. Können Sie auch zeichnen?«

»Das Bild dort über dem Kamin ist von mir.«

Es war ein Landschaftsaquarell, das ich der Schulleiterin aus Dank für ihre Intervention beim Komitee für mich geschenkt und das sie in einem Glasrahmen dort aufgehängt hatte.

»Ach, das ist ja wunderbar, Fräulein Jane! Der Zeichenlehrer der jungen Damen Reed hätte es nicht schöner malen können, geschweige die jungen Damen selbst, die auch nicht annähernd so etwas fertigbrächten! Und Französisch haben Sie sicher auch gelernt?«

»Ja, Bessie, ich lese und spreche es.«

»Mit Musselin und Leinen können Sie auch umgehen?«

»Das kann ich.«

»Ach, dann sind Sie wirklich eine Dame, Fräulein Jane! Ich habe es immer gewußt. Sie werden es zu etwas bringen, ob Ihre Verwandten Sie beachten oder nicht. Da war noch etwas, das ich Sie fragen wollte. Haben Sie je von den Angehörigen Ihres Vaters, den Eyres, gehört?«

»Nie in meinem Leben.«

»Dann hören Sie: Sie wissen doch, daß Frau Reed immer sagte, sie seien arme, nichtswürdige Leute. Nun, sie mögen arm sein, aber ich glaube, sie sind mindestens genauso vornehm wie die Reeds. Denn eines Tages, vor fast sieben Jahren, kam ein Herr Eyre nach Gateshead und wollte Sie sehen. Frau Reed sagte ihm, Sie seien in der Schule, fünfzig Meilen von Gateshead entfernt, und das schien ihn sehr zu betrüben, denn für eine solche Fahrt blieb ihm nicht genug Zeit. Er mußte in ein fremdes Land reisen, und sein Schiff fuhr zwei Tage später von London fort. Er sah wie ein vornehmer Herr aus, und ich glaube, er war der Bruder Ihres Vaters.«

»In welches fremde Land ging er denn, Bessie?«;

»Eine Insel, Tausende von Meilen entfernt, wo man Wein herstellt — das hat mir der Butler erzählt.«

»Könnte es Madeira gewesen sein?«

»Ja, das war es; ganz genau — so hieß es.«

»Und dann ist er also abgefahren?«

»Ja. Er blieb übrigens nicht lange im Haus. Frau Reed behandelte ihn sehr von oben herab; später nannte sie ihn einen ›elenden Krämer‹. Mein Robert meint, er ist wahrscheinlich Weinhändler.«

»Sehr wahrscheinlich«, erwiderte ich. »Vielleicht war er sogar nur Angestellter oder Reisender eines Weinhändlers.«

Wir unterhielten uns noch etwa eine Stunde und plauderten über alte Zeiten, und dann mußte sie gehen. Ich sah sie noch einmal kurz am nächsten Morgen in Lowton, während ich auf die Postkutsche wartete. Schließlich trennten wir uns vor der Tür des Gasthauses »Zum Brocklehurster Wappen«, und jede ging ihren Weg: sie zum Lowood-Hügelrain, der Haltestelle für die Postkutsche nach Gateshead, und ich stieg in den Wagen, der mich neuen Pflichten und einem neuen Leben entgegen in die mir völlig unbekannte Gegend von Millcote bringen sollte.

11

Das neue Kapitel eines Buches ist wie ein Szenenwechsel in einem Theaterstück; und wenn ich dieses Mal den Vorhang aufgehen lasse, lieber Leser, so stell dir vor, du sähest ein Zimmer im Gasthof »Zum König Georg« in Millcote. Die für solche Räumlichkeiten typische großgemusterte Tapete, der passende Teppich, die Möbel, die Zierfiguren auf dem Kaminsims, die Bilder an der Wand — ein Porträt König Georgs des Dritten, eins des Prinzen von Wales und eine Darstellung des Todes General Wolfes — das alles gehörte in dieses Gastzimmer. Und du siehst es im Lichte einer von der Decke hängenden Öllampe und eines munter prasselnden Kaminfeuers, vor dem ich in Hut und Mantel saß. Muff und Schirm hatte ich auf den Tisch gelegt, und nun versuchte ich meine von der sechzehnstündigen Reise im rauhen Oktoberwetter vor Kälte starren Glieder zu erwärmen. Ich hatte Lowton um vier Uhr morgens verlassen, und jetzt schlug es vom Kirchturm in Millcote gerade acht.

Schien ich auch recht behaglich untergebracht, so war ich doch innerlich voller Unruhe. Als die Kutsche hier anhielt, hatte ich gehofft, daß jemand mich abholen würde. Als ich die hölzerne Schemeltreppe hinunterstieg, die der Hilfskutscher für mich aufgestellt hatte, und vergeblich erwartete, daß jemand meinen Namen rief, und mich nach einem Gefährt umschaute, das mich nach Thornfield bringen könnte, wurde mir etwas angst. Nichts war zu sehen, und als ich mich beim Gasthaus erkundigte, ob man nach Fräulein Eyre gefragt hatte, hatte hier niemand etwas gehört. So blieb mir nichts anderes übrig, als ein Privatzimmer zu verlangen, wo ich nun wartete, während alle möglichen Zweifel und Ängste meine Gedanken bestürmten.

Es ist ein seltsames Gefühl für einen jungen Menschen ohne Lebenserfahrung, zum ersten Mal ganz allein auf der Welt zu sein, von allen bisherigen Bindungen abgeschnitten, seiner Bestimmung noch ganz ungewiß und doch schon durch vieles an einer Rückkehr in die alten Gewohnheiten gehindert. Der Reiz des Abenteuers versüßt dieses Gefühl, und die Glut des Stolzes erwärmt es, aber dann stellt sich die Furcht ein und macht alles zunichte. Die Furcht wuchs in mir, und als ich nach einer halben Stunde immer noch allein war, entschloß ich mich zu läuten.

»Gibt es in dieser Gegend einen Ort, der Thornfield heißt?« fragte ich den eintretenden Diener.

»Thornfield? Ich weiß es nicht, Madame; ich werde mich an der Bar erkundigen.« Er verschwand, kehrte aber sogleich wieder.

»Verzeihung, sind Sie Fräulein Eyre?«

»Ja.«

»Sie werden von jemandem erwartet.«

Ich sprang auf, nahm Muff und Schirm und eilte hinunter in den Gang. Ein Mann stand in der offenen Tür, und dahinter erkannte ich die Umrisse eines Einspänners.

»Das ist wohl Ihr Gepäck«, sagte der Mann ziemlich schroff, als er mich sah, und zeigte auf meinen Koffer.

»Ja.« Er lud ihn in den Wagen, und dann stieg ich ein. Bevor er den Schlag schloß, fragte ich ihn, wie weit es bis nach Thornfield sei.

»Etwa sechs Meilen.«

»Wie lange werden wir brauchen, um dorthin zu kommen?«

»Schätze anderthalb Stunden.«

Er schloß den Schlag, kletterte auf den Bock, und wir fuhren los. Das Tempo war gemächlich und gab mir Zeit, mich meinen Gedanken hinzugeben. Ich war froh, endlich am Ende meiner langen Reise zu sein; und während ich mich auf dem bequemen, wenn auch nicht gerade eleganten Sitz zurücklehnte, stellte ich in aller Ruhe meine Betrachtungen an.

Aus dem einfachen Aussehen des Dieners und des Wagens zu schließen, dachte ich mir, ist Frau Fairfax gewiß keine dieser protzigen, prunkhaften Damen, und das ist um so besser. Ich habe bisher nur einmal bei so vornehmen Leuten gelebt, und da war ich sehr unglücklich. Ob sie wohl allein mit diesem kleinen Mädchen lebt? Wenn sie nur einigermaßen freundlich ist, bin ich sicher, gut mit ihr auszukommen. Jedenfalls werde ich mir alle Mühe geben. Wie schade nur, daß »alle Mühe« nicht immer genügt. In Lowood hatte ich es mir fest vorgenommen, war dabei geblieben und wurde schließlich von allen gemocht und anerkannt; aber bei Frau Reed stieß ich mit all meinem guten Willen nur auf Ablehnung. Gott gebe, daß Frau Fairfax keine zweite Frau Reed ist. Sollte sie es sein, so muß ich ja nicht bei ihr bleiben; und wenn es zum Schlimmsten kommt, kann ich ja wieder ein Inserat in die Zeitung setzen lassen. Wie weit sind wir eigentlich auf unserem Weg?

Ich ließ das Fenster herunter und schaute hinaus. Millcote lag hinter uns. Den zahlreichen Lichtern nach zu urteilen, war es ein ziemlich großer Ort, viel größer als Lowton. Wir befanden uns jetzt — soweit ich sehen konnte — in irgendeiner Art von Siedlung; aber überall in der Landschaft lagen Häuser verstreut. Die Gegend war sehr verschieden von Lowood: viel bevölkerter und weniger malerisch; viel anregender, aber weniger romantisch.

Die Straßen waren aufgeweicht, und der Abend war feucht und neblig. Der Kutscher ließ das Pferd den ganzen Weg lang im Schritt gehen, und die anderthalb Stunden zogen sich endlos in die Länge. Es mag nach etwa zwei Stunden gewesen sein, daß er sich umdrehte und sagte:

»Jetzt ist’s nicht mehr weit bis nach Thornfield.«

Wieder schaute ich aus dem Fenster. Wir kamen an einer Kirche vorbei; ihr niedriger, breiter Turm hob sich gegen den Himmel ab; die Glocke schlug gerade ein Viertel. Ich sah auch eine kleine Anzahl von Lichtern auf dem Hügel, die zu einem Dorf oder Weiler zu gehören schienen.

Zehn Minuten später hielt der Wagen, der Kutscher sprang vom Bock und öffnete ein Tor; wir fuhren durch, und es schloß sich wieder hinter uns. Jetzt fuhren wir langsam einen Weg hügelan und hielten vor der langgestreckten Fassade eines Hauses. Hinter den Vorhängen eines Bogenfensters leuchtete Kerzenschein, sonst war alles finster. Die Haustür wurde geöffnet, ein Dienstmädchen empfing mich mit einer Kerze in der Hand.

»Wollen Sie bitte hier eintreten?« sagte das Mädchen, und ich folgte ihr in eine große Viereckige Halle mit vielen hohen Türen. Sie führte mich in ein Zimmer, dessen doppelte Beleuchtung von Kerzenlicht und einerh lodernden Kaminfeuer mich zuerst blendete, da sich meine Augen zwei Stunden lang an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Bald sah ich mich jedoch in einem behaglichen und angenehmen Raum.

Ein schmuckes, kleines Zimmer; am Fenster standen ein runder Tisch, ein hoher, altmodischer Lehnstuhl, in dem eine fein säuberlich gekleidete ältere Dame saß. Sie trug ein Witwenhäubchen, ein schwarzes Seidenkleid und eine schneeweiße Musselinschürze. Genauso hatte ich mir Frau Fairfax vorgestellt, nur sah sie freundlicher und weniger stattlich aus. Sie strickte; eine große Katze lag behäbig zu ihren Füßen; nichts fehlte an diesem vollkommenen Bild häuslicher Gemütlichkeit. Eine ermutigendere Einführung in meine neue Gouvernantenstellung hätte ich mir kaum vorstellen können; keine überwältigende Pracht, keine einschüchternde Vornehmheit. Als ich eintrat, erhob sich die alte Dame und begrüßte mich freundlich.

»Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Ich fürchte, Sie haben eine langwierige Fahrt hinter sich. John fährt so schrecklich langsam. Ihnen ist sicher kalt. Kommen Sie und setzen Sie sich ans Feuer.«

»Sie sind Frau Fairfax, nicht wahr?« sagte ich.

»Jawohl; ganz richtig. Bitte nehmen Sie doch Platz.«

Sie führte mich zu ihrem eigenen Sessel, nahm mir meinen Schal ab und begann, mir meine Mützenbänder zu lösen. Ich bat sie, sich nicht soviel Mühe zu machen.

»Ach. Das ist doch keine Mühe, Ihre Hände sind ja vor Kälte ganz steif. Leah, mache uns ein wenig Glühwein und ein paar Sandwiches. Hier sind die Schlüssel zur Speisekammer.«

Sie holte ein höchst hausfrauliches Schlüsselbund aus ihrer Schürze und reichte es dem Dienstmädchen.

»So. Nun rücken Sie näher ans Feuer«, fuhr sie fort. »Sie haben Ihr Gepäck gleich mitgebracht, nicht wahr?«

»Ja, Frau Fairfax.«

»Ich lasse es in Ihr Zimmer bringen«, sagte sie und eilte hinaus.

Sie behandelt mich wie einen Besuch, dachte ich mir; so einen Empfang hätte ich nicht erwartet. Ich hatte mich auf herablassende Kühle vorbereitet, und das hier entspricht gar nicht dem, was ich von der allgemeinen Behandlung von Erzieherinnen gehört hatte. Nun, warten wir lieber ab. Ich will mich nicht zu früh freuen.

Sie kam zurück und räumte eigenhändig ihr Strickzeug und einige Bücher beiseite, um Platz für das eben von Leah hereingebrachte Tablett zu machen, und dann servierte sie mir meinen Imbiß. Ich war verlegen; noch nie hatte mir jemand soviel Aufmerksamkeit entgegengebracht, und dazu war sie noch meine Arbeitgeberin und Vorgesetzte. Da sie das aber recht natürlich zu finden schien, fand ich es angemessen, ihr Zuvorkommen ohne Protest anzunehmen.;

»Werde ich das Vergnügen haben, Fräulein Fairfax noch heute abend zu sehen?« fragte ich, nachdem ich mich bedient hatte.

»Was sagten Sie, meine Liebe? Ich bin ein wenig taub«, erwiderte die gute Dame und hielt ihr Ohr näher an meinen Mund.

Ich wiederholte meine Frage deutlicher.

»Fräulein Fairfax? Ach, Sie meinen Fräulein Varens! Varens heißt Ihre zukünftige Schülerin.«

»Ach so! Dann ist sie also nicht Ihre Tochter?«

»Nein — ich habe keine Familie.«

Ich hätte mich gern weiter erkundigt — gefragt, in welchem Verhältnis sie zu Fräulein Varens stand; aber ich erinnerte mich, daß es unhöflich war, zuviel zu fragen, und außerdem würde ich ohnehin bald alles wissen.

Sie setzte sich mir gegenüber, nahm die Katze auf den Schoß und fuhr fort: »Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Das Leben wird angenehm sein, jetzt, wo ich Gesellschaft habe. Aber eigentlich ist das Leben hier immer angenehm, denn Thornfield ist ein schönes altes Herrenhaus; vielleicht etwas vernachlässigt in den letzten Jahren, aber immer noch recht ansehnlich. Aber Sie wissen ja — im Winter fühlt man sich allein, auch in den besten Verhältnissen, etwas traurig und verlassen. Und wenn ich allein sage — natürlich ist Leah ein nettes Mädchen, und John und seine Frau sind durchaus anständige Leute — aber sie sind halt doch nur Dienstboten, und man kann sich mit ihnen nun einmal nicht wie mit seinesgleichen unterhalten, und man muß ja auch die nötige Distanz wahren, sonst verliert man jede Autorität. Im letzten Winter, als es so kalt war — Sie werden sich sicher erinnern, daß es ständig schneite, regnete oder stürmte —, kam von November bis Februar keine Seele ins Haus, außer dem Fleischer und dem Briefträger, und da wurde ich ganz schwermütig vom allabendlichen einsamen Herumsitzen. Leah las mir zwar manchmal etwas vor, aber ich glaube, das machte ihr gar keinen Spaß; auch sie fühlte sich hier eingeengt. Im Frühling und Sommer wurde es dann besser. Ein wenig Sonnenschein und längere Tage machen schon etwas aus. Und dann kam Anfang des Herbstes die kleine Adela Varens mit ihrem Kindermädchen. Ein Kind bringt sofort Leben in ein Haus; und jetzt sind Sie auch da, da wird es wirklich heiter werden.«

Das Herz wurde mir warm, als ich die liebe alte Dame so reden hörte. Ich rückte meinen Stuhl ein wenig näher an sie heran und gab meinem ehrlichen Wunsch Ausdruck, sie möge meine Gesellschaft so angenehm finden, wie sie es sich wünschte.

»Aber ich will Sie heute abend nicht zu lange aufhalten«, sagte sie. »Es ist schon fast Mitternacht, und Sie sind den ganzen Tag auf der Reise gewesen. Sie sind gewiß müde. Wenn Sie sich genügend gewärmt haben, werde ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Es liegt neben meinem und ist klein, aber ich dachte mir, daß Sie es den großen Vorderzimmern vorziehen würden; die sind zwar vornehmer möbliert, aber sie sind so düster und einsam. Ich selbst schlafe dort nie.«

Ich dankte ihr für ihre aufmerksame Wahl, und da ich mich wirklich von der langen Reise sehr müde fühlte, bat ich, mich zurückziehen zu dürfen. Sie nahm ihre Kerze, und ich folgte ihr aus dem Zimmer. Zuerst ging sie nachsehen, ob die Haustür gut verschlossen war, zog den Schlüssel aus dem Schloß und führte mich hinauf. Die Stufen und das Geländer waren aus Eichenholz, das Treppenfenster hoch und mit Gittern versehen. Das Treppenhaus und der lange Gang, an dem die Schlafzimmer lagen, erinnerten eher an eine Kirche als an ein Wohnhaus; es war kalt und muffig wie in einem Gewölbe, was dazu noch ein Gefühl von Einsamkeit und Leere aufkommen ließ. So war ich froh, als ich in mein Zimmer geführt wurde und es verhältnismäßig klein und mit gewöhnlichen modernen Möbeln ausgestattet vorfand.

Frau Fairfax wünschte mir freundlich eine gute Nacht, und ich verschloß meine Tür, blickte mich in aller Ruhe in meiner neuen Behausung um und stellte befriedigt fest, daß der etwas geisterhafte Eindruck, den ich in der großen Halle, dem finsteren Treppenhaus und dem langen modrigen Gang verspürt hatte, sich hier in der Behaglichkeit meines kleinen Zimmers ganz verflüchtigt hatte; nach einem langen Tag körperlicher Strapazen und seelischer Angst war ich endlich im sicheren Hafen. Mein Herz war voller Dankbarkeit; ich kniete vor meinem Bett und dankte, wo Dank gebührte; dann erhob ich mich und betete um Hilfe auf meinem weiteren Weg und um die Kraft, mir die so vorzeitig bescherte Güte auch zu verdienen. In dieser Nacht hatte mein Lager keine Stacheln und mein Schlaf keine Ängste. Ich war müde und zufrieden und schlief bald fest ein. Als ich erwachte, war es schon heller Tag.

Mein Zimmer sah im Sonnenlicht mit seinen fröhlich blauen Chintzvorhängen, der bunten Tapete und dem Teppich auf dem Boden so hell und freundlich aus, so ganz anders als die kahlen Fliesen und getünchten Wände in Lowood, daß ich mich gleich wohler fühlte. Äußerlichkeiten üben besonders auf junge Menschen einen großen Einfluß aus. Ich sagte mir, daß jetzt ein neuer, schönerer Abschnitt in meinem Leben beginne; eine Zeit, die ihre Blüten und Freuden, aber auch ihre Dornen und Mühen mit sich bringt. Der Szenenwechsel und meine neue Aufgabe belebten mich mit neuer erwartungsvoller Zuversicht. Ich kann nicht sagen, was ich eigentlich erwartete, aber ich wußte, daß es etwas Schönes war; vielleicht nicht heute oder bald, aber irgendwann.

Ich stand auf und kleidete mich an. Ich tat es mit Sorgfalt, wenn ich auch sehr bescheiden auftreten mußte — denn alles, was ich besaß, war nur sehr einfach und schlicht —, aber ich legte großen Wert auf Gepflegtheit. Meine äußere Erscheinung war mir durchaus nicht gleichgültig, und ich war immer darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen. Mehr noch, ich bemühte mich, so gut wie möglich auszusehen und zu gefallen, wenn ich auch nicht gerade schön war. Manchmal wünschte ich mir, hübscher zu sein, rosige Wangen, eine gerade Nase und einen kleinen Kirschenmund zu haben; gern wäre ich größer, stattlicher, wohlentwickelter gewesen. Ich empfand es als ein Mißgeschick, daß ich so klein und schmal, so bleich und unscheinbar wirkte, daß meine Gesichtszüge so ausgeprägt und unregelmäßig waren. Aber warum hegte ich solche Wünsche, warum empfand ich solchen Makel? Das war schwer zu sagen; ich konnte es mir selbst nicht recht erklären, und doch war es so und schien mir logische und natürliche Ursachen zu haben. Immerhin, als ich mein Haar weich zurückgebürstet, mein schwarzes Kleid angezogen — es war ein schmuckloses Quäkerkleid, aber wenigstens paßte es gut —, meinen reinen weißen Kragen umgelegt hatte, fand ich mich präsentabel genug, um vor Frau Fairfax zu erscheinen; es war auch nicht wahrscheinlich, daß meine neue Schülerin sich angewidert von mir abwenden würde. Ich öffnete das Fenster, vergewisserte mich noch einmal, daß ich meine Sachen in Ordnung zurückgelassen hatte, und ging hinaus.

Durch den langen dunklen Gang, die schlüpfrigen Eichenstufen hinunter, kam ich in die Halle. Dort blieb ich einen Augenblick stehen und sah mir einige Bilder an den Wänden an. Eines stellte einen grimmig dreinblickenden Mann in einer Ritterrüstung, ein anderes eine Dame mit gepudertem Haar und einem Perlenhalsband dar. Ein bronzener Leuchter hing von der Decke, in einer Ecke stand eine große Wanduhr mit merkwürdigen Verzierungen aus Eiche, die durch jahrelanges Polieren schwarz wie Ebenholz war. Alles hier erschien mir sehr stattlich und ehrfurchtgebietend; aber schließlich war ich so wenig an vornehme Erhabenheit gewöhnt. Die Eingangstür mit ihrer großen Glasscheibe stand halb offen. Ich trat hinaus. Es war ein herrlicher Herbstmorgen; die frühe Sonne schien milde über den braunen Laubbäumen und den noch grünen Feldern. Auf dem Rasen wandte ich mich um und betrachtete die Vorderfront des Hauses. Es war drei Stock hoch, nicht gerade riesig, aber doch von stattlichem Ausmaß. Es war ein vornehmes Herrenhaus, aber keinesfalls ein adliges Schloß. Die Zinnen auf dem Dach gaben ihm ein malerisches Aussehen. Hinter der grauen Häuserfront lagen Krähennester, deren krächzende Bewohner gerade ausflogen. Sie schwirrten über den Rasen und den Park auf eine große Wiese, die hinter einem niedrigen Zaun und einer dichtgedrängten Gruppe starker, knotiger baumhoher Dornenbüsche lag. Sofort wurde mir bewußt, warum die Besitzung Thornfield (Dornenfeld); hieß. Weiter hinten erstreckten sich Hügel; sie waren nicht so hoch und schroff wie die um Lowood herum; sie erhoben sich nicht wie eine Trennungsmauer von der lebenden Außenwelt, und doch schienen sie Thornfield in solcher Stille und Ruhe einzuschließen, wie ich sie so nahe der geschäftigen Stadt Millcote nicht vermutet hätte. An einem der Hügelhänge lag ein kleines Dorf, dessen Dächer sich unter den Bäumen abzeichneten. Die Kirche war näher bei Thornfield, und ihr Turm ragte über einer Kuppe zwischen dem Hause und den Toren empor.

So stand ich da, genoß die schöne Aussicht, atmete in vollen Zügen die frische Luft, hörte vergnügt den Krähen zu, betrachtete noch einmal die breite ehrwürdige Front des Hauses und dachte mir, wie groß und weiträumig dieser Ort für die einsame kleine Frau Fairfax sein mußte, als sie selbst an der Tür erschien.

»Was? Sind Sie schon auf?« sagte sie. »Ich sehe, Sie sind eine Frühaufsteherin.« Ich ging auf sie zu und wurde mit Händedruck und Kuß begrüßt.

»Nun, wie gefällt Ihnen Thornfield?« fragte sie.

»Sehr gut.«

»Ja, es ist ein hübscher Ort«, fuhr sie fort. »Aber ich fürchte, daß er verkommen wird, wenn Herr Rochester sich nicht endlich entschließt, hier ständig zu wohnen — oder wenigstens — öfter herzukommen. Große Häuser und schöne Besitzungen brauchen nun einmal die Anwesenheit des Herrn.«

»Herr Rochester!« rief ich aus. »Wer ist Herr Rochester?«

»Der Besitzer von Thornfield«, antwortete sie erstaunt.

»Wußten Sie denn nicht, daß er Rochester heißt?«

Natürlich wußte ich es nicht. Ich hatte noch nie von ihm gehört, aber die alte Dame schien seine Existenz für so selbstverständlich zu halten, daß sie annahm, jeder müsse ihn kennen.

»Ich dachte, Thornfield gehöre Ihnen«, warf ich ein.

»Mir? Ach, mein liebes Kind, wie kommen Sie darauf? Ich bin doch nur die Haushälterin — die Vorsteherin, wenn Sie wollen. Ich bin zwar mit den Rochesters verwandt, mütterlicherseits. Das heißt, mein verstorbener Mann war es. Er war der Pfarrer von Hay — dem kleinen Dorf dort auf dem Hügel —, und die Kirche beim Tor war seine Pfarre. Die Mutter des gegenwärtigen Herrn Rochester war eine Fairfax und eine entfernte Kusine meines Mannes. Aber ich bilde mir nichts auf diese Verwandtschaft ein — sie bedeutet mir eigentlich nichts. Ich betrachte mich einfach als eine Haushälterin, und Herr Rochester ist immer sehr höflich und anständig zu mir. Mehr verlange ich auch nicht.«

»Und das kleine Mädchen — meine Schülerin?«

»Sie ist Herrn Rochesters Mündel. Er beauftragte mich, eine Erzieherin zu suchen. Er beabsichtigt offensichtlich, sie hier aufwachsen zu lassen. Da kommt sie ja gerade mit ihrer Bonne, wie sie ihr Kinderfräulein nennt.«

Das war also des Rätsels Lösung. Diese liebenswürdige kleine Witwe war keine große Dame, sondern selbst eine Angestellte wie ich. Ich mochte sie deshalb nicht weniger gern; im Gegenteil, sie gefiel mir um so besser. Die Gleichheit zwischen ihr und mir war wirklich und nicht eine Geste der Herablassung ihrerseits. Ich fühlte mich sogleich in meiner Stellung viel freier.

Während ich noch über diese Entdeckung nachdachte, kam ein kleines Mädchen über den Rasen auf uns zugerannt. Ihr folgte das Kindermädchen. Ich betrachtete meine neue Schülerin, die mich zuerst gar nicht zu bemerken schien. Sie war ein rechtes Kind, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, zart gewachsen, mit einem kleinen Gesicht und langem, bis auf die Hüften hängendem Haar.

»Guten Morgen, Fräulein Adela«, sagte Frau Fairfax. »Komm und sag der Dame guten Tag, die dich von nun an unterrichten und eines Tages eine gescheite Frau aus dir machen wird.«

Sie kam näher. »C’est la gouvernante?« fragte sie ihr Kindermädchen und zeigte auf mich.

»Mais oui, certainement.«

»Sind Sie Ausländerinnen?« fragte ich verdutzt Frau Fairfax, da ich sie französisch sprechen hörte.

»Das Kindermädchen ist Ausländerin, und Adela ist auf dem Kontinent geboren, wo sie — wie ich annehme — bis vor sechs Monaten lebte. Als sie hierherkam, sprach sie kein Wort Englisch. Jetzt kann sie sich schon verständlich machen. Ich verstehe sie zwar nicht gut, weil sie immer wieder französische Ausdrücke gebraucht, aber Sie werden sicher keine Mühe haben zu verstehen, was sie sagt.«

Glücklicherweise hatte ich den Vorteil, von einer Französin in ihrer Sprache unterrichtet worden zu sein; und da ich immer darauf bestanden hatte, mit Madame Pierrot so oft wie möglich Konversation zu machen, und außerdem in den letzten sieben Jahren täglich französische Texte auswendig gelernt hatte, besondere Sorgfalt auf meine Aussprache gelegt und aufmerksam die Intonation meiner Lehrerin nachgeahmt, hatte ich mir in dieser Sprache eine gewisse Fertigkeit und Kenntnis angeeignet und lief nicht Gefahr, der kleinen Adela gegenüber in Verlegenheit zu geraten. Sie kam und gab mir artig die Hand, als sie hörte, daß ich ihre Lehrerin sei, und während ich mit ihr zum Frühstück ging, richtete ich ein paar Fragen auf französisch an sie. Zuerst antwortete sie nur kurz, aber bis wir bei Tisch saßen, hatte sie mich mit ihren großen haselnußbraunen Augen eingehend geprüft und begann munter daherzuplaudern.

»Ach«, rief sie aus. »Sie sprechen meine Sprache geradeso gut wie Herr Rochester. Jetzt kann ich mich mit Ihnen richtig unterhalten wie mit ihm und Sophie auch. Da wird sie sich freuen, denn hier versteht sie niemand. Frau Fairfax kann ja nur Englisch. Sophie ist mein Kinderfräulein. Sie kam mit mir über das Meer in einem großen Schiff mit einem rauchenden Schornstein — der rauchte ganz fürchterlich —, und ich war seekrank und Sophie auch und Herr Rochester auch. Herr Rochester lag auf einem Sofa in einem schönen Raum, den man Salon nannte; Sophie und ich hatten woanders kleine Betten. Ich bin fast aus einem herausgefallen; es war so schmal wie ein Brett. Und — Mademoiselle — wie heißen Sie eigentlich?«

»Eyre. Jane Eyre.«

»Aire? Bah, ich kann es nicht aussprechen. Nun, unser Schiff hielt am frühen Morgen an, als es noch nicht einmal hell war. Es war in einer großen Stadt — eine riesengroße Stadt mit ganz dunklen Häusern voller Ruß und Rauch; gar nicht so hübsch wie die Stadt, aus der ich kam; und Herr Rochester trug mich in seinen Armen über einen Brettersteg ans Land, und Sophie folgte uns. Dann stiegen wir in eine Kutsche und fuhren zu einem wunderschönen großen Haus; es war noch größer als dieses hier und viel eleganter, und das nannte man ein Hotel. Dort blieben wir fast eine Woche lang. Jeden Tag ging ich mit Sophie in einem Ort voller Wiesen, Bäume und Büsche spazieren; und das war der Park. Da gab es noch viele andere Kinder außer mir und einen Teich mit wunderschönen Vögeln drin, die ich mit Krumen fütterte.«

»Können Sie sie verstehen, wenn sie so schnell plappert?« fragte Frau Fairfax.

Ich verstand sie ausgezeichnet, denn ich war an die rasche und sprudelnde Sprechweise Madame Pierrots gewohnt.

»Würden Sie so gut sein und ihr ein paar Fragen über ihre Eltern stellen?« fuhr die gute alte Dame fort. »Ich hätte gern gewußt, ob sie sich noch an sie erinnert.«

»Adèle«, fragte ich. »Mit wem hast du denn in dieser hübschen Stadt gelebt, aus der du kommst?«

»Vor langer Zeit habe ich dort mit Mama gelebt, aber sie ist zur heiligen Mutter Gottes gegangen. Mama hat mich das Tanzen, Singen und Verseaufsagen gelehrt. Es kamen immer viele Damen und Herren zu meiner Mama, und dann habe ich vor ihnen getanzt oder ich saß auf ihrem Schoß und sang. Das war schön; ich tat es gern. Soll ich Ihnen jetzt etwas vorsingen?«

Da sie ihr Frühstück gegessen hatte, erlaubte ich ihr, mir eine Probe ihres Könnens vorzuführen. Sie stieg von ihrem Stuhl und setzte sich auf meinen Schoß, faltete ernsthaft ihre Händchen, schüttelte ihr Haar zurück, schlug die Augen auf und begann ein Lied aus einer Oper zu singen. Es war die Weise einer verlassenen Schönen, die die Untreue ihres Liebhabers beweint und in ihrem gekränkten Stolz ihrer Dienerin befiehlt, ihr die prachtvollsten Juwelen und herrlichsten Kleider anzulegen, damit sie am abendlichen Ball dem Abtrünnigen mit ihrem glanzvollen Auftritt beweisen könne, wie wenig sein Verrat sie betrübe.

Eine seltsame Wahl für eine kindliche Sängerin. Ich nehme an, daß der Reiz dieser Vorstellung darin liegen sollte, die Klänge von Liebe und Eifersucht aus dem unschuldigen Munde eines kleinen Kindes zu hören, und fand diese Idee an sich höchst geschmacklos.

Aber Adèle sang diese Arie mit der Naivität ihres Alters musikalisch richtig und hübsch. Dann sprang sie von meinem Schoß und sagte: »Jetzt werde ich ein Gedicht aufsagen.«

Sie stellte sich in Positur und begann »La Ligue des Rats, Fable de La Fontaine«. Sie deklamierte die Verse so sehr mit; studierter Betonung, Ausdruck und Emphase, Geschmeidigkeit der Stimme und dazu passenden Gebärden, daß man auf sorgfältige Schulung schließen mußte.

»Hat deine Mama dich das Stück gelehrt?« fragte ich.

»Ja, und sie hat es genauso gesagt: ›Qu’avez — vous done? lui dit un des ces rats; parlez!‹ Und dann lehrte sie mich die Hand zu erheben — so! —, damit ich bei der Frage auch lauter sprechen sollte. Möchten Sie, daß ich Ihnen jetzt etwas vortanze?«

»Nein, danke. Das genügt. Aber sage mir: Nachdem deine Mama, wie du sagst, zur heiligen Mutter Gottes gegangen ist, mit wem hast du dann gelebt?«

»Mit Madame Fréderic und ihrem Mann. Sie hat sich um mich gekümmert; aber sie ist nicht mit mir verwandt. Ich glaube, sie ist arm, denn ihr Haus war nicht so schön wie das von Mama. Ich blieb auch nicht lange dort. Herr Rochester fragte mich, ob ich mit ihm nach England gehen wolle, und ich sagte ja; denn ich kannte Herrn Rochester lange vor Madame Fréderic, und er war immer nett zu mir und gab mir hübsche Kleider und Spielsachen. Aber wie Sie sehen, hat er sein Wort nicht gehalten. Er hat mich zwar nach England gebracht, aber dann ist er selbst wieder zurückgegangen, und ich sehe ihn nie.«

Nach dem Frühstück zog ich mich mit Adèle in die Bibliothek zurück, die Herr Rochester als Schulzimmer bestimmt hatte. Die meisten Bücher waren hinter Glastüren verschlossen, aber ein offener Bücherschrank enthielt alles, was für den Elementarunterricht wichtig war, und einige Bücher leichter Literatur, wie Gedichte, Biographien, Reisebeschreibungen, ein paar Romane und dergleichen mehr. Ich nehme an, er meinte, damit für den Privatbedarf der Lehrerin gesorgt zu haben. Es war nicht eben viel, aber es genügte mir vorläufig voll und ganz. Verglichen mit dem dürftigen Lesestoff, der mir in Lowood zugänglich gewesen war, schienen sie mir ein reichhaltiger Schatz an Unterhaltung und Belehrung. Im selben Raum standen auch ein sehr gut klingendes Klavier, eine Staffelei und zwei Globen. Meine Schülerin war recht gelehrig, wenn es ihr auch an genügender Aufmerksamkeit noch mangelte. Sie war an regelmäßige Beschäftigung jeder Art nicht gewöhnt. Deshalb wollte ich sie auch am Anfang nicht überlasten. Ich redete mit ihr lange Zeit, dann ließ ich sie etwas lernen, und wenn die Mittagszeit kam, durfte sie zu ihrem Kinderfräulein gehen. Ich selbst wollte die Zeit bis zum Essen benutzen, um ihr ein paar kleine Bilder zu zeichnen.

Als ich hinaufging, um Zeichenblock und Bleistift zu holen, rief mich Frau Fairfax: »Ich nehme an, Ihr Morgenunterricht ist beendet?«

Sie war in einem Zimmer, dessen Flügeltüren offenstanden. Ich ging zu ihr, als sie mich rief. Es war ein großer, stattlicher Raum mit purpurroten Sesseln und Vorhängen, einem türkischen Teppich, mit Nußholz getäfelten Wänden, einem großen Fenster aus buntem Glas und einer hohen, kunstvoll modellierten Decke. Frau Fairfax staubte gerde ein paar kostbare Vasen ab, die auf einer Anrichte standen.

»Was für ein wunderschönes Zimmer!« rief ich begeistert aus, während ich mich umblickte. Noch nie hatte ich so etwas Imposantes gesehen.

»Ja. Das ist das Speisezimmer. Ich habe eben das Fenster geöffnet, um ein wenig Luft und Sonne hereinzulassen. In unbewohnten Räumen wird alles so muffig und feucht. Der Salon nebenan ist eine wahre Gruft.«

Sie deutete auf eine wie das bunte Fenster gewölbte Tür, die mit einem jetzt gerafften Vorhang verdeckt war. Zwei breite Stufen führten in den anliegenden Raum, der mir märchenhaft erschien. Mir jedenfalls, der derlei Dinge neu waren, kam es so vor. Dabei war es nur ein recht hübscher Salon und Boudoir mit weißen Teppichen, die mit bunten Blumengirlanden, hellen Trauben und Weinblättern gemustert waren und die anmutig mit den karminroten Diwanen und Ottomanen kontrastierten. Die Ornamente auf dem weißen Marmorkamin waren aus rubinrotem böhmischen Glas, und zwischen den Fenstern reflektierten große Spiegel diesen harmonischen Farbenwettkampf von Schnee und Flammen.

»Wie wunderbar Sie diese Räume in Ordnung halten, Frau Fairfax«, sagte ich. »Kein Staub, keine Möbelüberzüge. Wenn es nicht so muffig kalt wäre, könnte man glauben, sie seien ständig bewohnt.«

»Nun ja, Fräulein Eyre, obgleich Herr Rochester selten hier ist, kommen seine Besuche immer sehr plötzlich und unerwartet, und da es ihm — wie ich beobachtete — sehr lästig fällt, wenn man bei seiner Ankunft erst eine Menge Vorbereitungen treffen muß, fand ich es am besten, alles stets bereitzuhalten.«

»Ist Herr Rochester schwierig und anspruchsvoll?«

»Nein, nicht unbedingt. Aber er hat nun einmal die Gewohnheiten und Manieren eines Gentleman, und er erwartet, daß man sich danach richtet.«

»Mögen Sie ihn gern? Ist er allgemein beliebt?«

»O ja. Die Familie stand immer in bestem Ansehen. Fast alle Ländereien in der Umgebung haben seit undenklichen Zeiten den Rochesters gehört.«

»Nun gut; aber lassen wir einmal die Frage seines Landbesitzes beiseite. Mögen Sie ihn gern? Mag man ihn persönlich gut leiden?«

»Ich habe keine Ursache, ihn nicht gern zu haben; und ich glaube, daß alle seine Untergebenen ihn gerecht und großzügig finden; aber er hat nie lange hier gelebt.«

»Aber hat er keine besonderen Eigenschaften? Wie ist sein Charakter?«

»Ach, sein Charakter ist untadelig, denke ich. Vielleicht ist er manchmal ein wenig sonderbar. Er ist weit gereist und hat wahrscheinlich viel von der Welt gesehen. Er ist bestimmt sehr klug. Allerdings habe ich nie sehr viel mit ihm gesprochen.«

»Inwiefern ist er denn sonderbar?«

»Ich weiß nicht — das ist nicht so einfach zu sagen —, es ist an sich nichts Auffallendes, aber man spürt es, wenn man mit ihm spricht. Man ist nie sicher, ob er es ernst meint oder Spaß macht, ob er zufrieden oder verärgert ist. Es ist einfach schwer, ihn richtig zu verstehen — jedenfalls geht es mir so. Aber das ist eigentlich gar nicht wichtig. Er ist eben ein sehr guter Herr.«

Das war alles, was ich von Frau Fairfax über ihren und meinen Arbeitgeber erfahren konnte. Manche Leute scheinen halt keine Begabung zu haben, einen Charakter zu schildern oder bei Menschen und Dingen besondere Merkmale zu beobachten und hervorzuheben, und die gute alte Dame gehörte offensichtlich zu ihnen. Meine Fragen verwirrten sie, brachten aber nichts aus ihr heraus. In ihren Augen war Herr Rochester eben Herr Rochester. Ein Herr, ein wohlhabender Gutsbesitzer und sonst nichts. Mehr wollte sie auch gar nicht wissen, und es erstaunte sie gewiß, daß ich mehr über seine Persönlichkeit zu wissen wünschte.

Als wir das Speisezimmer verließen, schlug sie vor, mir das ganze Haus zu zeigen. Ich folgte ihr treppauf, treppab und bewunderte die gepflegte und gediegene Einrichtung. Die großen Vorderzimmer fand ich besonders großartig. Einige der Räume im dritten Stock waren zwar dunkel und niedrig, wirkten aber durch ihre Altertümlichkeit besonders interessant.

Das Mobiliar der unteren Stockwerke war im Laufe der Zeit, je nach Wechsel der Mode, nach oben gebracht worden, und im Halbdunkel, das durch die engen Fensterrahmen drang, sah man hundertjährige Betten, eichene und nußhölzerne Truhen mit seltsamen Schnitzereien von Palmzweigen und Engelsköpfen, die mich an die Arche der Hebräer erinnerten, Reihen ehrwürdiger, enger, hochlehniger Stühle, noch ältere Schemel, deren Sitze mit verblichenen Stickereien bezogen und deren Hersteller seit Generationen zu Staub geworden waren. All diese Überbleibsel lange vergangener Jahre gaben dem dritten Stockwerk von Thornfield Hall etwas Ehrfurchtgebietendes — es war wie ein Heim vergessener Zeiten, ein Heiligtum des Gedenkens. Ich liebte die Stille und das Dunkel der Zurückgezogenheit dieser Räume; aber nur bei Tag. Auf keinen Fall hätte ich eine Nacht in einem der großen und schweren Betten, von denen manche mit Eichenholztüren verschlossen waren, verbringen mögen. Da waren Himmelbetten mit dick gewebten Vorhängen, auf denen seltsame Blumen und noch seltsamere Vögel und allerseltsamste Menschen abgebildet waren. Und wie seltsam sie erst des Nachts bei blassem Mondlicht wirken mußten!

»Schlafen die Dienstboten in diesen Zimmern?« fragte ich.

»Nein. Sie haben eine Reihe kleiner Zimmer nach hinten hinaus. Hier schläft nie jemand. Man könnte sagen, wenn es ein Gespenst in Thornfield Hall gäbe, so würde es sicher hier spuken.«

»Das glaube ich auch. Dann gibt es also kein Gespenst?«

»Nicht daß ich wüßte«, antwortete lächelnd Frau Fairfax.

»Auch keine Überlieferungen? Keine Legenden oder Geistergeschichten?«

»Ich glaube nicht. Allerdings wird gesagt, die Rochesters seien in ihrer Zeit eher gewalttätig gewesen. Vielleicht ruhen sie deshalb jetzt so friedlich in ihren Gräbern.«

»Ja, ›nach des Lebens wildem Fieber ruh’n sie wohl‹«, murmelte ich. »Frau Fairfax, wo gehen Sie hin?« Sie verließ den Raum.

»Aufs Dach. Wollen Sie mitkommen und die Aussicht sehen?«

Ich folgte ihr über eine schmale Treppe in die Mansarden und von dort auf einer Leiter durch eine Falltür auf das Dach. Jetzt war ich auf der gleichen Höhe wie die Krähenkolonie und konnte in ihre Nester sehen. Ich lehnte mich über die Zinnen und sah das Land unter mir wie auf einer Landkarte ausgebreitet. Sah den samtgrünen Rasen um das Haus, das weite Feld mit seinen alten Bäumen, den dunklen schattigen Wald mit seinen überwachsenen Pfaden, auf denen grünes Moos schimmerte, die Kirche am Tor, die Straße, die lieblichen Hügel in der Herbstsonne, den bis an den Horizont tiefblauen, mit Perlweiß marmorierten Himmel. Nichts an diesem Bild war außergewöhnlich, aber alles war lieblich und angenehm. Als ich wieder durch die Falltür hinunterstieg, konnte ich kaum noch etwas erkennen. Die Mansarde schien schwarz wie eine Gruft im Gegensatz zu dem hellen Blau, in das ich eben aufgeblickt hatte, und zu den sonnenbeschienenen Weiden und Hügeln, die mich so entzückt hatten und in deren Mitte Thornfield Hall stand.

Frau Fairfax blieb hinter mir, um die Falltür abzuschließen, und ich tastete mich voran, fand die Mansardentreppe und stieg die engen Stufen hinab. Auf dem langen Gang, der zur Treppe führte, verweilte ich ein wenig. Er trennte die Vorder- von den Hinterzimmern des dritten Stockwerkes und war so schmal, niedrig und dunkel, daß er mit seiner Reihe kleiner schwarzer, verschlossener Türen wie der Korridor in Ritter Blaubarts Schloß aussah.

Während ich langsam über den Flur ging, schallte plötzlich ein Laut in meinen Ohren, den ich in dieser stillen Umgebung am allerletzten erwartet hätte. Es war ein Lachen — ein seltsames, unheimliches, kaltes, freudloses Lachen. Ich blieb stehen. Der Laut verhallte, aber nur für einen Augenblick. Dann erschallte er wieder — lauter. Zuerst war er zwar deutlich zu hören, aber eher leise gewesen. Er endete mit einem schrillen Schrei, der in allen der einsamen Räume widerzuhallen schien, obgleich er aus einem ganz bestimmten Zimmer kam, auf dessen Tür ich hätte zeigen können. »Frau Fairfax«, rief ich, denn ich hörte sie jetzt die Treppe herunterkommen.

»Haben Sie dieses laute Gelächter gehört? Wer war das?«

»Wahrscheinlich eine der Dienstboten«, antwortete sie. »Vielleicht Grace Poole.«

»Haben Sie es gehört?« fragte ich wieder.

»Ja. Sehr deutlich. Ich höre sie oft. Sie näht in einem dieser Zimmer. Manchmal ist Leah bei ihr. Sie machen oft sehr viel Lärm, wenn sie beisammen sind.«

Noch einmal ertönte das Lachen, aber leiser. Dann verlor es sich in einem dumpfen unverständlichen Gemurmel.

»Grace!« rief Frau Fairfax.

Ich erwartete nicht, daß irgendeine Grace antworten würde, denn dieses Gelächter war das tragischste, unnatürlichste gewesen, das ich je gehört hatte. Es war hellichter Tag, und nichts Gespenstisches hatte sich bei diesen sonderbaren Lachlauten ereignet; und obgleich weder die Stunde noch der Ort angsteinflößend waren, spürte ich abergläubische Furcht. Ich sah jedoch bald ein, wie unbegründet meine Reaktion war.

Eine Tür wurde geöffnet, und eine Dienstmagd kam heraus. Es war eine etwa vierzigjährige Frau. Sie war etwas plump, rothaarig und hatte ein hartes, gewöhnliches Gesicht. Eine weniger romantische oder geisterhafte Erscheinung hätte man sich kaum vorstellen können.

»Zu viel Lärm, Grace«, sagte Frau Fairfax. »Sie kennen doch die Vorschriften!« Grace knickste und verschwand.

»Sie näht hier und hilft Leah bei der Hausarbeit«, fuhr die Witwe fort. »Sie ist in mancher Beziehung nicht ganz einwandfrei, aber sie macht ihre Arbeit recht. Übrigens — wie sind Sie eigentlich heute morgen mit Ihrer neuen Schülerin zurechtgekommen?«

Jetzt drehte sich das Gespräch um Adèle, bis wir wieder in die hellen, freundlichen Regionen der unteren Stockwerke zurückgekehrt waren. Adèle lief uns in der Halle entgegen und rief:

»Mesdames, vous étes servies!« Dann fügte sie hinzu: »J’ai bien faim, moi!«

Das Essen war bereit und wurde in Frau Fairfax’ Zimmer aufgetragen.

12

Die Aussicht auf ein gutes und glattes Vorwärtskommen, die sich mir bei der ersten Berührung mit Thornfield Hall geboten hatte, bestätigte sich mehr und mehr, je besser ich das Haus und seine Bewohner kannte. Frau Fairfax war genau das, was ich von Anfang an in ihr gesehen hatte, eine friedfertige gutmütige Frau von hinreichender Bildung und durchschnittlicher Intelligenz. Meine Schülerin war ein lebhaftes Kind, etwas verzogen, etwas verwöhnt und daher zuweilen eigensinnig; aber da sie mir voll und ganz unterstand und niemand mir in meine Erziehungspläne dreinreden konnte, brachte ich sie bald dazu, ihre Grillen abzutun und gehorsam, gelehrig zu werden. Sie hatte keine besonderen Begabungen, keine Charaktereigenschaften oder irgendwelche hervortretenen Geschmacks- oder Gefühlsmerkmale, die sie von jedem Durchschnittskind ihres Alters unterschieden hätten, und sie hatte auch keine besonderen Fehler oder Laster. Sie machte normale Fortschritte und hatte eine lebhafte, wenn vielleicht auch nicht sehr tiefe Zuneigung zu mir gefaßt. Und ich mochte ihre Ungezwungenheit, ihr fröhliches Geplapper, ihre Bemühungen, mir gefällig zu sein: und so kamen wir gut miteinander aus.

Leute, die stets feierlich verkünden, daß ihre Kinder kleine Engel sind und daß die mit ihrer Erziehung Beauftragten sie eigentlich anhimmeln sollten, werden meine Worte recht kühl finden. Aber ich schreibe nicht, um elterlichem Egoismus zu schmeicheln, Heucheleien nachzureden oder Unsinn zu unterstützen; ich sage einfach die Wahrheit. Mir lag Adèles Wohl und Fortschritt am Herzen, und ich hatte die Kleine selbst sehr gern, genauso, wie ich Frau Fairfax für ihre Liebenswürdigkeit und Güte dankbar war und mich in ihrer Gesellschaft gefiel, wo ich ruhige Rücksicht und Mäßigung in Gefühls- und Geistesdingen fand.

Wer da will, soll mich nur tadeln, wenn ich hinzufüge, daß ich trotzdem nicht ganz zufrieden war. Bei einsamen Spaziergängen durch die Ländereien, wenn ich an das Tor ging und die Straße hinunterblickte oder wenn ich — während Adèle mit ihrem Kinderfräulein spielte und Frau Fairfax Früchte einkochte — die drei Stockwerke hinaufstieg, die Falltür öffnete und vom Dach aus die Felder und Hügel bis zum Horizont unter mir liegen sah, dann sehnte ich mich danach, noch weiter, über all diese Grenzen hinausschauen zu können, einmal die weite geschäftige Welt mit ihren Städten, ihren Menschen und ihrem Leben kennenzulernen, die ich bisher ja nur vom Hörensagen kannte. Dann wünschte ich mir mehr praktische Erfahrung als die, die ich besaß, mehr Verkehr mit Menschen meiner Art, mehr Kontakt zu andersartigen Leuten, als mir hier beschieden war. Natürlich schätzte ich die guten Eigenschaften der Frau Fairfax, die Zuneigung der kleinen Adèle, aber ich glaubte, daß es irgendwo andere, lebendigere Arten von Güte und Zuneigung geben mußte; und was ich glaubte, wollte ich auch sehen.

Wer wird es mir verdenken? Viele wahrscheinlich. Man wird mich unzufrieden, undankbar finden; aber ich konnte nichts dafür. Die Unruhe lag in meiner Natur; zuweilen trieb sie mich so weit, daß es weh tat. Dann stieg ich in den dritten Stock und ging ruhelos auf dem stillen einsamen Korridor hin und her und überließ mich meinen Traumvisionen — und es gab deren viele, die mein Herz erregten; die es ängstigten und es doch belebten, und die meinem inneren Gehör eine nie endende Geschichte erzählten. Eine Geschichte, die meiner Phantasie entsprang, sich stürmisch weiterentwickelte und mir Leben, Feuer, Leidenschaft spendete, nach denen ich mich sehnte, die aber meiner jetzigen Existenz verwehrt waren.

Es ist eitel zu behaupten, der Mensch solle sich mit Ruhe und Geborgenheit zufriedengeben. Der Tatendrang wird immer wieder durchbrechen, sei es auch nur in der Phantasie. Millionen sind zu noch stillerem Schicksal verdammt als ich, und Millionen lehnen sich stumm gegen ihr Los auf. Niemand weiß, wieviel stille Auflehnung und Rebellion neben den politischen Revolutionen in den Menschenmassen der Erde gären. Frauen werden im allgemeinen als ruhige Wesen betrachtet; aber Frauen fühlen ebenso stark wie Männer; sie brauchen Anwendungsmöglichkeiten für ihre Begabungen und Betätigungsfelder für ihre Energien im selben Maße wie ihre Brüder. Sie leiden unter zu starker Behinderung und dem Mangel an Entwicklungsmöglichkeit nicht weniger als Männer, und es ist engherzig, wenn die stärker bevorzugten Mitmenschen meinen, sie sollten sich auf das Puddingkochen, Strümpfestricken, Klavierspiel und Stickereien beschränken. Es ist gedankenlos, sie zu verurteilen oder sich über sie lustig zu machen, wenn sie versuchen, mehr zu lernen und mehr zu tun als das, was man aus Gewohnheit ihrem Geschlecht als nötig und gehörig zuschreibt.

In meinen einsamen Gedanken wurde ich nicht selten von Grace Pooles Gelächter unterbrochen, jenes schallenden, tiefen, langsamen Haha, das mich beim ersten Mal so erschreckt hatte. Ich hörte auch wieder das seltsame Gemurmel, das noch unheimlicher als das Lachen war. An manchen Tagen war sie ganz still, aber dann wieder ertönten Laute, die ich mir nicht erklären konnte. Zuweilen sah ich sie. Sie trat aus ihrem Zimmer mit einer Schüssel, einem Teller oder einem Tablett, ging in die Küche und kam kurz darauf wieder zurück. Im allgemeinen — romantischer Leser, verzeih mir, wenn ich die Wahrheit sage — brachte sie einen Krug mit Porterbier mit. Ihre Erscheinung setzte stets der Neugierde über ihre seltsamen Stimmlaute einen Dämpfer auf. Sie sah hart und nüchtern aus und bot nichts, was Interesse erwecken konnte. Ich machte einige Versuche, sie ins Gespräch zu ziehen, aber sie schien sehr einsilbig zu sein. Gewöhnlich schnitt sie mit einer kurzen Antwort jede Möglichkeit zu einem Kontakt ab.

Die übrigen Bewohner des Hauses, John und seine Frau, das Dienstmädchen Leah und Sophie, das französische Kinderfräulein, waren nette Leute, aber in keiner Weise außergewöhnlich. Mit Sophie unterhielt ich mich auf französisch, und manchmal befragte ich sie über ihre Heimat, aber auch sie war durchaus nicht erzählerisch veranlagt und gab im allgemeinen so vage und ungenaue Antworten, daß ich annahm, ihr läge nichts an solchen Gesprächen.

Oktober, November und Dezember gingen vorüber. Eines Nachmittags bat mich Frau Fairfax, Adèle freizugeben, da sie erkältet sei. Adèle unterstützte diese Bitte so begeistert, daß ich ihr nachgab. Ich erinnerte mich, wie kostbar mir selbst als Kind ein gelegentlicher freier Nachmittag gewesen war, und fand es daher angemessen, mich ihrem Wunsche zu beugen. Es war ein mächtiger windstiller Tag, aber sehr kalt. Ich hatte den ganzen Vormittag in der Bibliothek verbracht, und da Frau Fairfax gerade einen Brief geschrieben hatte, der auf die Post gebracht werden sollte, erbot ich mich, ihn nach Hay zu bringen. Ich zog mir Mantel und Mütze an und machte mich ausgehbereit. Hay war zwei Meilen entfernt, und ich freute mich auf einen angenehmen winterlichen Nachmittagsspaziergang. Ich richtete Adèle gemütlich im Zimmer von Frau Fairfax ein, setzte sie in die Nähe des Kaminfeuers, gab ihr ihre schönste Wachspuppe (die ich gewöhnlich in Silberpapier eingewickelt in einer Schublade aufbewahrte), ein Märchenbuch zur Abwechslung und Unterhaltung, beantwortete ihr »revenez bientôt, ma bonne amie, ma chére Mademoiselle Jeannette« mit einem Kuß und ging hinaus.

Der Boden war hartgefroren, die Luft ganz still und die Straße einsam. Ich schritt schnell voran, bis mir warm wurde, und dann spazierte ich gemächlich, um das Vergnügen des freien Nachmittags zu genießen und richtig in mir aufzunehmen. Die Uhr der Kirche schlug drei, als ich am Turm vorbeikam. Der Reiz der Stunde lag in der frühzeitig einbrechenden Dämmerung, in der bleichen, tiefstehenden Sonne. Ich war etwa auf halbem Weg; und der Pfad, auf dem ich ging, war im Sommer wegen seiner Heckenrosen berühmt, im Herbst wegen seiner Haselnuß- und Brombeersträucher, und sogar jetzt sah man noch vereinzelte korallenrote Hagebutten an den kahlen Büschen. Aber was ihn an diesem Wintertag besonders anziehend machte, war seine Einsamkeit und Stille. Hier war selbst der Wind geräuschlos, kein Immergrünzweig raschelte, und die kahlen Hagedorn— und Haselsträucher waren so reglos wie die Steine auf dem Weg. Zu beiden Seiten erstreckten sich weit und breit verlassene Felder und Wiesen, auf denen kein Vieh weidete; und die braunen kleinen Vögel, die hie und da in den Hecken saßen, sahen aus wie einzelne welke Herbstblätter, die noch nicht abgefallen waren.

Dieser Pfad wand sich hügelan bis nach Hay, und auf halber Höhe setzte ich mich auf einen Zauntritt, der zu einem Feld führte. Ich hüllte mich fest in meinen Mantel und steckte die Hände in meinen Muff, um nicht so sehr die jetzt beißende Kälte zu spüren. Dafür zeugte eine Eispfütze mitten auf dem Weg; der kleine, nun eingefrorene Bach war wohl vor einigen Tagen, als es gerade taute, etwas über die Ufer getreten. Von meinem Platz aus konnte ich Thornfield sehen. Der große graue, mit Zinnen gekrönte Bau überragte alles im Tal unter mir. Die hohen Bäume mit den Krähennestern erhoben sich im Westen. Ich blieb, bis die Sonne hinter den Büschen versank und rot am Horizont glühte. Dann wandte ich mich nach Osten.

Über dem Hügel vor mir stand der aufgehende Mond. Noch war er blaß wie eine Wolke, aber er verfärbte sich zusehends. Er beschien das halb in den Bäumen versteckte Dörfchen Hay, von dessen vereinzelten Schornsteinen sich blauer Rauch erhob. Der Ort lag noch immer eine Meile entfernt, und doch konnte ich in der absoluten Stille das dünne Gemurmel seines Lebens vernehmen. Auch hörte ich das Fließen von Wassern, die zum Teil noch sehr weit von mir waren; wo sie herkamen, wußte ich nicht. Es gab sehr viele Hügel um Hay, und zweifellos flossen dort viele kleine Bäche. In der Abendstille rieselte, plätscherte und rauschte es von nah und fern.

Plötzlich durchbrach ein starkes Geräusch das zarte Gemurmel: Ein klares Trapp-trapp, ein metallisches Klappern ließ die fernen Wellengeräusche verstummen, so wie auf einem Bild schwerer Fels oder der Stamm einer mächtigen Eiche die blau-zarten Farbtönungen des Himmels, des sonnigen Horizontes und der Hügel im Hintergrund mit seiner Masse überschattet. Der Lärm kam vom Weg her; es waren die Hufschläge eines Pferdes. Noch war es in den Windungen des Pfades versteckt, aber es kam näher. Ich hatte gerade von meinem Zauntritt aufstehen wollen; da der Weg jedoch eng war, blieb ich sitzen, um es vorbeizulassen. In jenen Tagen spukten noch allerlei Phantasien in meinem Kopf; Geistergeschichten aus meiner Kindheit kamen mir wieder in den Sinn; und da ich kein Kind mehr war, nahmen sie eine Kraft und Lebendigkeit an, die über das Gruseln eines verschreckten kleinen Mädchens hinausgingen. Während das Pferd immer näher kam, erinnerte ich mich an eine von Bessies Erzählungen, in denen ein nordenglisches Gespenst namens »Gytrash« vorkam, das in Gestalt eines Pferdes, Maulesels oder großen Hundes in einsamen Gegenden geisterte und sich zuweilen verspäteten Wanderern zeigte.

Jetzt war es sehr nahe, aber noch nicht sichtbar, und nun hörte ich neben dem Getrappel noch ein Rascheln unter den Hecken. Ein großer schwarzweiß gefleckter Hund erschien bei den Haselstauden. Er entsprach genau der Verkleidung des »Gytrash« — ein löwenartiges Geschöpf mit dickem Fell und einem Riesenkopf. Er lief jedoch an mir vorbei und verhielt sich ganz ruhig, blieb nicht einmal stehen, um mich — wie ich erwartet hatte — mit seinen seltsamen übernatürlichen Augen anzustarren. Dann folgte das Pferd, ein hohes Roß, und auf seinem Rücken saß ein Reiter. Damit war der Bann gebrochen. Auf dem »Gytrash« konnte niemand reiten, er kam immer allein; und Geister nahmen wohl zuweilen die Form eines Tieres an, erschienen aber nie in ganz gewöhnlicher Menschengestalt. Das war kein »Gytrash« — sondern ein Reisender, der eine Abkürzung nach Millcote genommen hatte. Er ritt an mir vorbei. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um. Ein rutschendes Geräusch und die Stimme des Mannes ertönten: »Was zum Teufel soll das?« Darauf ein tosender Fall. Reiter und Pferd waren gestürzt. Sie waren auf der Eispfütze mitten auf dem Weg ausgeglitten. Der Hund kam zurückgelaufen, sah seinen Herrn in Schwierigkeiten, hörte das Pferd stöhnen und begann laut zu hellen, so daß es in allen Hügeln widerhallte. Er beschnüffelte den am Boden liegenden Haufen und lief dann zu mir; das war alles, was er tun konnte. Andere Hilfe gab es nicht. Ich folgte ihm bis zu dem Reiter, der nun versuchte, sich von seinem Roß zu befreien. Seine Bewegungen waren so kräftig, daß ich annahm, es könne ihm nichts zugestoßen sein. Trotzdem fragte ich:

»Sind Sie verletzt, mein Herr?«

Ich glaube, er fluchte, aber sicher bin ich nicht. Jedenfalls sagte er etwas, das keine Antwort auf meine Frage zu sein schien. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte ich wieder.

»Treten Sie beiseite«, antwortete er und erhob sich, zuerst auf die Knie und dann auf die Füße. Ich gehorchte. Jetzt begann ein Aufwuchten, Stampfen, Klappern und dazu ein Bellen und Kläffen, das mich tatsächlich einige Meter zur Seite trieb. Aber ich wollte mich nicht verjagen lassen, bis ich alles gesehen hatte. Schließlich war es geglückt. Das Pferd war wieder auf den Beinen, und der Hund wurde mit dem Befehl: »Kusch, Pilot!« zum Schweigen gebracht. Nun bückte sich der Fremde, befühlte Fuß und Bein, als wolle er feststellen, ob sie noch ganz waren. Offenbar schmerzte ihn etwas, denn er hinkte zum Zauntritt, wo ich eben noch gesessen hatte, und ließ sich nieder.

Ich wollte mich nützlich machen, meine Hilfsbereitschaft zeigen und kam wieder näher.

»Wenn Sie verletzt sind oder Hilfe brauchen, kann ich jemanden aus Thornfield Hall oder Hay holen.«

»Danke. Es wird schon gehen. Ich habe mir nichts gebrochen — nur etwas verstaucht.« Er erhob sich und versuchte von neuem, auf seinem Fuß zu stehen, aber das Ergebnis war, daß er unwillkürlich »Au!« rief.

Ein wenig Tageslicht war noch geblieben, und der Mond schien hell; so konnte ich ihn gut sehen. Er trug einen Reitmantel mit Pelzkragen und Stahlspangen. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber ich sah, daß er mittelgroß und ziemlich breitschultrig war. Er hatte ein dunkles, scharfgeschnittenes Gesicht, buschige Augenbrauen. Seine Augen blickten zornig und finster drein. Er war nicht jung, aber auch nicht alt. Ich schätzte ihn auf etwa fünfunddreißig. Ich verspürte keine Angst vor ihm, kaum etwas Schüchternheit. Hätte er schön und heldenhaft ausgesehen, so hätte ich mich nicht getraut, ihn gegen seinen Willen auszufragen und ihm meine ungebetene Hilfe anzutragen. Einen schönen jungen Mann hatte ich in meinem Leben kaum je gesehen, geschweige mit ihm gesprochen. Ich hatte in der Theorie stets große Verehrung und Bewunderung für Schönheit, Eleganz, Charme und bestechendes Auftreten; aber wäre ich einem Mann begegnet, der all diese Vorzüge in sich vereinte, so hätte ich instinktiv gewußt, daß er nie und nimmer Interesse, Sympathie oder Zuneigung zu mir verspüren konnte, und ich hätte ihn gemieden, so wie man das Feuer, den Blitz oder sonst etwas Helleuchtendes, aber Gefährliches meldet.

Hätte dieser Fremde mich gut gelaunt angelächelt, als ich mich an ihn wandte, hätte er mein Hilfsangebot fröhlich dankend abgelehnt, so wäre ich meines Weges gegangen, ohne weiterzufragen. Die Rauhheit, der Unmut und die barsche Art des Reiters gaben mir jedoch eher ein Gefühl von Selbstsicherheit.

Ich blieb ruhig stehen, als er mir durch einen Wink zu verstehen gab, ich solle gehen, und sagte:

»Ich denke nicht daran, Sie zu später Stunde auf diesem einsamen Weg allein zu lassen, mein Herr, bis ich sehe, daß Sie wieder auf Ihr Pferd steigen können.«

Jetzt schaute er mich an; vorher hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt.

»Mir scheint, Sie sollten selber zu Hause sein«, sagte er. »Falls Sie überhaupt in dieser Gegend ein Zuhause haben. Wo kommen Sie her?«

»Von dort unten; und ich habe auch gar keine Angst, spät draußen zu sein, wenn der Mond scheint. Ich will gern nach Hay hinüberlaufen, wenn Sie es wünschen; ich habe sowieso einen Brief dort aufzugeben.«

»Sie leben da unten — meinen Sie das große Haus mit den Zinnen?« Er zeigte auf Thornfield Hall, das sich im hellen Mondlicht von den weiter östlich gelegenen und bereits finsteren Wäldern abhob.

»Jawohl, mein Herr.«

»Wem gehört das Haus?«

»Herrn Rochester.«

»Kennen Sie Herrn Rochester?«

»Nein. Ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Dann wohnt er also nicht dort?«

»Nein.«

»Können Sie mir sagen, wo er ist?«

»Nein.«

»Natürlich sind Sie kein Dienstmädchen dort. Sie sind —« Er hielt inne, schaute sich prüfend meine Kleidung an, die wie gewöhnlich sehr einfach war — ein schwarzer Merinomantel, eine schwarze Biberfellmütze, aber beides nicht fein genug für eine Kammerzofe. Er schien verlegen, wußte nicht recht, wo er mich hintun sollte.

Ich kam ihm zur Hilfe.

»Ich bin die Erzieherin.«

»Aha, die Erzieherin«, wiederholte er. »Teufel, das hatte ich vergessen! Die Erzieherin!« Wieder betrachtete er mich forschend. Kurz darauf erhob er sich vom Zauntritt. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen, als er sich bewegen wollte.

»Ich kann von Ihnen nicht verlangen, daß Sie mir Hilfe holen«, sagte er. »Aber Sie können mir selber etwas helfen, wenn Sie so gut sein wollen.«

»Jawohl, mein Herr.«

»Haben Sie einen Schirm, auf den ich mich stützen kann?«

»Nein.«

»Versuchen Sie, mein Pferd am Zügel zu nehmen, und führen Sie es zu mir. Sie haben doch keine Angst?«

Wäre ich allein gewesen, so hätte ich natürlich Angst vor dem Pferd gehabt; aber da es mir befohlen war, mußte ich gehorchen. Ich legte meinen Muff auf den Zauntritt und ging auf das Roß zu. Ich wollte den Zügel fassen, aber das Tier war lebhaft und ließ mich nicht an seinen Kopf; ich versuchte es immer wieder, aber es war vergeblich. Außerdem hatte ich eine Todesangst vor den ausschlagenden Vorderhufen. Der Reiter wartete und sah mir eine Weile zu, und schließlich lachte er.

»Ich sehe«, sagte er. »Der Berg kann nicht zu Mohammed kommen, also helfen Sie wenigstens Mohammed, zum Berg zu gelangen. Ich muß Sie schon bitten herzukommen.«

Ich kam. »Verzeihen Sie mir«, fuhr er fort. »Die Notwendigkeit zwingt mich, Sie ein wenig zu beanspruchen.« Er legte seine schwere Hand auf meine Schulter, stützte sich mühsam auf mich und hinkte zu seinem Pferd. Nachdem er den Zügel ergriffen hatte, was ihm beim ersten Versuch meisterhaft gelang, schwang er sich in den Sattel, wobei er grimmig das Gesicht verzog, denn die Anstrengung hatte seinem verstauchten Bein weh getan.

»So«, sagte er, nachdem er sich auf die Unterlippe gebissen hatte; »jetzt reichen Sie mir bitte noch meine Reitpeitsche. Sie liegt dort unter der Hecke.«

Ich suchte und fand sie.

»Danke. Jetzt beeilen Sie sich mit Ihrem Brief nach Hay, und kehren Sie so rasch wie möglich nach Hause zurück.« Eine leichte Berührung mit den Sporen, das Pferd bäumte sich und raste davon; der Hund folgte seinen Spuren. Alle drei waren verschwunden —.

»Wie Heidekraut auf ödem Moor,

Das wilder Wind verwehrt.«

Ich las meinen Muff auf und ging weiter. Der Zwischenfall war für mich vorüber. Es war ja nur ein Zwischenfall; er war an sich weder bedeutend noch romantisch oder besonders interessant; und doch hatte er — so kurz, wie er war — die Eintönigkeit meines Lebens für einen Augenblick vertrieben. Meine Hilfe war gebraucht und verlangt worden, und ich hatte sie gegeben. Ich war zufrieden, etwas getan zu haben, wenn es auch etwas ganz Banales, bald Vergessenes war; aber es war immerhin eine Tat, und ich war meines tatenlosen Lebens müde.

Auch das neue Gesicht war wie ein neues Bild in der Galerie meiner Erinnerungen, und es glich keinem derer, die dort hingen. Erstens, weil es einem Mann gehörte, und zweitens, weil es dunkel, stark und streng war. Ich sah es noch vor mir, als ich in Hay ankam und den Brief beim Postamt abgab. Ich sah es noch, als ich rasch bergab nach Hause ging. Als ich am Zauntritt vorbeikam, blieb ich einen Augenblick stehen, schaute mich um und horchte; vielleicht würden wieder die Schritte eines Pferdes auf dem Weg erschallen, vielleicht erschien noch einmal ein in einen Mantel gehüllter Reiter und ein Gytrash ähnlicher Neufundländer, aber ich sah nur die Hecke und einen gekappten Weidenbaum vor mir, der sich vom Mondlicht abhob. Ich hörte nur das leise Rauschen des Windes in den Waldungen von Thornfield, eine Meile vor mir, und als ich in die Richtung des Hauses schaute, sah ich Kerzenlicht in einem der Fenster flackern. Ich war spät dran und beeilte mich.

Ich kehrte nicht gerade froh nach Thornfield zurück. Seine Schwelle zu überschreiten bedeutete, wieder in die Leblosigkeit zu verfallen. Die stille Halle, die dunkle Treppe, mein kleines Zimmer, die Begrüßung der ruhigen Frau Fairfax, mit der ich den langen Winterabend allein verbringen würde, all das mußte die kleine Erregung meines Spaziergangs wieder niederdrücken, mich wieder in die Eintönigkeit eines zu ereignislosen Daseins zurückwerfen — eines Daseins, dessen Vorteile, dessen Geborgenheit und behagliches Wohlergehen ich nicht mehr fähig war zu schätzen. Was hätte es mir schon genutzt, in den Stürmen eines unsicheren und schwankenden Lebens zu treiben und durch harte und bittere Erfahrung zu lernen, mich gerade nach der Ruhe zu sehnen, die mich jetzt störte! Ja, mir ging es wie einem Mann, der zu lange in einem bequemen Sessel gesessen hat und der sich vorgenommen hatte, einen langen Spaziergang zu machen.

Ich zögerte am Tor; ich schlenderte zögernd über den Rasen. Ich ging ein paarmal auf dem Vorhof hin und her. Die Läden der Glastür waren geschlossen. Ich konnte nicht hineinschauen. Augen und Geist schienen sich von dem grauen Haus abzuwenden — von dem kalten, mit Zellen gefüllten Hohlraum, so kam es mir vor —; sie richteten sich zum Himmel über mir, dem blauen wolkenlosen Meer, über das der Mond in feierlicher Bahn hinzog. Er hatte die Spitzen der Hügel verlassen und stieg immer höher zum unermeßlichen Zenit. Die zitternden Sterne folgten ihm; sie ließen mein Herz erzittern und das Blut in meinen Adern erglühen, als ich ihnen nachblickte.

Aber Kleinigkeiten rufen uns auf die Erde zurück. Die Uhr in der Halle schlug, und das genügte. Ich verließ Mond und Sterne, öffnete eine Seitentür und trat ein.

Die Halle war im Halbdunkel. Nur die Bronzelampe an der Decke brannte. Aber ein warmer Lichtschein durchflutete sie und die unteren Stufen der Eichentreppe. Er kam vom großen Speisezimmer, dessen Doppeltür offenstand. Ein helles Feuer loderte im Kamin, ließ den weißen Marmor und das Messing der Feuergeräte erglänzen und tauchte die roten Vorhänge und poliertem Möbel in angenehmsten Schimmer. Es ließ auch eine Gruppe von Menschen am Kamin erkennen, aber ich hatte kaum Zeit, das fröhliche Stimmengewirr zu hören, in dem ich Adèles Gezwitscher vernahm, als die Tür geschlossen wurde.

Ich eilte auf das Zimmer von Frau Fairfax. Auch hier brannte ein Feuer, aber keine Kerze, und Frau Fairfax war nicht da. Statt ihrer saß ein großer schwarz-weiß gefleckter, zottliger Hund ganz allein aufrecht vor dem Feuer und starrte ernsthaft in die Flammen. Er sah so ganz wie der Gytrash von unterwegs aus, daß ich auf ihn zuging und ihn »Pilot« rief. Er stand auf und beschnüffelte mich. Ich streichelte ihn, und er wedelte mit seinem mächtigen Schwanz; aber er war mir doch zu unheimlich als daß ich mit ihm alleine hätte bleiben mögen, und ich konnte mir nicht erklären, woher er gekommen war. Ich klingelte, denn ich brauchte eine Kerze, und ich wollte gern wissen, was dieser Besucher zu bedeuten hatte. Leah kam.

»Was ist das für ein Hund?«

»Er kam mit dem Herrn.«

»Mit wem?«

»Mit dem Herrn — Herrn Rochester; er ist gerade angekommen.«

»Tatsächlich? Und ist Frau Fairfax bei ihm?«

»Ja. Fräulein Adèle auch; sie sind im Speisezimmer, und John ist einen Arzt holen gegangen, denn der Herr hatte einen Unfall. Sein Pferd stürzte, und er hat sich den Knöchel verstaucht.«

»Ist das Pferd auf dem Pfad nach Hay gestürzt?«

»Ja. Er kam dort herunter. Es ist auf dem Eis ausgerutscht.«

»Ach so! Bitte bringen Sie mir doch eine Kerze, Leah.«

Leah brachte sie. Frau Fairfax begleitete sie und erzählte mir alles noch einmal. Sie fügte hinzu, daß Herr Carter, der Arzt, gekommen war und nun bei Herrn Rochester sei. Dann eilte sie hinaus, um Anordnungen für den Tee zu geben, und ich ging nach oben, um meinen Mantel abzulegen.

13

Herr Rochester ging an jenem Abend, wahrscheinlich auf ärztlichen Rat hin, früh zu Bett und stand am folgenden Tag erst spät auf. Als er herunterkam, kümmerte er sich um seine Geschäfte. Der Verwalter und einige seiner Pächter waren erschienen, um ihn zu sprechen.

Adèle und ich mußten die Bibliothek räumen; sie diente jetzt als Empfangszimmer für die täglichen Besucher. In einem Zimmer des oberen Stockwerks hatte man ein Kaminfeuer angezündet; dort brachte ich unsere Schulbücher hin und richtete es als unser neues Lernzimmer ein. Ich stellte im Laufe des Vormittags fest, daß Thornfield sich verändert hatte. Die klösterliche Stille war gewichen, und jeden Augenblick klopfte es an die Tür oder die Glocke ertönte. Man hörte Schritte in der Halle und den Klang ungewohnter Stimmen. Die Außenwelt war eingedrungen. Wir hatten einen Hausherrn, und mir gefiel es.

Adèle war an diesem Tag nicht leicht zur Arbeit zu bringen. Sie konnte sich nicht zusammennehmen, rannte ständig zur Tür, versuchte Herrn Rochester über das Treppengeländer zu erspähen, erfand immer neue Vorwände, um in die Bibliothek zu gehen, wo sie — wie ich mir denken konnte — ganz unerwünscht war. Als ich ein wenig ärgerlich wurde und ihr befahl stillzusitzen, erzählte sie unaufhörlich von ihrem »ami Monsieur Edouard Fairfax de Rochester«, wie sie ihn betitelte (ich hatte die Vornamen noch nie gehört), und malte sich aus, was für Geschenke er ihr wohl mitgebracht habe, denn am Abend vorher hatte er angedeutet, daß sich in seinem Gepäck, das aus Millcote ankommen würde, eine Schachtel befand, deren Inhalt sie interessieren dürfte.

»Et cela doit signifier«, sagte sie, »qu’il y aura là-dedans un cadeau pour moi, et peut-être pour vous aussi, Mademoiselle. Monsieur a parlé de vous; il m’a demandé le nom de ma gouvernante, et si elle n’était pas une petite personne, assez mince et un peu pâle. J’ai dit qu’oui: car c’est vrai, n’est-ce pas, Mademoiselle?«

Ich aß mit meiner Schülerin wie gewöhnlich in Frau Fairfax’ Wohnzimmer zu Mittag. Am Nachmittag schneite es heftig, und wir blieben im Wohnzimmer. Als es dunkel wurde, erlaubte ich Adèle, ihre Bücher wegzupacken und hinunterzulaufen, denn ich nahm an, daß die Besucher sich inzwischen entfernt hatten. Es war in der Halle still geworden, und die Türklingel erschallte nicht mehr. Als ich allein war, ging ich an das Fenster, aber nichts war zu sehen. Das Dämmerlicht und die Schneeflocken überzogen das Land mit einem immer dichter werdenden Schleier und verhüllten selbst die Büsche vor dem Haus. Ich ließ den Vorhang herunter und ging zum Kamin zurück.

Im hellen Feuerschein begann ich eine Skizze in Erinnerung an ein Bild des Heidelberger Schlosses, das ich kürzlich gesehen hatte, als Frau Fairfax hereinkam. Sie unterbrach meine Malarbeit und riß mich aus trüben Gedanken und Träumereien, die sich wieder in meiner Einsamkeit angesammelt hatten.

»Herr Rochester wünscht, daß Sie und Ihre Schülerin heute Abend zum Tee mit ihm in den Salon kommen«, sagte sie. »Er war den ganzen Tag so beschäftigt, daß er Sie nicht früher einladen konnte.«

»Wann nimmt er den Tee?« fragte ich.

»Um sechs Uhr. Auf dem Lande hat er es lieber früh. Sie sollten sich jetzt umziehen. Ich komme mit und will Ihnen gern dabei helfen. Hier ist eine Kerze.«

»Muß ich ein anderes Kleid anziehen?«

»Ja. Es ist besser. Ich ziehe mich immer am Abend um, wenn Herr Rochester hier ist.«

Dieses zusätzliche Zeremoniell erschien mir übersteigert. Aber ich ging auf mein Zimmer und zog mir mit der Hilfe von Frau Fairfax mein schwarzseidenes Kleid an. Es war das beste, das ich hatte — außer einem hellgrauen, das mir nach Lowood-Begriffen zu elegant für diesen Anlaß erschien und nur bei ganz besonderen Umständen getragen werden sollte.

»Sie brauchen eine Brosche«, sagte Frau Fairfax. Ich hatte eine kleine Perlenbrosche, die mir Fräulein Temple als Abschiedsgeschenk gegeben hatte, steckte sie an, und wir gingen hinunter. Ich war an fremde Menschen nicht gewöhnt und empfand ziemliche Scheu, mich Herrn Rochester jetzt in aller Förmlichkeit vorstellen zu müssen. Ich ließ Frau Fairfax vor mir in das Speisezimmer treten und blieb in ihrem Schatten, bis wir durch die Bogentür in den Salon kamen.

Zwei Kerzen brannten auf dem Tisch und zwei auf dem Kamin. Pilot lag behaglich in der Wärme des Kaminfeuers ausgestreckt auf dem Teppich, und Adèle kniete bei ihm. Auf ein Sofa gelehnt, mit hochgelegtem Fuß, saß Herr Rochester und sah ihnen zu. Das Feuer erleuchtete sein Gesicht. Ich erkannte meinen Reiter mit seinen buschigen, pechschwarzen Augenbrauen, seiner eckigen Stirn, deren Form noch durch den Schnitt seines schwarzen Haars unterstrichen wurde. Ich erkannte seine eigenwillige Nase, die eher charakteristisch als schön war, die vollen Nasenflügel, die meiner Meinung nach auf Heftigkeit schließen ließen, den grimmigen Mund, das ausgeprägte Kinn, die Backenknochen — ja, das sah alles sehr grimmig aus; darüber gab es keinen Zweifel. Seine Gestalt, die ich jetzt ohne Mantel sah, war wohlproportioniert und entsprach dem Gesicht. Alles in allem nahm ich an, daß man ihn als gutaussehend bezeichnen konnte, soweit das athletischen Wuchs, breite Schultern und schmale Hüften bedeutete, obwohl er weder groß noch elegant wirkte.

Herr Rochester mußte unseren Eintritt bemerkt haben, aber er schien nicht geneigt, von uns Notiz zu nehmen, denn er hob nicht einmal den Kopf, als wir uns ihm näherten.

»Das ist Fräulein Eyre, Herr Rochester«, sagte Frau Fairfax in ihrer ruhigen Art. Er nickte, ohne seine Augen von Hund und Kind abzuwenden.

»Lassen Sie Fräulein Eyre Platz nehmen«, sagte er. Das steife Kopfnicken, der ungeduldige und kalte Ton schienen eher zu sagen: »Was zum Teufel schert es mich, ob Fräulein Eyre da ist oder nicht? Ich habe im Augenblick keine Lust, mich mit ihr zu beschäftigen.«

Ich setzte mich ganz gelassen. Ein ausgesucht höflicher Empfang hätte mich in Verlegenheit gebracht. Ich hätte ihm nicht mit Eleganz und Grazie begegnen können; aber der barsche, launische Ton verpflichtete mich zu nichts. Im Gegenteil, meine ruhige wohlerzogene Gelassenheit gaben mir noch einen Vorteil. Es interessierte mich, wie er fortfahren würde.

Er fuhr fort, sich wie eine Statue zu benehmen, das heißt, er blieb unbeweglich und stumm. Frau Fairfax versuchte, wenigstens ihrerseits ein freundliches Gespräch zu beginnen; liebenswürdig wie gewöhnlich — aber auch ebenso langweilig banal —, bedauerte sie, daß er den ganzen Tag soviel zu tun gehabt hatte, daß seine Verstauchung ihn doch sicher geschmerzt hatte, und bewunderte die Geduld und Ausdauer, mit denen er sein Leiden ertrug.

»Madame, ich möchte Tee haben«, war die einzige Antwort, die sie erhielt. Sie läutete, nahm das Teetablett in Empfang und richtete Tassen und Löffel mit eifriger Geschäftigkeit. Ich ging mit Adèle zum Tisch, aber der Hausherr blieb auf seinem Sofa.

»Wollen Sie bitte Herrn Rochester die Tasse reichen?« bat mich Frau Fairfax. »Adèle könnte den Tee verschütten.«

Ich tat wie geheißen. Als er mir die Tasse abnahm, hielt Adèle den Augenblick für günstig, ein gutes Wort für mich einzulegen: »N’est-ce pas, Monsieur, qu’il y a un cadeau pour Mademoiselle Eyre dans votre petit coffre?«

»Wer redet da von Geschenken?« erwiderte er mürrisch. »Erwarten Sie vielleicht ein Geschenk, Fräulein Eyre? Lieben Sie Geschenke?«

»Das kann ich kaum sagen, mein Herr. Ich habe sehr wenig Erfahrung damit. Ich allgemeinen findet man sie angenehm.«

»Im allgemeinen? Und was finden Sie?«

»Da müßten Sie mir bitte etwas Zeit lassen, bis ich diese Frage zu Ihrer Befriedigung beantworten kann. Ein Geschenk kann so vielerlei bedeuten, nicht wahr? Und man sollte alles in Betracht ziehen, bevor man über den Begriff eine Meinung äußert.«

»Fräulein Eyre, Sie sind nicht so offen und unverfälscht wie Adèle, die laut und deutlich ein ›cadeau‹ verlangt, sowie sie meiner ansichtig wird. Sie gehen wie die Katze um den heißen Brei.«

»Weil ich weniger auf meine Verdienste vertraue als Adèle. Sie kann sich auf ein Anrecht berufen, das auf langer Bekanntschaft und Gewohnheit beruht, denn sie sagt, daß Sie ihr immer Spielsachen mitbringen. Aber was mich betrifft, so bringt die Frage mich in Verlegenheit, denn ich bin eine Fremde hier und habe nichts getan, womit ich einen Anspruch geltend machen könnte.«

»Ach! Seien Sie doch nicht allzu bescheiden! Ich habe mir Adèle angesehen und festgestellt, daß Sie sich große Mühe mit ihr gegeben haben. Sie ist weder besonders intelligent noch begabt, und doch hat sie in kurzer Zeit große Fortschritte gemacht.«

»Herr Rochester, jetzt haben Sie mir mein ›cadeau‹ beschert. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

»Hm«, machte er und trank schweigend seinen Tee.

»Kommen Sie ans Fenster«, sagte der Hausherr, als das Teetablett abgeräumt war. Frau Fairfax hatte sich mit ihrer Strickarbeit in eine Ecke verzogen, Adèle führte mich gerade an der Hand durch den Raum und zeigte mir die schönen Bücher, Kunstgegenstände, Konsolen und Kommoden. Wir gehorchten pflichtgemäß seinem Befehl. Adèle wollte sich auf meinen Schoß setzen, aber er gebot ihr, mit Pilot zu spielen.

»Sie leben jetzt seit drei Monaten in meinem Haus?«

»Ja.«

»Und Sie kommen aus —?«

»Aus dem Stift Lowood.«

»Aha. Eine Wohltätigkeitsanstalt. Wie lange waren Sie dort?«

»Acht Jahre.«

»Acht Jahre! Da müssen Sie aber ein zähes Leben haben. Ich dachte, die halbe Zeit würde schon die stärkste Natur zugrunde richten! Kein Wunder, daß Sie aussehen, als kämen Sie aus dem Jenseits. Ich hatte mich schon gefragt, woher Sie dieses Bleichgesicht haben. Als ich Ihnen gestern auf dem Weg von Hay begegnete, dachte ich unwillkürlich an Geistermärchen und wollte Sie schon fragen, ob Sie mein Pferd behext hätten. Ich bin auch jetzt noch nicht sicher. Wer sind Ihre Eltern?«

»Ich habe keine.«

»Und haben wahrscheinlich nie welche gehabt. Können Sie sich an sie erinnern?«

»Nein.«

»Das habe ich mir gedacht. Und da haben Sie also Ihre Leute erwartet, als Sie auf diesem Zauntritt saßen?«

»Welche Leute?«

»Die kleinen grünen Männlein. Das Mondlicht war ja gerade richtig dafür. Habe ich Ihnen Ihre Kreise gestört, so daß Sie das verdammte Eis auf den Weg zauberten?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte im selben ernsthaften Ton wie er:

»Die grünen Männlein haben alle vor hundert Jahren England verlassen, und nicht einmal auf Hay Lane oder den Feldern ringsum ist eine Spur von ihnen zu entdecken. Ich glaube, weder Sommer- noch Ernte- oder Wintermond werden je wieder über ihren nächtlichen Gelagen scheinen.«

Frau Fairfax hatte ihre Strickarbeit niedergelegt und schien sich höchst verwundert zu fragen, was dieses Gespräch bedeuten sollte.

»Nun gut«, nahm Herr Rochester seine Fragen wieder auf. »Wenn Sie schon keine Eltern haben, müssen doch irgendwelche Verwandten vorhanden sein. Onkel oder Tanten?«

»Nein. Nicht daß ich wüßte.«

»Wo sind Sie zu Hause?«

»Nirgends.«

»Wo leben Ihre Brüder und Schwestern?«

»Ich habe weder Brüder noch Schwestern.«

»Wer hat Sie denn hierher empfohlen?«

»Ich habe eine Anzeige in der Zeitung aufgesetzt, und Frau Fairfax hat mir darauf geantwortet.«

»Ja«, sagte die gute Frau, die jetzt endlich wußte, worüber wir sprachen. »Und ich bin dem Schicksal dankbar, das sie hierhergeführt hat. Fräulein Eyre war mir eine unschätzbare Gesellschafterin und eine liebe, pflichtbewußte Lehrerin für Adèle.«

»Bemühen Sie sich nicht, ihr ein gutes Zeugnis auszustellen«, fiel ihr Herr Rochester ins Wort. »Lobhymnen beeinflussen mich nicht. Ich werde mir selber mein Urteil bilden. Zunächst einmal hat sie mein Pferd zu Fall gebracht.«

»Wie bitte?« fragte Frau Fairfax.

»Ihr habe ich für meinen verstauchten Fuß zu danken.«

Die alte Dame war bestürzt.

»Fräulein Eyre, haben Sie je in einer Stadt gelebt?«

»Nein, mein Herr.«

»Sind Sie viel in Gesellschaft gewesen?«

»Nur in der der Schülerinnen und Lehrerinnen von Lowood und jetzt der Bewohner von Thornfield.«

»Haben Sie viel gelesen?«

»Nur, was mir in den Weg kam, nicht sehr viel und nichts Gelehrtes.«

»Sie haben wie eine Nonne gelebt. Zweifellos kennen Sie sich in religiösen Fächern gut aus. Brocklehurst, der ja wohl Leiter von Lowood ist, soll doch ein Pfarrer sein, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und ihr Mädchen habt ihn wahrscheinlich angehimmelt, wie ein Nonnenkloster seinen Abt verehrt?«

»O nein.«

»Sie sind sehr kühl! O nein! Was soll das heißen? Eine Novize, die ihren Priester nicht anbetet? Das klingt ja geradezu nach Gotteslästerung.«

»Ich konnte Herrn Brocklehurst nicht leiden, und ich war nicht die einzige, die solche Gefühle hatte. Er ist ein harter Mann, aufgeblasen und heuchlerisch. Er ließ uns die Haare scheren und kaufte uns aus Geiz minderwertiges Nähzeug, mit dem wir kaum etwas anfangen konnten.«

»Das war Sparsamkeit am falschen Platz«, bemerkte Frau Fairfax, die wieder in das Gespräch zu kommen suchte.

»Und das war alles, was Sie ihm vorzuwerfen hatten?« fragte Herr Rochester.

»Er ließ uns hungern, als er allein die Aufsicht über den Haushalt hatte, bevor das Komitee eingesetzt wurde. Und er langweilte uns mit langen Predigten und Lesungen aus Büchern, die er für uns auswählte, in denen immer von plötzlichem Tod und Bestrafung die Rede war, so daß wir Angst hatten, ins Bett zu gehen.«

»Wie alt waren Sie, als Sie nach Lowood kamen?«

»Etwa zehn.«

»Und Sie blieben dort acht Jahre. Dann sind Sie also jetzt achtzehn?«

Ich nickte.

»Sehen Sie, es ist nützlich, wenn man rechnen kann. Ich hätte sonst Ihr Alter kaum erraten können. Es ist in Ihrem Fall schwer, weil Haltung und Ausdruck bei Ihnen so wechselhaft sind. Und nun sagen Sie mir, was Sie in Lowood gelernt haben. Können Sie Klavier spielen?«

»Ein wenig.«

»Natürlich. Das ist ja die altgewohnte Antwort. Gehen Sie in die Bibliothek — ich meine: Bitte, gehen Sie. Sie müssen meinen Befehlston schon entschuldigen. Ich bin gewohnt zu sagen ›Tun Sie dies oder das‹, und es wird gemacht. Ich kann meine Gewohnheiten Ihretwegen nicht ändern. Gehen Sie also in die Bibliothek, nehmen Sie eine Kerze mit, lassen Sie die Tür offen, setzen Sie sich ans Klavier und spielen Sie mir etwas vor.«

Ich gehorchte.

»Genug!« rief er nach ein paar Minuten. »Ich sehe, Sie spielen ›ein wenig‹ wie jedes englische Schulmädchen, vielleicht ein bißchen besser als viele, aber nicht gut.« Ich klappte den Klavierdeckel zu und ging zurück. Herr Rochester fuhr fort:

»Adèle zeigte mir heute früh ein paar Skizzen und behauptete, sie seien von Ihnen. Ich weiß zwar nicht, ob Sie sie wirklich allein gemacht haben. Wahrscheinlich hat Ihnen ein Lehrer dabei geholfen.«

»Ganz und gar nicht. Ich habe sie allein gemacht«, protestierte ich.

»Aha! Ich habe Ihren Stolz verletzt. Nun gut, holen Sie mir Ihre Zeichenmappe, wenn Sie für die Echtheit ihres Inhalts garantieren können, aber machen Sie keine voreiligen Versprechungen. Ich verstehe mich auf dem Gebiet und weiß Echtes von Nachgeahmtem zu unterscheiden.«

»Dann werde ich nichts sagen, und Sie können sich selbst überzeugen.«

Ich holte meine Mappe aus der Bibliothek.

»Kommen Sie an den Tisch«, befahl er und rückte ihn an das Sofa. Adèle und Frau Fairfax kamen näher, um sich die Bilder anzusehen.

»Kein Gedränge«, sagte Herr Rochester. »Nehmt mir die Bilder aus der Hand, wenn ich damit fertig bin, aber steckt mir eure Köpfe nicht vor das Gesicht.«

Er unterzog jede Zeichnung, jedes Bild einer aufmerksamen Prüfung. Drei legte er beiseite; die anderen schob er von sich.

»Nehmen Sie sie an den anderen Tisch, Frau Fairfax«, sagte er, »und schauen Sie sie sich mit Adèle an. Und Sie — (er deutete auf mich) — setzen sich hierher und beantworten meine Fragen. Ich stelle fest, daß diese Bilder von der gleichen Hand sind. Ist es Ihre?«

»Ja.«

»Und wann haben Sie die Zeit gefunden, sie zu machen? Sie haben viel Zeit und Nachdenken erfordert.«

»Ich habe sie während der letzten Ferien in Lowood gemacht, als ich keine andere Beschäftigung hatte.«

»Wo haben Sie die Vorlagen her?«

»Aus meinem Kopf.«

»Aus dem Kopf, den ich jetzt vor mir sehe?«

»Ja.«

»Haben Sie da noch mehr solcher Sachen drin?«

»Ich glaube schon. Hoffentlich noch Besseres.«

Er breitete die Bilder vor sich aus und betrachtete sie nacheinander noch einmal.

Während er jetzt damit beschäftigt ist, möchte ich dir, lieber Leser, diese drei Bilder beschreiben; aber ich muß vorausschicken, daß sie durchaus keine Meisterwerke waren. Die Themen waren meiner Phantasie entsprungen. Als ich sie vor meinem geistigen Auge sah und sie noch nicht ausgeführt hatte, waren sie sehr eindrucksvoll; aber meine Hand vermochte der Inspiration nicht zu folgen und hatte in jedem Falle nur ein blasses Abbild meiner Vorstellung hervorgebracht.

Die drei Bilder waren Aquarelle. Das erste stellte tiefe blau-graue Wolken über stürmischem Meer dar. Das Ganze war in dunklen Farben gehalten; auch die schäumenden Wogen im Vordergrund, denn es war kein Land zu sehen. Ein matter Lichtstrahl erhellte einen halb versunkenen Schiffsmast, auf dem ein großer dunkler Kormoran seine schaumbefleckten Flügel spreizte. In seinem Schnabel hielt er ein goldenes, juwelenbesetztes Armband, das ich mit so funkelnd glänzenden Tupfen versehen hatte, wie es mir meine Palette möglich machte, und das ich so deutlich scharf gezeichnet hatte, wie ich es mit meinem Bleistift vermochte. Unterhalb des Vogels auf dem Mast schimmerte die Leiche einer Ertrunkenen im grünlichen Wasser; nur ein heller Arm, von dem das Armband gefallen oder gerissen worden war, ragte aus den Fluten.

Auf dem zweiten Bild war im Vordergrund nur der Gipfel eines dunklen Hügels mit Gras und wie im Wind wehenden Blättern zu sehen. Ringsum und darüber wölbte sich ein dunkelblauer Himmel wie im Dämmerlicht; und in den Himmel erhob sich die Form einer weiblichen Gestalt in den zartdunkelsten Tönungen, die ich erreichen konnte; ein Stern krönte das blaue Gesicht; alles darunter zeichnete sich wie in einem Dunst ab; die Augen waren dunkel und wild, das Haar glich einer sturmgepeitschten Wolke, und auf dem Hals lag ein blasser Schimmer, wie von Mondlicht, und im selben matten Glanz rahmten einige zarte Wolken den aufgegangenen Abendstern ein.

Das dritte Bild zeigte die Spitze eines in den Winterhimmel ragenden Eisbergs. Eine Reihe von eng aneinanderliegenden Nordlichtern flimmerte am Horizont. Im Vordergrund war ein übergroßes, an den Eisberg gelehntes Gesicht zu sehen. Zwei zarte, gefaltete Hände stützten die Stirn und verhingen den unteren Teil des Kopfes mit einem schwarzen Schleier; nur die bleiche, blutlose Stirn und ein hohl und starr blickendes Auge, ausdruckslos, aber verzweifelt in seiner glasigen Leblosigkeit, waren sichtbar. Über den Schläfen und den Falten eines schwarz drapierten Turbans leuchtete verschwommen wolkenhaft ein Ring weißer Flammen, aus dem in grelleren Farben getupft Funken stiegen. Dieser bleiche Kranz war »der königlichen Krone Ebenbild«, und was sie schmückte, war »gestaltlose Gestalt«.

»Waren Sie glücklich, als Sie diese Bilder malten?« fragte nun Herr Rochester.

»Ich war ganz und gar in meine Arbeit vertieft, und deshalb war ich glücklich. Das Malen war stets eine meiner größten Freuden.«

»Das will nicht viel heißen. Andere Freuden dürften Sie ja kaum gehabt haben, nach dem, was Sie selbst sagten. Aber Sie befanden sich gewiß im Traumland eines Künstlers, als Sie diese seltsamen Farbtönungen mischten. Haben Sie jeden Tag lange daran gearbeitet?«

»Ich hatte nichts anderes zu tun, da es in den Ferien war, und ich saß daran von morgens bis mittags und von mittags bis abends. Die langen Sommertage gaben mir Gelegenheit, besonders fleißig zu arbeiten.«

»Und waren Sie mit dem Ergebnis Ihrer langen Mühen dann zufrieden?«

»Überhaupt nicht. Ich empfand den Unterschied zwischen dem, was ich mir vorgestellt hatte, und seiner Ausführung als beschämend schmerzlich. Bei jedem Bild hatte ich etwas ganz Bestimmtes im Sinn, und nie gelang es mir, es wirklich darzustellen.«

»Doch; zum Teil ist es Ihnen gelungen; Sie haben den Schatten Ihrer Gedanken festgehalten, und wahrscheinlich mehr nicht. Sie hatten noch nicht genügend künstlerisches Können und Erfahrung, um es ganz zu verwirklichen. Und doch sind Ihre Bilder für ein Schulmädchen bemerkenswert. Sie haben etwas Feenhaftes wie auch Ihre Gedanken. Diese Augen auf dem Bild vom Abendstern müssen Ihnen im Traum erschienen sein. Wie konnten Sie sie so klar und doch nicht glänzend darstellen? Denn der leuchtende Stern überglänzt sie. Und diese feierliche Tiefe des Blicks, wo haben Sie die her? Und wer hat Sie gelehrt, den Wind zu malen? Man sieht ihn am Himmel und auf dem Hügel. Wo haben Sie Latmos gesehen? Denn das ist Latmos. So — legen Sie die Bilder weg.«

Ich hatte kaum die Zeichenmappe zugeklappt, als er auf seine Uhr schaute.

»Es ist neun Uhr. Fräulein Eyre, was fällt Ihnen eigentlich ein, Adèle so lange aufzulassen? Bringen Sie sie ins Bett.«

Adèle gab ihm einen Gutenachtkuß, bevor sie ging. Er ließ die Zärtlichkeit über sich ergehen, schien sich jedoch kaum mehr daraus zu machen, als es Pilot getan hätte — eher weniger.

»Jetzt wünsche ich euch allen gute Nacht«, sagte er und deutete auf die Tür. Offenbar hatte er von unserer Gesellschaft einstweilen genug. Frau Fairfax räumte ihre Strickarbeit zusammen, ich ergriff meine Zeichenmappe; wir knicksten, erhielten ein steifes Kopfnicken zur Antwort und zogen uns zurück.

»Sie behaupteten, Herr Rochester habe keine besonderen Eigenheiten, Frau Fairfax«, bemerkte ich, als ich zu ihr ins Zimmer trat, nachdem ich Adèle zu Bett gebracht hatte.

»Nun; hat er welche?«

»Ich finde, ja. Er ist sehr sprunghaft und schroff.«

»Das ist wahr. Einem Fremden mag es so scheinen, aber ich bin so an seine Art gewöhnt, daß es mir gar nicht mehr auffällt. Man darf ihm jedoch seine Temperamentausbrüche nicht übelnehmen.«

»Warum nicht?«

»Erstens, weil es in seiner Natur liegt — und niemand kann an seiner Natur etwas ändern; und zweitens, weil ihn offenbar schwere Sorgen quälen und er darüber leicht in Ärger gerät.«

»Was für Sorgen?«

»Da sind einmal die Familiensorgen.«

»Aber er hat doch gar keine Familie.«

»Jezt nicht, aber er hat eine gehabt — oder wenigstens Verwandte. Vor einigen Jahren ist sein älterer Bruder gestorben.«

»Sein älterer Bruder?«

»Ja. Herr Rochester ist noch nicht lange der Herr von Thornfield. Erst seit etwa neun Jahren.«

»Neun Jahre sind immerhin eine lange Zeit. Hing er denn so an seinem Bruder, daß er den Verlust nicht verschmerzen kann?«

»O nein — das heißt: Wohl nicht. Ich glaube, es gab da einige Mißverständnisse zwischen den beiden. Herr Rowland Rochester war Herrn Edward gegenüber nicht ganz gerecht; und vielleicht hat er den Vater gegen ihn beeinflußt. Der alte Herr liebte vor allem das Geld und war besorgt, seinen Besitz zusammenzuhalten. Deshalb wollte er ihn nicht teilen, aber andererseits wollte er schon des guten Rufes wegen Herrn Edward einen gewissen Wohlstand sichern. Bald nachdem Herr Edward mündig war, wurden einige Maßnahmen getroffen, die nicht richtig waren und viel Unheil stifteten. Der alte Herr Rochester und Herr Rowland hatten es eingerichtet, daß Herr Edward in eine seiner Meinung nach demütigende Lage geriet und sich sein eigenes Geld verdienen mußte. Worum es da eigentlich ging, ist mir nie recht klargeworden, aber er hat es nicht ertragen können. Herr Rochester ist kein Mensch, der leicht verzeiht; er hat mit seiner Familie gebrochen und lange Jahre ein unstetes Leben geführt. Ich glaube nicht, daß er je länger als zwei Wochen in Thornfield verbrachte, seit er — weil sein Bruder kein Testament hinterließ — den Besitz übernahm. Und übrigens erstaunt es mich nicht, daß er dieses alte Haus meidet.«

»Warum sollte er es meiden wollen?«

»Vielleicht findet er es hier zu düster.«

Die Antwort war ausweichend. Ich hätte gern mehr erfahren, aber Frau Fairfax konnte oder wollte mir keine nähere Erklärung über die Sorgen Herrn Rochesters geben. Sie behauptete, die ganze Angelegenheit sei ihr selber ein Rätsel, und was sie gesagt habe, seien nur Vermutungen. Offensichtlich wünschte sie nichts mehr über dieses Thema zu sagen, und so fragte ich nicht weiter.

14

In den folgenden Tagen sah ich Herrn Rochester selten. Am Morgen schien er immer sehr beschäftigt zu sein, und am Nachmittag kamen Besucher aus Millcote und Umgebung, die manchmal bis zum Abendessen blieben. Als seine Verstauchung so weit geheilt war, daß er wieder reiten konnte, war er viel außer Haus; wahrscheinlich erwiderte er die Besuche, denn er kam meistens erst sehr spät abends zurück.

Während dieser Zeit ließ er sogar Adèle selten zu sich kommen, und unser Verkehr beschränkte sich auf gelegentliche Begegnungen im Treppenhaus oder im Gang. Manchmal ging er kühl und abwesend an mir vorbei und beantwortete meinen Gruß nur mit einem Nicken oder einem gleichgültigen Blick; anderswann verbeugte er sich und lächelte höflich und freundlich. Seine wechselnden Launen berührten mich nicht, denn ich wußte, daß sie mich nicht persönlich betrafen; sie hingen von Ursachen ab, mit denen ich nichts zu tun hatte.

Eines Tages hatte er Besuch zum Abendessen gehabt und mein Skizzenbuch verlangt; wahrscheinlich wollte er es seinen Gästen zeigen. Die Herren brachen früh am Abend zu einer Versammlung nach Millcote auf, wie mir Frau Fairfax berichtete, aber da das Wetter feucht und unfreundlich war, begleitete Herr Rochester sie nicht. Kurz nachdem sie gegangen waren, klingelte er. Er wünschte Adèle und mich unten zu sehen. Ich kämmte Adèle, rückte ihr das Kleid zurecht und vergewisserte mich, daß meine schlichte Quäker-Tracht, an der nichts zu verbessern war, ordentlich aussah, und wir gingen hinunter. Adèle war neugierig, ob ihr petit coffre endlich gekommen sei, denn durch irgendein Mißverständnis hatte sich seine Ankunft verzögert. Ihre Erwartungen wurden erfüllt, denn eine kleine Pappschachtel stand auf dem Tisch, als wir ins Speisezimmer traten. Sie hatte sofort erraten, um was es sich handelte.

»Ma boite! Ma boite!« rief sie und lief zum Tisch.

»Ja, da ist sie endlich, deine ›boite‹. Nimm sie in eine Ecke, du wahre kleine Pariserin, und vergnüge dich damit«, sagte Herr Rochester mit seiner tiefen sarkastischen Stimme. Er saß in einem mächtigen Lehnstuhl am Kamin. »Und bitte«, fuhr er fort, »Verschone mich mit anatomischen Einzelheiten und Beschreibungen des Inhalts der Schachtel. Gehe schweigend zu Werk: tiens toi tranquille, enfant; comprends-tu?«

Adèle schien die Warnung kaum zu benötigen; sie hatte sich mit ihrem Schatz bereits auf ein Sofa zurückgezogen und war dabei, die Schnur, die den Deckel verschloß, zu lösen. Nachdem sie das besorgt und einige silbrige Umschläge ausgepackt hatte, rief sie aus:

»Oh ciel! Que c’est beau!« Dann schwieg sie in stummer Bewunderung.

»Ist Fräulein Eyre auch da?« fragte Herr Rochester jetzt und erhob sich halb, um nach der Tür zu sehen, an der ich stand.

»Gut! Kommen Sie, setzen Sie sich hierher.« Er zog einen Stuhl neben den seinen. »Ich habe Kindergeplapper nicht gern«, fuhr er fort, »denn als alter Junggeselle finde ich nichts Ergötzliches daran. Es wäre mir unmöglich, es einen ganzen Abend mit einer kleinen Göre auszuhalten. Ziehen Sie den Stuhl nicht fort, Fräulein Eyre. Setzen Sie sich genau dorthin, wo er steht — bitte sehr. Zum Teufel mit der Höflichkeit! Ich vergesse sie immer wieder. Auch einfältige alte Damen schätze ich nicht besonders hoch; und dabei denke ich an die zu mir gehörige. Ich darf sie ja nicht vergessen, denn sie ist eine Fairfax, oder hat einen geheiratet, und Blut ist angeblich dicker als Wasser.«

Er läutete und ließ Frau Fairfax zu sich bitten. Sie erschien mit ihrem Strickkorb.

»Guten Abend, Madame. Ich habe Sie zu einem wohltätigen Zweck hierhergerufen. Ich habe Adèle verboten, mir von ihren Geschenken zu erzählen, und dabei platzt sie fast. Haben Sie die Güte, ihr zuzuhören und sich mit ihr zu unterhalten. Sie erwiesen uns damit eine der größten Wohltaten Ihres Lebens.«

Und wirklich, kaum hatte Adèle Frau Fairfax gesehen, als sie sie zum Sofa rief und ihr all das Porzellan-, Elfenbein- und Wachszeug in den Schoß legte, das die Schachtel enthielt. Dabei sprudelte sie in ihrem gebrochenen Englisch begeisterte Ausrufe und Erklärungen hervor.

»So, jetzt habe ich als guter Hausherr meine Pflicht getan«, fuhr Herr Rochester fort. »Ich habe dafür gesorgt, däß meine Gäste sich unterhalten, und sollte nun wohl auch an mein eigenes Vergnügen denken dürfen. Fräulein Eyre, schieben Sie Ihren Stuhl noch ein bißchen näher; Sie sitzen zu weit zurück. Ich kann Sie nicht anschauen, ohne meine behagliche Lage in diesem Lehnstuhl aufzugeben, und das gedenke ich nicht zu tun.«

Ich tat, wie mir geheißen, obwohl ich lieber im Schatten geblieben wäre, aber Herr Rochester hatte eine so direkte Art, Befehle zu erteilen, daß man nicht anders konnte, als ihnen auf der Stelle zu gehorchen.

Wir saßen im Speisezimmer. Der für das Abendessen angezündete Leuchter füllte den Raum mit festlichem Lichterglanz; das große Kaminfeuer prasselte rot und hell; die purpurnen Vorhänge verhingen das stattliche Fenster und den noch stattlicheren Türbogen; alles war still — außer dem leisen Geschwätz Adèles (sie wagte nicht, die Stimme zu erheben) und dem Peitschen des Winterregens gegen die Fensterscheiben.

Herr Rochester in seinem damastbezogenen Sessel sah anders aus als gewöhnlich, nicht so streng — und viel weniger finster. Er lächelte, und seine Augen glänzten; ich weiß nicht, ob es die Wirkung des Weines war, aber ich vermutete es. Er war in der Stimmung, die man nach einem guten Mahl empfindet; gelöster, heiterer und milder als am Morgen. Er sah jedoch immer noch grimmig genug aus. Er saß zurückgelehnt in seinem Sessel, und das Licht der Flammen flackerte auf seinen wie in Granit gemeißelten Zügen und seinen großen dunklen Augen, die hie und da einen Glanz ausstrahlten, der vielleicht nicht gerade weich war, aber das Gefühl von Milde vermittelte.

Er hatte einige Minuten lang ins Feuer geschaut, und ich hatte ihn während dieser Zeit betrachtet, als er sich plötzlich umwandte und meinen Blick wahrnahm.

»Sie schauen mich prüfend an, Fräulein Eyre«, sagte er. »Finden Sie mich schön?«

Wenn ich es mir überlegt hätte, wäre meine Antwort vage und höflich ausgefallen, aber irgendwie rutschte es aus mir heraus, ehe ich mir dessen voll bewußt war: »Nein, Herr Rochester.«

»Ach! Sieh mal an! Es ist doch merkwürdig mit Ihnen«, sagte er. »Sie sehen aus wie ein kleines Nönnlein; sittsam, ruhig, ernst und einfältig sitzen Sie da, die Hände im Schoß und den Blick auf den Boden geheftet (wenn Sie mir nicht gerade, wie jetzt, ins Gesicht starren); und wenn man Ihnen eine Frage stellt oder eine Bemerkung macht, die eine Antwort erfordert, dann platzen Sie mit einer schlagfertigen Entgegnung heraus, die, wenn auch nicht gerade grob, so doch immerhin schroff ist. Was meinen Sie damit?«

»Bitte entschuldigen Sie mich. Ich war zu offen. Ich hätte sagen sollen, daß es nicht leicht ist, auf eine solche Frage aus dern Stegreif zu antworten, daß die Geschmäcker verschieden sind und daß Schönheit keine große Bedeutung hat oder dergleichen.«

»Nein, so hätten Sie nicht antworten sollen! Schönheit hat keine große Bedeutung! Was Sie nicht sagen! Sie tun, als wollten Sie die Beleidigung abschwächen und mich mit Milde besänftigen, und dabei versetzen Sie mir einen neuen Dolchstoß! Fahren Sie fort: Was beanstanden Sie noch alles an mir? Ich bitte Sie. Ich gleiche doch wohl an Gliedern und Gesicht jedem anderen Mann?«

»Herr Rochester, gestatten Sie mir, meine erste Antwort zurückzunehmen. Eine spitze Entgegnung war nicht beabsichtigt. Es war nur Unüberlegtheit.«

»So war es; das glaube ich Ihnen. Und nun sollen Sie dafür Rede stehen. Kritisieren Sie mich. Gefällt Ihnen meine Stirn nicht?«

Er strich sich das gewellte sandfarbige Haar aus der Stirn, die gewiß von einem eindrucksvollen Denkorgan zeugte, aber die gewinnende und milde Rundung wohlwollender Güte vermissen ließ.

»Nun, bin ich ein Dummkopf?«

»Durchaus nicht, Herr Rochester. Vielleicht würden Sie es mir aber übelnehmen, wenn ich Sie dagegen fragte, ob Sie ein Menschenfreund sind?«

»Schon wieder! Noch ein Dolchstoß aus angeblich mildtätiger Hand! Nur weil ich gesagt habe, daß ich die Gesellschaft von Kindern und alten Weibern — das sei leise gesagt — nicht mag. Nein, meine junge Dame, ich bin kein eigentlicher Menschenfreund, aber ich habe immerhin ein Gewissen.« Damit zeigte er auf die Schädelvorsprünge, wo diese Eigenschaft ihren Sitz haben soll und die glücklicherweise bei ihm stark ausgeprägt waren, wovon die Breite seines Oberschädels zeugte. »Außerdem hatte auch ich einst ein liebevolles Herz. Als ich so jung war wie Sie, war ich ein ziemlich empfindsamer Kerl; ein Helfer der Benachteiligten, der Armen und Hungernden, der Unglücklichen. Aber das Schicksal hat mich seither hart herumgeschüttelt, es hat mich mit seinen harten Händen geknetet, und nun habe ich es soweit gebracht, so hart und zäh wie ein Gummiball zu sein. An einigen wenigen Stellen jedoch bin ich noch durchlässig, und in der Mitte ist noch ein bißchen Gefühl. So ist es. Habe ich da noch ein wenig Hoffnung?«

»Hoffnung worauf, Herr Rochester?«

Er hat bestimmt zuviel Wein getrunken, dachte ich mir und wußte keine Antwort auf seine seltsame Frage. Wie konnte ich ihm sagen, ob es für ihn eine Hoffnung gab?

»Sie sehen ganz verwirrt aus, Fräulein Eyre; und obgleich Sie nicht viel hübscher sind, als ich schön bin, steht Ihnen die Verwirrung gut. Außerdem hat es noch den Vorteil für mich, daß Ihr prüfender Blick jetzt mehr mit den Teppichblumen als mit meinen Gesichtszügen beschäftigt ist. Seien Sie also ruhig weiter verwirrt, junge Dame. Ich fühle mich heute abend in geselliger und mitteilsamer Laune.«

Mit diesen Worten erhob er sich aus seinem Sessel, ging zum Kamin und lehnte sich mit seinem Arm auf den Marmorsims. In dieser Pose kam seine Figur ebenso stark zur Geltung wie sein Gesicht. Mit seiner ungewöhnlich breiten Brust, die in keinem rechten Verhältnis zu seinen Gliedmaßen stand, hätten ihn die meisten Leute wohl häßlich gefunden, und doch war so viel unbewußter Stolz in seiner Haltung, so viel Gelassenheit in seinen Bewegungen, so viel Gleichgültigkeit seinem eigenen Aussehen gegenüber, so viel Sicherheit und Selbstvertrauen auf seine eigentlichen und erworbenen Eigenschaften, daß man gar nicht mehr merkte, wie wenig anziehend seine äußere Erscheinung war, und daß man ihm irgendwie blind Vertrauen schenken wollte.

»Ich bin heute abend in geselliger und mitteilsamer Stimmung«, wiederholte er. »Deshalb habe ich Sie rufen lassen. Das Kaminfeuer und der Leuchter genügten mir nicht als Gesellschafter, und auch Pilot nicht, denn keiner von ihnen kann sprechen. Adèle ist schon ein bißchen besser, aber noch lange nicht ausreichend. Dasselbe gilt für Frau Fairfax. Sie hingegen wären durchaus geeignet, wenn Sie nur wollen. Schon am ersten Abend, als ich Sie herunterbat, haben Sie mich interessiert. Seitdem hatte ich Sie fast vergessen. Ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, aber heute abend möchte ich mich entspannen, alles Unangenehme von mir weisen und nur an das denken, was mich vergnügt. Und es würde mich jetzt vergnügen, Sie auszufragen — Sie besser kennenzulernen — also reden Sie.«

Anstatt zu reden, lächelte ich nur. Und nicht etwa gefällig und unterwürfig.

»Reden Sie«, wiederholte er.

»Worüber denn?«

»Worüber Sie wollen. Ich überlasse Ihnen ganz das Thema und die Art der Ausführung.«

Also saß ich da und sagte nichts. Wenn er meint, ich werde einfach drauflosreden, nur um etwas zu sagen, dann hat er sich die falsche Person ausgesucht, dachte ich mir.

»Sie sind stumm, Fräulein Eyre.«

Ich war immer noch stumm. Er beugte sich ein wenig vor und sah mir rasch in die Augen.

»Trotzig?« sagte er, »und verärgert? Ach! Das ist folgerichtig. Ich habe mein Ansinnen sehr unsinnig und fast anmaßend vorgebracht. Fräulein Eyre, ich bitte Sie um Verzeihung. Ich möchte es ein für allemal gesagt haben, daß ich Sie nicht wie eine Untergebene zu behandeln wünsche. Das heißt« — er verbesserte sich —, »ich erhebe nur Anspruch auf die Überlegenheit, die mir zwanzig Jahre Altersunterschied und hundert Jahre mehr Erfahrung verleihen. Das ist berechtigt, et j’y tiens, wie Adèle sagen würde; und aufgrund dieser Überlegenheit, und allein ihretwegen, bitte ich Sie, so gut zu sein und ein wenig mit mir zu plaudern und mich von meinen bitteren Gedanken abzulenken, die mich zerfressen wie ein rostiger Nagel.«

Er hatte eine Erklärung gegeben, die fast eine Entschuldigung war, und unter diesen Umständen wollte ich nicht länger ablehnend erscheinen. »Ich bin bereit, Sie zu unterhalten, falls ich es kann — gerne bereit. Aber worüber soll ich reden, wie kann ich wissen, was Sie interessiert? Fragen Sie mich, und ich werde mir Mühe geben zu antworten.«

»Also gut; sagen Sie mir zuerst, ob Sie mir das Recht zugestehen, ein wenig herrisch, schroff und manchmal anmaßend zu sein, und das aus den Gründen, die ich Ihnen eben klarmachte, nämlich weil ich alt genug bin, um Ihr Vater sein zu können, und weil ich mich durch viele Erfahrungen geschlagen, viele Menschen aus vielen Ländern kennengelernt habe, um die halbe Welt gereist bin, während Sie still und ruhig mit ein paar Leuten in einem Hause gesessen sind?«

»Ganz wie Sie wollen.«

»Das ist keine Antwort, oder vielmehr eine höchst aufreizende, weil sie so ausweichend ist. Antworten Sie klar und offen.«

»Ich glaube nicht, daß Sie das Recht haben, mir Befehle zu erteilen, nur weil Sie älter sind als ich und weil Sie mehr von der Welt gesehen haben. Ihr Anspruch auf Überlegenheit hängt allein von dem Nutzen ab, den Sie aus Zeit und Erfahrung gezogen haben.«

»Hm! Das war klar gesprochen. Aber ich will diese Antwort nicht zulassen, da ich aus diesen beiden Vorteilen keinen oder sogar eher schlechten Nutzen gezogen habe. Lassen wir also die Überlegenheit beiseite. Sind Sie trotzdem bereit, meine Befehle hie und da hinzunehmen, ohne sich an dem gebieterischen Ton zu stoßen? Können Sie das?«

Ich lächelte. Herr Rochester ist wirklich ein merkwürdiger Mensch, dachte ich mir. Er schein zu vergessen, daß er mir dreißig Pfund pro Jahr dafür bezahlt, damit ich seine Befehle entgegennehme.

»Das Lächeln ist sehr gut«, sagte er, sowie er die Veränderung in meinem Gesichtsausdruck bemerkte; »aber nun reden Sie auch.«

»Ich dachte mir, daß es doch nur wenigen Herren einfällt, sich zu fragen, ob ihre bezahlten Angestellten sich an ihren Befehlen stoßen könnten.«

»Bezahlte Angestellte! Was? Sind Sie etwa meine bezahlte Angestellte? Ach ja, ich hatte das Gehalt vergessen! Also gestatten Sie mir auf dieser geschäftlichen Basis, Sie ein wenig zu tyrannisieren?«

»Nein, Herr Rochester. Nicht auf dieser Basis. Aber weil Sie es vergessen hatten, und weil es Ihnen etwas ausmacht, ob ein Angestellter sich in seiner Abhängigkeit bei Ihnen wohl fühlt, bin ich von Herzen einverstanden.«

»Und werden Sie sich damit abfinden, auf viele konventionelle Phrasen und Höflichkeitsformeln zu verzichten, ohne es mir als Grobheit zu verübeln?«

»Ich bin sicher, daß ich nie Formlosigkeit mit Grobheit verwechseln werde. Erstere habe ich gern, der anderen würde sich kein freier Mensch beugen, auch nicht für ein Gehalt.«

»Unsinn! Die meisten frei geborenen Geschöpfe beugen sich allem und jedem für ein Gehalt. Sprechen Sie also lieber für sich selbst, und begeben Sie sich nicht in Allgemeinheiten, von denen Sie überhaupt nichts verstehen. Trotzdem beglückwünsche ich Sie zu Ihrer Antwort, obgleich sie zum Teil unpassend war; und auch für die Art, in der sie vorgebracht wurde. Sie haben offen und ehrlich gesprochen, und diese Art findet man nicht oft. Im Gegenteil; im allgemeinen wird Aufrichtigkeit mit Affektiertheit, Kälte oder grober und schwachsinniger Mißdeutung belohnt. Keine drei von dreitausend frisch gebackenen Erzieherinnen hätten geantwortet, wie Sie es eben getan haben. Aber ich will Ihnen nicht schmeicheln. Wenn Sie anders sind als die meisten, so ist das ja nicht Ihr Verdienst; das hat die Natur besorgt. Und überhaupt, ich finde, ich komme zu voreiligen Schlüssen, denn soweit ich Sie kenne, mögen Sie im Grunde auch nicht besser als die anderen sein. Sie haben vielleicht unerträgliche Fehler, die ihre wenigen Vorzüge ausgleichen.«

Und Sie vielleicht auch, dachte ich mir. Unsere Blicke kreuzten sich, und er schien meinen Gedanken erraten zu haben und antwortete, als hätte ich ihn ausgesprochen.

»Ja, ja. Sie haben recht«, sagte er. »Ich habe selber eine Menge Fehler. Das weiß ich, und glauben Sie mir: Ich wünsche sie durchaus nicht zu beschönigen. Ich habe weiß Gott keine Veranlassung, strenge Urteile zu fällen. Ich habe in meinem Leben Erfahrungen gemacht, Dinge getan und meiner Existenz gewisse Färbungen gegeben, die gewiß den Hohn und die Verachtung verdienen, mit denen man sie beurteilen würde. Mit einundzwanzig Jahren bin ich auf eine falsche Bahn geraten oder geschoben worden — wie die meisten Sünder gebe ich persönlichem Pech und widrigen Umständen die halbe Schuld an meinem Unglück —, und seitdem habe ich nie mehr den rechten Weg gefunden. Aber ich hätte mich auch ganz anders entwickeln können. Ich hätte so lauter und rein wie Sie sein können — wenn auch klüger. Ich beneide Sie um Ihren Seelenfrieden, Ihr reines Gewissen, Ihre unbefleckten Erinnerungen. Hören Sie, kleines Mädchen, Erinnerungen ohne Makel und Reue müssen doch ein kostbarer Schatz sein — eine nie versiegende Quelle reinen Wohlgefallens, nicht wahr?«

»Wie waren denn Ihre Erinnerungen, als Sie achtzehn Jahre alt waren?«

»Zugegeben: Sie waren klar und sauber; noch kein Schmutzwasser hatte sie in einen trüben Tümpel verwandelt. Mit achtzehn war ich genau wie Sie — ganz genauso rein. Von Natur aus war ich gewiß ein guter Mensch, Fräulein Eyre, sogar ein besserer Mensch; aber Sie sehen, daß ich es nicht bin. Vielleicht sehen Sie es auch nicht, denn ich lese es in Ihren Augen — seien Sie überaus vorsichtig mit Ihrem Blick, denn er verrät mir Ihre Gedanken —, glauben Sie mir. Ich bin kein Bösewicht. Das sollen Sie nicht denken. Trauen Sie mir keine Schlechtigkeit zu. Äußere Umstände, und nicht meine wahre Natur, haben mich zu einem ganz gewöhnlichen alltäglichen Sünder gemacht, der sich in all den armseligen Ausschweifungen gefällt, mit denen die Reichen und Minderwertigen ihr Leben vertun. Jetzt fragen Sie sich, warum ich Ihnen all das erzähle, nicht wahr? Sie werden noch oft im Laufe Ihres Lebens, ohne es zu wollen, von Menschen ins Vertrauen gezogen werden, denn wenn Sie auch — wie ich es festgestellt habe — nicht gerade mitteilsam sind, so können Sie gut zuhören, wenn andere von sich selbst sprechen. Man spürt bei Ihnen, daß Sie nicht entrüstet oder mit boshaftem Spott, sondern mit innerer Anteilnahme auf die Geständnisse anderer reagieren, daß Sie tröstend und ermutigend wirken, weil Sie unaufdringlich sind.«

»Wie können Sie das wissen? Wie können Sie das erraten?«

»Ich weiß es eben. Deshalb rede ich so frei, als schriebe ich meine Gedanken in ein Tagebuch. Sie denken gewiß, ich hätte stärker sein sollen als die äußeren Umstände. Da haben Sie recht — ganz recht. Aber ich war es halt nicht. Als mir Unrecht geschah, war ich nicht weise genug, mich darüber hinwegzusetzen. Ich verzweifelte und versank. Wenn mich heute irgendein schmieriger Lüstling mit seinen erbärmlichen Schwelgereien anekelt, kann ich mir nicht einmal schmeicheln, besser zu sein als er; dann muß ich mir eingestehen, daß ich seinesgleichen bin. Ach, wäre ich standhaft geblieben! Weiß Gott, ich hätte es mir gewünscht! Fürchten Sie die Reue, Fräulein Eyre, falls Sie jemals in Versuchung kommen sollten! Reue ist das Gift des Lebens.«

»Und Buße ist das Heilmittel — so heißt es doch?«

»Sie ist kein Heilmittel. Erneuerung mag es sein. Und ich könnte mich erneuern. Dazu reicht mir noch die Kraft — aber wozu? Warum sollte ich daran denken, ich geschlagener und verdammter Mensch? Das wahre Glück ist mir unwiderruflich versagt, aber ich habe ja noch das Recht auf mein Vergnügen, und das werde ich mir verschaffen — um jeden Preis.«

»Dann werden Sie nur noch tiefer sinken.«

»Möglich. Vielleicht aber auch nicht, wenn ich frisches, köstliches Vergnügen finde. Es mag so frisch und köstlich sein wie der wilde Honig, den die Biene auf der Heide sammelt.«

»Es wird einen Stachel haben — und bitter schmecken.«

»Wie wollen Sie das wissen? Sie haben es ja noch nie versucht. Wie ernsthaft und feierlich Sie dreinschauen! Und dabei sind Sie in diesen Dingen so unerfahren wie diese Kamee auf dem Kaminsims. Sie haben kein Recht, mir Predigten zu halten, Sie Grünschnabel; Sie wissen ja noch gar nicht, was das Leben ist, und haben keine Ahnung von seinen Geheimnissen.«

»Ich erinnere Sie nur an Ihre eigenen Worte, Herr Rochester. Sie sagten, daß Ausschweifungen Reue bringen, und Sie bezeichneten Reue als das Gift des Lebens.«

»Wer redet denn hier von Ausschweifungen? Ich glaube kaum, daß der Gedanke, der mir eben durch den Kopf ging, etwas mit Ausschweifungen zu tun hatte. Es war eher eine Eingebung als eine Versuchung. Es war sehr belebend, sehr beruhigend — das weiß ich. Da ist es wieder! Er ist kein Teufel, gewiß nicht, denn er trägt das Gewand eines Engels des Lichts. Einem solchen Gast muß ich Einlaß gewähren, wenn er in meinem Herzen wohnen will.«

»Schon wieder! Woher wollen Sie das wissen? Auf Grund welcher Eingebung wollen Sie behaupten, zwischen dem gefallenen Erzengel der Hölle und dem Boten des himmlischen Throns, zwischen dem Führer und dem Verführer unterscheiden zu können?«

»Ich urteile nach Ihrer Miene, Herr Rochester. Als Sie sagten, die Eingebung sei wiedergekommen, sahen Sie verstört aus. Ich bin sicher, sie wird Sie nur elender machen, wenn Sie ihr nachgeben.«

»Ganz und gar nicht — sie bringt mir die lieblichste Botschaft meines Lebens. Im übrigen, seien Sie unbesorgt. Sie sind ja nicht die Hüterin meines Gewissens. Hier — tritt ein, anmutiger Wanderer!«

Er sprach diese Worte, als rede er zu einer nur ihm sichtbaren Erscheinung, breitete die Arme aus, als drücke er die unsichtbare Gestalt an sein Herz.

»Nun«, fuhr er an mich gewandt fort. »Ich habe den Pilger aufgenommen — er ist eine verkleidete Gottheit, dessen bin ich sicher. Schon spüre ich die wohltuende Wirkung. Erst war mein Herz ein Leichenhaus, und jetzt ist es ein Heiligenschrein.«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich verstehe Sie überhaupt nicht mehr. Ich kann dieses Gespräch nicht weiterführen, da mir die Grundlage fehlt. Ich weiß nur eines: Sie sagten, Sie seien nicht so gut, wie Sie es wünschten, und Sie bedauerten Ihre Unzulänglichkeiten. Auch verstand ich, daß Sie sagten, eine befleckte Erinnerung sei ein ewiger Fluch. Mir scheint jedoch, daß Sie mit der Zeit Ihre Selbstachtung wiederfinden könnten, wenn Sie sich ehrlich bemühen. Wenn Sie heute den Entschluß fassen, Ihre Taten und Gedanken zu verbessern, dann werden Sie in einigen Jahren so viele neue und reine Erinnerungen angesammelt haben, daß Sie mit Freude darauf zurückblicken können.«

»Gut gedacht, richtig gesagt, Fräulein Eyre; und in diesem Augenblick schon pflastere ich eifrig meinen Weg zur Hölle.«

»Wie bitte?«

»Mit guten Vorsätzen, die ebenso dauerhaft wie Pflastersteine sind. Gewiß, meine Ziele und Bestrebungen werden von nun ab andere sein als zuvor.«

»Auch besser?«

»Auch besser — sie werden sich von den vorigen unterscheiden wie reines Erz von fauler Schlacke. Sie scheinen an mir zu zweifeln. Ich zweier nicht mehr. Ich kenne mein Ziel und meine Beweggründe, und ich erlasse hiermit ein Gesetz — so unwiderruflich wie die Gebote der Meder und Perser —, daß Ziel und Beweggründe richtig sind.«

»Das können sie nicht sein, wenn sie extra neuer gesetzlicher Sanktionierung bedürfen.«

»Sie sind es aber, Fräulein Eyre, obgleich sie solcher Maßnahme absolut bedürfen: unvorhergesehene Umstände erfordern nun einmal neue Gesetze.«

»Das klingt mir wie ein gefährlicher Wahlspruch, denn der Mißbrauch läßt sich leicht voraussehen.«

»Ach, Sie salbungsvolle Weisheit! Aber so wird es sein. Ich schwöre bei all meinen Hausgöttern, daß kein Mißbrauch stattfinden wird.«

»Sie sind nur ein Mensch. Sie sind nicht unfehlbar.«

»Das bin ich — und Sie auch. Was soll’s?«

»Der fehlbare Mensch darf sich die Macht nicht anmaßen, die allein der göttlichen Vollkommenheit zusteht.«

»Welche Macht?«

»Die Macht, von jeder ungewöhnlichen und unbekräftigten Handlungsweise zu sagen, ›sie ist recht‹.«

»Sie ist recht — genau das. Sie haben es gesagt.«

»Hoffentlich ist sie recht«, sagte ich und erhob mich. Ich fand es nutzlos, ein Gespräch fortzusetzen, dessen Sinn mir völlig dunkel war. Außerdem empfand ich, daß der Charakter meines Gesprächspartners jenseits meines Verständnisvermögens oder zumindest jenseits seiner gegenwärtigen Reichweite lag; und ich verspürte 1enes vage Gefühl der Unsicherheit, das sich bei Ungewißheit und Nichtmitkommenkönnen einstellt.

»Wo gehen Sie hin?«

»Ich muß Adèle ins Bett bringen. Sie sollte schon schlafen.«

»Sie haben Angst vor mir, weil ich wie eine Sphinx rede.«

»Ihre Rede ist rätselhaft, Herr Rochester; aber wenn ich auch verwirrt bin, so habe ich gewiß keine Angst.«

»Sie haben aber Angst — Ihre Eigenliebe fürchtet sich vor Entgleisungen.«

»Da habe ich allerdings Befürchtungen. Ich habe nicht die Absicht, Unsinn zu schwatzen.«

»Und wenn Sie es täten, würden Sie dabei so ernsthaft und ruhig sein, daß ich es gar nicht merkte. Lachen Sie eigentlich nie, Fräulein Eyre? Bemühen Sie sich nicht um eine Antwort — man sieht Sie selten lachen, und dabei können Sie sehr fröhlich lachen. Glauben Sie mir, Sie sind von Natur aus genausowenig streng wie ich lasterhaft. Irgendwie hängt Ihnen noch der Zwang von Lowood an: keine Miene verziehen, gedämpfte Stimme, gemessene Bewegungen und Ihre Furcht in Gegenwart eines Mannes und Bruders — oder Vaters — oder Herren — oder was Sie wollen —, Ihre Furcht, fröhlich zu lächeln, frei zu reden oder sich zu rasch zu bewegen. Aber mit der Zeit werden Sie sich daran gewöhnen, mir gegenüber natürlich zu sein, genauso, wie ich es mir nicht angewöhnen kann, mit Ihnen förmlich zu sein. Dann werden Sie auch in Ihrem Aussehen und Ihren Bewegungen lebhafter und abwechslungsreicher sein als bisher. Manchmal kommen Sie mir wie ein seltsamer Vogel im Käfig vor, dem man trotz seiner Unbeweglichkeit die Lebhaftigkeit und Unruhe anmerkt; ließe man ihn frei, er würde sich bis in die Wolken erheben. Wollen Sie noch immer gehen?«

»Es ist bereits neun Uhr, Herr Rochester.«

»Das macht doch nichts — warten Sie noch einen Augenblick. Adèle ist noch nicht bereit, zu Bett zu gehen. Ich habe sie beobachtet, während ich mit Ihnen sprach, und ich habe meine guten Gründe, sie als ein interessantes Studienobjekt zu betrachten — die Gründe werde ich Ihnen eines Tages erklären—. Vor etwa zehn Minuten hat sie in ihrer Schachtel ein rosa Kleidchen entdeckt; sie hat es schon begeistert und begierig prüfend angeschaut; sie hat die Eitelkeit im Blut, im Kopf und bis in das Mark ihrer Knochen. Deshalb rief sie bereits: ›Il faut que je l’essaie‹ und ›à l’instant méme‹, und dann lief sie aus dem Zimmer. Jetzt ist sie bei Sophie und kleidet sich um; in ein paar Minuten wird sie zurück sein, und dann werden wir eine Miniaturausgabe von Céline Varens zu sehen bekommen, wie sie damals — aber lassen wir das. Jedenfalls werden jetzt gleich meine zartesten Gefühle einen Schock erhalten, das ahne ich. Bleiben Sie bitte, und schauen Sie, ob ich recht habe.« Kurz darauf hörten wir Adèle durch den Gang trippeln. Sie trat ein und sah genauso aus, wie Herr Rochester vorausgesagt hatte. Sie trug ein kurzes rosa Atlaskleid mit weitem Röckchen, einen Kranz aus Rosenknospen um die Stirn, die Beinchen in Seidenstrümpfen und die Füßchen in weißen Atlassandalen.

»Est-ce que ma robe va bien?« rief sie und verbeugte sich. »Et mes souliers? et mes bas? Tenez, je crois que je vais danser!«

Sie hielt das Röckchen gespreizt, hüpfte durch das Zimmer, drehte sich vor Herrn Rochester auf den Zehenspitzen herum, ließ sich auf das Knie fallen und rief:

»Monsieur, je vous remercie mille fois de votre bonté«; dann erhob sie sich und fügte hinzu: »C’est comme cela que maman faisait, n’est-ce pas, Monsieur?«

»Ge — nau — so!« war die Antwort. »Und comme cela hat sie mir mein englisches Geld aus meiner britischen Brieftasche gelockt. Ja, Fräulein Eyre, auch ich bin einmal ein naiver grüner Junge gewesen — ein grasgrünes Küken; und mein Gesicht war damals nicht weniger frisch und rein wie das Ihrige. Aber mein Frühling ist vorbei, und er ließ mir nur noch dieses kleine französische Pflänzchen zurück, das ich manchmal lieber los wäre. Jetzt, da ich weiß, daß die Wurzel sich nur von Goldstaub nährte, habe ich die Blüte nur noch halb so gern, besonders, wenn sie so künstlich wirkt wie jetzt. Ich halte es mit dem römisch-katholischen Prinzip und bezahle für meine Sünden mit einer guten Tat. Eines Tages werde ich Ihnen das erklären. Gute Nacht.«

15

Herr Rochester erklärte es mir später. Als ich eines Nachmittags mit Adèle spazierenging, begegnete er uns zufällig; und während sie mit Pilot Federball spielte, bat er mich, ihn auf eine Allee zu begleiten, wo wir das Kind im Auge behielten.

Dann erzählte er, sie sei die Tochter einer französischen Tänzerin, Céline Varens, zu der er eine große Leidenschaft empfunden hatte, die sie womöglich mit noch größerer Hingabe zu erwidern schien. Er glaubte, von ihr angebetet zu werden, trotz seiner Häßlichkeit, und er hatte sich eingebildet, sie zöge seine »Athletengestalt« der Eleganz des Apoll von Belvedere vor.

»Und, Fräulein Eyre, ich fühlte mich von den Liebesbezeugungen dieser gallischen Sylphide zu ihrem britischen Unhold derart geschmeichelt, daß ich sie in einem Privathaus einrichtete, sie mit kompletter Dienerschaft, Equipage, Kleider, Diamanten, Spitzen etc. ausstattete, kurz, daß ich begann, mich in althergebrachter Art wie eben ein verliebter Narr für sie zu ruinieren. Ich war offenbar nicht einmal originell genug, mir einen neuen aparten Weg in Schande und Verderben auszudenken, sondern ich trabte brav und genau den abgetretenen Pfad aller Tölpel nach. Mich traf dann auch das wohlverdiente Geschick aller Liebesnarren. Eines Abends besuchte ich sie unerwartet; sie war ausgegangen. Da es ein warmer Abend war und ich keine Lust hatte, in den Straßen von Paris zu bummeln, setzte ich mich in ihr Boudoir und atmete zufrieden die Luft, die sie noch vor kurzem mit ihrer Anwesenheit geheiligt hatte. Nein — das ist übertrieben. Eine heiligende Tugend hatte ich nie an ihr wahrgenommen; es war eher das Parfüm, das sie hinterlassen hatte, eine Mischung von Moschus und Amber, also nichts Heiliges. Bald empfand ich dann auch die Ausdünstungen der Treibhausblumen und der reichlich versprühten Essenzen als erstickend und beschloß, die Fenstertür zu öffnen und auf den Balkon hinauszutreten. Der Mond schien, die Gaslaternen flimmerten, und es war still und ruhig. Es standen ein paar Stühle auf dem Balkon, ich setzte mich und zündete mir eine Zigarre an — das werde ich jetzt auch tun, entschuldigen Sie.«

Er hielt inne, nahm eine Havanna aus der Tasche, zündete sie an, tat ein paar tiefe Züge, blies den aromatischen Tabakrauch in die frostige Winterluft und fuhr fort:

»In jener Zeit aß ich gern Süßigkeiten, Fräulein Eyre, und ich knusperte abwechselnd Schokoladekonfekt und rauchte, schaute auf die Kutschen und Equipagen, die die vornehmen Straßen entlang zum naheliegenden Opernhaus fuhren, als ich in dem eleganten, mit zwei herrlichen englischen Pferden bespannten Wagen, der vor dem Haus hielt, die ›Voiture‹ erkannte, die ich Céline geschenkt hatte. Sie war zurückgekehrt, und natürlich hüpfte mir das Herz in Ungeduld, während ich mich über das Geländer beugte. Sie stieg aus, meine geliebte Flamme — das ist nämlich das Wort, das eine angebetete Operndiva bezeichnet. Sie war in einen Mantel gehüllt, was übrigens an einem solchen warmen Juniabend ganz unangebracht war, ich erkannte sie sofort an ihren kleinen trippelnden Füßchen, die unter ihrem Rock hervorschauten, als sie dem Wagen entstieg; und ich wollte ihr gerade ›mon ange‹ zuflüstern — aber natürlich laut genug, damit es die liebenden Ohren hören konnten —, doch da folgte ihr eine andere Gestalt aus dem Wagen. Auch sie war in einen Mantel gehüllt, aber sie trug Sporenstiefel und einen Hut und näherte sich der Eingangstür.

Sie haben noch nie Eifersucht empfunden, nicht wahr, Fräulein Eyre? Natürlich nicht; da brauche ich Sie gar nicht erst zu fragen, denn Sie haben ja noch nie geliebt. Diese beiden Gefühle sind Ihnen noch vorbehalten; Ihre Seele liegt noch im Schlaf, und der Schock, der sie erwecken wird, steht Ihnen noch bevor. Sie glauben, das Leben gehe im selben ruhigen Fluß weiter, in dem Ihre Jugend verlaufen ist. Sie treiben dahin, mit geschlossenen Augen und Ohren, Sie sehen nicht die glitzernden Felsen im Flußbett und hören nicht das Brausen der Gischt im Abgrund. Aber ich sage Ihnen — und prägen Sie sich nur meine Worte ein —, eines Tages werden auch Sie in die Strömung geraten, wo alles die Klippen hinabstürzt, wo die Fluten des Lebens in Wirbeln und Brechern schäumend gegen die Felsen prallen; und dann werden Sie entweder zermalmt und in die Tiefe gerissen oder von einer starken Meisterwelle emporgehoben und in ruhiges Wasser getragen werden — so wie ich jetzt.

Ich liebe diesen Tag; ich liebe diesen stahlgrauen Himmel; ich liebe die Strenge und Stille der frosterstarrten Welt. Ich liebe Thornfield, seine Zeitlosigkeit, seine Zurückgezogenheit, seine alten Krähennester und Dornenbüsche, seine grauen Mauern, die dunklen Fensterscheiben, in denen sich das Grau des Himmels spiegelt; und doch, wie lange habe ich es verabscheut und es wie die Pest gemieden? Wie verabscheue ich noch jetzt —.«

Er knirschte mit; den Zähnen und schwieg. Er blieb stehen und stampfte mit dem Fuß auf den harten Boden. Ein verhaßter Gedanke mußte ihn plötzlich in seinen Bann geschlagen haben und ihn so festhalten, daß er keinen Schritt weitergehen konnte.

Wir waren die Allee hinaufgegangen, als er so stehenblieb. Das Haus lag vor uns. Er hob den Blick auf seine Zinnen, und er hatte dabei einen Ausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte. Schmerz, Scham und Zorn — Ungeduld, Ekel, Abscheu — das alles spiegelte sich in den großen Augen unter den schwarzen buschigen Brauen. Ein wilder Kampf schien sich in ihm abzuspielen; aber ein neues Gefühl stieg auf und siegte. Es war etwas Hartes und fast Zynisches, etwas Selbstbewußtes und Entschlossenes; es bezähmte seine Leidenschaft und verlieh ihm wieder die Gewalt über sich selbst. Er fuhr fort:

»Als ich jetzt gerade schwieg, Fräulein Eyre, habe ich eine Frage mit meinem Schicksal bereinigt. Dort stand es vor mir, am Stamm dieser Buche — es sah aus wie eine jener Hexen, die Macbeth in der Heide erschienen —, und es fragte: ›Liebst du Thornfield?‹ und erhob den Finger; dann schrieb es einen Spruch in den Wind, der sich in entsetzlichen Hieroglyphen über die ganze Mauer abzeichnete: ›Liebe es, wenn du es kannst! Liebe es, wenn du es wagst!‹

›Ich werde es lieben‹, antwortete ich. ›Ich werde es wagen‹, und — ich werde mein Wort halten: ich werde jedes Hindernis zu meinem Glück und zu meiner Besserung niederbrechen — ja, zu meiner Besserung, denn ich will ein besserer Mensch werden, als ich es war, als ich es bin. So wie Hiobs Leviathan den Speer, den Pfeil und das Panzerhemd brach, so werde ich die Schranken, die andere als Stahl und Eisen betrachten, zerschmettern, als seien sie Stroh und faules Holz.«

Adèle kam mit ihrem Federball auf uns zugelaufen.

»Fort!« schrie er sie hart an. »Bleib mir aus dem Weg, Kind, oder geh zu Sophie!« Wir gingen schweigend weiter, und ich wagte den Versuch, ihn auf seine Erzählung zurückzubringen, von der er so plötzlich abgewichen war. »Verließen Sie den Balkon, als Céline Varens ins Haus trat?« fragte ich.

Fast erwartete ich einen Verweis für meine unangebrachte Frage; aber das Gegenteil trat ein. Er erwachte aus seinen bösen Träumereien, blickte mich an, und die finsteren Schatten verflüchtigten sich aus seinem Gesicht. »Ach, ich hatte Céline vergessen! Nun, um es kurz zu fassen: Als ich meine Betörerin in Begleitung ihres Kavaliers hereinkommen sah, war es mir, als vernähme ich ein Zischen, und die grüne Schlange der Eifersucht glitt sich windend vom mondbeschienenen Balkon, kroch in meine Weste und hatte sich in wenigen Augenblicken bis in das Innere meines Herzens hineingefressen. Wie seltsam!« rief er und kam wieder vom Thema ab: »Wie seltsam, daß ich gerade Sie ins Vertrauen ziehe, meine junge Dame; überaus seltsam, daß Sie mir so still zuhören, als sei es ganz natürlich für einen Mann wie mich, einem einfachen, unerfahrenen Mädchen wie Ihnen von meinen Abenteuern mit einer Operntänzerin zu erzählen! Aber eben Ihre stille Unerfahrenheit erklärt es, wie ich es Ihnen schon einmal sagte; Ihr Ernst, Ihre rücksichtsvolle Aufmerksamkeit sind dazu geschaffen, Geheimnisse zu bewahren. Außerdem weiß ich, welchem Wesen ich mich hier anvertraue; ich weiß, daß es sich nicht vergiften läßt; es ist ein Wesen besonderer Art, ein einzigartiges Wesen. Gott sei Dank beabsichtige ich nicht, ihm weh zu tun, und wenn ich es täte, gelänge es mir nicht. Je mehr Sie und ich miteinander reden, desto besser; denn ich kann Sie nicht verderben, aber Sie können mich erfrischen.« Nach dieser Abschweifung fuhr er fort:

»Ich blieb auf dem Balkon. Sie werden gewiß in das Boudoir kommen, dachte ich mir, ich werde ihnen eine Falle stellen. Ich langte durch das offene Fenster nach innen, zog den Vorhang zu und ließ nur einen Spalt offen, um beobachten zu können; dann schloß ich das Flügelfenster, aber nicht ganz, so daß ich ihr Liebesgeflüster hören konnte. Ich kehrte auf meinen Stuhl zurück, und ich hatte gerade Platz genommen, als das Paar eintrat. Ich blickte durch den Spalt. Célines Kammerzofe hatte gerade eine Lampe auf dem Tisch angezündet und war gegangen. Jetzt sah ich die beiden deutlich vor mir. Sie zogen ihre Mäntel aus, und da stand die Varens in ihrem Glanz von Seide und Juwelen — meine Geschenke natürlich —, und da war ihr Begleiter in Offiziersuniform. Ich kannte ihn als einen jungen Schürzenjäger — er war ein schwachköpfiger, alberner und lasterhafter Vicomte, dem ich schon in Gesellschaft begegnet war und den ich viel zu sehr verachtete, um ihn hassen zu können. Sowie ich ihn erkannte, erstarb der Biß der Schlange Eifersucht in meiner Brust, denn gleichzeitig verlosch die Flamme meiner Liebe zu Céline unter einem Dämpfer. Eine Frau, die mich mit einem solchen Rivalen betrog, war meines Werbens nicht wert. Sie verdiente nur meinen Zorn, allerdings weniger als ich selbst, denn ich war auf sie hereingefallen.

Sie begannen zu reden. Ihre Unterhaltung machte es mir nur noch leichter. Sie war frivol, dirnenhaft, herzlos und dumm; sie war eher geeignet, den Zuhörer zu ermüden, als ihn in Wut zu bringen. Meine Visitenkarte lag auf dem Tisch. Sie wurde betrachtet und brachte meinen Namen ins Gespräch. Keiner von beiden hatte genug Schärfe oder Witz, mich wirklich zu verletzen; aber sie beschimpften mich so Wüst, wie es ihnen ihre Kleinlichkeit erlaubte. Besonders Céline, die sich ausgiebig über meine körperlichen Nachteile ausließ — sie nannte sie Mißgestaltungen. Mir gegenüber war sie immer in heller Begeisterung über das, was sie meine ›männliche Schönheit‹ nannte, ausgebrochen, worin sie sich völlig von Ihnen unterschied, denn Sie sagten mir ja bei unserer zweiten Begegnung klar ins Gesicht, daß Sie mich nicht gutaussehend fänden. Dieser Gegensatz hat mir zu denken gegeben, und …«

Adèle kam wieder angerannt.

»Monsieur, John hat mir eben gesagt, Ihr Verwalter sei gekommen und wünsche Sie zu sprechen.«

»Ach! In diesem Falle muß ich mich kurz fassen. Ich öffnete die Fenstertür, trat ein, gab Céline die Freiheit von meinem Schutz, kündigte ihr das Haus, gab ihr genügend Geld für die unmittelbaren Bedürfnisse, überhörte ihr hysterisches Geschrei, ihre Klagen, Bitten, Liebesbezeugungen und Weinkrämpfe; und den Vicomte forderte ich zu einem Duell irn Bois de Boulogne. Am nächsten Morgen hatte ich das Vergnügen, mich mit ihm zu messen, hinterließ eine Kugel in einem seiner schlaffen, kraftlosen Hühnerarme und glaubte schon, mit dieser Gesellschaft endgültig abgerechnet zu haben. Aber leider hatte mir die Varens sechs Monate zuvor dieses Mädchen Adèle anvertraut, das — wie sie behauptete — meine Tochter sei; und vielleicht ist sie es auch, obgleich ich in ihrem ganzen Wesen keine Spur einer solch rauhen Vaterschaft zu entdecken vermag. Pilot ist mir ähnlicher als sie. Einige Jahre, nachdem ich mit der Mutter gebrochen hatte, ließ sie das Kind im Stich und floh mit irgendeinem Musiker oder Sänger nach Italien. Ich habe Adèle nie als mein eigenes Kind anerkannt und werde es auch nie tun, denn ich bin nicht ihr Vater. Aber als ich hörte, daß sie verlassen und mittellos war, holte ich das arme Ding aus dem Schmutz und Unrat von Paris und verpflanzte es hierher, damit es auf dem sauberen und gesunden Boden eines englischen Gartens aufwächst. Frau Fairfax fand Sie, um sie zu unterrichten; aber jetzt wissen Sie, daß sie eigentlich der Abkömmling einer französischen Tänzerin ist, und vielleicht werden Sie jetzt anderer Meinung über Ihre Stellung und Ihre Schutzbefohlene sein. Eines; Tages werden Sie zu mir kommen und mir erzählen, Sie hätten eine andere Stellung gefunden — und Sie werden mich bitten, mich nach einer neuen Erzieherin umzusehen —, nicht wahr?«

»Nein. Adèle ist weder für die Fehler ihrer Mutter noch für Ihre verantwortlich. Ich habe Zuneigung zu ihr gefaßt; und jetzt, da ich weiß, daß sie sozusagen elternlos ist — von ihrer Mutter verlassen und von Ihnen verleugnet —, werde ich fester zu ihr halten als zuvor. Wie könnte ich auch das verwöhnte Kind einer wohlhabenden Familie, das seine Erzieherin nur als lästige Spielverderberin haßt, einer einsamen, kleinen Waise vorziehen, die mich als ihre Freundin braucht?«

»Oh, wenn Sie die Dinge in diesem Licht sehen. Nun gut, ich muß jetzt ins Haus zurück, und Sie übrigens auch. Es dunkelt schon.«

Ich blieb aber noch eine Weile mit Adèle und Pilot draußen. Wir rannten um die Wette, spielten Rakett und Federball. Als wir hereinkamen und ich ihr Mütze und Mantel ausgezogen hatte, nahm ich sie auf den Schoß und behielt sie eine Stunde bei mir. Sie durfte nach Herzenslust schwatzen, und ich tadelte sie auch nicht, als sie sich all die kleinen Freiheiten und Mätzchen herausnahm, zu denen sie neigte, wenn man ihr Aufmerksamkeit schenkte, und die einen eher oberflächlichen Charakter verrieten, den sie wahrscheinlich von der Mutter geerbt hatte und der dem englischen Wesen so gar nicht entsprach. Aber sie hatte auch ihre guten Eigenschaften, und ich war bereit, alles Gute an ihr in höchstem Maße zu schätzen. Ich suchte in ihrem Benehmen und Aussehen eine Ähnlichkeit mit Herrn Rochester zu entdecken, fand aber nichts. Keiner ihrer Gesichtszüge, keine ihrer Gesten, kein Ausdruck wiesen auf irgendeine Verwandtschaft hin. Wie schade! Hätte sie ihm nur ein klein wenig geglichen, so wäre er ihr besser gesonnen gewesen.

Erst nachdem ich mich zur Nacht in mein Zimmer zurückgezogen hatte, dachte ich lange über die Geschichte nach, die mir Herr Rochester erzählt hatte. Wie er es selber zugab, war an den Ereignissen nichts Außergewöhnliches. Die Leidenschaft eines reichen Engländers für eine französische Tänzerin, ihre Treulosigkeit und der Bruch, das waren Dinge, die wohl in der Gesellschaft alle Tage passierten. Entschieden seltsamer jedoch war jene aufbrausende Erregung, als er gerade auf seine jetzige Zufriedenheit und die wiedergefundene Freude an dem alten Haus und seiner Umgebung zu sprechen kam.

Ich fragte mich lange nach der Bedeutung dieses Zwischenfalls, aber ich fand keine Erklärung, und meine Gedanken schweiften ab. Wie war seine Haltung mir gegenüber zu verstehen? Das Vertrauen, das er mir schenkte, galt wohl meiner Verschwiegenheit. Ich war ihm dafür dankbar und nahm an, daß es so sei. Seit einigen Wochen behandelte er mich freundlicher als sonst. Ich schien ihm nicht mehr im Weg zu sein. Seine Anfälle frostiger Herablassung hatten aufgehört; traf er mich zufällig, so schien es ihm angenehm zu sein. Immer hatte er ein freundliches Wort und manchmal sogar ein Lächeln für mich. Wenn er mich offiziell in den Salon einlud, ehrte er mich durch einen so herzlichen Empfang, daß ich das Gefühl gewann, er fände wirklich Vergnügen an unseren abendlichen Plaudereien, die ihm Entspannung und mir Nutzen brachten.

Ich sprach eigentlich verhältnismäßig wenig, hörte ihm aber mit Begeisterung zu. Er war von Natur aus mitteilsam, liebte es, einem weltfremden Geist neue Horizonte zu öffnen (ich meine hier nicht die Schlechtigkeiten und die Verworfenheit, die das Leben bietet, sondern die Vielfältigkeit und die stets neuen Einsichten, die die Erfahrung beschert); und ich war entzückt, mich von seinen neuen Ideen anregen zu lassen, mir auszumalen, was er mir schilderte, ihm in Gedanken in unbekannte Welten zu folgen; und nie erschreckte oder verängstigte mich dabei eine verderbliche Anspielung.

Seine Ungezwungenheit befreite mich von meiner steifen Zurückhaltung; die freundliche Offenheit, die herzliche Korrektheit, mit der er mich behandelte, zog mich zu ihm hin. Manchmal hatte ich das Gefühl, es mit einem Verwandten und nicht mit meinem Dienstherrn zu tun zu haben. Gewiß, zuweilen konnte er sehr befehlerisch sein, aber das machte mir nichts aus. Es war nun einmal seine Art. Ich war so glücklich, so dankbar, mein Leben mit neuen Interessen bereichert zu sehen, daß ich mich nicht mehr nach Angehörigen sehnte. Mein mageres Lebensbild schien sich zu erweitern, mein Wissensdurst wurde gestillt, und auch gesundheitlich ging es mir besser; ich nahm an Gewicht und Kräften zu.

War Herr Rochester nun häßlich in meinen Augen? Nein, lieber Leser, ich war ihm so dankbar und verband soviel angenehme Gedanken mit ihm, daß mir sein Anblick größte Freude bereitete; seine Gegenwart strahlte in jedem Raum mehr Wärme als das hellste Kaminfeuer aus. Und doch vergaß ich auch seine Fehler nicht, die er oft genug zum Vorschein brachte. Er war hochfahrend, spöttisch und schroff gegen jede Art von Unterlegenheit; im geheimen wußte ich, daß seiner großen Güte zu mir viel ungerechte Härte anderen gegenüber entgegenstand. Auch war er launisch und unberechenbar. Oft fand ich ihn, wenn er mich zum Vorlesen bestellt hatte, allein in seiner Bibliothek mit verschränkten Armen sitzend und finster-böse vor sich hin starrend. Aber ich nahm an, daß seine Launenhaftigkeit, seine Schroffheit und seine früheren schlechten moralischen Eigenschaften (ich sage »frühere«, denn er schien sie inzwischen abgelegt zu haben) von einem schweren Schicksalsschlag herrührten. Der Natur nach war er ein Mann mit besseren Neigungen, höheren Prinzipien und reinerem Geschmack als der, den die Umstände, seine Erziehung oder sein Schicksal aus ihm gemacht hatten. Ich fand, daß sehr viel Gutes in ihm war, wenn auch seine guten Eigenschaften vorerst noch etwas unordentlich und verworren durcheinanderhingen. Ich muß gestehen, daß sein Kummer mich bedrückte, welcher Art er auch sein mochte, und daß ich viel gegeben hätte, ihn erleichtern zu können.

Ich hatte meine Kerze gelöscht und lag im Bett; dennoch fand ich keinen Schlaf, weil ich immer wieder an seinen Blick denken mußte, als er auf der Allee stehenblieb und erklärte, sein Schicksal sei vor ihm erschienen und habe ihn herausgefordert, die Erfüllung seines Glücks in Thornfield zu wagen.

Warum denn nicht? fragte ich mich. Was sollte ihn von seinem Besitz fernhalten? Wird er Thornfield schon wieder verlassen? Frau Fairfax sagte, er bleibe selten länger als vierzehn Tage, und jetzt war er schon seit acht Wochen hier. Wenn er weggeht, wird die Veränderung schmerzlich sein. Ach, sollte er den Frühling, Sommer und Herbst hindurch fortbleiben, wie freudlos wären dann der Sonnenschein und die schönen Tage!

Ich weiß kaum noch, ob ich bei diesen Gedanken einschlief. Jedenfalls war ich plötzlich hellwach, als ich ein eigenartiges, unheimliches fernes Flüstern hörte. Es schien gerade von über mir zu kommen.

Ich wünschte, ich hätte meine Kerze brennen lassen, denn die Nacht war stockfinster; ich fühlte mich niedergeschlagen, setzte mich im Bett auf und lauschte. Das Geräusch verstummte.

Ich versuchte, wieder zu schlafen, aber mein Herz pochte voller Angst. Meine innere Ruhe war dahin. Die Wanduhr in der Eingangshalle schlug zwei. Im selben Augenblick schien es mir, als berühre jemand meine Tür. Es war, als wenn Finger sich der Wand entlang auf dem dunklen Gang draußen entlangtasteten. Ich sagte: »Wer ist da?« Es kam keine Antwort. Ich war vor Angst starr.

Plötzlich fiel mir ein, es könne Pilot sein, der schon oft aus der Küche entwischt war und sich oben vor die Schwelle des Zimmers seines Herrn gelegt hatte. Ich hatte ihn selbst dort manchmal am Morgen gefunden. Der Gedanke beruhigte mich etwas; ich legte mich wieder hin. Stille besänftigt die Nerven, und da sich im Haus nichts mehr regte, wollte ich endlich schlafen. Aber in dieser Nacht war mir kein Schlaf beschieden. Ein Traum war kurz aufgetaucht, verflüchtigte sich jedoch sogleich, als ein Laut ertönte, der mir das Blut in den Adern erstarren ließ.

Es war ein teuflisches Lachen — leise, tief und unterdrückt —, und es schien vom Schlüsselloch meiner Tür zu kommen. Das Kopfende meines Bettes war nahe der Tür, und ich glaubte zuerst, wer immer dieses gespenstische Lachen ausgestoßen haben mochte, stand an meinem Bett oder hatte sich in mein Kopfkissen verkrochen. Ich sprang auf, blickte mich um, konnte aber nichts sehen; und während ich noch um mich starrte, erklang dieses übernatürliche Gelächter erneut, und jetzt wußte ich, daß es hinter der Tür war. Mein erster Gedanke war, den Riegel vorzuschieben; dann rief ich wieder: »Wer ist da?«

Etwas gurgelte und stöhnte. Dann hörte ich Schritte den Gang entlang zur Treppe in den dritten Stock gehen. Vor kurzem hatte man eine Tür eingebaut, um diese Treppe abzuschließen. Ich hörte, wie sie geöffnet und geschlossen wurde, und dann war wieder alles still.

War es Grace Poole? fragte ich mich. Ist sie vom Teufel besessen? Jetzt konnte ich nicht länger allein bleiben. Ich mußte zu Frau Fairfax gehen. Rasch schlüpfte ich in mein Kleid, warf mir einen Schal um, zog den Riegel zurück und öffnete die Tür mit zitternder Hand. Draußen brannte eine Kerze; sie stand auf dem Läufer im Gang. Das erstaunte mich; aber ich war noch mehr überrascht, als ich bemerkte, daß die Luft ganz dunstig und rauchig war. Ich blickte nach rechts und links, um zu sehen, von wo dieser blaue Dunst kam, und da spürte ich einen starken Brandgeruch.

Irgendwo quietschte etwas. Es war eine offene Tür — die Tür zu Herrn Rochesters Schlafzimmer, und von dort kam der Rauch. Jetzt dachte ich nicht mehr an Frau Fairfax und auch nicht an Grace Poole und das Gelächter. Im Nu war ich in seinem Zimmer. Flammen züngelten um das Bett. Die Vorhänge brannten. Inmitten von Rauch und Flammen lag Herr Rochester regungslos in tiefem Schlaf.

»Aufwachen! Aufwachen!« schrie ich. Ich schüttelte ihn, aber er murmelte nur etwas vor sich hin und drehte sich um. Der Rauch mußte ihn betäubt haben. Jetzt war keine Zeit zu verlieren. Die Laken waren schon angesengt. Ich lief zu seinem Waschbecken und Krug. Gott sei Dank waren beide mit Wasser angefüllt. Ich nahm sie, übergoß das Bett und den Schläfer, rannte in mein Zimmer, brachte meinen Wasserkrug, den ich ebenfalls auf dem Bett ausschüttete, und mit Gottes Hilfe gelang es mir, die Flammen zu löschen.

Das Zischen des begossenen Feuers, das Klirren des zerbrechenden Kruges, den ich nach dem Ausschütten fallen gelassen hatte, und vor allem das kalte Duschbad, das ich ihm so großzügig beschert hatte, weckten schließlich Herrn Rochester aus seinem Schlaf. Trotz der herrschenden Finsternis wußte ich, daß er wach war, denn er stieß seltsame Verwünschungen aus, als er entdeckte, daß er in einer Wasserpfütze lag.

»Ist das eine Überschwemmung?« rief er.

»Nein«, antwortete ich. »Aber es hat gebrannt. Stehen Sie auf, Sie sind ganz naß; ich werde Ihnen eine Kerze holen.«

»Im Namen aller Elfen des Christentums, ist das nicht Jane Eyre?« fragte er. »Was haben Sie mit mir getrieben, Sie Hexe, Sie Zauberin? Wer ist mit Ihnen im Zimmer? Ist das eine Verschwörung, mich zu ertränken?«

»Ich werde Ihnen eine Kerze holen, und stehen Sie um Gottes Willen auf. Irgend jemand hat sich gegen Sie verschworen, und Sie müssen schleunigst herausfinden, wer und was es ist.«

»So. Ich bin aufgestanden. Aber ich warne Sie; warten Sie mit der Kerze, bis ich mir etwas Trockenes angezogen habe, falls ich noch trockene Kleider besitze. Ja, hier ist mein Schlafrock. Jetzt rennen Sie!«

Ich rannte und holte die Kerze aus dem Gang. Er nahm sie mir aus der Hand, hielt sie hoch und schaute sich das Bett an. Es war schwarz und verkohlt, die Laken waren durchnäßt und der Teppich schwamm in einer Pfütze. »Was soll das? Und wer war es?« fragte er.

Ich berichtete kurz, was geschehen war. Das seltsame Lachen im Gang, die Schritte auf der Treppe zum dritten Stock, der Rauch, der Brandgeruch, der mich in sein Zimmer geführt hatte, was ich dort vorgefunden und wie ich ihn mit allem Wasser, das in der Nähe war, übergossen hatte.

Er hörte mir sehr ernsthaft zu. Sein Gesicht drückte mehr Besorgnis als Überraschung aus; und als ich endete, schwieg er.

»Soll ich Frau Fairfax rufen?« fragte ich.

»Frau Fairfax? Nein. Was zum Teufel soll sie denn hier? Was kann sie schon machen? Lassen Sie sie ruhig schlafen.«

»Dann werde ich Leah holen und John und seine Frau wecken.«

»Auf keinen Fall. Bleiben Sie nur ruhig. Sie haben einen Schal um. Wenn es Ihnen kalt ist, können Sie noch meinen Mantel nehmen. Legen Sie ihn sich um und setzen Sie sich in den Sessel dort. So — nun legen Sie Ihre Füße auf den Schemel, damit sie trocken bleiben. Ich werde Sie für einige Minuten verlassen. Die Kerze nehme ich mit. Bleiben Sie sitzen, bis ich wieder zurück bin, und seien Sie mäuschenstill. Ich muß in den dritten Stock hinauf. Bewegen Sie sich nicht und rufen Sie niemanden, verstanden?«

Er verschwand. Ich sah das Licht sich entfernen. Er ging ganz leise den Korridor entlang, öffnete behutsam die Treppentür, schloß sie hinter sich, und damit verlöschte der letzte Lichtstrahl. Ich blieb in völliger Finsternis. Angestrengt lauschte ich nach Geräuschen, aber nichts bewegte sich. Eine lange Zeit verstrich. Ich begann müde zu werden; es war kalt, trotz des Mantels; und ich sah auch keine Ursache, weshalb ich warten sollte, denn es sollte ja niemand geweckt werden. Ich war schon dabei, Herrn Rochesters Befehlen zuwiderzuhandeln und mich seiner Ungnade auszusetzen, als ich das Kerzenlicht matt aufschimmern sah und seine Schritte auf dem Gang hörte.

»Hoffentlich ist es er«, dachte ich mir, »und nicht etwas Böses.«

Er sah bleich und düster aus, als er das Zimmer betrat. »Ich habe alles herausgefunden«, sagte er und stellte die Kerze auf den Waschtisch. »Es ist so, wie ich es mir gedacht habe.«

»Wie?«

Er antwortete nicht, stand mit verschränkten Armen und sah zu Boden.

Nach einer Weile fragte er in merkwürdigem Ton:

»Ich entsinne mich nicht, ob Sie mir erzählten, Sie hätten etwas gesehen, als Sie Ihre Türe öffneten.«

»Nein, nur die Kerze auf dem Boden.«

»Aber Sie hörten ein seltsames Lachen? Sie haben dieses Lachen doch schon vorher gehört, denke ich, oder etwas Ähnliches?«

»Ja, da ist doch eine Näherin, eine Grace Poole — die lacht so. Eine sonderbare Person.«

»Ganz richtig. Grace Poole — Sie haben es erraten. Sie ist, wie Sie sagten, sonderbar — sehr sogar. Nun, ich werde mir das alles noch überlegen. Jedenfalls bin ich froh, daß Sie — außer mir — die einzige sind, die über die Einzelheiten des Zwischenfalls dieser Nacht Bescheid weiß. Sie sind a verschwiegen. Erzählen Sie niemandem davon. Für diese Bescherung (er zeigte auf das Bett) werde ich eine Erklärung finden. Und jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer zurück. Ich werde mich für den Rest der Nacht auf dem Sofa in der Bibliothek einrichten. Es ist fast vier Uhr. In zwei Stunden stehen die Dienstboten auf.«

»Dann gute Nacht, Herr Rochester«, sagte ich und erhob mich.

Er schien überrascht — was mich wundernahm, denn er hatte mich doch eben fortgeschickt.

»Was?« rief er. »Sie gehen schon? So ohne weiteres?«

»Sie haben mich entlassen.«

»Aber doch nicht so ohne Abschied. Nicht ohne ein paar Worte der Anerkennung und des Wohlwollens. Nicht so trocken und kurz angebunden. Schließlich haben Sie mir das Leben gerettet — mich vor einem furchtbaren und schmerzhaften Tod bewahrt! Und da gehen Sie fort, als kennten wir uns kaum! Geben Sie mir wenigstens die Hand.«

Er streckte die Hand aus, ich gab ihm meine. Er ergriff sie und umfaßte sie mit beiden Händen.

»Sie haben mir das Leben gerettet. Es ist mir ein Vergnügen, so tief in Ihrer Schuld zu stehen. Mehr kann ich nicht sagen. Bei jedem anderen menschlichen Wesen wäre mir eine solche Dankesschuld eine unerträgliche Last. Aber bei Ihnen ist es etwas anderes, ich empfinde Ihre Wohltat nicht als eine Bürde, Jane.«

Er hielt inne, blickte mich an. Worte formten sich auf seinen Lippen und waren fast sichtbar, aber die Stimme versagte.

»Nochmals: Gute Nacht, Herr Rochester. Von Schuld, Wohltat, Bürde oder Verpflichtung kann keine Rede sein.«

»Ich wußte es«, fuhr er fort. »Irgendwie, irgendwann, würden Sie mir etwas Gutes tun. Ich sah es in Ihren Augen, als ich Sie zum erstenmal erblickte. Dieser Ausdruck und dieses Lächeln haben nicht — (er hielt wieder inne) —, haben nicht — (jetzt sprach er hastig weiter) —, haben nicht umsonst mein Herz bis ins Innerste entzückt. Man redet von spontaner Zuneigung; und man erzählt von Schutzengeln und guten Geistern — die unglaublichsten Fabeln enthalten ein Körnchen Wahrheit. Gute Nacht, teuerste Beschützerin!«

Eine seltsame Kraft lag in seiner Stimme, ein seltsames Feuer brannte in seinem Blick.

»Ich bin froh, daß ich wach war«, sagte ich nur und wandte mich zu Gehen.

»Wie? Wollen Sie wirklich gehen?«

»Mir ist kalt.«

»Kalt? Ja — Sie stehen ja im Wasser! Dann gehen Sie, Jane, gehen Sie!« Aber er hielt noch meine Hand, und ich konnte mich nicht befreien. Da besann ich mich auf eine List.

»Ich glaube, ich habe Frau Fairfax gehört«, sagte ich.

»Nun, dann müssen Sie gehen.« Er ließ meine Hand los, und ich verschwand.

Ich kehrte in mein Bett zurück, aber ich dachte nicht an Schlafen. Bis zum Morgengrauen trieb ich auf einer stürmischen See, wo Wogen der Freude die Wasser des Leidens überspülten. Und über den wilden Fluten glaubte ich hie und da die lieblichste Küste zu erkennen, und eine erfrischende Brise schien mich dorthin zu geleiten, aber ich erreichte sie nicht, nicht einmal im Traum — ein Gegenwind trieb mich vom Lande fort. Vernunft widerstand endlich dem Fieberwahn, Überlegung warnte vor den Abgründen der Leidenschaft. Ich fand keine Ruhe und stand auf, als der Tag dämmerte.

16

Am Tag nach dieser schlaflosen Nacht wünschte und fürchtete ich zugleich, Herrn Rochester zu sehen. Ich wollte seine Stimme hören, aber ich hatte Angst vor seinem Blick. Eigentlich erwartete ich sein Kommen am frühen Vormittag; es war zwar nicht seine Gewohnheit, uns während des Unterrichts zu besuchen, aber zuweilen kam er ganz kurz herein, und ich hatte den Eindruck, er würde es heute tun.

Aber der Vormittag verging wie gewöhnlich; nichts geschah, um die stille Schulstunde Adèles zu unterbrechen. Erst am Nachmittag hörte ich geschäftiges Rumoren in der Nähe des Schlafzimmers von Herrn Rochester. Ich erkannte die Stimmen von Frau Fairfax, Leah, der Köchin — Johns Frau — und sogar Johns mürrischen Tonfall. Da wurden Ausrufe laut wie: »Welche Himmelsgnade, daß der Herr nicht im Bett verbrannt ist!«; »Es ist immer gefährlich, nachts die Kerze brennen zu lassen!«; »Welch eine Fügung des Schicksals, daß er die Geistesgegenwart besaß, den Wasserkrug zu nehmen!«; »Ich frage mich, ob niemand etwas gehört hat!«; »Hoffen wir, daß er sich auf dem Sofa in der Bibliothek keine Erkältung holt!«; und so weiter.

Diesem Geplauder folgte ein Schrubben und Scheuern und Möbelrücken, und als ich auf dem Weg zum Mittagessen am Zimmer vorbeikam, sah ich durch die offene Tür, daß man alles wieder in tadellosen Zustand versetzt hatte; nur die Bettvorhänge fehlten. Leah stand auf dem Fensterbrett und putzte die rauchverschmierten Scheiben. Ich wollte sie gerade ansprechen, denn ich hätte gern gehört, welche Version man dem nächtlichen Zwischenfall gegeben hatte, aber als ich eintrat, sah ich noch eine Person im Zimmer — es war eine Frau, die auf dem Stuhl neben dem Bett saß und Ringe an die neuen Vorhänge nähte — und diese Frau war Grace Poole.

Da saß sie nun, schweigsam nüchtern aussehend wie immer, in ihrem braunen Wollkleid, karierter Schürze, weißem Taschentuch und Häubchen. Sie war in ihre Arbeit vertieft und schien dabei ganz in Gedanken versunken. Nichts auf ihrer harten Stirn und ihren groben Zügenließ darauf schließen, daß sie in der letzten Nacht einen Mordversuch begangen hatte. Sie war weder bleich, noch sah sie verzweifelt aus, obgleich der ihrem Anschlag Entronnene sie in ihrer Behausung gestellt und sie — wie ich annahm — ihres geplanten Verbrechens überführt hatte. Ich war fassungslos — das war unbegreiflich. Sie schaute auf, als ich sie anstarrte: Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht, keine plötzliche Röte oder Blässe verfärbte ihre Wangen, kein Zeichen von Erregung, Schuldbewußtsein oder Angst war sichtbar, durchschaut zu sein. Sie sagte: »Guten Morgen, Fräulein Eyre« in ihrer üblichen phlegmatischen und kurz angebundenen Art, nahm einen Ring aus dem Korb und nähte ruhig weiter.

Ich beschloß, sie auf die Probe zu stellen, denn eine solche absolute Undurchdringlichkeit überstieg mein Verständnis.

Ich sagte: »Guten Morgen, Grace; ist hier irgend etwas geschehen? Mir schien, ich hörte die Dienstboten eben noch aufgeregt durcheinanderreden.«

»Der Herr hat gestern abend noch im Bett gelesen; er schlief ein und ließ die Kerze brennen. Die Vorhänge haben Feuer gefangen, aber glücklicherweise ist er rechtzeitig aufgewacht, bevor die Laken und das Holzbett brannten, und es gelang ihm, das Feuer mit dem Wasser aus dem Waschbecken zu löschen.«

»Das ist doch seltsam«, sagte ich leise. Dann sah ich sie scharf an: »Hat Herr Rochester niemanden geweckt? Hat ihn niemand gehört?«

Sie schaute mich wieder an, und diesmal waren ihre Augen wach. Sie schien mich aufmerksam zu betrachten. Dann antwortete sie: »Die Dienstboten schlafen ziemlich weit von hier, Fräulein Eyre; die hätten es schwer hören können, nicht wahr? Frau Fairfax und Sie haben Ihre Zimmer am nächsten; aber Frau Fairfax sagte, sie habe nichts gehört. Alte Leute haben oft einen schweren Schlaf.« Sie hielt inne und fügte dann scheinbar gleichgültig, aber in bedeutungsvollem Ton hinzu: »Aber Sie sind jung, Fräulein Eyre, und ich würde meinen, Sie haben einen leichten Schlaf. Haben Sie vielleicht ein Geräusch gehört?«

»Das habe ich«, sagte ich und senkte die Stimme, so daß Leah, die noch beim Fensterputzen war, mich nicht hören konnte. »Zuerst glaubte ich, es sei Pilot; aber Pilot kann ja nicht lachen, und ich bin sicher, daß ich ein Lachen gehört habe — und ein recht seltsames Lachen.«

Sie nahm ein neues Garn, zog es sorgfältig und mit ruhiger Hand durch das Öhr und sagte dann völlig gefaßt: »Es ist doch wohl kaum anzunehmen, daß Herr Rochester lachte, meine ich, Fräulein Eyre, besonders als er in solcher Gefahr war. Sie müssen geträumt haben.«

»Ich habe aber nicht geträumt«, sagte ich mit einiger Hitze, denn ihre kühle Unverfrorenheit regte mich auf. Sie schaute mich wieder wach und aufmerksam an.

»Haben Sie Herrn Rochester erzählt, daß Sie ein Lachen gehört haben?« fragte sie.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm heute früh zu sprechen.«

»Kam es Ihnen nicht in den Sinn, die Tür zu öffnen und in den Gang hinauszuspähen?« fragte sie weiter.

Sie schien mich ins Kreuzverhör zu nehmen und versuchte offenbar herauszufinden, was ich wußte. Plötzlich kam mir der Gedanke, sie könne auch mir einen ihrer bösen Streiche spielen, wenn sie merkte, daß ich sie verdächtigte; ich beschloß, auf der Hut zu sein:

»Ganz im Gegenteil«, sagte ich. »Ich habe meine Tür verriegelt.«

»Verriegeln Sie denn Ihre Tür nicht jede Nacht, bevor Sie zu Bett gehen?«

Die Teufelin! Jetzt will sie meine Gewohnheiten ausfindig machen, damit sie ihre Pläne danach einrichten kann. Die Empörung war wieder einmal stärker als die Vorsicht. Ich erwiderte scharf: »Bis jetzt hatte ich meist meine Tür nicht verriegelt. Ich wußte nicht, daß es nötig ist. Es war mir nicht bekannt, daß man in Thornfield Hall von Gefahren oder Belästigungen bedroht ist; aber in Zukunft (und ich betonte meine Worte) werde ich bestens für meine Sicherheit sorgen, bevor ich mich in mein Bett getraue.«

»Das wäre klug von Ihnen«, antwortete sie. »Die Gegend hier ist zwar sehr ruhig, und ich habe noch nie gehört, daß man versucht hätte, in Thornfield einzubrechen, obgleich allein das Geschirr in den Schränken bekanntlich viele hundert Pfund wert ist. Und sehen Sie, wir sind hier sehr wenige Dienstboten für so ein großes Haus, weil der Herr sich hier nicht häufig aufhält; und wenn er da ist, braucht er ja nicht viel Bedienung, denn er ist eben Junggeselle. Aber ich finde, es ist immer am besten sicherzugehen. Eine Tür ist schnell verriegelt, und es ist schon was Gutes dran, wenn so ein Riegel einen vor dem Unheil schützt, das draußen herumlungern mag. Viele Leute vertrauen einfach auf die Vorsehung, Fräulein Eyre, aber ich sage: Die Vorsehung kommt auch nicht ohne Mittel des Schutzes aus, und der Herrgott segnet diese Mittel, wenn man sie besonnen anwendet.« Damit beschloß sie ihre Ansprache, und sie hatte diese für sie sehr lange Rede mit der Gesetztheit einer Quäkerin vorgebracht.

Ich war völlig fassungslos über diese scheinbare Selbstbeherrschung und rätselhafte Heuchelei. Die Köchin trat ein.

»Fräulein Poole«, sagte sie, »das Essen für die Dienerschaft ist gleich auf dem Tisch. Kommen Sie herunter?«

»Nein. Tun Sie mir nur meinen Krug Bier und ein bißchen Pudding auf ein Tablett; ich hole es mir dann herauf.«

»Wollen Sie nicht ein Stück Fleisch?«

»Ein ganz kleines Stück und ein wenig Käse. Das ist alles.«

»Und Griesbrei?«

»Lassen Sie nur. Ich komme noch vor dem Tee herunter und mache ihn selber.«

Jetzt wandte sich die Köchin an mich und teilte mir mit, Frau Fairfax warte auf mich. Ich ging.

Ich hörte Frau Fairfax kaum zu, als sie mir während des Essens von den brennenden Vorhängen erzählte, denn ich zerbrach mir den Kopf über das rätselhafte Betragen von Grace Poole und mehr noch über die Rolle, die sie in Thornfield spielte. Ich fragte mich, warum man sie nicht heute früh verhaftet oder warum Herr Rochester sie nicht wenigstens entlassen hatte. Er hatte sich doch in der Nacht noch von ihrem verbrecherischen Vorhaben so gut wie überzeugt gezeigt. Aus welchem geheimnisvollen Grund hatte er sie dennoch nicht beschuldigt? Es war seltsam. Ein kühner, rachsüchtiger und hochmütiger Mann wie er schien in der Gewalt einer seiner niedrigsten Dienstboten zu stehen. Sie hatte ihm nach dem Leben getrachtet, und er wagte es nicht, sie zu beschuldigen, und noch weniger, sie zu bestrafen.

Wäre Grace jung und hübsch gewesen, so hätte ich mir denken können, daß zartere Gefühle als Vorsicht und Angst Herrn Rochester ihr gegenüber beeinflußten; aber mißgestaltet und matronenhaft, wie sie war, konnte das nicht zutreffen. Und doch, überlegte ich, war sie auch einmal jung; und sie war im gleichen Alter wie Herr Rochester. Ich wußte von Frau Fairfax, daß sie schon viele Jahre hier gelebt hatte. Ich glaube nicht, daß sie je wirklich hübsch gewesen ist, aber sie mochte Charakterstärke und Originalität besitzen (und das war ja offenbar der Fall), um ihren Mangel an körperlichen Vorteilen auszugleichen. Herr Rochester liebte das Exzentrische und Selbstbewußte. Nun, Grace ist zumindest exzentrisch. Könnte nicht eine Jugendsünde (bei seinem hitzigen und eigensinnigen Charakter wäre es ihm zuzutrauen) ihn in ihre Gewalt gebracht haben, und könnte sie nicht diese Gewalt benutzen, ihm ihren Willen aufzuzwingen, ihm, der seine einstige Sünde nicht ungeschehen machen kann?

Als ich an diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt war, sah ich wieder ihre plumpe vierschrötige Gestalt und ihr unschönes, hartes, grobes Gesicht so deutlich vor mir, daß ich mir sagte: Nein, ausgeschlossen! Diese Vermutung kann überhaupt nicht zutreffen. Und doch, flüsterte mir da die geheime Stimme meines Herzens zu, du bist ja auch nicht gerade schön und vielleicht gefällst du doch Herrn Rochester; oder hast du es dir nicht schon oft eingebildet? Und gestern nacht — erinnere dich an seine Worte, seinen Blick, seine Stimme!

Ja, ich erinnerte mich nur zu genau. Worte, Blicke und Tonfall erstanden wieder lebhaft vor mir. Ich war im Schlafzimmer. Adèle zeichnete. Ich neigte mich über sie und führte ihren Bleistift. Sie sah mich verdutzt an. »Qu’avez-vous, mademoiselle?« sagte sie; »vos doigts tremblent comme la feuille, et vos joues sont rouges; mais rouges comme des cerises!«

»Es ist mir heiß, Adèle. Das kommt vom ewigen Bücken.« Sie zeichnete weiter. Ich überließ mich meinen Gedanken.

Ich beeilte mich, den verhaßten Gedanken an Grace Poole zu verscheuchen. Er ekelte mich an. Ich verglich mich mit ihr und fand, daß wir sehr verschieden waren. Bessie Leaven hatte gesagt, ich sei eine Dame; und sie hatte die Wahrheit gesprochen — ich war eine Dame. Und jetzt sah ich auch viel besser aus als damals bei Bessies Besuch. Ich hatte bessere Farbe, hatte mehr Fleisch angesetzt, war lebhafter, denn ich hatte strahlendere Hoffnungen und ausgeprägtere Freuden.

Es ist bald Abend, dachte ich und schaute zum Fenster; ich habe den ganzen Tag lang Herrn Rochester nicht im Hause gehört; aber sicher werde ich ihn heute abend sehen.

Am Morgen hatte ich die Begegnung gefürchtet, jetzt sehnte ich sie herbei, denn meine Erwartung wurde so lange getäuscht, daß ich ungeduldig wurde.

Als es endlich dunkel wurde und als Adèle mich verließ, um im Kinderzimmer mit Sophie zu spielen, wartete ich gespannt. Ich horchte auf die Klingel unten; vielleicht kam Leah mit einer Nachricht herauf? Manchmal bildete ich mir ein, ich hörte Herrn Rochesters Schritte, lief zur Tür und wollte ihn einlassen. Doch die Tür blieb verschlossen; die Finsternis kroch durch das Fenster herein. Noch war es jedoch nicht zu spät. Oft ließ er mich erst um sieben oder acht Uhr rufen, und es war noch nicht einmal sechs. Heute abend würde ich gewiß nicht enttäuscht sein, denn ich hatte ihm ja so viel zu sagen! Ich wollte das Gespräch auch auf Grace Poole lenken und war auf seine Erklärung neugierig. Ich wollte ihn ganz offen fragen, ob er wirklich glaubte, sie hätte in der letzten Nacht diesen gräßlichen Mordanschlag auf ihn verübt, und wenn er es glaubte, warum er aus ihrer Schlechtigkeit so ein Geheimnis machte. Es machte mir nichts aus, ob meine Neugierde ihn ärgern würde; ich hatte das Vergnügen gelernt, ihn abwechselnd zu plagen und zu besänftigen. Das genoß ich ganz besonders, und ich wußte instinktiv sehr gut, wie weit ich gehen konnte. Über die Herausforderung hinaus getraute ich mich nie; aber bis ganz nahe an den Rand trieb ich ihn gern. Ich ließ es nie an einem Quentchen Respekt fehlen, benahm mich stets meiner Stellung gemäß, und trotzdem konnte ich ein Wortgefecht mit ihm austragen, ohne Angst oder erzwungene Zurückhaltung. Das gefiel uns beiden.

Endlich hörte ich Schritte auf der Treppe. Leah war erschienen. Aber sie teilte mir nur mit, daß der Tee in Frau Fairfax’ Zimmer serviert sei. So ging ich froh hinunter, denn das brachte mich in Herrn Rochesters Nähe — so glaubte ich.

»Sie müssen auf Ihren Tee gewartet haben«, sagte die gute alte Dame, als ich eintrat. »Sie haben heute mittag so wenig gegessen. Fühlen Sie sich heute nicht wohl? Sie sehen ganz rot und fiebrig aus.«

»Ach, ich fühle mich glänzend. Es könnte gar nicht besser sein.«

»Nun, dann beweisen Sie das und zeigen Sie einen gesunden Appetit. Würden Sie die Teekanne auffüllen, während ich meine Nadel zu Ende stricke?«

Als sie fertig war, stand sie auf, um die Fensterläden zu schließen, die sie tagsüber offengelassen hatte, um Licht zu sparen; aber jetzt tauchte die Dämmerung bereits in schwarze Finsternis.

»Es ist eine klare Nacht heute«, sagte sie, nachdem sie einen letzten Blick durch das Fenster geworfen hatte. »Allerdings sieht man keine Sterne. Im großen und ganzen hat Herr Rochester einen angenehmen Tag für die Reise gehabt.«

»Eine Reise! — Herr Rochester ist verreist? Ich wußte gar nicht, daß er fort ist.«

»Ach, er ist gleich nach dem Frühstück aufgebrochen. Nach ›The Leas‹, dem Haus von Herrn Eshton; es liegt zehn Meilen hinter Millcote. Ich glaube, dort hat sich eine ganze Gesellschaft versammelt; Lord Ingram, Sir George Lynne, Oberst Dent und andere.«

»Erwarten Sie ihn heute abend zurück?«

»Nein — auch morgen nicht. Ich nehme an, er wird eine Woche oder noch länger bleiben. Wenn diese feinen vornehmen Herrschaften sich treffen, dann geht es immer so fröhlich und elegant zu, dann gibt es so viele Vergnügen und Unterhaltung, wie man sich nur wünschen kann, und da hat es niemand eilig fortzugehen. Besonders die Herren sind bei solchen Anlässen sehr gefragt, und Herr Rochester ist ja so gewandt und lebhaft in Gesellschaft, daß ich sicher bin, er erfreut sich ganz besonderer Beliebtheit. Die Damen mögen ihn so gern, obgleich man es nicht glauben sollte, denn seine äußere Erscheinung entspricht vielleicht nicht gerade dem weiblichen Geschmack; aber seine Bildung und seine Fähigkeiten, vielleicht auch sein Reichtum und seine gute Herkunft wiegen gewiß die kleinen äußerlichen Fehler auf.«

»Es sind also auch Damen dort?«

»Ja. Da wären Frau Eshton und ihre drei Töchter — übrigens sehr feine elegante Damen — und die wohlgeborenen Fräulein Blanche und Mary Ingram, äußerst schöne Frauen, nehme ich an. Ich habe Blanche vor sechs oder sieben Jahren gesehen, als sie achtzehn war. Sie kam zu einer Weihnachtsfeier mit Ball, die Herr Rochester veranstaltete. Sie hätten das Speisezimmer an jenem Tag sehen sollen, es war so reich geschmückt, so herrlich erleuchtet! Es müssen etwa fünfzig Damen und Herren dagewesen sein — alle aus den besten Familien der Grafschaft, und Fräulein Ingram galt allgemein als die schönste Tänzerin auf dem Ball.«

»Sie haben sie gesehn, sagten Sie, Frau Fairfax? Wie sah sie aus?«

»Ja. Ich sah sie. Die Türen des Speisezimmers waren offen, und da es Weihnachten war, gestattete man den Dienstboten, sich im Saal zu versammeln, wo einige der Damen sangen und Musik machten. Herr Rochester bat mich herein, ich setzte mich in eine ruhige Ecke und schaute ihnen zu. Nie habe ich so etwas Schönes gesehen. Die Damen waren herrlich gekleidet — zumindest die jüngeren — und sahen hübsch aus, aber Fräulein Ingram war die Königin.«

»Und wie sah sie aus?«

»Groß, gut gewachsen, abfallende Schultern, langer graziöser Hals, olivfarbene Haut, makelloser Teint, edle Züge, schwarze große Augen, wie die von Herrn Rochester, und so leuchtend wie ihre Juwelen. Und dann hatte sie so wunderbares rabenschwarzes Haar und eine so schöne Frisur: eine Krone von Flechten im Nacken und die längsten und glanzvollsten Locken in der Stirn. Sie war ganz in Weiß gekleidet, trug eine bernsteingelbe Schärpe über der Schuler und um die Brust, die an der Seite befestigt war und mit langen Fransen bis auf Kniehöhe hing. Sie hatte auch eine bernsteingelbe Blume im Haar, die so herrlich mit ihren schwarzen Locken kontrastierte.«

»Sie wurde natürlich sehr bewundert?«

»Ja, gewiß. Und nicht nur ihrer Schönheit wegen, sondern auch wegen ihrer Begabung. Sie sang. Ein Herr begleitete sie auf dem Klavier. Sie sang auch ein Duett mit Herrn Rochester.«

»Mit Herrn Rochester? Ich wußte gar nicht, daß er singt.«

»O ja. Er hat eine schöne Baßstimme und ist sehr musikalisch.«

»Und Fräulein Ingram? Was für eine Stimme hatte sie?«

»Eine mächtige, prachtvolle Stimme. Sie sang bezaubernd. Es war ein wahres Vergnügen, ihr zuzuhören; und danach spielte sie Klavier. Ich bin ja keine Kennerin, aber Herr Rochester versteht etwas von Musik, und er sagte, sie spiele ausgezeichnet.«

»Und diese schöne, mit allen Vorzügen ausgestattete Dame ist noch nicht verheiratet?«

»Offenbar nicht. Ich nehme an, daß weder sie noch ihre Schwester sehr vermögend sind. Der Besitz des alten Lord Ingram ist unveräußerliches Erbgut, und fast alles geht an den ältesten Sohn.«

»Aber warum hat sich denn keiner dieser vornehmen Herren in sie verliebt? Zum Beispiel Herr Rochester? Er ist doch reich, nicht wahr?«

»O ja. Aber da ist doch ein beträchtlicher Altersunterschied. Herr Rochester ist fast vierzig, und sie ist erst fünfundzwanzig.«

»Was macht das schon aus? Jeden Tag werden Ehen geschlossen, die noch viel ungleicher sind.«

»Zugegeben. Aber ich glaube kaum, daß Herr Rochester sich mit einem solchen Gedanken trägt. Sie essen ja nichts; Sie haben kaum etwas zu sich genommen, seit wir hier beim Tee sitzen.«

»Nein. Ich bin zu durstig, um essen zu können. Darf ich noch eine Tasse Tee haben?«

Ich war gerade wieder dabei, über die Möglichkeit einer Ehe zwischen Herrn Rochester und der schönen Blanche zu sprechen zu kommen, aber Adèle kam herein, und das Gespräch nahm einen anderen Verlauf.

Als ich wieder allein war, dachte ich noch einmal an all das, was ich erfahren hatte. Ich prüfte die Regungen meines Herzens, meine Gedanken und Gefühle und bemühte mich, sie aus dem ausweglosen Irrgarten der Phantasie in den sicheren Schoß der Vernunft zurückzubringen.

Ich hielt über mich Gericht. Die Erinnerung war als Zeuge aufgetreten und hatte die Hoffnungen, Wünsche und Gefühle, die ich seit der letzten Nacht hegte, dargelegt — sie bezeugte auch den Gemütszustand, dem ich mich seit zwei Wochen hingegeben hatte. Jetzt trat die Vernunft hervor und bewies in ihrer ruhigen ungeschminkten Art, wie ich die wahren Tatsachen mißachtet und mich Wunschvorstellungen hingegeben hatte. Ich sprach das Urteil über mich selbst: Eine größere Närrin als Jane Eyre ist noch nie dagewesen. Es zeugte wahrlich von phantastischem Schwachsinn, süße, verführerische Lügen und das Gift der Illusionen einzusaugen, als sei es Nektar.

Du, sagte ich, willst dir einbilden, Herrn Rochester zu gefallen? Du glaubst, die Macht zu besitzen, ihm angenehm zu sein? Du meinst, du habest irgendeine Bedeutung für ihn? Fort mit dir! Deine Torheit ekelt mich an! Du hast an gelegentlichen Gunstbezeugungen eines Herrn von Rang und eines Weltmanns Vergnügen gefunden, du unerfahrenes dienstabhängiges Ding? Wie konntest du es wagen? Arme blöde Närrin! Konntest du nicht einmal in deinem eigenen Interesse klüger sein? Noch heute früh hast du dem kurzen Zwischenfall der letzten Nacht verträumt nachgehangen. Bedecke dein Gesicht und schäme dich! Hat er nicht etwas Schmeichelhaftes über deine Augen gesagt? Du blindes Huhn! Öffne doch deine trüben Augenlider und schau dir deine verdammte Verblendung an! Es steht keiner Frau an, sich von ihrem Vorgesetzten schmeicheln zu lassen, der überhaupt nicht daran denken kann, sie zu heiraten. Es ist heller Wahnsinn für eine Frau, eine geheime Liebe aufflammen zu lassen, die entweder unerwidert und unerkannt bleibt und das Leben derer verzehrt, die sie genährt hat, oder die erkannt und beantwortet wird und zu Schmach und Schande führt, aus denen es kein Entrinnen gibt. So höre dein Urteil, Jane Eyre: Morgen zeichnest du in Kreide dein eigenes Porträt, getreu bis in alle Einzelheiten, ohne einen Fehler auszulassen, ohne eine harte Linie zu verbergen, ohne die unschönen Unregelmäßigkeiten deiner Züge zu verwischen, und darunter schreibst du: Bildnis einer armen, mißgestalteten und unansehnlichen Erzieherin.

Danach nimm ein Stück weiches Elfenbein — du hast eins in deinem Malkasten —, nimm deine Palette, mische die frischesten, feinsten und leuchtendsten Farben, wähle die zartesten Kamelhaarpinsel, zeichne das lieblichste Antlitz, das du dir vorstellen kannst, male es in den sanftesten Schattierungen und im anmutigsten Kolorit nach der Beschreibung, die Frau Fairfax von Blanche Ingram machte: Denke an die rabenschwarzen Ringellocken, die exotischen Augen. — Was? Du willst dabei an Herrn Rochester denken? Befehl: Keine Heulerei! — keine Gefühlswallungen! — keine Reue! Nur Vernunft und Entschlossenheit sollst du zeigen. Erinnere dich an die edlen und harmonischen Gesichtszüge, den griechischen Hals, den wohlgebildeten Busen; zeige den vollen leuchtenden Arm, laß die zarte Hand sehen, vergiß weder den Brillantring noch das goldene Armband; male getreu die Kleidung, Rüschen und Spitzen, den leuchtenden Seidenstoff, die Schärpe und die goldene Rose. Nenne es: Blanche, eine vollkommene Dame von Rang und Ansehen.

Und wenn du dir in Zukunft je wieder einbilden solltest, Herr Rochester finde Gefallen an dir, so nimm die beiden Bilder und vergleiche sie. Sage dir dann: Herr Rochester könnte sicher das Herz dieser edlen Dame erobern, wenn es ihm darum ginge; ist es da wahrscheinlich, daß er auch nur einen Gedanken an dieses dürftige nichtssagende Plebejermädchen verschwendet?

Ich werde es tun, beschloß ich, und dieser gefaßte Vorsatz besänftigte mich. Ich schlief ein.

Ich hielt mein Wort. Eine Stunde genügte, um mein eigenes Porträt in Kreide zu zeichnen; und in weniger als zwei Wochen hatte ich die Elfenbeinminiatur meiner Vorstellung von Blanche Ingram gemalt. Sie sah wirklich wunderbar hübsch aus, und wenn man sie mit meinem Bildnis verglich, war der Gegensatz groß genug, um mir meine Selbstbeherrschung wiederzugeben. Die Aufgabe brachte mir Nutzen; sie hatte mich vollauf beschäftigt und dem Eindruck, den ich ein für allemal in mein Herz prägen wollte, Kraft und Gestalt verliehen.

Bald hatte ich allen Grund, mich zu meiner neugewonnenen Selbstdisziplin zu beglückwünschen. Ihr verdankte ich, daß ich bei den folgenden Ereignissen meine Gemütsruhe behielt. Wäre ich unvorbereitet gewesen, so hätte ich wohl kaum meine Beherrschung bewahrt — auch äußerlich nicht.

17

Eine Woche war vergangen ohne Nachricht von Herrn Rochester; nach zehn Tagen war er immer noch nicht zurück. Frau Fairfax sagte, es sollte sie nicht wundern, wenn er von »The Leas« direkt nach London und von dort auf den Kontinent gereist sei und sich ein Jahr oder länger in Thornfield nicht blicken lassen würde. Er war schon oft so plötzlich und unerwartet abgereist. Als ich das hörte, tat es mir im Herzen weh. Schon seit einigen Tagen hatte ich mich dem Schmerz meiner Enttäuschung hingegeben, aber ich nahm mich zusammen, gebot meinen Gefühlen Einhalt, und es gelang mir wunderbar, mir über die Unsinnigkeit meiner Haltung klarzuwerden — war es nicht unsinnig anzunehmen, daß Herr Rochesters Kommen und Gehen mich auch nur im geringsten etwas angingen? Nicht etwa, daß ich mich mit sklavischen Unterlegenheitsgefühlen demütigte, nein, ich sagte mir nur: Du hast mit dem Herrn von Thornfield nichts weiter zu schaffen, als von ihm dein Gehalt zu empfangen, dich um den Unterricht seines Zöglings zu kümmern und ihm für die gute und respektvolle Behandlung dankbar zu sein, die du erwarten kannst, wenn du deiner Pflicht genügst. Sei dir wohl bewußt, daß dies die einzige Beziehung zu ihm ist, die er ernstlich anerkennt, und versuche nicht, ihn in deine überschwenglichen Gefühle, Ekstasen und Ängste einzubeziehen. Er gehört nicht in deine Welt; bleib du nur in deiner und zeige so viel Selbstachtung, um nicht die Liebe deines Herzens, deiner Seele und deines ganzen Wesens zu verschwenden, wo sie nur unerwünscht und mißachtet sein kann.

Ich ging ruhig meinem Tagewerk nach, aber allmählich kamen mir alle möglichen Eingebungen in den Sinn, weshalb ich Thornfield verlassen sollte. In Gedanken entwarf ich schon Zeitungsinserate und stellte Mutmaßungen über neue Stellungen an.

Ich hielt es nicht für nötig, diese Gedanken näher zu prüfen; mochten sie reifen und Früchte tragen, wenn sie stark genug waren.

Etwa vierzehn Tage später kam mit der Post ein Brief für Frau Fairfax an.

»Er ist von Herrn Rochester«, sagte sie und schaute auf den Absender. »Jetzt werden wir wohl endlich erfahren, ob er zurückkommt oder nicht.«

Während sie das Siegel brach und den Brief öffnete, trank ich meinen Kaffee (wir saßen beim Frühstück); er war sehr heiß, und ich machte diesen Umstand für mein plötzliches Erröten verantwortlich. Warum aber meine Hand zitterte, warum ich versehentlich die halbe Tasse verschüttete, darüber wollte ich lieber gar nicht nachdenken.

»Ja, manchmal finde ich, wir hätten hier zuviel Ruhe; aber schon bald mag sich die Gelegenheit bieten, daß wir vollauf beschäftigt sind, wenigstens für einige Zeit«, sagte Frau Fairfax und schaute durch ihre Brille auf den Brief.

Ich sammelte genug Mut, um nach einer Erklärung zu fragen. Nachdem ich ein loses Band an Adèles Schürze festgebunden, ihr noch ein Brötchen gestrichen und ihre Tasse mit Milch aufgefüllt hatte, fragte ich mit gespielter Gleichgültigkeit:

»Herr Rochester wird wohl so bald nicht zurückkehren?«

»Doch, das ist es ja gerade — in drei Tagen, schreibt er; das ist am nächsten Donnerstag, und er kommt nicht allein. Ich weiß nicht, wie viele der Herrschaften aus ›The Lea‹ mit ihm kommen; er beauftragt mich, die besten Schlafzimmer herzurichten; die Bibliothek und die Speisezimmer müssen gründlich gereinigt werden, ich muß vom Gasthaus ›George‹ in Millcote und von wo ich kann zusätzliches Küchenpersonal anfordern. Die Damen bringen ihre Zofen und die Herren ihre Kammerdiener mit, das Haus wird voll sein.«

Frau Fairfax beendigte hastig ihr Frühstück und stürzte hinaus, um ihre Anordnungen zu treffen.

Sie hatte recht. Während der nächsten Tage hatten wir alle Hände voll zu tun. Ich hatte angenommen, alle Zimmer in Thornfield seien wunderbar sauber und ordentlich, aber scheinbar hatte ich mich geirrt. Drei Reinemachefrauen schrubbten, putzten, fegten, waschen die Wände, klopften die Teppiche, nahmen die Bilder von den Wänden, hängten sie wieder auf, polierten die Spiegel und Leuchter, heizten die Kamine in den Schlafzimmern, lüfteten Bettlaken, Daunendecken und Bettvorleger — es war ein Reinemachen, wie ich es nie zuvor und nie seitdem gesehen habe. Adèle rannte wie wild mittendrin herum; die Vorbereitungen für die Gesellschaft schienen sie in Verzückung zu versetzen; Sophie mußte ihre »Toilettes« (so nannte sie ihre Kleider) zurechtlegen, die aus der Mode gekommenen instand setzen und die neuen lüften und herrichten. Sie selbst tat nichts als in den Vorderzimmern herumzuspringen, in die Betten zu hüpfen und sich auf die Matratzen und aufgestapelten Kissen vor die prasselnden Kaminfeuer auszustrecken. Vom Schulunterricht war sie vorerst befreit. Frau Fairfax nahm auch meine Hilfe in Anspruch; ich verbrachte den ganzen Tag im Anrichtezimmer, half (oder behinderte) der Köchin und ihr und lernte, wie man Vanillecreme, Käsekuchen und französisches Gebäck macht, wie man Wildbret zubereitet und Dessertschüsseln garniert.

Die Gesellschaft wurde für den Donnerstagnachmittag erwartet, und um sechs sollte gegessen werden. Inzwischen hatte ich kaum Zeit, mich Hirngespinsten hinzugeben, und ich glaube, ich war so geschäftig und fröhlich wie jeder andere — außer Adèle natürlich. Und doch erhielt meine Freude einen Dämpfer und stieß mich zu meinen Zweifeln und dunklen Vermutungen zurück. Ich hatte gerade zufällig zur Tür des Treppengangs in den dritten Stock geschaut (sie war letzthin stets verschlossen geblieben), als sie sich langsam auftat und Grace Poole erschien. Sie trug ein gestreiftes Häubchen, eine weiße Schürze und ein weißes Taschentuch. Ich beobachtete sie, wie sie den Gang entlangschlich — sie trug Filzpantoffeln —, in das geschäftige Drunter und Drüber der Schlafzimmer schaute, den Reinemachefrauen Ratschläge über das Putzen eines Kaminrosts oder das Polieren des Marmorsimses erteilte, hie und da einen Fleck von der Tapete wischte und weiterging. Sie begab sich einmal am Tage in die Küche, nahm ihr Essen, rauchte ein Pfeifchen am Kamin und kehrte dann mit ihrem Bierkrug in die Einsamkeit ihrer düsteren Behausung zurück. Nur eine Stunde des Tages verbrachte sie mit der Dienerschaft dort unten. Die ganze übrige Zeit blieb sie in ihrer niedrigen, hölzernen Dachkammer im dritten Stock, wo sie nähte und so einsam war wie ein Gefangener in seinem Verlies.

Das Seltsamste war jedoch, daß niemand im Hause außer mir sie beachtete oder sich über sie zu wundern schien. Niemand äußerte sich über ihre Rolle und Stellung, niemand bemitleidete sie wegen ihrer abgeschlossenen Einsamkeit. Nur einmal hörte ich Leah mit einer der Putzfrauen über sie sprechen. Leah hatte gerade etwas gesagt, das ich nicht verstanden hatte, und die Frau fragte darauf:

»Sie ist wohl gut bezahlt?«

»Ja«, sagte Leah; »ich wollte, ich hätte es ebenso gut. Ich will mich ja nicht beklagen, denn in Thornfield Hall ist man nicht geizig, aber ich verdiene nicht ein Fünftel von dem, was Grace Poole bekommt. Und sie legt es auf die Kante; jedes Quartal trägt sie ihr Geld auf die Bank in Millcote. Mich nähm’s nicht wunder, wenn sie genug hätte, um sich selbständig zu machen. Aber scheint’s hat sie sich an die Stellung gewöhnt. Sie ist noch nicht vierzig und gut bei Kräften. Da ist es ihr Wohl noch zu früh, sich zur Ruhe zu setzen.«

»Sie muß schon gut bei der Hand sein«, sagte die Putzfrau.

»Ach ja! Sie versteht sich auf ihre Arbeit — da kommt ihr keine gleich«, erwiderte Leah bedeutungsvoll. »Nicht jede könnte diese Stellung halten, und sei es um noch so viel Geld.«

»Ganz gewiß nicht«, war die Antwort. »Ich frage mich nur, ob der Herr …« Sie wollte fortfahren, aber Leah hatte sich umgewandt und mich erblickt. Sie gab ihr einen leichten Stoß.

»Weiß sie es denn nicht?« hörte ich die Frau flüstern. Leah schüttelte den Kopf, und das Gespräch verstummte natürlich. Jetzt hatte ich also nur erfahren, daß es in Thornfield ein Geheimnis gab, von dem ich nichts wissen sollte.

Es war Donnerstag. Die Arbeit war am Vorabend beendet worden. Die Teppiche waren gelegt, die Bettvorhänge mit Girlanden geschmückt, blendendweiße Bettdecken ausgebreitet, Toilettentische angerichtet, Möbel poliert, Blumen in Vasen gefüllt; Zimmer und Salons strahlten in Sauberkeit und Frische. Auch die Halle war blankgeputzt; die geschmückte Wanduhr, Stufen und Treppengeländer waren spiegelblank poliert. Im Speisezimmer leuchtete das ausgelegte Silberbesteck auf der Anrichte, im Salon und Boudoir blühten exotische Blumen an allen Ecken und Enden.

Am Nachmittag hatte sich Frau Fairfax ihr bestes schwarzes Seidenkleid und Handschuhe angelegt, und sie trug ihre goldene Uhr. Sie war bereit, die Gäste zu empfangen und die Damen in ihre Gemächer zu geleiten. Auch Adèle hatte sich herausgeputzt, obgleich nicht anzunehmen war, daß sie noch an diesem Tag den Gästen begegnen sollte. Aber um ihr einen Gefallen zu tun, hatte ich Sophie erlaubt, ihr eines ihrer kurzen Musselinkleidchen anzuziehen. Ich brauchte mich wenigstens nicht umzukleiden und konnte mich in mein kleines Heiligtum, das Schulzimmer, zurückziehen. Ja, es war jetzt wirklich mein Heiligtum — »eine stille Zuflucht in Zeiten der Not«.

Es war ein milder, klarer Frühlingstag — einer jener Tage, die Ende März und Anfang April wie die Vorboten des Sommers die Erde mit Wärme und Sonnenschein beglücken. Nun wurde es Abend, aber es war noch warm, und ich saß im Schulzimmer bei offenem Fenster.

»Es wird spät«, sagte Frau Fairfax, als sie in vollem Aufputz hereingerauscht kam. »Ich bin froh, daß ich das Nachtessen auf eine Stunde später gerichtet habe, denn es ist schon nach sechs. Ich habe John zum Tor hinuntergeschickt, um auf der Straße Ausschau zu halten. Man sieht von dort ein gutes Stück in Richtung Millcote.« Sie ging ans Fenster. »Der ist er!« sagte sie. »Nun, John (sie lehnte sich hinaus): Gibt es etwas Neues?«

»Sie kommen«, war die Antwort. »In zehn Minuten werden sie hier sein.«

Adèle stürzte zum Fenster. Ich folgte ihr, stellte mich aber an der Seite hinter einen Vorhang, um sehen zu können, ohne gesehen zu werden.

Johns zehn Minuten schienen sehr lang. Aber endlich vernahm man Räderrollen. Vier Reiter galoppierten den Weg hinan, und ihnen folgten zwei offene Wagen. Flatternde Schleier und wehende Federn wurden sichtbar. Zwei der Reiter waren junge Herren, der dritte war Herr Rochester auf seinem Rappen Mesrour; Pilot sprang vor ihm her. Ihm zur Seite ritt eine Dame, und sie kam zuerst an. Ihr purpurrotes Reitkleid streifte fast den Boden, ihr Schleier wehte im Wind, und unter ihm schimmerten schwarze Ringellocken.

»Fräulein Ingram!« rief Frau Fairfax und eilte hinunter.

Reiter und Wagen verschwanden um die Ecke des Hauses. Adèle bettelte, hinuntergehen zu dürfen. Ich nahm sie auf den Schoß und erklärte ihr, daß sie auf keinen Fall daran denken könne, sich jetzt oder irgendwann ungerufen bei den Gästen blicken zu lassen, weil Herr Rochester dann sehr böse sein würde. Sie vergoß einige Tränen, aber als sie sah, daß ich es sehr ernst meinte, fügte sie sich.

Aus der Diele erklang fröhliches Stimmengewirr. Die tiefen Tonlagen der Herren vermischten sich harmonisch mit dem Silberklang der Damenstimmen, aber über alle vernehmlich hörte man die klangvolle Stimme des Hausherrn, der die Schar seiner Gäste unter seinem Dach willkommen hieß. Dann trippelten leichte Schritte die Treppen hinauf und durch den Korridor, leises fröhliches Lachen erklang, Türen öffneten und schlossen sich, und darauf war für eine Weile Stille.

»Elles changent de Toilettes«, sagte Adèle, die aufmerksam jedes Geräusch verfolgt hatt. Sie seufzte. »Chez maman«, sagte sie, »quand il y avait du monde, je le suivait partout au salon et à leurs chambres; souvent je ragardais les femmes de chambre coiffer et habillers les dames, et c’était si amusent: comme cela on apprend.«

»Bist du nicht hungrig, Adèle?«

»Mais oui, mademoiselle: voilà cinq ou six heures que nous n’avons pas mangé.«

»Nun gut; die Damen sind jetzt in ihren Zimmern. Da werde ich schnell hinuntergehen und dir etwas zu essen holen.«

Vorsichtig verließ ich meinen Schlupfwinkel und stahl mich auf eine Hintertreppe, die direkt zur Küche führte. Dort war alles in heller Aufregung. Suppe und Fisch waren im letzten Stadium ihrer Zubereitung, und die Köchin beugte sich über ihre Kessel mit einer Hingabe, daß man fürchten mußte, sie würde sich jeden Augenblick in Flammen auflösen. In der Gesindestube standen zwei Kutscher und drei Kammerdiener um das Feuer. Die Zofen waren offenbar oben mit ihren Herrinnen beschäftigt; die aus Millcote entliehene Dienerschaft lief überall emsig umher. Ich bahnte mir meinen Weg durch das Chaos und erreichte schließlich die Speisekammer. Mit einem kalten Hühnchen, einem Brot, etwas Gebäck, Teller, Messer und Gabel, die ich dort erbeutete, trat ich einen schnellen Rückzug an.

Gerade war ich auf den Korridor gelangt und hatte die Hintertreppentür hinter mir geschlossen, da warnte mich ein unmißverständliches Gemurmel, daß die Damen ihre Zimmer verließen. Ich konnte nicht zum Schulzimmer gelangen, ohne an ihren Türen vorbeizugehen und mich mit meinem unschicklichen Abendessen in der Hand zu zeigen. So verbarg ich mich in einer dunklen Nische.

Sogleich öffneten sich die Türen, und die weiblichen Gäste traten nacheinander auf den Flur. Sie waren alle munter und fröhlich, und ihre Kleider schimmerten strahlend im Dämmerlicht. Einen Augenblick lang standen sie am anderen Ende des Ganges beisammen und plauderten leise und beschwingt; dann gingen sie die Treppe hinunter; sie schwebten wie eine Dunstwolke, die sich von einem Hügel senkt. Das alles hinterließ auf mich den Eindruck wohlgeborener Vornehmheit, wie ich sie bisher noch nie gesehen hatte.

Adèle hatte durch die halboffene Schulzimmertür gespäht. »Ach, die wunderschönen Damen«, rief sie mir zu. »Ich würde sie so gern begleiten! Glauben Sie, Herr Rochester wird uns nach dem Essen rufen lassen?«

»Nein, das glaube ich bestimmt nicht. Herr Rochester hat Wichtigeres zu tun. Laß die Damen heut abend unter sich sein; vielleicht wirst du sie morgen sehen. Hier ist dein Essen.«

Sie war wirklich hungrig; das Hühnchen und das Gebäck lenkten sie ab. Es war gut, daß ich das Essen geholt hatte, denn sonst hätten wir und Sophie, die ich einlud, wohl überhaupt nichts bekommen. Dort unten waren alle viel zu beschäftigt, um sich um uns zu kümmern. Die Nachspeisen wurden erst nach neun Uhr aufgetragen, und um zehn eilten immer noch die Diener mit Tabletts und Kaffeegeschirr umher. Ich erlaubte Adèle, länger als gewöhnlich aufzubleiben, denn sie behauptete, sie könne unmöglich einschlafen, solange unten die Türen auf und zu schlugen und die Leute herumliefen. Außerdem, fügte sie hinzu, könnte Herr Rochester vielleicht doch noch jemanden schicken, um uns zu holen, und wenn sie dann schon ausgezogen sei — »quel dommage!«

Ich erzählte ihr Geschichten, bis sie mir nicht mehr zuhören wollte, und dann nahm ich sie auf den Gang hinaus. Der Leuchter in der Diele brannte, und sie vergnügte sich, am Geländer zu stehen und die Diener hin und her ziehen zu sehen. Als es schon spät war, ertönte Musik aus dem Salon, wo man ein Klavier aufgestellt hatte. Ich setzte mich mit Adèle auf die Stufen, und wir hörten zu. Jetzt erklang eine Stimme zum Klavierspiel. Eine Dame sang in vollen schönen Tönen. Dem Solo folgten ein Duett und dann ein Rundgesang; dazwischen wurde fröhlich und angeregt geplaudert. Ich lauschte und ertappte mich dabei, daß ich versuchte, Herrn Rochesters Stimme aus dem allgemeinen Gemurmel herauszuhören, und als es mir gelang, bemühte ich mich, aus seinem Tonfall die durch die Entfernung unverständlichen Worte zu erraten.

Die Uhr schlug elf. Ich sah nach Adèle hin, die den Kopf an meine Schulter gelehnt hatte. Ihre Augen waren müde, ich nahm sie in meine Arme und trug sie zu Bett. Als die Herren und Damen endlich ihre Zimmer aufsuchten, war es nach eins.

Das Wetter war am nächsten Tag wieder strahlend schön. Die Gesellschaft machte einen Ausflug auf das Land. Sie brachen am frühen Vormittag teils zu Pferde, teils im Wagen auf. Ich sah sie abfahren und wiederkommen. Wie zuvor war Fräulein Ingram die einzige reitende Dame, und wie zuvor galoppierte Herr Rochester ihr zur Seite. Sie hatten sich von den anderen etwas abgesondert. Ich machte Frau Fairfax darauf aufmerksam, als sie mit mir am Fenster stand.

»Sie sagten, die beiden hätten keine Heiratsabsichten«, bemerkte ich. »Aber wie ich sehe, zieht Herr Rochester sie offenkundig allen anderen vor.«

»Ja, sicher, zweifellos bewundert er sie.«

»Und sie ihn«, fügte ich hinzu. »Schauen Sie doch nur, wie sie sich zu ihm hinüberbeugt, als ob sie ihm etwas Vertrauliches sagt. Ich hätte gern ihr Gesicht gesehen.«

»Sie werden sie heute abend zu sehen bekommen«, antwortete Frau Fairfax. »Ich erzählte gerade Herrn Rochester, wie sehr sich Adèle wünscht, den Damen vorgestellt zu werden, und er sagte: ›Lassen Sie sie heute abend nach dem Essen in den Salon kommen, und bitten sie Fräulein Eyre, sie zu begleiten!‹«

»Ach, das hat er doch nur aus Höflichkeit gesagt. Ich brauche sicher nicht zu gehen«, antwortete ich.

»Nun, ich machte ihn darauf aufmerksam, daß Sie ja nicht gewohnt sind, auf Gesellschaften zu gehen, und daß Sie sicher nicht gern unter so Viel fröhlichen Menschen erscheinen wollten, die Sie alle nicht kennen, aber er erwiderte in seiner barschen Art: ›Unsinn! Wenn sie sich weigert, sagen Sie ihr, es sei mein besonderer Wunsch, und wenn sie sich wehrt, sagen Sie ihr, ich würde sie eigenhändig holen, falls sie nicht erscheint!‹«

»Den Ärger will ich ihm ersparen«, antwortete ich. »Ich werde gehen, wenn es sein muß; aber ich tue es nicht gern. Werden Sie auch da sein, Frau Fairfax?«

»Nein. Ich habe abgewehrt, und er gab sich damit zufrieden. Ich werde Ihnen sagen, wie Sie es vermeiden können, die verwirrenden Formalitäten des Vorgestelltwerdens zu umgehen, denn das ist ja das Unangenehmste an solchen Anlässen. Sie müssen in den Salon gehen, während die Damen noch bei Tisch sitzen. Wählen Sie sich einen Platz in einer ruhigen Ecke. Sie brauchen ja nicht lange zu bleiben. Nachdem die Herren eingetreten sind, können Sie bald gehen, wenn Sie wollen. Herr Rochester muß nur sehen, daß Sie da sind — dann können Sie sich ruhig hinausschleichen — niemand wird es bemerken.«

»Werden die Leute lange bleiben?«

»Vielleicht zwei oder drei Wochen; länger bestimmt nicht. Nach den Osterferien muß Sir George Lynn nach Millcote gehen. Er ist dort zum Abgeordneten gewählt worden, und Herr Rochester wird ihn sicher begleiten. Es wundert mich überhaupt, daß er sich schon so lange in Thornfield aufgehalten hat.«

Mit einigem Unbehagen sah ich die Stunde heranrücken, da ich mich in den Salon begeben mußte. Adèle war den ganzen Tag in heller Aufregung, nachdem sie hörte, daß sie am Abend den Damen vorgestellt werden sollte. Sie beruhigte sich erst, als Sophie sie anzukleiden begann. Da wurde sie sich erst ganz der Wichtigkeit der Sache bewußt; und kaum hatte sie ihre Locken gekämmt, ihr rosa Seidenkleid angelegt, ihre Schärpe befestigt, ihre Spitzenhandschuhe übergestreift, da saß sie still wie ein Götzenbild. Man brauchte sie nicht zu ermahnen, in ihrem Staat nicht herumzutollen. Sie setzte sich auf ihren Stuhl, hob dabei vorsichtig ihr Seidenröckchen, damit es nicht zerknautschte, und versprach, sich nicht vom Fleck zu rühren, bis ich bereit war. Ich brauchte dazu nicht Viel Zeit. Ich zog mein bestes Kleid an — es war das silbergraue, das ich mir zu Fräulein Temples Hochzeit gekauft und seitdem nie mehr getragen hatte. Mein Haar war schnell gekämmt, und mein einziger Schmuck, die Perlenbrosche, schnell angesteckt. Wir gingen hinunter.

Glücklicherweise konnte man auch in den Salon gelangen, ohne durch das Speisezimmer, wo alles bei Tisch saß, gehen zu müssen. Der Raum war leer, als wir eintraten. Ein großes Feuer loderte im Marmorkamin, und Wachskerzen brannten in strahlender Einsamkeit inmitten der auserlesenen Blumen, die die Tische schmückten. Der rote Vorhang war zugezogen; er trennte uns vom Speisezimmer, aus dem nur leise gedämpftes Stimmengewirr herüberdrang.

Die feierlich festliche Stimmung hatte Adèle in ehrfurchtvolles Schweigen versetzt. Sie nahm wortlos auf dem Fußschemel, den ich ihr anwies, Platz; ich zog mich auf den Fenstersitz zurück und nahm ein Buch, das auf einem der Tische lag, und begann zu lesen.

Adèle brachte ihren Schemel zu mir, und nach einer kleinen Weile berührte sie mein Knie.

»Was willst du, Adèle?«

»Darf ich eine dieser schönen Blumen haben, Mademoiselle? Seulement, pour compléter ma toilette.«

»Du denkst zuviel an deine ›Toilette‹, Adèle, aber du darfst dir eine Blume nehmen.« Ich gab ihr eine Rose und befestigte sie an ihrer Schärpe. Sie seufzte vor innerer Befriedigung und machte ein überglückliches Gesicht. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, denn die Eitelkeit dieser kleinen Pariserin und der Ernst, den sie ihrer Kleidung beimaß, hatten etwas peinlich Drolliges an sich.

Jetzt hörte man von nebenan, wie sich die Gäste von Tisch erhoben. Der Vorhang wurde zurückgezogen, das Speisezimmer mit dem strahlendhellen Leuchter, dem langen reichgeschmückten, gedeckten Tisch, glänzenden Silberbesteck und den festlich dekorierten Dessertschüsseln wurde sichtbar. Eine Gruppe Damen erschien in der Bogentür. Sie traten ein, und der Vorhang schloß sich hinter ihnen.

Es waren nur acht Damen, aber irgendwie wirkte es, als seien sie mehr. Einige waren sehr hochgewachsen, viele waren in Weiß gekleidet, und alle strahlten sie eine Pracht aus, die ihnen noch mehr Volumen verlieh, so wie der Abenddunst den Mond größer erscheinen läßt. Ich erhob mich und knickste; eine oder zwei erwiderten meinen Gruß, die anderen starrten mich nur kurz an.

Sie schwebten durch den Raum und erinnerten mich in ihren Bewegungen an einen Schwarm majestätischer Vögel. Einige lehnten sich graziös in Sessel, Sofas und Ottomanen, andere beugten sich über die Tische und schauten sich die Blumen und Bücher an, eine dritte Gruppe stand am Kamin. Sie unterhielten sich alle in dem halblauten, aber präzisen Ton, der ihnen gewohnt zu sein schien. Ihre Namen erfuhr ich erst später, aber ich werde sie jetzt schon vorstellen.

Da war zunächst Frau Eshton mit ihren beiden Töchtern. Sie mußte einmal eine schöne Frau gewesen sein und war auch jetzt noch ansehnlich. Ihre älteste Tochter Amy war eher klein, in Gebaren und Ausdruck naiv kindlich und pikant im Aussehen; ihr weißes Musselinkleid mit der blauen Schärpe stand ihr gut. Die zweite, Louisa, war größer und im Auftreten eleganter; sie hatte ein hübsches Gesicht, auf das der französische Ausdruck »minois chiffonné« gepaßt hätte. Beide Schwestern waren weiß wie die Lilien.

Lady Lynn war eine große stattliche Person von etwa vierzig; aufrechte Haltung, hochmütiger Blick; sie trug ein prunkvolles, in mehreren Farben schillerndes Seidenkleid; ihr dichtes schwarzes Haar glänzte im Schatten einer blauen Straußenfeder und war mit einem Diamantendiadem verziert.

Frau Oberst Dent war weniger auffällig, dafür aber — meiner Meinung nach — damenhafter. Sie war schmal gewachsen, hatte ein freundliches Gesicht und blondes Haar. Ihr schwarzes Seidenkleid, ihr Spitzenschal und ihr Perlenschmuck gefielen mir besser als die Regenbogenpracht der adligen Dame.

Aber am eindrucksvollsten — vielleicht weil sie die größten der Gruppe waren — erschienen mir Lady Ingram mit ihren Töchtern Blanche und Mary. Alle drei waren von erhabener Gestalt. Die Lady mochte zwischen vierzig und fünfzig sein; hatte sich aber ihre gute Figur bewahrt; ihr Haar war noch schwarz — wenigstens beim Kerzenlicht —, und ihre Zähne waren makellos. Man konnte sie als eine Frau bezeichnen, die sich für ihr Alter gut gehalten hatte, und in körperlicher Beziehung traf es sicher auch zu; aber in Haltung und Gebaren legte sie einen fast unerträglichen Hochmut zur Schau. Ihr Gesicht glich dem einer römischen Statue, und ihr Doppelkinn wölbte sich über einem säulenhaften Hals. Diese Züge bekundeten nicht nur unmäßigen Stolz, sie waren geradezu davon entstellt. Besonders das übernatürlich aufrechte Kinn unterstrich diese Eigenschaft. Sie hatte einen strengen, kalten und harten Blick, der mich an Frau Reed erinnerte; sie sprach geziert und schwülstig mit tiefer Stimmer, drückte sich salbungsvoll, hochtrabend und gebieterisch aus — kurz: sie war unausstehlich. Sie trug ein karminrotes Samtkleid und einen indischen golddurchwirkten Turban und bewegte sich mit der Würde einer Kaiserin.

Blanche und Mary waren etwa gleich groß — langaufgeschossen wie Pappelbäume. Mary war zu mager für ihre Statur, aber Blanche war wie die Göttin Diana gewachsen. Ihr galt natürlich meine besondere Aufmerksamkeit. Erstens wollte ich sehen, ob sie der Beschreibung von Frau Fairfax entsprach, und zweitens war ich neugierig, ob sie wirklich mit der von mir gemalten Phantasiefigur Ähnlichkeiten hatte, und drittens — es sei gesagt! — mußte ich wissen, ob es wahrscheinlich war, daß sie, soweit ich es mir vorstellen konnte, für Herrn Rochester als Auserwählte in Frage kam.

Der äußeren Erscheinung nach stimmte sie haargenau mit meinem Bild und Frau Fairfax’ Beschreibung überein. Die edle Brust, die runden herabfallenden Schultern, der anmutige Hals, die dunklen Augen und die schwarzen Ringellöckchen all das war da. Aber das Gesicht? Ihr Gesicht ähnelte dem ihrer Mutter; es war eine jugendfrische Ähnlichkeit ohne Runzeln und Falten. Die gleiche niedrige Stirn, der gleiche anmaßende Ausdruck, der gleiche Stolz. Dieser Stolz war allerdings nicht so düster und streng wie bei ihrer Mutter. Sie lachte ständig, und es war ein spöttisches, hochmütiges Lachen, das ganz ihrem stets gewölbten Schmollmund entsprach.

Man behauptet, das Genie sei selbstbewußt. Ob Fräulein Ingram nun ein Genie war, vermag ich nicht zu sagen, aber selbstbewußt war sie — sehr selbstbewußt sogar. Sie begann ein Gespräch über Botanik mit der sympathischen Frau Dent. Frau Bent hatte offenbar diese Wissenschaft nicht studiert, aber sie erwähnte, daß sie Blumen liebe — besonders die »wilden Blumen«. Fräulein Ingram dagegen beherrschte spielend alle botanischen Ausdrücke und Bezeichnungen und warf mit ihren Kenntnissen nur so um sich. Sie war dabei, die arme Frau Dent — wie die volkstümliche Redensart heißt — »hochzunehmen«; das heißt, sie machte sich über die Unwissenheit ihrer Gesprächspartnerin lustig. Vielleicht war das witzig und intelligent, aber es war gewiß nicht angebracht. Dann setzte sie sich an das Klavier: sie spielte brillant virtuos; sie sang: ihre Stimme war schön und klangvoll; sie unterhielt sich mit der Mama auf französisch: sie sprach fließend und mit tadellosem Akzent. Mary war sanfter und ungezwungener in ihrem Auftreten als Blanche. Sie hatte feinere Gesichtszüge und einen hellen Teint (Blanche Ingram war braun wie ein Spanier). Aber Mary war im Vergleich zu ihrer Schwester ein Schattengewächs: Ihrem Gesicht fehlte es an Ausdruck, ihrem Auge an Glanz; sie hatte nie etwas zu sagen und blieb den ganzen Abend lang auf ihrem Stuhl wie angewurzelt und stumm. Beide Schwestern waren ganz in Weiß gekleidet.

War Blanche Ingram nun das Mädchen, das Herr Rochester sich zur Frau wählen konnte? Ich könnte es nicht sagen — ich kannte ja Herrn Rochesters Geschmack in bezug auf frauliche Schönheit nicht. Wenn er das Majestätische liebte, so war sie genau das, was er sich wünschte. Und sie war gebildet und lebhaft. Viele Männer mußten sie bewundern, und daß er sie bewunderte, schien mir bereits so gut wie erwiesen. Jetzt mußte ich sie nur noch beisammen sehen, um mir letzte Gewißheit zu verschaffen.

Glaube nur nicht, lieber Leser, daß Adèle die ganze Zeit auf ihrem Fußschemel bei mir geblieben war. Sowie die Damen eingetreten waren, hatte sie sich erhoben, war ihnen entgegengegangen, hatte einen possierlichen Knicks gemacht und sie begrüßt:

»Bonjour, mesdames.«

Blanche Ingram schaute sie von oben herab an und rief spöttisch:

»Ach, was ist denn das für ein kleines Püppchen!«

Lady Lynn bemerkte: »Das ist vermutlich das Mündel von Herrn Rochester. Die kleine Französin, von der er uns erzählte.«

Frau Dent nahm sie liebevoll bei der Hand und gab ihr einen Kuß. Amy und Louisa Eshton riefen im Chor: »Was für ein entzückendes Kind!«

Man nahm sie auf das Sofa, und dort saß sie inmitten der Damen, plapperte abwechselnd auf französisch und in gebrochenem Englisch, nahm nicht nur die Aufmerksamkeit der jungen Damen, sondern auch die von Frau Eshton und Lady Lynn in Anspruch, ließ sich verwöhnen und schweigte in Seligkeit. Schließlich wurde der Kaffee angerichtet, und die Herren wurden hereingerufen. Ich saß im Schatten — soweit es in diesem hellerleuchteten Raum überhaupt Schatten gab — und verbarg mich halb hinter dem Fenstervorhang. Wieder öffnete sich die Bogentür: sie kamen. Der gemeinsame Auftritt der Herren war, wie der der Damen, äußerst eindrucksvoll. Sie waren alle in Schwarz gekleidet, die meisten waren hochgewachsen, und einige waren jung. Henry und Frederick Lynn traten weltmännisch fesch und flott auf. Ihnen folgte der würdige, soldatisch stramme Oberst Dent; Herr Eshton, der Bezirksamtmann mit weißem Haar und schwarzen Brauen und Koteletten, der in seiner vornehmen Art wie der Heldenvater auf der Bühne wirkte; Lord Ingram, ebenso groß wie seine Schwestern, gutaussehend, aber mit dem gleichen apathischen glanzlosen Blick wie Mary, ein junger Mann, dessen Körpermaße nicht über den Mangel an Heißblütigkeit und Willenskraft hinwegtäuschen konnten.

Und wo bleibt Herr Rochester?!

Er erschien als letzter. Ich schaute nicht auf den Türbogen, aber ich sehe ihn eintreten. Ich versuche, mich auf meine Stricknadeln und die Masche zu konzentrieren — ich will an nichts anderes denken als an meine Handarbeit, will nur auf die Silber- und Seidenfäden in meinem Schoße blicken, und doch sehe ich sein Gesicht deutlich vor mir, und doch denke ich unwillkürlich an den Augenblick zurück, da ich es zum letzten Mal gesehen habe — in jener Nacht, als ich ihm jenen Dienst erwies, den er als so lebenswichtig bezeichnete. Als er meine Hand ergriff und mir tief in die Augen sah — mit Blicken, die die überfließenden Wallungen eines Herzens verrieten, mit Gefühlen und Empfindungen, an denen ich teilhatte. Wie nahe war ich ihm damals gewesen! Was war nur inzwischen geschehen? Was hatte diesen plötzlichen Wandel herbeigeführt? Wie fern, wie fremd waren wir uns jetzt! So fremd, daß ich nicht einmal erwartete, er würde mich begrüßen. Daher wunderte ich mich nicht, als er, ohne mich zu beachten, am anderen Ende des Salons Platz nahm und sich mit einigen der Damen zu unterhalten begann.

Als ich sah, daß seine Aufmerksamkeit von mir abgelenkt war und daß ich ihn anschauen konnte, ohne bemerkt zu werden, waren meine Blicke auf ihn geheftet. Ich konnte sie nicht länger beherrschen; die Lider öffneten sich, und die Augen richteten sich wie von selbst auf ihn. Ich sah ihn an, und es bereitete mir kostbare und schmerzhafte Freude: wie reines Gold mit einer tödlichen Spitze. Eine Freude, wie sie ein Verdurstender empfinden mag, der mit letzter Mühe einen Brunnen erreicht, sich über ihn neigt und in vollen Zügen trinkt, obgleich er weiß, daß das Wasser vergiftet ist.

Wie wahr ist das Wort: »Die Schönheit liegt im Auge des Beschauers.« Das blasse, olivfarbene Gesicht meines Herrn, die großen, aber tiefliegenden Augen, die hohen Züge, der grimmige Mund — so voller Energie, Entschluß- und Willenskraft —, das alles war gewiß nicht schön im herkömmlichen Sinne; aber in meinen Augen war es mehr als schön. Hier war ein Mensch, der Interesse ausstrahlte, der mich unter seinen Einfluß bannte, mich beherrschte — mir alle Macht über meine eigenen Gefühle und Empfindungen genommen und sie an sich gefesselt hatte. Anfänglich hatte ich mich gegen den Gedanken gewehrt, ihn zu lieben. Wie hart war ich bemüht gewesen, die in meiner Seele entdeckte Saat der Liebe auszujäten — und kaum sah ich ihn wieder, da schoß sie stark und frisch empor! Ja, ich liebte ihn, auch wenn er mich nicht beachtete.

Ich verglich ihn mit seinen Gästen. Was war schon die stutzerhafte Feschheit der Lynns, die schlaffe Eleganz Lord Ingrams, die soldatische Haltung Oberst Dents neben seiner natürlichen Mannhaftigkeit und wahren Kraft? Ihr Gebaren und ihr Aussehen bedeuteten mir nichts; ich konnte mir jedoch vorstellen, daß sie allgemein als anziehend, schön und bewundernswert galten, während Herr Rochester eher hart und düster wirkte. Ich sah sie lächeln, hörte sie lachen — wie nichtig schien es mir; das Licht der Kerzen war beseelter als ihr Lächeln, das Läuten der Hausglocke ergab mehr Sinn als ihr Lachen. Aber wenn Herr Rochester lächelte, dann glätteten sich seine strengen Züge, seine Augen leuchteten warm und strahlten beglückenden Glanz aus. Er sprach gerade mit Louisa und Amy Eshton. Es erstaunte mich, daß sie unter seinem durchdringenden Blick so ruhig dreinschauten. Ich hätte erwartet, daß sie die Augen niederschlugen und schamhaft erröteten. Aber ich war auch froh, daß sie ungerührt blieben. Er bedeutet ihnen nicht so viel wie mir, schloß ich. Er ist ihnen nicht wesensverwandt, aber ich fühle mit ihm — dessen bin ich sicher. Ich fühle mich seinem Wesen verwandt. Ich verstehe die Sprache seiner Bewegungen, seines Gebarens, wenn auch Reichtum und Rang uns voneinander trennen. In Herz und Sinn, in Blut und Nerv bin ich ihm geistig verwandt. Sagte ich mir nicht vor einigen Tagen, ich wollte in ihm nichts anderes sehen als meinen Dienstherrn, der mich für meine Arbeit bezahlt? Hatte ich mir nicht strengstens verboten, mich anderen Gedanken hinzugeben? Welch ein Frevel, welche Lästerung der Natur! Alle meine guten, wahren und tiefen Gefühle drängen unentwegt zu ihm hin. Ich weiß zwar, daß ich meine Gefühle verbergen, meine Hoffnungen unterdrücken muß. Ich darf nie vergessen, daß ich ihm nichts bedeuten kann. Wenn ich auch sage, ich sei ihm wesensverwandt, so heißt das nicht, daß ich seine Überzeugungskraft, seine bannende Macht besitze. Was ich mit ihm teile, sind J a nur gewisse Geschmacksrichtungen und Empfindungen. Ich muß mir immer wieder vorhalten, daß wir auf ewig getrennt sind — und doch muß ich ihn lieben, solange ich denken und atmen kann.

Der Kaffee wurde aufgetragen. Seit die Herren eingetreten sind, schwirren die Damen wie die Lerchen herum. Die Gespräche beleben sich. Oberst Dent und Herr Eshton reden über Politik; ihre Frauen hören andächtig zu. Die beiden stolzen Adelsdamen Lady Lynn und Lady Ingram plaudern vertraulich miteinander. Sir George — den ich übrigens zu beschreiben vergaß —: ein sehr stämmiger, gesund aussehender Landedelmann, steht vor ihrem Sofa, rührt in seiner Kaffeetasse und redet gelegentlich ein Wort mit. Frederick Lynn hat sich zu Mary Ingram gesetzt und zeigt ihr die Bilder eines prunkvoll gebundenen Buches. Sie schaut, lächelt hie und da, aber spricht wenig. Der lange, schlacksige Lord Ingram stützt sich mit verschränkten Armen auf den Stuhlrücken der kleinen, lebhaften Amy Eshton; sie blickt zu ihm auf und schwatzt wie ein Zaunkönig; sie zieht ihn offenbar Herrn Rochester vor. Henry Lynn hat sich zu Füßen Louisas auf einer Ottomane breitgemacht; Adèle sitzt bei ihm. Er versucht, mit ihr französich zu sprechen, und Louisa lacht über seine Aussprache. Zu wem wird sich Blanche Ingram gesellen? Noch steht sie allein an einem Tisch und blättert in einem Album. Sie scheint zu erwarten, daß jemand zu ihr kommt; nein, sie wartet nicht lange; sie hat sich bereits einen Gesprächspartner auserkoren. Herr Rochester hat gerade die Eshtons verlassen und steht so einsam am Kamin wie sie am Tisch. Sie tritt ihm entgegen und lehnt Sich ihm gegenüber an den Kamin.

»Herr Rochester, ich dachte, Sie machen sich nichts aus Kindern?«

»Das tue ich auch nicht.«

»Was hat Sie dann dazu bewegt, sich dieser kleinen Puppe anzunehmen?« Sie zeigte auf Adèle. »Wo haben Sie sie aufgelesen?«

»Ich habe sie nicht aufgelesen. Man hat sie mir überlassen.«

»Sie hätten sie zur Schule schicken sollen.«

»Das kann ich mir nicht leisten. Schulen kosten viel Geld.«

»Ach, ich nehme doch an, Sie haben eine Erzieherin für sie angestellt. Ich sah gerade jemanden bei ihr — ist sie schon fort? O nein, da sitzt sie ja noch hinter der Fenstergardine. Sie bezahlen sie natürlich, und ich sollte meinen, das kostet Sie ebensoviel — wenn nicht sogar mehr, denn Sie müssen die beiden ja hier unterhalten.«

Ich fürchtete und hoffte zugleich, er würde bei dieser Bemerkung zu mir herüberblicken, und unwillkürlich kauerte ich mich tiefer in meinen Schlupfwinkel zurück, aber er wandte sich nicht um.

»Darüber habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht«, sagte er gleichgültig und starrte vor sich hin.

»Natürlich. Ihr Männer denkt ja nie ans Einsparen und an die schlichte Vernunft. Sie sollten einmal hören, was Mama zum Thema Erzieherinnen zu sagen hat. Mary und ich hatten wohl gut ein Dutzend von der Sorte, als wir klein waren. Sie waren alle entweder unausstehlich oder einfach lächerlich, und allesamt wurden sie eine reine Plage — nicht wahr, Mama?«!

»Sagtest du etwas, mein liebes Kind?«

Die junge Dame wiederholte ihre Frage und fügte gleich eine Erklärung hinzu.

»Ach, Liebstes, sprich mir bloß nicht von Erzieherinnen. Schon die Erwähnung geht mir auf die Nerven. Ich habe wahre Qualen unter ihrer Unfähigkeit und ihren blöden Launen gelitten. Ich danke dem Himmel, daß ich mit diesen Geschöpfen nichts mehr zu tun habe!«

Frau Dent beugte sich über die gottesfürchtige Dame und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Aus der Antwort zu schließen, hatte sie auf die Gegenwart eines Exemplars dieser vermaledeiten Gattung aufmerksam gemacht.

»Tant pis«, sagte Lady Ingram. »Das kann ihr nur guttun.«

Dann fügte sie leiser, aber noch hörbar hinzu:

»Ich habe sie gesehen, und ich kenne mich in Gesichtern aus. In ihrem finde ich alle schlechten Eigenschaften ihrer Klasse.«

»Und was sind das für Eigenschaften?« fragte Herr Rochester laut und vernehmlich.

»Das erzähle ich Ihnen einmal unter vier Augen«, antwortete sie und wiegte ihren Turban dreimal mit vielsagendem Nachdruck.

»Aber meine Neugier ist jetzt angeregt. Sie möchte befriedigt werden.«

»Fragen Sie Blanche. Sie ist näher bei Ihnen.«

»Ach, schieb es doch nicht auf mich, Mama! Ich habe nur ein Wort für die ganze Sippe: Sie sind eine Plage. Ich selbst habe zwar nie unter ihnen gelitten, denn ich verstand es stets, den Spieß umzudrehen. Was haben Theodor und ich diesem Fräulein Wilson, Frau Grey und Madame Joubert nicht alles für Streiche gespielt! Mary war ja immer zu verschlafen, um dabei richtig mitzumachen. Am meisten Spaß hatten wir mit Madame Joubert; Fräulein Wilson war ein gruseliges, schwächliches, weinerliches und trübseliges Ding; kaum der Mühe wert, sich mit ihr abzugeben; und Frau Grey war plump, blöd und unempfindlich; bei der verpuffte der Effekt. Aber die arme Madame Joubert! Ich sehe sie noch vor mir, in ihren Wutanfällen, wenn wir sie zum äußersten trieben — wenn wir unseren Tee vergossen, unsere Butterbrote zerkrümelten, unsere Bücher bis an die Zimmerdecke schleuderten, mit dem Lineal auf das Pult trommelten, mit dem Schüreisen auf das Kamingitter schlugen. Theodor, weißt du noch, was wir für einen Mordsspaß hatten?«

»Äh, gewiß, äh, ja doch«, näselte Lord Ingram. »Und dann schrie der arme, alte Besen immer: ›Oh, Sie böse Kinde!‹, und darauf lasen wir ihr die Leviten über ihre Anmaßung, uns gescheiten Kindern von Rang etwas beibringen zu wollen, wo sie selbst eine so blöde Gans war.«

»So war es, Tedo, und weißt du noch, als ich dir half, deinem käsegesichtigen Hauslehrer Vining — wir nannten ihn Pastor Pieps — zuzusetzen? Er und Fräulein Wilson hatten die Unverschämtheit, sich ineinander zu verlieben — wenigstens nahmen Tedo und ich es an. Wir hatten bemerkt, wie sie sich schmachtende Blicke zuwarfen und leise vor sich hin seufzten, und das waren doch wohl offenbare Anzeichen einer ›belle Passion‹. Aber da kann ich Ihnen sagen: Wir sorgten schon dafür, daß unsere Entdeckung der Allgemeinheit preisgegeben wurde. Das verhalf uns wenigstens dazu, die Ballast aus dem Haus zu werfen. Unsere liebe Mama stellte nämlich gleich fest, sowie ihr die Sache zu Ohren kam, daß das ganz unmoralisch war; nicht wahr, erlauchte Mama?«

»Aber gewiß doch, mein Bestes. Und ich hatte ganz recht. Verlaß dich drauf : Es gibt tausend Gründe, weshalb man eine Liaison zwischen einer Erzieherin und einem Hauslehrer keinen Augenblick lang in einem respektablen Heim dulden darf. Erstens —«

»Ach, um Himmels willen, Mama! Erspare uns die Aufzählung! Wir alle kennen das ja. Die Gefahr eines schlechten Einflusses auf die Unschuld der Kinder; Zerstreutheit und folglich Vernachlässigung der Pflichten gegenüber den Anbefohlenen. Gegenseitige Zuneigung führt zu Komplizität, zu Bündnissen — ermutigt zu Unverschämtheiten — schließlich zur Meuterei und zu allgemeinem Aufstand. Habe ich es richtig gesagt, Baronin Ingram von Ingram Park?«

»Ja, meine Lilienblüte, du hast recht, wie immer.«

»Dann wäre ja alles gesagt. Wechseln wir das Thema.«

Amy Eshton, die diesen Befehl nicht gehört hatte oder ihm nicht folgen wollte, fiel mit ihrer weichen, kindlichen Stimme ein:

»Louisa und ich, wir plagten auch unsere Erzieherin; aber sie war ein so gutmütiges Geschöpf, daß sie sich alles gefallen ließ. Sie war uns nie böse, nicht wahr, Louisa?«

»Nein, das stimmt; wir konnten mir ihr tun, was wir wollten. Wir plünderten ihr Pult und ihre Sachen, aber sie war so gutmütig, daß sie uns alles gab und uns keinen Wunsch versagte.«

Blanche Ingram kräuselte höhnisch die Lippen: »Müssen wir uns unbedingt das ganze Register der Erlebnisse mit verflossenen Erzieherinnen anhören? Ich bin nicht dafür und wiederhole meinen Vorschlag, das Thema zu wechseln. Unterstützen Sie meinen Antrag, Herr Rochester?«

»Gnädiges Fräulein, ich unterstütze Ihren Antrag wie jeden anderen.«

»Dann übernehme ich die Aufgabe, etwas Neues vorzuschlagen. Signor Eduardo, sind Sie heute abend bei Stimme?«

»Donna Bianca, wenn Sie es befehlen, ja.«

»Dann ersuche ich Sie, Signor, auf mein hoheitliches Geheiß Ihre Lungen zu füllen und Ihre geschätzten Stimmbänder in meinen königlichen Dienst zu stellen.«

»Wer möchte nicht der Rizzio einer so göttlichen Maria sein?«

»Zum Teufel mit Rizzio!« rief sie und schüttelte ihre Locken, als sie sich ans Klavier setzte. »Meiner Meinung nach war der Fiedler David ein fader Bursche. Da ziehe ich den schwarzen Bothwell vor, denn für mich muß ein Mann irgendwie etwas Dämonisches haben; die Geschichte mag über James Hepburn urteilen, wie sie will, aber ich habe das Gefühl, daß ich einem solchen wilden, wütigen Banditenhelden gern meine Hand fürs Leben gegeben hätte.«

»Da hören Sie es, meine Herren! Wer von Ihnen sieht Bothwell am ähnlichsten?« rief Herr Rochester.

»Ich würde sagen, daß dieser Vorzug Ihnen gebührt«, antwortete Oberst Dent.

»Bei meiner Ehre, da bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet.«

Blanche Ingram hatte sich mit stolzer Anmut ans Klavier gesetzt; ihr schneeweißes, weitgeschnittenes Kleid leuchtete in königlicher Pracht; sie begann ein glanzvolles Vorspiel und plauderte dabei. Heute abend schien sie ganz auf dem hohen Roß zu sitzen und nicht nur Bewunderung, sondern geradezu Verblüffung herausfordern zu wollen. Sie beabsichtigte offensichtlich, der Gesellschaft etwas sehr Überraschendes und Gewagtes zu bieten.

»Ach, die jungen Männer von heute widern mich an!« seufzte sie und schlug munter auf die Tasten ein. »Die armen, kümmerlichen Kerlchen; sie trauen sich nicht über Papas Gartentor hinaus und tun nichts, ohne sich vorher bei Mama Erlaubnis und Schutz zu holen! Sie sind ewig mit der Pflege ihrer hübschen Gesichter, ihrer weißen Händchen und kleinen Füßchen beschäftigt, als ob Männlichkeit etwas mit Schönheit zu tun hätte! Anmut und Grazie sind nun einmal die besonderen Attribute der Frauen — sie sind ihr legitimes Vorrecht und Erbe! Eine häßliche Frau ist gewiß ein Schandfleck auf dem Antlitz der Schöpfung, aber ein Mann — was steht einem Mann besser an als Kraft und Wagemut? Sein Leitwort sei: Jagen, Schießen und Kämpfen. Alles andere ist keinen Pfifferling wert. Wäre ich ein Mann, so hielte ich mich daran. Wenn ich einmal heirate«, fuhr sie nach einer Pause fort, als niemand sie unterbrach, »dann darf mein Mann mir kein Rivale sein, sondern nur eine Bestätigung für mich. Ich werde keinen Konkurrenten an meinem Thron dulden; ich fordere ungeteilte Huldigung; seine Ergebenheit darf nur mir allein gelten, und ich beabsichtige nicht, seine Bewunderung mit seinem Spiegelbild zu teilen. So, Herr Rochester, singen Sie, und ich werde Sie begleiten.«

»Ihr gehorsamster Diener«, war die Antwort.

»Hier ist ein Korsarenlied. Merken Sie sich, daß ich für Korsaren schwärme, und singen Sie es ›con spirito‹.«

»Befehle von Fräulein Ingrams Lippen brächten selbst in einen Milchnapf Temperament.«

»Passen Sie auf und geben Sie sich Mühe. Wenn es mir nicht gefällt, werde ich Sie beschämen und Ihnen zeigen, wie man so etwas richtig macht.«

»Damit bieten Sie ja der Unfähigkeit eine Belohnung. Jetzt werde ich mich bemühen, es Ihnen nicht recht zu machen.«

»Gardez-vous en bien! Wenn Sie absichtlich versagen, werde ich Sie entsprechend bestrafen.«

»Fräulein Ingram sollte Milde walten lassen, denn sie hat Macht, eine Strafe zu verhängen, die unerträglicher als der Tod ist.«

»Ha! Erklären Sie mir das!« befahl sie.

»Mit Verlaub, Gnädigste, das braucht man nicht zu erklären; Ihr Feingefühl hat es Ihnen bestimmt schon eingegeben, daß ein einziges Stirnrunzeln schon einem Todesurteil gleichkommt.«

»Singen Sie!« Sie begann ihre Klavierbegleitung mit lebhaftem Tempo.

Jetzt ist es an der Zeit zu verschwinden, sagte ich mir; aber die Klänge, die nun die Luft erzittern ließen, hielten mich zurück. Frau Fairfax hatte mir erzählt, daß Herr Rochester eine prächtige Stimme besaß; sie hatte recht. Sein machtvoller und doch sanfter Baß, in den er so viel Gefühl legte, drang durch die Ohren bis tief in das Herz und erweckte die wunderbarsten Regungen. Ich wartete, bis die letzten Töne verklungen waren — bis die unterbrochenen Gespräche wiederaufgenommen wurden; und dann verließ ich meinen Schlupfwinkel und huschte zur Nebentür, die Gott sei Dank nahebei war. Von dort führte ein enger Gang auf die Diele, und als ich gerade dort angelangt war, bemerkte ich, daß meine Sandale sich gelöst hatte. Ich bückte mich auf die Stufen der Treppe, um sie festzubinden. Da tat sich die Speisezimmertür auf, ein Herr trat heraus, ich erhob mich rasch — und stand Herrn Rochester gegenüber.

»Wie geht es Ihnen?« fragte er.

»Danke, sehr gut.«

»Warum haben Sie mich im Salon nicht begrüßt?«

Ich hätte ihm die gleiche Frage stellen können, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Deshalb erwiderte ich: »Ich wollte Sie nicht stören, denn Sie schienen zu beschäftigt zu sein.«

»Was haben Sie während meiner Abwesenheit getan?«

»Nichts Besonderes. Ich habe Adèle unterrichtet, wie gewöhnlich.«

»Und blasser sind Sie auch geworden — das ist mir gleich aufgefallen. Was ist los?«

»Gar nichts, Herr Rochester.«

»Haben Sie sich vielleicht in jener Nacht erkältet, als Sie mich fast ertränkten?«

»Nicht im geringsten.«

»Gehen Sie in den Salon zurück. Sie sind zu früh davongelaufen.«

»Ich bin müde, Herr Rochester.«

Er sah mich einen Augenblick lang an.

»Und ein wenig bedrückt«, sagte er. »Worüber? Sagen Sie es mir.«

»Nichts — gar nichts. Ich bin nicht bedrückt.«

»Aber ich behaupte es. Sie sind so bedrückt, daß Sie jeden Augenblick losweinen könnten — aha, ich sehe bereits die Tränen in Ihren Augen glänzen und schwimmen, und eine dieser Perlen ist schon auf die Fliesen gefallen. Wenn ich genügend Zeit hätte und nicht fürchtete, einer dieser klatschsüchtigen Dienstboten könnte uns hören, ich wollte schon herausbringen, was das alles zu bedeuten hat. Nun denn, für heute abend will ich es Ihnen noch einmal durchgehen lassen, aber merken Sie sich gefälligst, daß ich Sie jeden Abend im Salon vorfinden möchte, solange die Gäste hier sind. Es ist mein ausdrücklicher Wunsch; befolgen Sie ihn. So, gehen Sie jetzt und schicken Sie Sophie herunter; sie soll Adèle zu Bett bringen. Gute Nacht, mein —«

Er unterbrach sich, biß sich auf die Lippen und eilte jäh davon.

18

Das waren fröhliche Tage in Thornfield Hall, und wir hatten alle Hände voll zu tun. Wie hatte sich alles verändert seit den ersten drei stillen, eintönigen und einsamen Monaten, die ich hier verbracht hatte! Alle Trauer schien aus dem Haus verbannt, alle düsteren Gedanken schienen verflogen; überall herrschte jetzt freudige Lebendigkeit und Bewegung. Auf den sonst so stillen Gängen, aus den sonst so verlassenen Vorderzimmern kamen und gingen ständig Scharen von Kammerzofen und Leibdienern ein und aus.

Auch in der Küche, dem Anrichtezimmer, der Gesindestube, der Diele ging es lebhaft zu. Die Salons leerten sich nur, wenn der blaue Himmel, der leuchtende Sonnenschein und das milde Frühlingswetter die Gäste nach draußen lockten. Aber auch als die Sonne nicht schien und es drei Tage lang ununterbrochen regnete, tat das dem fröhlichen Treiben keinen Abbruch. Im Gegenteil, dann war das Haus noch lauter von fröhlichem Geplauder und Geschäftigkeit.

Eines Abends wurde beschlossen, zur Abwechslung Scharaden aufzuführen. In meiner Unwissenheit war mir dieser Ausdruck fremd, und ich fragte mich, was er zu bedeuten hatte. Die Dienerschaft wurde hereingerufen, die Eßtische wurden weggeschafft, die Leuchter anders verteilt und die Stühle im Halbkreis vor die Bogentür gestellt. Während Herr Rochester und die anderen Herren all diese Anordnungen trafen, liefen die Damen treppauf und treppab und riefen ihre Zofen. Frau Fairfax wurde beauftragt, alle im Hause befindlichen Schals, Kleider, Tücher und Stoffe aller Art herbeizuschaffen, einige der Kleiderschränke im dritten Stock wurden geplündert, und ihr Inhalt wurde von den Zofen heruntergetragen: da gab es brokatbestickte Reifröcke, seidene Sakkos, schwarze Umhänge, Stickdecken, Tücher und Pelle. Dann wurde eine Auswahl getroffen, und die passenden Kleidungsstücke wurden in das Boudoir im Salon gebracht.

Inzwischen rief Herr Rochester die Damen zu sich und stellte seine Partei zusammen. »Fräulein Ingram gehört natürlich zu mir«, sagte er. Danach wählte er noch die beiden Fräulein Eshton und Frau Dent. Er blickte mich an, denn ich stand zufällig in seiner Nähe und war damit beschäftigt, Frau Dent beim Befestigen ihres Armbandes zu helfen. »Wollen Sie mitspielen?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Entgegen meinen Befürchtungen bestand er nicht weiter darauf und ließ mich in meine stille Ecke zurückkehren.

Jetzt zog er sich mit seinen Gehilfinnen hinter den Vorhang zurück. Die von Oberst Dent geleitete Gegenpartei nahm auf den im Halbkreis angeordneten Stühlen Platz. Einer der Herren — es war Herr Eshton — sah mich an und schien vorzuschlagen, daß ich bei ihnen mitmachen sollte, aber Lady Ingram wehrte sofort ab.

»Nein«, hörte ich sie sagen. »Sie sieht viel zu dumm aus für ein solches Spiel.«

Nach einer kurzen Weile klingelte es, und der Vorhang tat sich auf. In der Bogentür saß, in ein weißes Laken gehüllt, der massige Sir George Lynn — der auch zu Herrn Rochesters Partei gehörte — vor einem Tisch, auf dem ein großes offenes Buch lag. Neben ihm stand Amy Eshton in Herrn Rochesters Mantel; sie hielt ein Buch in der Hand. Aus dem Hintergrund ließ jemand ein Glöckchen klingeln, und Adèle — die gebettelt hatte, mitspielen zu dürfen — sprang hervor und warf aus einem Korb, den sie im Arm trug, Blumen herum. Dann erschien die stattliche Blanche Ingram, ganz in Weiß, mit einem langen Schleier im Haar und einem Kranz von Rosen um die Stirn. Ihr zur Seite schritt Herr Rochester bis an den Tisch. Sie knieten und die ebenfalls in Weiß gekleideten Geschwister Eshton stellten sich hinter ihnen auf. Es folgte die Pantomime einer Zeremonie, deren Sinn leicht zu erraten war. Es sollte eine Hochzeit darstellen. Kaum war sie vorüber, da berieten sich Oberst Dent und seine Partei im Flüsterton, und nach kurzer Zeit rief er: »Braut.«

Herr Rochester verneigte sich, und der Vorhang fiel.

Nach einer ziemlich langen Pause ging er wieder auf. Das zweite Bild hatte entschieden sorgfältigere Vorbereitungen gekostet. Der Salon lag, wie ich schon erwähnte, zwei Stufen höher als der Speisesaal, und auf der obersten Stufe sah man etwa um einen Meter nach hinten gerückt, eine große marmorne Wanne, die gewöhnlich das Gewächshaus zierte, wo sie sonst immer inmitten exotischer Blumen stand und einige Goldfische beherbergte. Es mußte einige Mühe gekostet haben, dieses große und schwere Ding bis hierher zu schaffen.

Neben der Wanne, auf dem Teppich, saß Herr Rochester. Er hatte sich in Schals gehüllt und trug einen Turban. Seine dunklen Augen, seine Gesichtsfarbe und seine heidnischen Züge paßten ausgezeichnet zu dem Kostüm. Er sah ganz wie ein Emir aus dem Morgenlande aus. Nun trat Fräulein Ingram hervor. Auch sie trug ein orientalisches Kostüm; ein roter Schal hing ihr wie eine Schärpe um die Hüften; ein gesticktes Spitzentuch diente ihr als Kopfschmuck, ihre schöngeformten Arme waren nackt, und den einen hatte sie erhoben, als trüge sie einen Wasserkrug auf dem Kopf. In Form und Ausdruck, Farbe und Erscheinung erinnerte sie an eine israelitische Prinzessin aus dem Altertum, und wahrscheinlich war das auch beabsichtigt.

Sie schritt bis zur Wanne, beugte sich über sie, als wolle sie ihren Wasserkrug füllen, und hob ihn wieder auf ihren Kopf. Die Person am Brunnenrand gab ihr durch Zeichen etwas zu verstehen: Sie neigte sich nieder und gab ihm Wasser aus ihrem Krug zu trinken. Er zog eine Schatulle aus seinem Umhang, öffnete sie, entnahm ihr herrliche Armbänder und Ohrgehänge. Sie spielte Überraschung und Bewunderung, er kniete sich vor sie nieder, bot ihr die kostbaren Juwelen zum Dank, ihr Gesicht drückte Entzücken aus, und er streifte ihr die Armbänder über und schmückte sie mit den Ohrgehängen. Es war Elizar und Rebekka; eigentlich fehlten nur noch die Kamele.

Die ratende Partei steckte die Köpfe zusammen. Sie schienen sich nicht über das Wort oder die Silbe, die die Szene darstellte, einig zu sein. Oberst Dent, ihr Sprecher, bat, das Bild des Gesamtwortes zu sehen, worauf der Vorhang sich abermals schloß.

Im dritten Bild sah man nur einen Teil des Salons. Der Rest war von einem mit rauher Sackleinwand überhängten Wandschirm verdeckt. Die Marmorwanne stand nicht mehr da, und an ihrer Stelle sah man einen einfachen Tisch und einen Küchenstuhl; alles war sehr schwach beleuchtet, und alle Kerzen waren ausgeblasen.

Inmitten dieses düsteren Bildes saß ein Mann, dessen geballte Fäuste in seinem Schoß ruhten; seine Augen blickten zu Boden. Ich erkannte Herrn Rochester, obgleich sein Gesicht rußgeschwärzt, seine Kleidung unordentlich und zerschlissen war (sein Mantel hing lose von seinem Arm, als sei er bei einer Schlägerei zerrissen worden); sein Ausdruck war verzweifelt und finster, das Haar hing ihm wild ins Gesicht, und wenn er sich bewegte, hörte man Ketten rasseln. Seine Arme waren gefesselt.

»Bridewell2 «, rief nun Oberst Dent, und die Scharade war gelöst.

Nach einiger Zeit kehrten die Schauspieler wieder umgezogen in den Speisesaal zurück. Herr Rochester führte Blanche Ingram, die ihm Komplimente machte.

»Wissen Sie«, sagte sie, »daß Sie mir am allerbesten in Ihrer dritten Rolle gefallen haben? Ach, wären Sie nur ein paar Jahre früher zur Welt gekommen; welch prächtigen Raubritter hätten Sie abgegeben.«

»Habe ich keinen Ruß mehr im Gesicht?« fragte er sie.

»Leider nicht; und das ist schade. Nichts könnte Ihrem Teint besser stehen als diese Banditenfarbe.«

»Räuber gefallen Ihnen also besonders gut?«

»Ein englischer Räuberhauptmann käme nach meinem Geschmack gleich nach einem italienischen Straßenräuber, und den könnte allenfalls noch ein levantinischer Pirat ausstechen.«

»Soso. Was ich auch immer sei, vergessen Sie nicht, daß Sie jetzt meine Frau sind. Wir wurden vor einer Stunde vor all diesen Zeugen getraut.«

Sie kicherte und wurde rot.

»Nun, Dent«, fuhr Herr Rochester fort. »Jetzt sind Sie dran.«

Als die andere Partei sich zu ihren Vorbereitungen zurückzog, nahmen er und seine Gruppe auf den leergewordenen Stühlen Platz. Blanche Ingram setzte sich zu seiner Rechten, und die anderen verteilten sich auf die anderen Stühle. Jetzt sah ich dem Spiel nicht länger zu. Der aufgehende Vorhang interessierte nicht mehr. Meine Aufmerksamkeit galt den Zuschauern. Wie gebannt schaute ich auf den Halbkreis vor der Bühne. Ich kann mich nicht mehr an die von Oberst Dent gewählte Scharade erinnern, um so mehr aber an die Beratung, die jedem Bild folgte. Ich sehe noch, wie Herr Rochester sich über Blanche Ingram beugte, wie sie zum ihm aufblickte, wie ihre schwarzen Locken fast seine Schulter berührten und ihm die Wange streiften. Ich höre noch ihr Geflüster, erinnere mich noch an die ausgetauschten Blicke und die Reaktionen auf das dargebotene Schauspiel.

Ich habe berichtet, wie ich Herrn Rochester lieben gelernt habe. Ich konnte meine Gefühle nicht einfach umstimmen, nur weil er mich jetzt nicht mehr beachtete, nur weil ich Stunden in seiner Gegenwart verbrachte, ohne daß er mich eines Blickes würdigte. Nur weil er seine ganze Aufmerksamkeit einer stolzen Dame schenkte, die mich sicher nicht einmal gut genug fand, um den Saum ihres Kleides zu berühren, die ihren dunklen, stolzen Blick, falls er mich zufällig traf, sofort von mir abwenden würde, da sie mich für eine solche Ehre zu unbedeutend und nichtssagend hielt. Ich konnte meine Gefühle nicht umstimmen, obgleich ich wußte, daß er bald diese Dame heiraten würde — obgleich ich täglich die siegesbewußte Zuversicht in ihren Augen lesen konnte — obgleich ich stündlich sah, wie er ihr den Hof machte, wenn er es auch auf nonchalante Art tat, sich eher umwerben ließ als selbst umwarb; und gerade diese lässige Haltung fand ich in ihrem Stolz faszinierend.

Nein, die Umstände trugen keinesfalls dazu bei, meine Liebe abzukühlen, wenn sie mir auch manchen Anlaß zu Verzweiflung brachten. »Verzweiflung und Eifersucht«, wirst du vielleicht glauben, lieber Leser; aber konnte eine Frau in meiner Lage überhaupt Eifersucht auf eine Dame wie Blanche Ingram empfinden? Ich war nicht eifersüchtig, oder nur sehr selten. Die Qualen, die ich litt, waren anderer Natur. Blanche Ingram verdiente keine Eifersucht; dazu war sie nicht wirklich überlegen genug. Das mag wie ein Paradox klingen, aber ich weiß genau, was ich damit meine. Sie war auffällig, gewiß, aber sie wirkte unecht. Sie war imposant in ihrer Erscheinung, sie verfügte über glänzende Begabungen, aber ihr Gemüt war arm, ihr Herz von Natur aus kalt. Auf diesem Boden konnte nichts blühen, da gab es keine Frische, keine Ungezwungenheit. Sie war weder gütig noch originell. Stets zitierte sie geschwollene Phrasen aus irgendwelchen Büchern, und nie äußerte sie oder hatte sie eine eigene Meinung. Sie gab sich überschwenglich und gefühlvoll, aber sie hatte keine Ahnung von wirklicher Zuneidung oder von Mitgefühl. Zärtlichkeit und Aufrichtigkeit fehlten ihr ganz und gar, und sie verriet sich dabei zu oft, wenn sie z. B. ihre spöttische Abneigung gegen die kleine Adèle zeigte, sie mit bösen, verächtlichen Worten von sich stieß, sie häufig aus dem Zimmer wies und sie stets mit Kälte oder Schärfe behandelte. Auch andere Augen betrachteten diese Charakterenthüllungen genau, kühl und abschätzend. Ja, der zukünftige Bräutigam, Herr Rochester, unterzog sie seiner ständigen Beobachtung. Und dieses scharfsinnige Bewußtsein, diese Wachsamkeit, dieses genaue Erkennen aller Fehler seiner Zukünftigen, die vollkommene Leidenschaftslosigkeit in seiner Haltung ihr gegenüber — das alles bereitete mir unsägliche Qual.

Vielleicht heiratete er sie wegen ihrer Familie oder aus politischen Gründen. Vielleicht waren es ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Beziehungen. Ich wußte, daß er sie nicht liebte, daß sie nicht zueinander paßten und daß sie nicht fähig war, seine Liebe Zu gewinnen. Und das war der Punkt, der mich schmerzte, der meinem Fieber immer neue Giftstoffe zuführte: sie war nicht fähig, ihn zu bezaubern.

Hätte sie sofort ihren Sieg errungen, hätte er sich ihr ergeben und ihr sein Herz zu Füßen gelegt, so hätte ich mein Gesicht bedeckt und wäre — im bildlichen Sinne — vor ihnen gestorben. Wäre Blanche Ingram gut und edel gewesen, hätte sie Kraft, Hingabe, Güte und Vernunft besessen, so hätte ich einen harten Kampf mit den beiden Tigern in meiner Brust, der Eifersucht und der Verzweiflung, kämpfen müssen, mein Herz wäre verblutet — aber ich hätte sie bewundert, ihre Überlegenheit anerkannt und mich für den Rest meines Lebens damit abgefunden —, und je erhabener sie mir erschienen, desto mehr hätte ich sie bewundert, desto ruhiger wäre ich geworden. Aber so wie die Dinge standen, wie sie emsig und doch vergebens bemüht war, ihn zu bezaubern, ohne zu merken, daß sie nichts erreichte, wie sie sich einbildete, mit allen ihren Pfeilen ins Ziel zu treffen, und sich eitel in ihrem angeblichen Erfolg sonnte, während ihr Hochmut und ihre Selbstgefälligkeit sie immer weiter von ihrem geköderten Opfer entfernten, so wie ich sie ständig vor mir sah — das regte mich auf und versetzte mich in kaum zu beherrschende Wut.

Denn wie ich all ihre Versuche mißglücken sah, wußte ich, wie es ihr hätte gelingen können. All die Pfeile, die an seiner Brust abprallten und ihm zu Füßen fielen, hätten sehr wohl das Innerste seines Herzens treffen können, wenn sie mit geschickterer Hand abgeschossen worden wären — oder wenn sie ihn kampflos und still erobert und einen Ausdruck von Liebe in seinem stolzen Blick und Zärtlichkeit in seinem spöttischen Gesicht hervorgezaubert hätte.

Warum gelingt es ihr nicht, ihn mehr zu beeinflussen, wo sie ihm doch immer so nahe ist? fragte ich mich.

Sie kann ihn ja gar nicht wirklich gern haben und echte Zuneigung für ihn empfinden! Wenn sie es täte, dann brauchte sie doch nicht ständig schöne Augen zu machen, sich so geziert aufzuführen und so viel Charme zu verpuffen. Es scheint mir, sie könnte seinem Herzen viel näher kommen, wenn sie ein wenig still säße und mit ihrem schmachtenden Blick sparte. Ich habe ihn doch schon so anders gesehen als jetzt, da er hart und teilnahmslos auf ihre lebhaften Annäherungsversuche reagierte; aber damals hatte sich seine Miene wie von selbst erhellt, damals wurde er nicht mit gekünstelten und berechnenden Kunstgriffen umworben. Es genügte ja, ihm gegenüber natürlich zu sein, ihm zu antworten, wenn er es wünschte, ihm keine Grimassen zu schneiden — dann konnte er Wärme ausstrahlen wie die Sonne selbst. Wie wird sie es nur anstellen, ihm gefällig zu sein, wenn sie verheiratet sind? Ich glaube nicht, daß es ihr je gelingen wird — und doch, es mag ihr gelingen, und als seine Gattin mag sie einst die glücklichste Frau unter der Sonne sein.

Ich habe noch nichts Abfälliges über Herrn Rochesters Absicht, eine Ehe aus Geld- und Familienrücksichten einzugehen, gesagt. Es überraschte mich, als ich bei ihm diese Absicht entdeckte. Ich hatte ihn nicht für einen Mann gehalten, der sich von so gewöhnlichen Motiven leiten ließ, aber je länger ich über seine Position, Herkunft, Erziehung nachdachte, desto weniger fühlte ich mich berechtigt, ihn oder Fräulein Ingram zu verurteilen oder zu tadeln. Sie handelten ja nur gemäß den Ideen und Prinzipien, die ihnen von Kindheit an anerzogen waren. Diese Grundsätze waren nun einmal ihrem Stand eigen, und sie mußten Gründe haben, sich nach ihnen zu richten, selbst wenn ich es noch nicht verstand. Mir schien es zwar, daß ich an seiner Stelle nur einer Frau die Hand zum Leben gereicht hätte, die ich wirklich lieben konnte, aber die Selbstverständlichkeit eines solchen Eheglücks überzeugte mich, daß es schwerwiegende Gegenargumente geben mußte, denn sonst würde ja jeder — so glaubte ich in meiner Unwissenheit — so handeln, wie ich es mir wünschte.

Auch in anderer Beziehung wurde ich ihm gegenüber sehr nachsichtig. Ich vergaß alle seine Fehler, die ich früher so scharf beobachtet hatte. Damals hatte ich mir vorgenommen, mir ein genaues Bild von seinem Charakter zu machen, das Gute und das Schlechte gegeneinander abzuwägen und ein gerechtes Urteil zu fällen. Jetzt sah ich nichts Schlechtes mehr. Der Spott, der mich abgestoßen, die Grobheit, die mich erschreckt hatte, waren nur noch würzige Zutaten einer auserlesenen Speise. Zugegeben, sie hatten einen scharfen, ätzenden Geschmack, aber ohne sie wäre das Gericht mir nur fade erschienen. Und dieses gewisse Etwas — war es ein düsterer oder ein trauriger, war es ein berechnender oder ein verzweifelter Ausdruck? —, das dem aufmerksamen Beobachter hier und da auffiel, dann aber wieder so schnell verschwand, daß man seine Tiefe nicht ermessen konnte; dieses Etwas, das mich erschrecken und zusammenzucken ließ, als wanderte ich über einen Vulkan, und die Erde bebte unter meinen Füßen; dieses Etwas, das ich zuweilen immer noch mit pochendem Herzen fühlte. Anstatt es zu fürchten, sehnte ich mich danach, es zu ergründen; und ich schätzte Blanche Ingram glücklich, die eines Tages in diesen Abgrund hineinsehen und seine Geheimnisse enträtseln konnte.

Während ich immer nur an meinen Herrn und seine zukünftige Braut dachte, nur sie hörte und sah, beschäftigten sich die übrigen Gäste mit ihren eigenen Interessen und Vergnügungen. Die Damen Lynn und Ingram führten ihre feierlichen Gespräche weiter, nickten sich mit ihren turbangeschmückten Häuptern zu und hoben die Hände je nach dem Gesprächsthema mit Gebärden, die Überraschung, Geheimnistuerei oder Entsetzen ausdrückten. Sie wirkten wie zwei prächtige übergroße Marionetten. Die sanfte Frau Dent unterhielt sich mit der gutmütigen Frau Eshton, und die beiden gönnten mir hie und da ein Lächeln oder ein höfliches Wort. Sir George Lynn, Oberst Dent und Herr Eshton redeten über Politik, Grafschaftsangelegenheiten oder Gerichtssachen. Lord Ingram machte Amy Eshton den Hof; Louisa spielte Klavier und sang mit einem der Herren Lynn, während der andere der gelangweilt aussehenden Mary Ingram schmachtende Worte zuflüsterte. Aber immer wieder unterbrachen alle Anwesenden ihre Begleitmusik wie verabredet und wandten sich den Hauptfiguren der Szene zu, denn Herr Rochester und Blanche Ingram waren der Mittelpunkt, der Geist und die Seele der ganzen Gesellschaft. Verließ er nur für eine Stunde das Zimmer, so schlich sich wahrnehmbare Langeweile ein, und erschien er wieder, so belebten sich die Gespräche augenblicklich.

Eines Tages, als er geschäftehalber nach Millcote mußte, machte sich seine Abwesenheit besonders spürbar. Er hatte angekündigt, daß er erst spät am Abend zurückkehren werde. Der Nachmittag war regnerisch. Ein Spaziergang, den die Gäste geplant hatten, um ein Zigeunerlager in der Nähe von Hay zu besichtigen, war verschoben worden. Einige der Herren waren in die Ställe gegangen, die Jüngeren spielten mit den jungen Damen Billard. Die älteren Damen Ingram und Lynn suchten Trost in einem geruhsamen Kartenspiel. Blanche Ingram hatte durch hochmütiges Schweigen einige Versuche der Damen Dent und Eshton, sie in ein Gespräch zu ziehen, zurückgewiesen, klimperte einige sentimentale Lieder auf dem Klavier, summte dazu vor sich hin, holte sich dann einen Roman aus der Bibliothek, ließ sich in erhabener Gleichgültigkeit auf einem Sofa nieder und begann sich die Stunden der Abwesenheit mit rührender Lektüre zu versüßen. Das ganze Haus lag still. Nur hie und da hörte man fröhliches Lachen aus dem Billardzimmer. Es dämmerte bereits, und es war nahe an der Zeit, sich zum Essen umzukleiden, als die kleine Adèle, die im Salon neben mir auf der Fensterbank hockte, plötzlich ausrief: »Voilä Monsieur Rochester qui revient!«

Ich wandte mich um, und Blanche Ingram schoß aus ihrem Sofa empor. Auch die anderen blickten auf, denn gleichzeitig hörte man Räderknirschen und Hufschlag auf dem nassen Kies. Eine Postkutsche näherte sich dem Haus.

»Was ist bloß in ihn gefahren, daß er auf diese Art heimkommt?« sagte Blanche Ingram. »Er ritt doch Mesrour (seinen Rappen) beim Weggehen, nicht wahr? Und Pilot war bei ihm. Was hat er mit den Tieren angestellt?«

Bei diesen Worten trat sie in ihrer ganzen Größe und weitausholender Kleiderpracht so nahe an das Fenster, daß ich mir beim Zurücklehnen fast das Rückgrat brach. In ihrem Eifer hatte sie mich zuerst gar nicht bemerkt, aber sowie sie mich sah, kräuselte sie ihren Schmollmund und rauschte an ein anderes Fenster. Die Postkutsche hielt, der Kutscher zog die Türglocke, und ein Herr in Reisekleidung stieg aus dem Wagen. Es war aber nicht Herr Rochester, sondern ein großer, eleganter Mann, ein Fremder.

»Du unausstehlicher blöder Affe«, schrie Blanche Ingram die kleine Adèle an. »Wer hat dich hier aufs Fenster gesetzt, damit du uns falsche Nachrichten servierst?« Sie blickte mich dabei wütend an, als wäre es meine Schuld.

Man hörte Stimmen in der Halle, und gleich darauf trat der Neuankömmling ein. Er verneigte sich vor Lady Ingram, die er offenbar für die älteste der anwesenden Damen hielt.

»Es scheint mir, ich komme zu ungelegener Zeit, gnädige Frau«, sagte er. »Mein Freund, Herr Rochester, ist nicht zu Hause; aber ich habe eine lange Reise hinter mir, und ich glaube, in Anbetracht meiner alten und innigen Freundschaft zu ihm, hier einstweilen auf seine Rückkehr warten zu dürfen.«

Sein Benehmen war höflich. Seine Aussprache erschien mir etwas ungewöhnlich — nicht gerade ausländisch, aber auch nicht ganz englisch. Er mochte im gleichen Alter wie Herr Rochester sein — zwischen dreißig und vierzig —; seine Gesichtsfarbe war von fahler Blässe, sonst sah er — wenigstens auf den ersten Blick — sehr gut aus. Betrachtete man ihn näher, so entdeckte man etwas an ihm, das mißfiel — oder eher: das keinerlei Gefallen erregte. Seine Züge waren regelmäßig, aber zu schlaff. Er hatte große, wohlgeformte Augen, aber mir schien, sie strahlten zahme Leblosigkeit und Leere aus.

Die Glocke zum Umkleiden zerstreute die Gesellschaft. Ich sah ihn erst nach dem Essen wieder. Er schien sich wohl zu fühlen. Aber sein Gesicht gefiel mir jetzt noch weniger als zuvor. Ich fand es unstet und leblos zugleich. Seine Augen schweiften umher, ohne daß es einen Sinn ergab. Sein Blick war so seltsam, wie ich es noch nie gesehen hatte. Für einen gutaussehenden und liebenswürdigen Mann fand ich ihn äußerst abstoßend. Dieses ovale glatthäutige Gesicht war ausdruckslos; die Adlernase und der kleine kirschrote Mund hatten keine Kraft; hinter der niedern, geraden Stirn saß kein Gedanke; in den leeren braunen Augen lag nichts Gebietendes.

Ich saß wie gewöhnlich in meiner Ecke und beobachtete ihn im Schein der Kaminleuchter, die ihn hell bestrahlten. Er hatte sich in einen Armsessel am Kamin niedergelassen und rückte immer näher an das Feuer, als wenn ihn fror. Ich verglich ihn mit Herrn Rochester. Der Gegensatz konnte — mit Verlaub gesagt — nicht größer sein, als der zwischen einem geschmeidigen Gänserich und einem wilden Falken oder als der zwischen einem frommen Lamm und einem zottigen großen Schäferhund. Er hatte Herrn Rochester als einen alten Freund erwähnt. Es mußte eine merkwürdige Freundschaft gewesen sein; eine treffende Illustration zu dem Sprichtwort: Gegensätze ziehen sich an.

Ein paar Herren saßen bei ihm, und ich hörte Bruchstücke ihrer Unterhaltung. Zuerst konnte ich nur schlecht verstehen, worüber geredet wurde, denn Louisa Eshton und Mary Ingram saßen in meiner Nähe, und ihre Plauderei lenkte mich ab. Auch sie sprachen von dem Fremden, nannten ihn »einen schönen Mann«, Louisa fand ihn »ein liebenswertes Geschöpf«, das sie »Verehrte«, während Mary seinen »hübschen kleinen Mund«, seine »anmutige Nase« lobte und in ihm ihr Schönheitsideal sah.

»Und was für eine hinreißende Stirn er hat!« rief Louisa; »so weich und zart, und nicht so eckig und gerunzelt, wie ich es nicht leiden kann; und dann lächelt er so friedlich vor sich hin.«

Zum Glück rief Henry Lynn sie ans andere Ende des Zimmers, um mit ihnen den auf morgen verschobenen Ausflug zu besprechen. Jetzt konnte ich meine ganze Aufmerksamkeit der Gruppe am Kaminfeuer widmen. So erfuhr ich, daß der neue Gast ein Herr Mason war. Er war erst seit kurzem in England und kam aus einem warmen Land. Vielleicht war er deshalb so bleich, saß so nahe am Feuer und trug seinen Überzieher im Hause. Nun sprachen sie über Jamaika, Kingston und Spanish Town, woraus ich schloß, daß er in Westindien lebte, und ich war recht erstaunt, als ich hörte, er sei dort Herrn Rochester zum ersten Male begegnet. Er erzählte, wie sein Freund die tropische Hitze, die Wirbelstürme und Monsunregen haßte. Ich wußte zwar, daß Herr Rochester viel gereist war; Frau Fairfax hatte es mir gesagt; aber ich hatte angenommen, er sei stets in Europa geblieben, und ich hatte bisher nie eine Andeutung gehört, daß er sich in diesen fernen Gegenden aufgehalten habe.

Meine Überlegungen wurden plötzlich durch einen unerwarteten Zwischenfall unterbrochen. Der fröstelnde Herr Mason hatte gerade einen Diener gebeten, noch mehr Kohlen aufzutragen, obgleich die Glut im Kamin noch hell leuchtete; und als dies geschehen war, blieb der Diener bei Herrn Eshton stehen und flüsterte ihm etwas zu. Ich konnte nur die Worte »altes Weib« und »ziemlich aufdringlich« verstehen.

»Sagen sie ihr, ich werde sie ins Gefängnis stecken, wenn sie sich nicht sofort davonmacht«, erwiderte der Friedensrichter.

»Nein — warten Sie«, unterbrach Oberst Dent. »Schicken Sie sie nicht fort, Eshton; wir könnten uns doch ihre Anwesenheit zunutze machen. Fragen wir zuerst die Damen.« Er fuhr fort: »Meine Damen, Sie wollen doch nach Hay gehen, um sich das Zigeunerlager anzuschauen. Sam hier erzählt uns gerade, daß eine dieser Stammütter in der Gesindestube sitzt und darauf besteht, den ›Herrschaften‹ wahrsagen zu dürfen. Wollen Sie sie sehen?«

»Um Gottes willen, Herr Oberst«, rief Lady Ingram entsetzt. »Sie wollen doch nicht etwa so eine ordinäre Betrügerin unterstützen? Schicken Sie sie auf der Stelle fort!«

»Aber ich kann sie einfach nicht zum Weggehen bewegen, gnädige Frau«, sagte der Diener. »Auch die restliche Dienerschaft bemüht sich umsonst. Frau Fairfax spricht gerade mit ihr und redet ihr zu fortzugehen, aber sie hat sich in eine Ecke am Kamin gesetzt und weigert sich aufzustehen, ehe sie nicht vorgelassen wird.«

»Was will sie denn?« fragte Frau Eshton.

»Sie möchte den Herrschaften wahrsagen, sagt sie, gnädige Frau, und sie schwört, sie müsse und werde es tun.«

»Wie sieht sie aus?« fragten die Fräulein Eshton wie aus einem Munde.

»Ein abstoßend häßliches Weib, gnädiges Fräulein; fast so schwarz wie ein verrußter alter Topf.«

»Ah! Eine richtige Hexe also!« rief Frederick Lynn. »Natürlich müssen wir sie hereinlassen.«

»Der Meinung bin ich auch«, pflichtete ihm sein Bruder bei. »Es wäre doch ein Jammer, wenn wir uns diesen Spaß entgehen ließen.«

»Aber, meine lieben Jungen, was denkt Ihr euch nur?« ermahnte Lady Lynn ihre Söhne.

»Ich kann unmöglich ein so törichtes Vorhaben zulassen«, verkündete Lady Ingram.

»Aber natürlich kannst du und wirst du, Mama«, entschied die hochmütige Stimme Blanche Ingrams, die bisher ruhig vor dem Klavier gesessen und getan hatte, als beschäftigte sie sich mit ihrer Musik. »Ich verspüre Lust und Neugier, mir meine Zukunft wahrsagen zu lassen. Also, Sam, bringen Sie die böse Fee herein.«

»Blanche, mein Liebling, bedenke doch —.«

»Das tue ich. Ich bedenke alles, was du willst, und jetzt muß ich meinen Willen haben. Los, Sam. Beeilen Sie sich.«

»Ja, ja, ja!« riefen alle jungen Damen und Herren.

»Lassen wir sie herein — das wird ein Mordsspaß!«

Der Diener zögerte immer noch: »Sie sieht aber wirklich schlimm aus.«

»Gehen Sie!« befahl Blanche Ingram, und er entfernte sich.

Die Gesellschaft geriet in Aufregung. Man scherzte, spottete oder neckte sich gegenseitig, als Sam wiederkam.

»Jetzt will sie nicht kommen«, sagte er. »Sie behauptet, es stehe ihr nicht an, vor der ›gemeinen Herde‹ — das war ihr Ausdruck — zu erscheinen. Ich solle sie in ein Zimmer führen, und die, die sie befragen wollen, müßten einzeln zu ihr gehen.«

»Siehst du, Blanche, mein Königskind«, begann Lady Ingram. »Sie stellt schon unverschämte Forderungen. Ich rate dir, mein Engelchen —.«

»Führen Sie sie in die Bibliothek«, schnitt das »Engelchen« der Mutter das Wort ab. »Natürlich. Mir steht es auch nicht an, ihr vor der gemeinen Herde zuzuhören. Ich will sie ganz für mich allein haben. Brennt das Kaminfeuer in der Bibliothek?«

»Jawohl, gnädiges Fräulein — aber sie sieht wahrhaftig nicht wie ein Kesselflicker aus.«

»Schwatzen Sie gefälligst nicht so dumm daher, und tun sie, was ich Ihnen sage.«

Sam verschwand abermals; und die Gäste saßen in gespannter Erwartung.

»Jetzt ist sie bereit«, verkündete der wieder eingetretene Diener. »Sie wünscht zu wissen, wer sie zuerst besuchen will.«

»Ich glaube, ich sollte sie mir lieber zuerst einmal anschauen, bevor die Damen zu ihr gehen«, sagte Oberst Dent.

»Sam, sagen Sie ihr, ein Herr käme.«

Sam ging und kehrte wieder.

»Herr Oberst, sie sagt, sie wünsche keine Herren: die brauchten sich gar nicht erst zu bemühen; und das gleiche gelte für die Damen« — er mußte ein Kichern unterdrücken —, »mit Ausnahme der jungen unverheirateten Fräulein.«

»Donnerwetter. Die hat aber Geschmack!« bemerkte Henry Lynn.

Blanche Ingram erhob sich feierlich: »Ich gehe zuerst«, sagte sie in einem Ton, der dem Anführer einer Schar auf verlorenem Posten angestanden hätte, der dem Feind entgegenschreitet.

»Ach, mein Bestes! Ach, mein Liebstes — bitte warte, überleg es dir doch!« flehte die Mama sie an; aber sie rauschte feierlich an ihr vorbei, schritt durch die Tür, die Oberst Dent ihr öffnete, und wir hörten sie in die Bibliothek gehen.

Nun wurde es ziemlich still im Raum. Lady Ingram fand es angebracht, die Hände zu ringen, und gab sich theatralisch. Mary erklärte, sie würde sich nie in ein solches Abenteuer wagen. Amy und Louisa tuschelten mit leisem Gekicher und sahen ein wenig ängstlich aus.

Die Minuten zogen sich in die Länge. Eine Viertelstunde war vergangen, als sich die Tür zur Bibliothek wieder öffnete. Blanche Ingram kehrte zurück. Würde sie lachen? Würde sie es als einen Scherz auffassen? Alle Augen blickten sie neugierig gespannt an, und sie begegnete ihnen abweisend und kalt. Sie sah weder verstört noch belustigt aus, ging steif an ihren Platz und setzte sich schweigend.

»Nun, Blanche?« fragte Lord Ingram.

»Was hat sie gesagt?« fragte Mary.

»Was meinst du? Was hast du für ein Gefühl? Ist sie wirklich eine Wahrsagerin?« wollten die Schwestern Eshton wissen.

»Aber, aber, ihr guten Leute«, erwiderte Blanche Ingram. »Bedrängt mich doch nicht. Ich muß sagen, eure Neugier und Leichtgläubigkeit ist wirklich nicht sehr anspruchsvoll. Ihr alle — einschließlich meiner guten Mama — scheint dieser Sache so viel Bedeutung beizumessen und fest zu glauben, wir hätten eine echte Hexe im Haus, am Ende vielleicht sogar des Teufels eigene Großmutter. Ich habe eine schmutzige Zigeunerin vorgefunden, die mir in ihrer abgedroschenen Art ein paar übliche Sprüche aufgesagt und mir die Hand gelesen hat. Meine Laune ist somit befriedigt, und Herr Eshton würde nun gut daran tun, das zerlumpte Weib einsperren zu lassen, wie er es ihr angedroht hat.«

Sie ergriff ein Buch, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und gab zu verstehen, daß ihr an weiterer Konversation nicht gelegen war. Ich beobachtete sie fast eine Stunde lang: Während der ganzen Zeit drehte sie keine Seite um, ihr Gesicht wurde zusehends düsterer, schmollender, und drückte bittere Enttäuschung aus. Offensichtlich hatte sie nichts Günstiges über sich gehört, und mir schien es, als habe sie, trotz ihrer betonten Gleichgültigkeit, diesen Enthüllungen — welcherart sie auch sein mochten — viel mehr Bedeutung zugemessen, denn sie war schweigsam und mürrisch geworden.

Mary Ingram, Amy und Louisa Eshton erklärten, sie getrauten sich nicht allein in die Bibliothek, aber alle drei wünschten trotzdem, sich wahrsagen zu lassen. Durch Sam als Abgesandten wurde nun eine lange Verhandlung geführt, und nach vielem Hin- und Herlaufen (dem armen Sam müssen die Füße weh getan haben) ließ sich die Zigeunersybille schließlich, wenn auch widerwillig, herab, die drei jungen Damen gemeinsam zu empfangen. Dieser Besuch verlief nicht so still wie der von Blanche Ingram. Man hörte hysterisches Kichern und kleine Schreie. Nach zwanzig Minuten wurde die Tür aufgestoßen, und sie kamen in den Salon gerannt; sie sahen ganz verschreckt aus.

»Da geht es bestimmt nicht mit rechten Dingen zu«, riefen sie wie aus einem Munde. »Was die uns alles gesagt hat! Sie weiß alles über uns!«

Sie versanken atemlos in die eiligst von den Herren herbeigebrachten Stühle.

Als man sie weiter ausfragte, erklärten sie, die Alte hätte ihnen Dinge erzählt, die sie als kleine Kinder gesagt oder getan hätten; sie hatte die Bücher und Nippesfiguren in ihren Boudoirs genaustens beschrieben und ihnen alle Geschenke genannt, die sie von Bekannten und Verwandten erhalten hatten. Sie behaupteten, die Frau habe sogar ihre Gedanken erraten, jeder ins Ohr geflüstert, wen sie am liebsten hatte, und ihre geheimsten Wünsche erraten.

Hier unterbrachen die Herren mit dem ernsthaft hervorgebrachten Anliegen, die jungen Damen möchten doch über die letzten zwei Punkte nähere Auskunft geben. Diese zudringliche Frage wurde jedoch nur mit Erröten, Protesten, empörten Tremolos und Gekicher beantwortet.

Die Matronen indessen reichten Riechfläschchen herum, setzten ihre Fächer in Bewegung und wiederholten immer wieder, man hätte ihren Rat zur rechten Zeit befolgen sollen. Die älteren Herren lachten und schmunzelten, während die jüngeren den Schönen ihre Dienste andrängten.

Mitten in dem Tumult, dem ich meine ganze Aufmerksamkeit schenkte, hörte ich ein vernehmbares Räuspern neben mir; es war Sam.

»Ach, bitte sehr, Fräulein Eyre, die Zigeunerin erklärt, es sei da noch eine ledige Dame im Zimmer, und sie würde nicht von der Stelle weichen, bis sie alle gesehen hat. Ich dachte mir, diese Dame könnten nur Sie sein, denn sonst sehe ich niemanden. Was soll ich ihr ausrichten?«

»Oh, gewiß, ich gehe schon«, sagte ich und war froh, auf so unerwartete Weise meine Neugier befriedigen zu können. Ich schlich mich unbemerkt aus dem Salon, wo alle um die immer noch vor Angst zitternden drei jungen Damen versammelt waren. An der Tür sagte Sam zu mir: »Wenn Fräulein Eyre es wünschen, werde ich auf der Diele warten. Sollte die Alte Sie erschrecken, so brauchen Sie nur zu rufen, und ich komme.«

»Nein, danke, Sam. Gehen Sie nur in die Küche zurück. Ich habe wirklich überhaupt keine Angst.« Das stimmte; aber ich war in ziemlicher Neugier.

19

Es war still in der Bibliothek, als ich eintrat, und die Hexe — wenn sie tatsächlich ein Hexe war — hatte sich recht bequem in einen Sessel am Kamin niedergelassen. Sie trug einen roten Mantel mit schwarzer Mütze, oder eher einen breitkrempigen Zigeunerhut, um den sie ein am Kinn verknotetes Tuch gebunden hatte. Eine verlöschte Kerze stand auf dem Tisch. Sie saß über das Feuer gebeugt und schien im Flammenlicht aus einem kleinen schwarzen bibelähnlichen Buch zu lesen. Sie murmelte dabei vor sich hin, wie es alte Frauen zu tun pflegen, und sie blickte bei meinem Eintreten nicht auf; scheinbar wollte sie einen Abschnitt zu Ende lesen.

Ich trat hervor, um mir die Hände zu wärmen. Im Salon hatte ich ziemlich weit vom Feuer gesessen und fror deshalb ein bißchen. Ich fühlte mich völlig gefaßt und ruhig, denn ich sah nichts an dieser Zigeunerin, das mich erschrecken oder aus der Ruhe bringen konnte. Sie klappte ihr Buch zu und hob langsam den Kopf. Die Hutkrempe verdeckte zwar einen Teil ihres Gesichts, aber als sie es mir zuwandte, bemerkte ich, daß es recht seltsam aussah. Es war von schwärzlich brauner Farbe; verfilzte Locken schauten hinter einem weißen, über Wangen und Kinn befestigten Band hervor; sie war knochig, und ihr Auge blickte mich scharf und durchdringend an.

»Soso, du willst dir also wahrsagen lassen?« fragte sie mit einer Stimme, die an Schärfe ihren Gesichtszügen entsprach.

»Wie du willst, Mütterchen. Mir liegt nicht viel daran, aber ich muß dich gleich warnen: Ich glaube diesen Zauber nicht.«

»Die Antwort entspricht ganz deiner Unverschämtheit. Das habe ich erwartet. Ich hörte es bereits an deinen Schritten, als du über die Schwelle tratst.«

»Ach, wirklich? Da hast du aber ein gutes Gehör.«

»Das habe ich. Ich habe auch einen guten Blick und scharfen Verstand.«

»Das brauchst du wohl in deinem Beruf.«

»Jawohl, besonders bei Kunden wie dir. Warum zitterst du eigentlich nicht?«

»Mir ist nicht kalt.«

»Warum bist du nicht bleich?«

»Ich bin nicht krank.«

»Warum befragst du nicht meine Kunst?«

»Ich bin nicht töricht.«

Das alte Weib lachte verstohlen unter ihrer mehrfachen Kopfbedeckung in sich hinein, zog eine kurze schwarze Tabakspfeife aus ihrem Rock, zündete sie an und qualmte eine Weile still vor sich hin. Darauf richtete sie ihren gekrümmten Körper auf, nahm die Pfeife aus dem Mund, starrte weiterhin ins Feuer und sagte mit entschiedener Betonung:

»Erstens ist dir kalt, zweitens bist du krank, und drittens bist du auch töricht.«

»Beweise mir das«, erwiderte ich.

»Das kann ich in wenigen Worten. Es ist dir kalt, weil du einsam bist. Keine Berührung bringt dein Inneres zum Entflammen. Du bist krank, weil du das höchste und schönste Gefühl, das dem Menschen beschert ist, nicht kennst. Und du bist töricht, weil du seinem Ruf nicht folgen willst, obgleich du leidest und weil du keinen Schritt dorthin wagst, wo es dich erwartet.«

Sie tat ein paar Züge aus ihrer Pfeife, wobei sie starken Qualm von sich blies.

»Das könntest du ebensogut jeder sagen, von der du weißt, daß sie allein und im Dienstverhältnis in einem großen Hause lebt.«

»Ich könnte es schon; aber würde es auch auf fast jede andere zutreffen?«

»In meinen Umständen, ja.«

»In deinen Umständen, meinst du; dann finde mir einmal jemanden, der genau in den gleichen Umständen lebt.«

»Da könnte ich leicht Tausende finden.«

»Kaum eine einzige könntest du finden. Wenn du es nur wüßtest: Deine Lage ist einzigartig. Das Glück ist so nahe; es ist in deiner Reichweite. Alle Elemente sind vorhanden und warten nur darauf, sich zu verbinden. Das Schicksal hat sie ein wenig weit voneinander entfernt aufgestellt, aber laß sie nur zusammenkommen, und höchstes Glück tritt ein.«

»Solche Rätsel versteh’ ich nicht. Ich war mein Lebtag nie gut im Rätselraten.«

»Soll ich mich deutlicher ausdrücken? Gib mir deine Hand.«

»Mit einem Silberstück drauf, vermute ich?«

»Sehr richtig.«

Ich gab ihr einen Schilling. Sie steckte ihn in den abgeschnittenen Fuß eines Wollstrumpfes, den sie aus ihrer Tasche hervorgeholt, danach sorgsam verschnürt und wieder in ihren Rocksaum verstaut hatte. Jetzt bat sie mich, ihr meine Hand zu zeigen. Sie neigte sich darüber und betrachtete sie, ohne sie zu berühren.

»Sie ist zu zart«, sagte sie. »Mit dieser Hand kann ich nichts anfangen. Sie hat ja fast gar keine Linien. Und überhaupt, was kann man schon aus einer Hand lesen? Dort steht das Schicksal nicht geschrieben.«

»Das glaube ich auch«, sagte ich.

»Nein«, fuhr sie fort. »Ins Gesicht muß man schauen. Auf die Stirn, die Augen — tief in die Augen —, den Mund. Knie dich und hebe den Kopf.«

»Aha, jetzt kommst du der Wirklichkeit schon näher«, erwiderte ich und tat,iwie mir geheißen. »Jetzt fange ich an, dir Vertrauen zu schenken.«

Sie stocherte im Feuer herum, so daß die Kohlenglut kurz aufflammte. Der Lichtstrahl erhellte jedoch nur mein Gesicht; ihres blieb im Schatten.

»Ich frage mich, was du wohl empfandest, als du heute abend zu mir kamst«, sagte sie. »Und ich frage mich, welche Gedanken dich beschäftigten, als du stundenlang dort drüben saßest, mit all diesen piekfeinen Leuten, die wie Schattenbilder an dir vorüberhuschten und mit denen dich so wenig Sympathie verbindet, wie man sie eben zu Schattenbildern haben kann, die nur der äußeren Form nach Menschen sind, denen aber nichts Wirkliches, nichts Greifbares anhaftet.«

»Sie ermüden mich oft, machen mich manchmal schläfrig, aber traurig stimmen sie mich nie.«

»Dann hegst du sicher eine geheime Hoffnung, die dich aufrecht erhält?«

»Nein. Das Höchste, das ich mir erhoffen kann, ist genügend Geld zu sparen, um eines Tages eine kleine Schule in meinem eigenen Haus zu eröffnen.«

»Das sind mir aber höchst magere Hoffnungen. Mit solchen Gedanken ernährt man den Geist doch nicht. An was denkst du, wenn du auf deiner Fensterbank hockst? — Du siehst, ich kenne deine Gewohnheiten.«

»Das hast du von der Dienerschaft gehört.«

»Aha. Du hältst dich für sehr scharfsinnig. Was du sagst, mag stimmen. Der Wahrheit zur Ehre, ich kenne eine der Dienerinnen: eine gewisse Grace Poole.«

Ich sprang entsetzt auf, als ich den Namen hörte.

Sie kennt Grace Poole, sagte ich mir. Dann ist also doch eine Teufelei im Spiel.

»Hab nur keine Angst«, fuhr die seltsame Alte fort. »Diese Poole ist ein zuverlässiges Wesen. Sie ist still und verschlossen, und ihr kann man durchaus vertrauen. Aber, wie gesagt, denkst du wirklich nur an deine zukünftige Schule, wenn du auf der Fensterbank sitzt? Interessierst du dich nicht für irgendeinen der Hausbewohner, die sich in den Sesseln und Sofas vor dir rekeln? Ist da nicht jemand, dessen Gesicht du besonders beobachtest? Jemand, dessen Gebaren wenigstens deine Neugierde erregt?«

»Ich beobachte sie alle gern. Ihre Gesichter und Gebaren.«

»Aber suchst du dir nicht gern eine Person besonders aus oder gar zwei?«

»Doch, sehr oft sogar. Wenn die Blicke und Gesten eines Paares eine ganze Geschichte erzählen — so belustigt mich das.«

»Was für Geschichten hörst du da am liebsten?«

»Ach. Da ist keine große Auswahl. Sie handeln ja alle vom selben Thema — der Liebe; und sie enden alle in der gleichen Katastrophe — der Ehe.«

»Und dieses ewig gleichbleibende Thema gefällt dir?«

»Überhaupt nicht. Es sagt mir gar nichts.«

»Es sagt dir gar nichts? Wenn eine lebensprühende, vor Gesundheit strotzende junge Dame von Rang und Vermögen einen Herrn anlächelt, den du —«

»Den ich was?«

»Du weißt schon — den du vielleicht sehr gern hast.«

»Ich kenne die Herren hier nicht. Ich habe kaum mit einem von ihnen ein Wort gewechselt, und was das Gernhaben anbetrifft, so halte ich einige für ehrbar, würdevoll und von gesetztem Alter, andere für jung, hübsch aussehend und lebhaft; aber es ist mir völlig egal, von wem sie sich anlächeln lassen, und es berührt meine Gefühle nicht im geringsten.«

»Du kennst also die Herren hier nicht? Du hast mit keinem ein Wort gewechselt? Trifft das auch auf den Hausherrn zu?«

»Er ist nicht zu Hause.«

»Welch tiefsinnige Bemerkung! Eine wohldurchdachte Ausflucht, fürwahr! Er ist heute früh nach Millcote ausgeritten und wird heute abend oder morgen früh zurück sein. Genügt diese Tatsache, um ihn von der Liste deiner Bekanntschaften auszuschließen? Existiert er deshalb nicht?«

»Natürlich nicht. Aber ich sehe nicht ein, was Herr Rochester mit dem Thema zu tun hat.«

»Ich sprach eben von Damen, die Herren anlächeln. Und in letzter Zeit ist Herr Rochester so mit Lächeln überschüttet worden, daß es schon fast des Guten zuviel ist. Hast du das noch gar nicht bemerkt?«

»Herr Rochester hat das Recht, von seinen Gästen angelächelt zu werden.«

»Natürlich hat er das Recht. Das ist keine Frage. Aber hast du nicht bemerkt, daß diese Geschichten von Heirat sich vorzugsweise und beständig um Herrn Rochester drehen?«

»Der Eifer des Zuhörenden ermutigt den Erzähler«, sagte ich eigentlich mehr zu mir selbst als zu der Zigeunerin, deren seltsame Rede, Stimme und Haltung mich wie in eine Art von Traumzustand versetzt hatten. All die unerwarteten Sätze, die sie sprach, webten mich in ein verwirrendes Netz. Ich fragte mich, welcher unsichtbare Geist den Schlägen meines Herzens gelauscht und sie so vollständig aufgezählt hatte.

»Der Eifer des Zuhörenden!« wiederholte sie. »Ja, Herr Rochester hat Stunde um Stunde den bezaubernden Lippen gelauscht, die sich so begeistert mitteilten. Herr Rochester hat sich des Gebotenen so gefreut und sah so dankbar aus, daß man ihm die Zeit so schön vertrieb. Hast du das nicht bemerkt?«

»Dankbar! Ich kann mich nicht erinnern, einen solchen Ausdruck an ihm entdeckt zu haben.«

»Entdeckt! Dann hast du ihn also beobachtet. Und was hast du dabei entdeckt? Etwa keine Dankbarkeit?«

Ich antwortete nicht.

»Liebe hast du entdeckt, nicht wahr? Und dann hast du ihn dir verheiratet vorgestellt und seine Braut glücklich gesehen?«

»Hm. Nicht unbedingt. Deine Hexenweisheit läßt dich manchmal im Stich.«

»Was zum Teufel hast du denn gesehen?«

»Das ist meine Sache. Ich bin hierhergekommen, um mir wahrsagen zu lassen, und nicht, um zu berichten. Ist es denn bekannt, daß Herr Rochester heiraten wird?«

»Ja. Und zwar das schöne Fräulein Ingram.«

»Bald?«

»Der Schein läßt darauf schließen, und zweifellos werden sie ein überglückliches Paar abgeben — obgleich du die sträfliche Kühnheit zu haben scheinst, daran zu zweifeln. Eine so hübsche, edle, witzige und in allem anderen vollkommene Dame muß er ja lieben; und sie liebt ihn — vielleicht nicht gerade seine Person, aber doch zumindest seinen Geldbeutel. Ich weiß, daß sie den Rochesterschen Besitz für eine höchst lohnende Partie hält, obgleich ich ihr eben vor einer Stunde — Gott verzeih’s — gerade etwas gesagt habe, was sie überaus nachdenklich stimmte; ihre Mundwinkel fielen um einen Zentimeter. Ich würde ihrem schlecht beratenen Freier raten, sich vorzusehen. Wenn ihr ein anderer mit ansehnlicheren Reichtümern über den Weg läuft, hat er ausgespielt.«

»Aber Mütterchen, ich bin doch nicht gekommen, um mir Herrn Rochesters Zukunft wahrsagen zu lassen, sondern meine eigene. Und du hast mir nichts erzählt.«

»Deine Zukunft liegt noch im dunkeln. Als ich mir dein Gesicht ansah, fand ich so viel Widersprüche. Das Schicksal hat dir Glück beschieden, das weiß ich. Ich wußte es, bevor ich heute abend hierher kam. Das Schicksal hat dein Glück behutsam vor dir ausgebreitet. Ich sah es. Es liegt nur an dir, die Hand auszustrecken und es zu ergreifen. Aber ob du es tun wirst, das ist die Frage, über die ich mir noch nicht klar bin. Knie dich noch einmal nieder.«

»Mach’s nicht zu lang. Das Feuer versengt mich.«

Ich kniete. Sie beugte sich nicht über mich, sondern strahlte nur im Stuhl zurückgelehnt. Sie begann zu murmeln:

»Die Flamme flackert in ihrem Auge; das Auge leuchtet wie der Morgentau; es blüht so zart und gefühlvoll; es lächelt über meine Rede; es ist empfindsam; jeder Eindruck spiegelt sich in seinem klaren Rund; wenn es lächelt, blickt es traurig; eine unbewußte Mattigkeit lastet auf den Lidern: das bedeutet von Einsamkeit bedingte Wehmut Es wendet sich von mir ab; es erträgt kein weiteres Ausforschen; es scheint mit seinem spottenden Blick all meine bisherigen Enthüllungen abzuleugnen — nämlich daß es empfindsam und traurig sei. Doch sein Stolz und seine Zurückhaltung bestätigen mir, daß ich recht hatte. Das Auge ist gut.

Der Mund kann zuweilen fröhlich lachen. Er ist stets bereit, das mitzuteilen, was der Verstand ihm eingibt. Allerdings ist er eher schweigsam, wenn das Herz spricht. Er ist schmiegsam und lebhaft und wahrlich nicht geschaffen, um in stiller Einsamkeit zu schmachten. Dieser Mund sollte öfter reden und lächeln und warmer Zuneigung begegnen. Auch der Mund ist vorteilhaft. Ich sehe nur ein Element, das sich dem Glück in den Weg stellt, und das ist die Stirn. Sie sagt: ›Ich kann allein leben, wenn Selbstachtung und die Umstände es erfordern. Ich brauche meine Seele nicht zu verkaufen, um mir Glückseligkeit einzuhandeln. Ich trage einen inneren Schatz mit mir, der mich am Leben erhält, wenn mir auch alle äußeren Freuden verwehrt oder nur um einen Preis zu haben sind, den ich mir nicht leisten kann.‹ Die Stirn erklärt: ›Die Vernunft hält die Zügel fest in der Hand. Sie wird die Gefühle nicht ausbrechen lassen, um sie in wilde Abgründe zu stürzen. Die Leidenschaften mögen wüten und toben wie die wahren Heiden, die sie sind. Die Begierde mag sich allerlei Eitelkeiten ausdenken — aber in jedem Streit wird die Vernunft das letzte Wort, bei jeder Entscheidung die ausschlaggebende Stimme haben. Stürme, Erdbeben und Brände mögen kommen: Aber ich werde stets der leisen Stimme folgen, die mir sagt, was das Gewissen befiehlt.‹

Gut gesagt, Stirn. Deine Erklärung soll gewürdigt werden. Ich habe meine Pläne gemacht — und ich halte sie für richtig —, und in ihnen habe ich die Forderungen des Gewissens und den Rat der Vernunft befolgt. Ich weiß, wie schnell die Jugend verblüht, wie schnell die Blüte verwelkt, wenn ich im Pokal des Glücks auch nur den kleinsten Tropfen von Schande oder den geringsten Geschmack von Reue entdecke. Ich will weder Opfer noch Kummer oder Zerstörung — nein, das entspricht nicht meiner Art — ich will helfen und nicht zerstören — ich will zärtliches Lächeln, Liebkosungen, die Süße der Liebe — das reicht. Ich glaube, ich bin in ein herrliches Phantasieren verfallen. Ich wünschte, dieser Augenblick könnte ewig dauern; aber es geht nicht. Bisher habe ich mich völlig beherrscht. Ich habe getan, was ich mir geschworen hatte zu tun. Würde ich fortfahren, so könnte ich in Versuchung geraten, zu weit zu gehen. Stehen Sie auf, Fräulein Eyre. Verlassen Sie mich jetzt. Das Spiel ist aus!«

Wo war ich? Wachte oder träumte ich? Träumte ich immer noch?

Die Stimme der Alten hatte sich verwandelt. Ihre Sprache, ihre Bewegungen, alles war mir so vertraut wie mein eigenes Gesicht im Spiegel — wie meine eigene Rede. Ich erhob mich, ging aber nicht hinaus. Ich schaute, schürte das Feuer und schaute wieder. Aber sie zog ihren Hut und ihr Kopftuch fester um ihr Gesicht und gab mir ein Zeichen fortzugehen. Die Flammen erhellten ihre ausgestreckte Hand, und in meiner angeregten Neugier sah ich sie mir genau an. Das war nicht die Hand eines alten Weibes. Sie war rund und geschmeidig, die Finger waren wohlgeformt und kräftig, und ein, breiter Ring am kleinen Finger blitzte auf. Ich betrachtete ihn und erblickte einen Stein, den ich schon hundertmal gesehen hatte. Jetzt schaute ich wieder auf das Gesicht, das mir nicht mehr abgewandt war — im Gegenteil. Der Hut war abgezogen und auch das Tuch, und der Kopf neigte sich vor.

»Nun, Jane, haben Sie mich erkannt?« fragte die bekannte Stimme.

»Ziehen Sie nur noch den roten Mantel aus, Herr Rochester, und dann —.«

»Aber die Schnur ist verknotet — helfen Sie mir.«

»Zerreißen Sie sie.«

»Gut. Raus aus der Verkleidung.« Herr Rochester stand vor mir.

»Also wirklich! Welch seltsame Idee!«

»Jedoch gut ausgeführt. Finden Sie nicht?«

»Bei den Damen haben Sie Ihre Rolle gewiß gut gespielt.«

»Und bei Ihnen nicht?«

»Mir gegenüber haben Sie sich gar nicht wie eine Zigeunerin benommen.«

»Wie dann? Wie ich selbst?«

»Nein; irgendwie unerklärlich. Ich glaube, Sie haben versucht, mich auszuhorchen — oder mich hereinzulegen. Sie haben Unsinn geredet, damit ich auch Unsinn rede. Das war nicht sehr anständig.«

»Verzeihen Sie mir, Jane?«

»Das muß ich mir erst überlegen. Wenn ich zu dem Schluß komme, daß ich keine zu großen Albernheiten gesagt habe, werde ich’s versuchen. Aber es war trotzdem nicht recht.«

»Ach, Sie sind sehr korrekt gewesen — sehr vorsichtig und vernünftig.«

Ich bedachte es noch einmal; er hatte recht. Es war mir ein Trost, aber eigentlich war ich von Anfang an auf der Hut gewesen, und ich hatte auch gleich Verdacht geschöpft, daß hier irgendeine Maskerade im Spiel war. Zigeunerinnen und Wahrsagerinnen pflegen sich nicht so auszudrücken, wie diese angebliche Alte es getan hatte. Außerdem war mir gleich aufgefallen, daß sie ihre Stimme verstellte und ihr Gesicht zu verbergen versuchte. Aber ich hatte immer an die geheimnisvolle, unbegreifliche Grace Poole denken müssen, und es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, daß es Herr Rochester war.

»Nun?« fragte er. »Worüber grübeln Sie jetzt nach? Was hat dieses feierliche Lächeln zu bedeuten?«

»Erstaunen und Selbstbeglückwünschung, Herr Rochester. Darf ich mich jetzt bitte zurückziehen?«

»Nein. Bleiben Sie noch ein bißchen. Erzählen Sie mir, was die Leute da drüben im Salon treiben.«

»Sie unterhalten sich über die Zigeunerin.«

»Nehmen Sie doch Platz. Was hat man alles über mich erzählt?«

»Bitte, Herr Rochester, ich sollte wirklich nicht lange bleiben; es muß bald elf Uhr sein. — Ach! Wußten Sie übrigens, daß ein Fremder hier während Ihrer Abwesenheit eingetroffen ist?«

»Ein Fremder? Nein. Wer könnte das sein? Ich habe niemanden erwartet. Ist er wieder fort?«

»Nein. Er sagte, er kenne Sie schon seit langem, und da könne er sich schon die Freiheit nehmen, hier im Hause auf Ihre Rückkehr zu warten.«

»Das hat er ja dann auch — verdammt noch mal — getan! Wissen Sie, wie er heißt?«

»Er heißt Mason, und er kommt aus Westindien — Spanish Town in Jamaika, glaube ich.«

Herr Rochester stand neben mir; er hatte mich bei der Hand genommen, um mich zu einem Stuhl zu geleiten. Bei meinen Worten packte er mich wie im Krampf beim Handgelenk; das Lächeln auf seinen Lippen erstarb jäh, und er schien nicht atmen zu können.

»Mason! — Westindien!« sagte er wie mechanisch vor sich hin und wiederholte mehrere Male: »Mason! — Westindien!« Zwischendurch stöhnte er. Er war kreidebleich geworden und schien kaum noch zu wissen, was er tat.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Rochester?« fragte ich.

»Jane, das war ein Schlag für mich — das war ein Schlag, Jane!«

Er schwankte.

»Stützen Sie sich auf mich.«

»Jane, schon einmal haben Sie mir Ihre Schulter geboten. Ich beanspruche sie zum zweiten Mal.«

»Ja doch. Stützen Sie sich auf meinen Arm.«

Er setzte sich und bat mich, neben ihm Platz zu nehmen. Er hielt meine Hand in seinen Händen umschlossen und rieb sie warm. Dabei starrte er mich mit traurigen, verzweifelten Augen an.

»Meine kleine Freundin«, sagte er. »Ach, wäre ich allein mit Ihnen auf einer einsamen Insel und könnte ich dem Ärger, den Gefahren und den entsetzlichen Erinnerungen entfliehen!«

»Kann ich Ihnen helfen? Ich gäbe mein Leben drum, Ihnen zu dienen.«

»Jane, wenn ich Hilfe brauche, werde ich sie bei Ihnen suchen. Das verspreche ich.«

»Danke sehr, Herr Rochester. Sagen Sie mir nur, was ich tun soll — ich werde es wenigstens versuchen.«

»Bringen Sie mir jetzt ein Glas Wein, Jane. Gehen Sie ins Eßzimmer. Sie sitzen sicher noch beim Abendessen. Berichten Sie mir, ob Mason noch da ist und was er tut.«

Ich ging. Die Gäste waren noch alle im Speisezimmer beim Abendessen, wie Herr Rochester gesagt hatte. Sie saßen allerdings nicht um den Tisch — die Speisen waren auf dem Buffet angerichtet; jeder nahm sich, was er wollte, und man stand in Gruppen herum, mit Tellern und Gläsern in den Händen. Sie schienen alle in fröhlicher Stimmung zu sein, lachten viel und unterhielten sich angeregt. Herr Mason stand am Kamin und sprach mit Herrn Oberst und Frau Dent; er schien nicht weniger vergnügt als alle andern. Ich füllte ein Weinglas — und Blanche Ingram beobachtete mich dabei höchst mißbilligend, denn sie glaubte wohl, ich nehme mir da einiges heraus — und kehrte in die Bibliothek zurück.

Die Blässe war aus Herrn Rochesters Gesicht gewichen, und er sah wieder gefaßter und gesetzter aus. Er nahm mir das Glas aus der Hand.

»Ich trinke auf Ihr Wohl, mein Schutzengel!« sagte er. Er trank das Glas auf einen Zug leer, reichte es mir zurück und fragte: »Was treiben die da drüben?«

»Sie lachen und plaudern, Herr Rochester.«

»Schauen sie nicht ernst und geheimnisvoll drein, als hätten sie etwas ganz Ungewöhnliches gehört?«

»Durchaus nicht. Es herrscht muntere Fröhlichkeit.«

»Und Mason?«

»Er lachte auch.«

»Wenn alle diese Leute nun hier hereinkämen und mich anspuckten, was würden Sie dann tun, Jane?«

»Ich würde sie nach besten Kräften aus dem Zimmer weisen.«

Er lächelte fast. »Und wenn ich zu ihnen hinginge und sie mich kalt und höhnisch anstarrten, sich gegenseitig spöttische Bemerkungen über mich zuflüsterten und dann nacheinander verschwänden und mich allein zurückließen — was dann? Würden Sie sich ihnen nicht anschließen?«

»Warum sollte ich das? Ich würde doch lieber bei Ihnen bleiben.«

»Um mich zu trösten?«

»Ja, um Sie zu trösten, so gut ich kann.«

»Und wenn man Sie dafür in Acht und Bann erklärte?«

»Das würde ich ja ohnehin kaum erfahren, und wenn, dann würde es mir gewiß nichts ausmachen.«

»Sie würden also um meinetwillen Tadel und Verachtung auf sich nehmen?«

»Das täte ich für jeden Freund, der meine Anhänglichkeit verdient — und Sie haben sie verdient.«

»Gehen Sie jetzt in das Speisezimmer zurück, nähern Sie sich Mason möglichst unbemerkt und flüstern Sie ihm zu, Herr Rochester sei angekommen und wünsche ihn zu sehen. Bringen Sie ihn hier herein und lassen Sie uns allein.«

»Jawohl, Herr Rochester.«

Ich tat, wie mir geheißen. Die Gäste starrten mich an, als ich geradewegs durch den Raum schritt. Ich fand Herrn Mason, richtete ihm aus, was ich ihm sagen sollte, ging ihm voran bis an die Bibliothek, ließ ihn eintreten und zog mich daraufhin zurück.

Zu später Stunde hörte ich die Gäste sich in ihre Zimmer begeben. Ich erkannte Herrn Rochesters Stimme und verstand die Worte: »Hier entlang Mason, das ist dein Zimmer.«

Die Stimme klang heiter, und ihr sorgloser Klang beruhigte mich. Bald war ich eingeschlafen.

20

Ich hatte vergessen, wie gewöhnlich den Vorhang zuzuziehen und die Fensterläden zu schließen. Die Folge davon war, daß der Vollmond in jener wolkenlosen Nacht mir mit seiner ganzen unverhüllten Pracht direkt ins Gesicht schien und mich weckte. Ich öffnete die Augen und betrachtete das kristallklare, silberweiße Rund. Es war gewiß schön, aber zu feierlich. Ich erhob mich halb und streckte den Arm hervor, um den Vorhang zuzuziehen.

O Gott! Welch ein Schrei!

Die friedliche Stille der Nacht riß plötzlich entzwei, als dieser wilde, schrille, durchdringende Laut durch ganz Thornfield hallte.

Mein Puls setzte aus, das Herz blieb mir stehen, mein ausgestreckter Arm war wie gelähmt. Es war wieder still; der Schrecken kehrte nicht wieder. Und welches Wesen hätte einen solchen markerschütternden Schrei wiederholen können? Nicht der wildeste Kondor in den Anden hätte zweimal mit einem solchen Schreckensruf die Gebirgsnacht erschüttern können. Wer es auch war, er braucht einige Zeit Ruhe, bevor er von neuem beginnen konnte.

Es war aus dem dritten Stock gekommen, denn es war gerade über mir. Ja — im Zimmer über mir —, jetzt hörte ich einen Kampf — aus dem Lärm zu schließen, war es ein Kampf auf Tod und Leben, und eine halberstickte Stimme rief:

»Hilfe! Hilfe! Hilfe!« Dann rief sie noch: »Kommt denn niemand?« Und während des Stampfen und Rumoren wild weiterging, hörte ich deutlich durch die Zimmerdecke: »Rochester! Rochester! Um Himmels willen, komm!«

Eine Zimmertür öffnete sich, jemand rannte über den Gang. Gleich darauf vernahm ich Schritte oben — irgend etwas fiel zu Boden — , dann war es still.

Ich zog mir rasch mein Kleid über, obgleich ich vor Grausen zitterte. Ich trat aus meinem Zimmer. Die Schläfer waren alle erwacht, überall hörte man entsetzte Ausrufe oder verängstigtes Geflüster. Die Türen öffneten sich nacheinander, man trat auf den Gang heraus, und bald stand alles aufgeregt beisammen. Die Herren und Damen hatten ihre Betten verlassen, und nun rief es von überall: »Was war das?« — »Wer ist verletzt?« »Was ist passiert?« — »Was ist geschehen?« — »Holt doch ein Licht!« — »Brennt es?« — »Sind es Räuber? Einbrecher?« — »Müssen wir fliehen?« — Hätte der Mond nicht geschienen, so wären sie in völliger Finsternis gewesen. Sie rannten hin und her, scharten sich zusammen; einige schluchzten, andere stammelten. Man stieß gegeneinander, stolperte, kurz: Es war ein heilloser Aufruhr.

»Wo zum Teufel ist Rochester?« rief Oberst Dent. »Er ist nicht im Bett.«

»Hier! Hier! Ich bin ja schon da!« rief es zurück. »Beruhigt euch doch; ich komme.«

Die Tür am Ende des Ganges ging auf, und Herr Rochester trat mit einer Kerze heraus. Er kam gerade aus dem oberen Stockwerk.

Eine der Damen rannte auf ihn zu und ergriff ihn am Arm. Es war Blanche Ingram.

»Welches schreckliche Ereignis hat sich hier zugetragen?« fragte sie. »So sprechen Sie! Sagen Sie uns gleich das Schlimmste. Wir sind auf alles gefaßt«

»Aber, bitte, reißen Sie mich nicht zu Boden, erwürgen Sie micht nicht«, antwortete er, denn nun umringten ihn auch noch die Schwestern Eshton, und die beiden adligen Matronen rauschten in ihren weißen Nachtgewändern auf ihn zu wie zwei voll aufgetakelte Segelschiffe.

»Schon gut! Schon gut!« rief er. »Das ist ja die Generalprobe zu ›Viel Lärm um nichts‹. Meine Damen, ich bitte Sie, lassen Sie mich los, oder ich werde gefährlich.«

Und er sah gefährlich aus! Seine schwarzen Augen funkelten bedrohlich. Er zwang sich zur Ruhe und fuhr fort: »Eine Dienerin hat einen Alptraum gehabt; das ist alles. Sie ist eine leicht erregbare, nervöse Person. Sie hielt ihren Traum offenbar für eine Geistererscheinung oder etwas Ähnliches, und sie hat vor Angst geschrien. So, jetzt möchte ich Sie bitten, wieder in Ihre Zimmer zurückzugehen, denn bevor es im Hause nicht ruhig ist, können wir nichts für sie tun. Meine Herren, bitte seien Sie so gut und geben Sie den Damen ein Beispiel. Fräulein Ingram, ich bin sicher, daß Sie diesen grundlosen Schrecken mit Überlegenheit überstehen werden. Amy und Louisa, meine Täubchen, kehrt in euer Nest zurück! Und Sie, meine Damen« — sagte er zu den Matronen gewandt — »Werden sich gewiß erkälten, wenn Sie noch länger auf diesem kalten Korridor verweilen.«

Und so brachte er sie alle, bald schmeichelnd, bald befehlend, in ihre Schlafzimmer zurück. Ich wartete nicht, weggeschickt zu werden, sondern verzog mich so unbemerkt, wie ich erschienen war.

Allerdings ging ich nicht zu Bett; im Gegenteil, ich zog mich jetzt an. Denn was ich nach dem Schrei gehört hatte, die Geräusche und die Worte, sie waren nur mir vernehmlich gewesen, weil sie ja aus dem Zimmer direkt über mir kamen. Ich allein wußte, daß nicht der Alptraum einer Dienerin das ganze Haus in Schrecken versetzt und daß Herr Rochester diese Erklärung nur zur Beruhigung seiner Gäste erfunden hatte. Daher wollte ich für alle Fälle bereit sein. Ich saß lange angezogen am Fenster, schaute auf die stillen Wiesen und die vom Mond versilberten Felder und wartete auf ich weiß nicht was. Es schien mir, irgend etwas müsse sich nach dem Schrei, dem Kampf und dem Rufen noch ereignen.

Aber nein. Die Stille war zurückgekehrt. Allmählich verstummten das Flüstern und die Geräusche, und nach etwa einer Stunde lag Thornfield Hall wieder im Schlaf. Die Nacht hatte wieder vom Hause Besitz genommen. Der Mond ging unter, und da ich nicht in der Kälte und Finsternis sitzen wollte, beschloß ich, mich angekleidet auf das Bett zu legen. Ich verließ das Fenster, schritt behutsam über den Teppich und wollte mir gerade die Schuhe ausziehen, als es leise an die Tür klopfte.

»Braucht man mich?« fragte ich.

»Sind Sie noch auf?« fragte die Stimme, die ich erwartet hatte.

»Ja, Herr Rochester.«

»Und angezogen?«

»Ja.«

»Dann kommen Sie bitte leise heraus.«

Ich gehorchte. Herr Rochester stand mit einer Kerze auf dem Gang.

»Ich brauche Sie«, sagte er. »Kommen Sie hier entlang. Gehen Sie langsam, und machen Sie keinen Lärm.«

Meine Pantoffeln waren dünn besohlt. Ich konnte auf dem Teppich wie eine Katze schleichen. Wir gingen bis zum Ende des Korridors, die Treppe hinauf und blieben auf dem dunklen, geheimnisvollen Gang des dritten Stockes stehen. Er stand neben mir.

»Haben Sie einen Schwamm in Ihrem Zimmer?« fragte er im Flüsterton.

»Ja.«

»Haben Sie irgendein Riechsalz?«

»Ja.«

»Kehren Sie um und holen Sie beides.«

Ich holte den Schwamm von meinem Waschtisch und das Riechsalz aus meiner Kommode und ging zu ihm zurück. Er wartete mit einem Schlüssel in der Hand, ging an eine der kleinen schwarzen Türen, steckte den Schlüssel ins Schloß, hielt inne und sagte zu mir:

»Wird es Ihnen schlecht, wenn Sie Blut sehen?«

»Ich glaube nicht, ich habe es noch nie probiert.«

Ein Schauder überlief mich, als ich ihm antwortete; aber ich fühlte mich gefaßt.

»Geben Sie mir die Hand«, sagte er. »Es hat keinen Sinn, eine Ohnmacht zu riskieren.«

Ich gab ihm meine Hand. »Warm und ruhig«, bemerkte er und schloß die Tür auf.

Das Zimmer hatte ich schon einmal gesehen, als Frau Fairfax mir das Haus zeigte. Es war mit Wandteppichen verhangen; aber nun hatte man sie an einer Stelle hochgerafft, und eine gewöhnlich verborgene Tür war sichtbar. Diese Tür stand offen, und schwaches Licht schimmerte aus dem hinter ihr liegenden Raum. Ich vernahm ein knurrendes kläffendes Geräusch, wie von einem wütigen Hund. Herr Rochester stellte seine Kerze hin, gebot mir, auf ihn zu warten, und ging in den Raum nebenan. Als er eintrat, schallte ihm, zuerst laut und dann in das gespenstische »Haha« der Grace Poole abklingend, jenes rätselhafte Lachen entgegen. Sie war also da. Er traf wortlos irgendwelche Anordnungen, wenn ich auch hörte, wie eine leise, flüsternde Stimme zu ihm sprach. Er kam wieder heraus und schloß die Tür hinter sich.

»Hierhin, Jane!« sagte er und führte mich an die andere Seite des großen Himmelbettes, das mit seinen zugezogenen Vorhängen den größten Teil des Zimmers einnahm. Neben dem Kopfende stand ein Armsessel, und in ihm saß ein Mann in Hemdsärmeln. Er verhielt sich regungslos, lehnte den Kopf zurück und hatte die Augen geschlossen. Herr Rochester hielt die Kerze über ihn, und ich erkannte das bleiche und scheinbar leblose Gesicht — es war Herr Mason, der Fremde. Ich sah auch, daß sein Hemd auf der einen Seite sowie der Ärmel blutgetränkt waren.

»Halten Sie die Kerze«, sagte Herr Rochester, und ich nahm sie. Er holte eine Wasserschüssel vorn Waschtisch. »Halten Sie das«, befahl er. Ich gehorchte. Er nahm den Schwamm, tauchte ihn ins Wasser und netzte damit das leichenfarbene Gesicht; dann bat er um mein Riechsalzfläschchen und hielt es ihm unter die Nase. Herr Mason öffnete nach kurzer Zeit die Augen und stöhnte. Herr Rochester öffnete das Hemd des Verwundeten, dessen Arm und Schulter verbunden waren. Er wischte mit dern Schwamm das schnell hinuntertropfende Blut weg.

»Besteht unmittelbare Gafahr?« flüsterte Herr Mason.

»Pa! I bewahre! Ein kleiner Kratzer. Mann, sei doch nicht so trübsinnig; reiß dich doch zusammen! Ich gehe jetzt selbst, dir einen Arzt holen. Bis zum Morgen werden wir dich wegschaffen können — ich hoffe es jedenfalls. Und Jane«, fuhr er fort.

»Jawohl?«

»Ich muß Sie mit diesem Herrn für eine, höchstens zwei Stunden in diesem Zimmer allein lassen. Wie werden ihm das Blut weiter wegwaschen, solange es rinnt, wie ich es getan habe. Sollte er ohnmächtig werden, so geben Sie ihm Wasser aus dem Glas dort drüben und halten Sie ihm das Riechsalz unter die Nase. Sie dürfen unter keinen Umständen mit ihm sprechen — und, Richard, wenn du dich unterstehst, etwas zu ihr zu sagen, bringst du dein Leben in Gefahr! Nur ein Wort — eine Unbesonnenheit —, dann gnade dir Gott für die Folgen.«

Der Ärmste stöhnte erneut. Er sah aus, als traute er sich nicht, den Finger zu rühren. Die Angst vor dem Tode, oder vor etwas anderem, schien ihn völlig gelähmt zu haben. Herr Rochester drückte mir den blutigen Schwamm in die Hand, und ich benutzte ihn, wie ich es bei ihm gesehen hatte.

Er sah mir einen Augenblick lang zu und sagte dann: »Vergessen Sie nicht! Keine Gespräche!« Er verließ das Zimmer, und ein seltsames Gefühl überkam mich, als der Schlüssel sich im Schloß drehte und als die Schritte im Gang verhallten.

Hier saß ich also nun im dritten Stock, in einer jener geheimnisvollen Zellen eingeschlossen. Die Nacht umgab mich; die bleiche, blutige Gestalt, die meiner Pflege bedurfte — und eine Mörderin im Nebenzimmer, nur durch eine Tür von mir getrennt! Ja, das war entsetzlich. Alles andere konnte ich ertragen; aber beim Gedanken, daß Grace Poole mich plötzlich überfallen könnte, lief es mir kalt über den Rücken.

Und doch mußte ich auf meinem Posten bleiben. Ich mußte dieses geisterhafte Gesicht anschauen — die bläulichen, reglosen Lippen, die sich nicht öffnen durften — die Augen, die sich hie und da auftaten, ziellos im Raum umherblickten und mich schließlich mit der glasigen Ausdruckslosigkeit des Grauens anstarrten. Immer wieder mußte ich den Schwamm in das blutige Wasser tauchen und das rinnende Blut wegwischen; und während ich so beschäftigt war, flackerte das Licht der ungeputzten Kerze seinem Ende zu; die Schatten verdunkelten sich auf den alten zerschlissenen Wandteppichen, hoben sich schwarz auf den Vorhängen des riesigen alten Bettes ab und tauchten die Tür eines großen Schrankes gegenüber in ein unheimliches Flimmerlicht. Die Türfüllung war in zwölf Nischen eingeteilt, auf denen die Gesichter der zwölf Apostel abgebildet waren; sie schauten allesamt düster und bedrohlich drein, und über ihnen schwebte ein Kruzifix aus Ebenholz mit dem sterbenden Christus.

Je nachdem, wie das Kerzenlicht flackerte, trat bald die hohe Stirn des bärtigen Lukas hervor, bald wehte das Haar des Johannes vor mir, oder die teuflische Fratze des Judas erhob sich aus dem Schrank, und der Erzverräter und Bote Satans schien geradewegs ins Zimmer zu kommen.

Aber ich mußte auch lauschen: mußte hören, ob das wilde Untier im Nebenzimmer sich regte. Allerdings schien Herr Rochester, als er drüben gewesen war, es gebannt zu haben. Ich hörte nur dreimal Geräusche, und sie kamen in langen Abständen: ein lautes Knarren, das knurrende hundeähnliche Geräusch und ein lautes menschliches Stöhnen. Meine eigenen Gedanken waren nicht minder bedrückend. Welches Verbrechen in Menschengestalt lebte eingeschlossen in diesen Mauern und konnte vom Herrn des Hauses weder ausgestoßen noch bezwungen werden? Was war das für ein geheimnisvolles Wesen, das sich in tiefster Nacht auf seine Opfer stürzte und sie durch Feuer und Blut zu vernichten suchte? Welcher Teufel war das, der sich zwar in Gestalt einer gewöhnlichen Frau zeigte, jedoch in höhnisches Satansgelächter ausbrach oder wie ein beutegieriger Raubvogel schrie?

Und dieser Mann, den ich pflegte, dieser nichtssagende, stille Fremde: Wie hatte er sich in dieses Netz des Grauens verstrickt? Warum hatte sich die Furie auf ihn gestürzt? Was hatte er in diesem Teil des Hauses zu dieser unpassenden Stunde zu suchen gehabt, als er schon längst hätte schlafen sollen? Ich hatte deutlich gehört, wie Herr Rochester ihm ein Zimmer unten angewiesen hatte — wie war er hierher gelangt? Und warum verhielt er sich jetzt so ruhig, so lahm, nach der Heftigkeit des Angriffs auf ihn? Warum unterwarf er sich so einfach dem Schweigegebot, das Herr Rochester ihm anbefohlen hatte? Und warum verlangte Herr Rochester, daß er schwieg? Ein Anschlag war auf seinen Gast verübt worden, ihm selbst wurde noch vor kurzem auf entsetzliche Weise nach dem Leben getrachtet — und beide Male hatte er das Verbrechen vertuscht und so getan, als sei nichts geschehen! Ich bemerkte auch, daß Herr Mason Herrn Rochester völlig untertan war. Die ungestüme Willenskraft des einen beherrschte ganz und gar die schwächliche Passivität des anderen. Die wenigen Worte, die sie in meiner Gegenwart gewechselt hatten, überzeugten mich davon. Offensichtlich war es auch bei ihrer früheren Bekanntschaft schon so gewesen; aber warum war Herr Rochester dann so bestürzt, als er von Masons Ankunft hörte? Warum hatte die bloße Erwähnung des Namens eines Mannes, der ihm wie ein Kind gehorchte, noch vor ein paar Stunden wie ein Blitzschlag auf ihn gewirkt?

Ach! Wie bestürzt und bleich er aussah, als er flüsterte: »Jane — das ist ein Schlag für mich — das ist ein Schlag für mich, Jane.«

Ich werde nie vergessen, wie sein Arm zitterte, als er sich auf meine Schulter stützte; und es konnte nichts Geringfügiges sein, das die kräftige Gestalt und den entschlossenen Willen eines Fairfax-Rochester so zu erschüttern vermochte.

»Wann kommt er nur? Wann kommt er nur?« schrie ich innerlich, als die Nacht nicht vergehen wollte. Mein blutender Patient wurde immer schlaffer, er stöhnte und wimmerte — und keine Hilfe kam — und kein Morgen dämmerte. Wieder und wieder hatte ich ihm Wasser zu trinken gegeben und ihm mein Riechsalz unter die Nase gehalten, aber meine Bemühungen schienen vergeblich; körperliches, seelisches Leiden oder Blutverlust oder alles zusammen verzehrten seine letzte Kraft. Er stöhnte so erbärmlich, sah so schwach, wild und verloren aus, daß ich fürchtete, er werde sterben — und ich durfte nicht einmal zu ihm sprechen.

Die Kerze war schließlich abgebrannt. Während sie verflackerte, sah ich durch die Vorhänge einen grauen Lichtschimmer am Horizont; es begann also endlich zu dämmern. Bald darauf hörte ich Pilot von seiner ziemlich entfernt liegenden Hundehütte aus bellen, und die Hoffnung stellte sich wieder ein. Dieses Mal wurde sie auch nicht enttäuscht, denn nach einigen Minuten drehte sich der Schlüssel im Schloß. Meine Wache war beendet. Sie hatte bestimmt nicht länger als zwei Stunden gedauert, aber so manche Woche war mir kürzer erschienen. Herr Rochester trat ein und mit ihm der Arzt, den er geholt hatte.

»Also, Carter, machen Sie schnell«, sagte er. »Ich kann Ihnen nicht länger als eine halbe Stunde geben, um die Wunde zu behandeln, zu verbinden, den Patienten herunter- und wegzuschaffen.«

»Ist er denn überhaupt in der Lage, sich zu bewegen?«

»Ohne jeden Zweifel. Es ist gar nichts Ernsthaftes. Er ist nur nervös und ängstlich. Man muß ihm ein bißchen Mut machen. Nun fangen Sie schon an!«

Herr Rochester zog den dicken Vorhang zurück, öffnete den Fensterladen und ließ soviel Tageslicht wie möglich herein. Ich war überrascht und erfreut zu sehen, daß es schon so hell war — im Osten leuchteten bereits ein paar rosa Wolken auf. Er trat zu Mason, den der Arzt jetzt behandelte.

»Na, alter Freund, wie geht es?« fragte er.

»Ich fürchte, sie hat mich umgebracht«, war die Antwort.

»Keineswegs! Reiß dich Zusammen! Nur Mut! In vierzehn Tagen bist du wieder völlig obenauf. Du hast nur ein bißchen Blut verloren, das ist alles — Carter, sagen Sie ihm doch, daß er außer Gefahr ist.«

»Das kann ich mit bestem Gewissen tun«, sagte Carter, der ihm den Verband abgenommen hatte. »Ich wünschte nur, ich wäre früher gekommen; dann hätte er nicht so stark geblutet — aber was ist denn das? Das Fleisch auf der Schulter ist nicht nur geschnitten; es ist zerrissen. Diese Wunde rührt nicht von einem Messer her. Das waren Zähne!«

»Sie hat mich gebissen«, murmelte er. »Sie hat mich gewürgt, wie eine Tigerin, als Rochester ihr das Messer entriß.«

»Du hättest nicht nachgehen, sondern sie gleich niederringen sollen«, sagte Rochester.

»Aber, mein Gott! Was kann man in solchen Umständen denn tun?« erwiderte Mason. »Ach! Es war furchtbar«, fuhr er schaudernd fort. »Und ich war doch gar nicht darauf gefaßt. Sie sah zuerst so ruhig aus.«

»Ich hatte dich gewarnt«, antwortete der Freund. »Ich habe dir gesagt: Paß auf, wenn du zu ihr gehst. Außerdem hättest du ruhig bis morgen warten können; dann hätte ich dich begleitet. Es war doch reiner Wahnsinn, in dieser Nacht mit ihr sprechen zu wollen, und dazu noch allein.«

»Ich dachte halt, ich könne ihr irgendwie helfen.«

»Du dachtest! Du dachtest! Ich kann mir diesen Unsinn kaum anhören. Immerhin, du hast für deine Dummheit gebüßt, und du bist gestraft genug dafür, daß du meinen Rat nicht befolgen wolltest — also lassen wir es bei dem bewenden. Carter beeilen Sie sich in Gottes Namen — beeilen Sie sich! Bald geht die Sonne auf, und ich muß ihn hier raushaben.«

»Sofort, Herr Rochester. Die Schulter ist verbunden. Ich muß mir nur noch die andere Wunde am Arm ansehen. Da hat sie wohl auch ihre Zähne dringehabt?«

»Sie hat mein Blut gesogen und gesagt, sie wolle mir das Herz aus dem Leibe reißen«, sagte Mason.

Ich sah Herrn Rochester erschaudern; sein Gesicht war vor Ekel, Entsetzen und Haß fast zur Fratze verzerrt, aber er sagte mit erzwungener Ruhe:

»Nun sei schon still, Richard. Laß das alberne Geschwätz und plappere es nicht noch nach.«

»Ich wollte, ich könnte es vergessen«, war die Antwort.

»Du wirst es vergessen, wenn du erst wieder aus dem Lande bist. In Spanish Town kannst du dir dann vorstellen, sie sei tot und begraben — oder besser noch: Du denkst überhaupt nicht mehr an sie.«

»Unmöglich. Diese Nacht werde ich nie vergessen.«

»Es ist gar nicht unmöglich. Sei doch nicht solch ein Schlappschwanz. Vor zwei Stunden hast du noch geglaubt, du seist mausetot, und jetzt bist du quicklebendig und redest daher! So! — Carter ist mit dir fertig, oder fast. Ich werde dich sogleich herrichten, daß du wieder anständig aussiehst. Jane —.« Zum erstenmal seit seiner Rückkehr richtete er das Wort an mich. »Nehmen Sie diesen Schlüssel. Gehen Sie in mein Schlafzimmer und von dort geradewegs in meinen Ankleideraum. Öffnen Sie die oberste Schublade des Kleiderschrankes, bringen Sie mir ein sauberes Hemd und ein Halstuch, und seien Sie flink!«

Ich ging, fand den erwähnten Kleiderschrank und holte die Sachen.

»So«, sagte er, »jetzt gehen Sie an die andere Seite des Bettes, während ich ihn zurechtmache, aber verlassen Sie nicht das Zimmer. Ich brauche Sie vielleicht wieder.«

Ich zog mich zurück, wie er es gewünscht hatte.

»Hat sich unten jemand gerührt, als Sie in meinem Zimmer waren, Jane?« fragte er.

»Nein. Es war ganz still.«

»Wir werden dich ganz still und heimlich wegschaffen, Dick, denn das ist besser sowohl für dich als für das arme Geschöpf da drinnen. Ich habe mich lange Zeit bemüht, eine Bloßstellung zu vermeiden, und ich möchte nicht, daß es jetzt doch noch dazu kommt. Hier, Carter, helfen Sie ihm doch in seine Weste. Wo hast du deinen Pelzmantel gelassen? Ohne den kannst du keine Meile weit reisen — das weiß ich —, denn dieses verdammte kalte Klima bekommt dir ja nicht. In deinem Zimmer? Jane, rennen Sie in Herrn Masons Zimmer — es ist neben dem meinen — und holen Sie den Mantel, den Sie dort hängen sehen.«

Ich rannte los und kehrte mit einem schweren, pelzgefütterten Mantel zurück.

»Jetzt habe ich noch einen Auftrag für Sie«, sagte mein schier unermüdlicher Herr. »Sie müssen noch einmal in mein Zimmer zurück. Welches Glück, daß Sie auf Sammetpfoten gehen, Jane — ein grober Bauernlümmel wäre für diese Art von Botengängen völlig unpassend. Öffnen Sie die mittlere Schublade meines Toilettentisches und entnehmen Sie ihr eine kleine Phiole und ein Glas, das Sie dort sehen — rasch!«

Ich lief hin und zurück und brachte die gewünschten Gefäße.

»So ist’s recht! Jetzt, Herr Doktor, werde ich mir die Freiheit nehmen, ihm selbst und auf meine Verantwortung eine Dosis Medizin zu verabreichen. Ich habe dieses Herzstärkungsmittel in Rom von einem italienischen Quacksalber bekommen — einem Kerl, den Sie mit Fußtritten traktiert hätten, Carter. Man sollte es natürlich nicht so mir nichts, dir nichts bei jedem Wehwehchen einnehmen, aber bei manchen Gelegenheiten ist es gut — Wie zum Beispiel jetzt. Jane, ein wenig Wasser.«

Er hielt mir das kleine Glas entgegen, und ich füllte es zur Hälfte aus der Wasserkaraffe auf dem Waschtisch. »Das genügt; jetzt benetzen Sie den Rand der Phiole.«

Ich tat es; er zählte zwölf Tropfen einer roten Flüssigkeit und reichte sie Mason.

»Trink das, Richard. Das wird dir für etwa eine Stunde die fehlende Kraft spenden.«

»Aber, wird mir das nicht weh tun? Kann es mir wirklich nicht schaden?«

»Trink! Trink! Trink!«

Herr Mason gehorchte, denn es war offensichtlich nicht möglich, sich dem Befehl zu widersetzen. Jetzt war er angekleidet. Er sah zwar noch immer sehr bleich aus, aber er war wenigstens nicht mehr mit Blut besudelt. Herr Rochester gestattete ihm, sich drei Minuten nach dem Trunk auszuruhen; dann nahm er ihn beim Arm.

»Jetzt kannst du bestimmt auf deinen Füßen stehen«, sagte er. »Versuch’s.« Der Patient erhob sich.

»Carter, greifen Sie ihm unter die andere Schulter. Los, Richard, sei guten Mutes und geh. So ist’s gut!«

»Ich fühle mich wirklich besser«, bemerkte Herr Mason.

»Natürlich, das will ich meinen. Jane, Sie schleichen sich jetzt vor uns die Hintertreppe hinunter. Ziehen Sie leise den Riegel der Seitentür heraus und sagen Sie dem Kutscher im Hof oder der gleich davor wartenden Postchaise — ich habe ihm extra gesagt, er solle nicht mit seinen quietschenden Rädern über das Pflaster rollen —, sagen Sie ihm, er solle sich bereithalten, wir kämen jetzt. Und, Jane — sollten Sie irgend jemandem begegnen, so stellen Sie sich unten an der Treppe hin und räuspern Sie sich.«

Es war inzwischen halb sechs, kurz vor Sonnenaufgang; aber in der Küche war es noch dunkel und still. Die Seitentür war verriegelt; ich öffnete sie so lautlos wie möglich; im Hof war es ebenfalls still, aber die Tore standen weit offen, und eine Postkutsche, mit fix und fertig gezäumten Pferden und dem Kutscher auf dem Bock, wartete draußen. Ich trat auf ihn zu und sagte ihm, die Herren kämen herunter; er nickte; dann blickte ich mich vorsichtig um und horchte. Überall schlummerte noch der frühe Morgen; die Vorhänge der Gesindestuben waren zugezogen. In den Zweigen der blütenbedeckten Obstbäume, die wie weiße Girlanden über der einen Hofmauer hingen, begannen die Vögel zu zwitschern. Aus den Ställen hörte man hie und da eins der Wagenpferde aufstampfen — sonst war es still.

Jetzt erschienen die Herren. Mason stützte sich auf Herrn Rochester und den Arzt, aber er schien ganz leidlich zu gehen. Sie halfen ihm in den Wagen; Carter stieg nach ihm ein.

»Kümmern Sie sich um ihn«, sagte Herr Rochester, »und behalten Sie ihn in Ihrem Haus, bis er wieder wohlauf ist. Ich werde in ein oder zwei Tagen vorbeikommen, um zu sehen, wie es ihm geht. Richard, wie fühlst du dich?«

»Die frische Luft tut mir gut, Fairfax.«

»Lassen Sie das Fenster auf dieser Seite offen, Carter. Es ist ja nicht windig. Lebe wohl, Dick.«

»Fairfax.«

»Ja, was ist?«

»Sorge dafür, daß man sie pflegt — daß sie so sanft wie möglich behandelt wird, daß sie —.« Er hielt inne und brach in Tränen aus.

»Ich tue mein Bestes, habe es bisher stets getan und werde es auch weiterhin tun«, war die Antwort. Er schloß die Wagentür, und die Kutsche rollte davon.

»Wollte Gott, daß all das ein Ende nähme«, fügte er hinzu, als er das schwarze Parktor wieder verschloß.

Dann schritt er langsam und in Gedanken versunken auf die Pforte zum Obstgarten zu. Ich nahm an, er brauche mich nicht mehr, und wollte ins Haus zurückkehren, aber schon wieder rief er: »Jane!« Er hatte die Pforte geöffnet und wartete auf mich.

»Kommen Sie einen Augenblick an die frische Luft«, sagte er. »Das Haus ist ja der reine Kerker. Finden Sie nicht auch?«

»Ich finde, es ist ein prächtiges Herrenhaus, Herr Rochester.«

»Die Unerfahrenheit verfälscht Ihnen den Blick«, erwiderte er. »Sie sehen es durch eine Zauberbrille. Sie erkennen gar nicht, daß die Vergoldung Dreck ist und die seidenen Tapeten Spinnweben sind, daß der Marmor aus grauem Schiefer ist und die poliertem Möbel aus Brennholz und schuppiger Baumrinde sind. Aber hier« — er zeigte auf den Garten —, »hier ist alles echt, rein und schön.«

Er schritt einen auf der einen Seite mit Buchsbaum, Apfel-, Birn- und Kirschbäumen gesäumten Weg entlang; auf dessen anderer Seite blühten alle möglichen altmodischen Blumen: Levkojen, Bartnelken, Primeln, Stiefmütterchen, Heckenrosen und duftende Kräuter. Nach dem Aprilregen und den warmen Tagen war alles so frisch und leuchtend, wie es nur an einem herrlichen Frühlingsmorgen sein konnte. Die Sonne war aufgegangen und leuchtete durch die betauten Blütenzweige.

»Jane, möchten Sie eine Blume?« ’

Er pflückte eine halberblühte Rose — es war die erste auf dem Busch — und reichte sie mir.

»Danke sehr, Herr Rochester.«

»Lieben Sie auch den Sonnenaufgang, Jane? Dieser Himmel mit seinen hohen und hellen Wolken, die in der Wärme des Tages dahinschmelzen werden — diese friedliche und duftende Atmosphäre?«

»Sehr.«

»Sie haben eine seltsame Nacht verbracht, Jane.«

»Ja.«

»Und Sie sehen noch ganz blaß davon aus. Hatten Sie Angst, als ich Sie mit Mason allein ließ?«

»Ich hatte Angst, daß jemand aus dem hinteren Zimmer kommen könnte.«

»Aber ich hatte doch die Tür verriegelt. Ich hatte den Schlüssel in der Tasche. Ich wäre wahrhaftig ein schlechter Hirte, wenn ich mein Lamm — mein liebstes Lamm — so nahe und unbewacht bei der Höhle des Wolfes ließe. Sie waren in Sicherheit.«

»Wird Grace Poole nun hier bleiben?«

»O ja! Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über sie — denken Sie nicht daran.«

»Aber es scheint mir, daß Sie Ihres Lebens nicht sicher sind, solange sie hier ist.«

»Keine Angst — ich werde schon auf mich aufpassen.«

»Ist die Gefahr, die Sie am Abend sahen, nun vorüber?«

»Dafür kann ich nicht garantieren, solange Mason nicht England verlassen hat — und auch dann nicht. Für mich ist das Leben wie ein Vulkan, Jane, der jeden Tag ausbrechen und Feuer speien kann.«

»Aber Herr Mason scheint doch ein leicht lenkbarer Mensch zu sein. Sie haben offensichtlich einen starken Einfluß auf ihn. Er wird Ihnen gewiß niemals Trotz bieten oder Ihnen absichtlich etwas zuleide tun.«

»O nein! Mason wird mir keinen Trotz bieten, und er wird mir auch nie willentlich etwas zuleide tun — aber unabsichtlich könnte er mich, mit einem einzigen unvorsichtigen Wort, wenn nicht gerade des Lebens, so doch auf ewig des Glückes berauben.«

»Sagen Sie ihm doch, er solle vorsichtig sein. Sagen Sie ihm, was Sie fürchten, und zeigen Sie ihm, wie er die Gefahr bannen kann.«

Er lachte spöttisch auf, ergriff hastig meine Hand und schleuderte sie ebenso hastig wieder von sich.

»Wenn ich das könnte, Sie einfältiges Kind, wo wäre dann die Gefahr? Es gäbe sie ja gar nicht mehr. Seitdem ich Mason kenne, brauchte ich ihm immer nur zu sagen: ›Tu das‹ und er tat es. Aber in diesem Fall kann ich ihm keinen Befehl geben. Ich kann nicht einfach sagen: ›Gib acht, daß du mir nicht weh tust, Richard‹ denn er darf ja gar nicht wissen, daß er mir weh tun kann. Jetzt blicken Sie mich verwirrt an, aber ich werde Sie noch mehr verwirren. Sie sind doch meine kleine Freundin, nicht wahr?«

»Ich diene Ihnen von Herzen gern und werde Ihnen gehorchen in allem, was recht ist.«

»Eben, das sehe ich. Ich sehe echte Zufriedenheit aus Ihrer Haltung und Miene, wenn Sie mir helfen und mir Gefälligkeiten erweisen können — wenn Sie für mich arbeiten und mir— wie Sie sagen — in allem, was recht ist, gehorchen. Bäte ich Sie aber um etwas Unrechtes, dann gäbe es kein samtfüßiges Rennen, keine freudige Dienstfertigkeit, keine leuchtenden Augen und kein sanftes Erröten mehr. Dann würde mich meine kleine Freundin bleich und ruhig anschauen und sagen: ›Nein, Herr Rochester, das ist unmöglich; das kann ich nicht tun, denn es ist nicht recht‹, und sie würde darin so unwandelbar bleiben wie ein Fixstern. Sehen Sie, auch Sie haben Macht über mich, und auch Sie können mir weh tun; aber ich darf auch Ihnen nicht zeigen, wo ich verwundbar bin, sonst würden Sie mir mit all Ihrer Treue und Güte unverzüglich das Herz durchbohren.«

»Wenn Sie von Herrn Mason nicht mehr zu fürchten haben als von mir, dann sind Sie wahrhaftig in Sicherheit.«

»Wolle Gott, daß dem so sei! Hier, Jane hier ist ein Ruheplatz. Setzen Sie sich.«

Der Ruheplatz war eine efeuumrankte Nische in der Gartenmauer. Sie enthielt eine kleine Bank. Herr Rochester setzte sich, ließ aber noch ein Plätzchen für mich frei. Aber ich blieb stehen.

»Setzen Sie sich doch«, sagte er. »Die Bank hat Platz für zwei. Sie scheuen sich doch nicht etwa, sich neben mich zu setzen? Ist das vielleicht nicht recht?«

Ich setzte mich. Eine Weigerung wäre unklug gewesen.

»Nun, meine kleine Freundin, jetzt, da die Sonne den Morgentau trinkt, da alle Blumen in diesem alten Garten erwachen und ihre Blüten öffnen, da die Vögel ihren Kleinen das Frühstück von den Kornfeldern holen und die Bienen zur Arbeit ausschwärmen, will ich Ihnen einen Fall vorlegen, den Sie versuchen sollen, als Ihren eigenen zu betrachten — aber zuerst schauen Sie mich an und sagen Sie mir, daß Sie sich frei fühlen und nicht fürchten, ich wolle Sie ungerechterweise zurückhalten, oder daß Sie es als unrecht auffassen hierzubleiben.«

»Nein, Herr Rochester, ich bin zufrieden.«

»Nun denn, Jane, strengen Sie Ihre Phantasie an: Stellen Sie sich vor, Sie seien kein wohlerzogenes und anständiges Mädchen mehr, sondern ein wilder, von Kindheit an verzogener Junge. Stellen Sie sich vor, Sie seien in einem fernen, fremden Land, begingen dort einen großen Fehler, ganz gleich welcher Art und aus welchen Beweggründen, aber einen Fehler, dessen Folgen Ihr ganzes Leben und Ihre Existenz vergiften. Wohlgemerkt, ich sage nicht: ein Verbrechen, ich rede nicht von Blutvergießen oder andern strafbaren Dingen, die den Täter mit Gesetzen in Konflikt bringen; ich rede von einem Fehler. Seine Auswirkungen werden mit der Zeit so unerträglich, daß Sie Maßnahmen ergreifen, um sich Erleichterung zu verschaffen — ungewöhnliche Maßnahmen, die jedoch weder ungesetzlich noch sonst strafbar sind. Aber immer noch sind Sie elend, denn an der Schwelle des Lebens hat die Hoffnung Sie schon verlassen; Ihre Mittagssonne hat sich verfinstert, und Sie wissen, daß sie bis zum Untergang nicht mehr scheinen wird. Bittere und gemeine Gedanken sind das einzige, wovon Ihre Erinnerung zehren kann. Sie wandern rastlos hierhin und dorthin und suchen Ruhe im Exil, Glück in Vergnügungen — und ich meine damit herzlose, sinnliche Vergnügungen —, die die Intelligenz beschämen und die Seele verderben. Müden und welken Herzens kehren Sie nach Jahren freiwilliger Verbannung heim; Sie machen eine neue Bekanntschaft, ganz gleich wie oder wo — und Sie finden in dieser Fremden viele der guten und hellen Eigenschaften, die Sie seit zwanzig Jahren suchten und nie fanden; und diese Eigenschaften sind echt, gesund, unverdorben und rein. Solche Gesellschaft belebt Sie von neuem. Sie haben das Gefühl, daß die guten Tage wiedergekommen sind — Sie haben höhere Wünsche, reinere Empfindungen; Sie wollen Ihr Leben von neuem beginnen und den Rest Ihrer Tage menschenwürdiger verbringen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Sie aber ein Hindernis, das die Sitte aufstellt, überspringen — eine konventionelle Schranke, die Ihr Gewissen Ihnen nicht auferlegt und Ihr Urteil nicht anerkennt. Könnten Sie das?«

Er schwieg und wartete auf eine Antwort. Was sollte ich sagen? Ich rief alle meine guten Geister, mir eine kluge und befriedigende Antwort einzugeben. Eitle Hoffnung! Der Westwind flüsterte im Efeu ringsum; aber kein Luftgeist hauchte mir eine Antwort zu. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, aber auch ihrem Gesang konnte ich nichts entnehmen.

Wiederum erwartete Herr Rochester eine Antwort. »Ist der rastlose, sündige, aber jetzt ruhesuchende und reuige Mensch berechtigt, der Meinung der Welt Trotz zu bieten, um diese sanfte, anmutige, freundliche Fremde an sich zu binden und sich so endlich seinen Seelenfrieden und eine neues Leben zurückzugewinnen?«

Ich antwortete: »Herr Rochester, die Ruhe des rastlosen Wanderers oder die Bekehrung eines Sünders sollte nie von einem Mitmenschen abhängen. Männer und Frauen sterben; Philosophen irren sich in ihrer Weisheit, Christen vergessen ihre Barmherzigkeit; wenn Sie jemanden kennen, der gelitten und gefehlt hat, lassen sie ihn über seine Mitmenschen hinausblicken, denn nur im Höheren wird er die Kraft der Wiedergutmachung und den Trost des Heils finden.«

»Aber das Werkzeug — das Werkzeug! Gott tut das Werk, aber er reicht nicht das Mittel. Ich war — ich sage es Ihnen ohne Umschweife — ein oberflächlicher, sündhafter, lasterhafter, ruheloser Mensch; und ich glaube, das Werkzeug zu meiner Besserung gefunden zu haben, und dieses Werkzeug ist —.«

Er hielt inne; die Vögel zwitscherten munter weiter, die Blätter raschelten, und ich wunderte mich, daß sie nicht verstummten, um die jetzt kommende Enthüllung anzuhören. Aber sie hätten lange warten müssen, denn das Schweigen zog sich hin. Schließlich blickte ich auf und sah, daß er mich forschend betrachtete.

»Kleine Freundin«, sagte er jetzt in ganz verändertem Ton — und auch sein Gesichtsausdruck hatte sich verwandelt: Alle Zärtlichkeit war plötzlich verschwunden, und er sah hart und spöttisch aus —: »Sie haben meine liebevolle Neigung zu Fräulein Ingram bemerkt. Glauben Sie nicht, daß eine Ehe mit ihr mich zu neuem Leben erwecken könnte?«

Bei diesen Worten erhob er sich, ging bis zum anderen Ende des Weges und kam, ein Lied summend, zurück.

»Jane, Jane«, sagte er, als er vor mir stand. »Sie sind ganz blaß von Ihrer Nachtwache. Verwünschen Sie mich nicht, daß ich Sie um Ihre Ruhe bringe?«

»Sie verwünschen? Nein, Herr Rochester.«

»Dann geben Sie mir Ihre Hand darauf. Welch kalte Finger! Heute nacht waren sie wärmer, als ich sie an der Tür des geheimnisvollen Zimmers berührte. Jane, wann werden Sie wieder mit mir wachen?«

»Wenn ich Ihnen nützlich sein kann.«

»Zum Beispiel in der Nacht vor meiner Hochzeit. Dann werde ich gewiß nicht schlafen können. Versprechen Sie mir, mit mir aufzubleiben und mir dann Gesellschaft zu leisten? Ihnen kann ich von meiner Liebsten erzählen, denn jetzt haben Sie sie ja gesehen und kennen sie.«

»Ja, Herr Rochester.«

»Sie ist einzigartig, nicht wahr, Jane?«

»Ja, Herr Rochester.«

»Ein strammer Kerl — wirklich ein strammer Kerl. Groß, kräftig und drall; mit Haaren, wie sie die Frauen von Karthago gehabt haben müssen. Verdammt noch mal! Da gehen Dent und Lynn in die Ställe! Gehen Sie durch den Staudengarten, hier durch das Pförtchen.«

Ich ging in die eine Richtung, er in die andere; und ich hörte ihn auf dem Hof in heiterem Ton sagen:

»Mason ist euch heute früh zuvorgekommen; er ist vor Sonnenaufgang fortgefahren, und ich bin schon um vier aufgestanden, um mich von ihm zu verabschieden.«

21

Vorahnungen sind etwas unerklärlich Seltsames; das gleiche gilt für Gedankenübertragungen und Vorzeichen; und alle drei zusammen sind ein Rätsel, das die Menschheit bisher noch nicht gelöst hat. Ich habe mich nie über Vorahnungen lustig gemacht, denn ich kenne sie aus Erfahrung. Gedankenübertragung gibt es bestimmt — zum Beispiel zwischen Verwandten, die weitab voneinander leben, sich lange nicht gesehen haben und trotz ihrer Entfremdung zu ihren gemeinsamen Ursprüngen zurückfinden — und ihr Auftreten ist stets verblüffend.

Und Vorzeichen sind vielleicht nichts anderes als Gedankenübertragungen zwischen Natur und Mensch.

Als ich ein kleines Mädchen war, hörte ich eines Nachts Bessie Leaven zu Martha Abbot sagen, sie habe von einem Kind geträumt, und ein solcher Traum bedeute Unglück für den Betroffenen oder seine Familie. Ich hätte diesen Aberglauben längst vergessen, wenn ein unmittelbar darauf folgendes Ereignis mir nicht seine Bedeutung bestätigt hätte, denn am nächsten Tag wurde Bessie zu ihrer Familie gerufen, wo die kleine Schwester eben gestorben war.

In letzter Zeit hatte ich oft an solche Dinge denken müssen, denn seit einer Woche träumte ich fast jede Nacht von einem Kind, das ich bald in meinen Armen wiegte, bald auf dem Schoße schaukelte, bald auf dem Rasen inmitten der Blumen spielen oder mit seinen Händchen im Wasser planschen sah. In manchen Nächten lachte es fröhlich und in anderen weinte es; zuweilen klammerte es sich an mich, und dann wieder lief es von mir fort. Aber in all seinen Launen und Verwandlungen stellte sich dieses Bild sieben Nächte hindurch unfehlbar ein, sowie ich in das Land der Träume hinüberglitt.

Diese ständige Wiederholung gefiel mir gar nicht. Das immer wieder auftauchende Bild machte mich nervös und unruhig, wenn es Schlafenszeit war und ich wußte, daß es erneut erscheinen würde. Und in einer Vollmondnacht, als jenes Kind wie in den vorigen Nächten mir im Traum Gesellschaft leistete, erwachte ich, als ich den Schrei hörte. Am Nachmittag des folgenden Tages wurde ich heruntergerufen, da jemand mich in Frau Fairfax’ Zimmer erwartete. Es war ein Mann, der wie ein herrschaftlicher Diener aussah: er war in Schwarz gekleidet und hielt einen Hut mit einem breiten Trauerflor in der Hand. Als ich eintrat, erhob er sich.

»Sie werden sich wohl nicht an mich erinnern, gnädiges Fräulein«, sagte er. »Mein Name ist Leaven. Ich war Kutscher bei Frau Reed, als Sie vor acht oder neun Jahren in Gateshead waren, und ich lebe dort immer noch.«

»Ach, Robert! Wie geht es Ihnen? Natürlich erinnere ich mich an Sie: Sie ließen mich doch manchmal auf Fräulein Georgianas Pony reiten. Und wie geht es Bessie? Sie sind doch mit Bessie verheiratet?«

»Jawohl, Fräulein Eyre; meine Frau ist wohlauf. Besten Dank für die Nachfrage. Vor etwa zwei Monaten hat sie noch ein Kind geboren — es ist das dritte jetzt —, und Mutter und Baby erfreuen sich bester Gesundheit.«

»Und die Familie Reed?«

»Da kann ich leider nicht mit guten Nachrichten aufwarten. Denen geht es im Augenblick sehr schlecht — sie haben großen Kummer.«

»Nun, hoffentlich ist niemand gestorben«, sagte ich und schaute auf seinen schwarzen Anzug. Auch er blickte auf den Trauerflor an seinem Hut und antwortete:

»Herr John starb vor einer Woche in seiner Londoner Wohnung.«

»Herr John?« — »Ja, Herr John.«

»Und wie trägt es seine Mutter?«

»Ja, sehen Sie, Fräulein Eyre, es war eben kein gewöhnlicher Trauerfall: Er hat ja ein sehr wildes Leben geführt. In den letzten drei Jahren sind da recht merkwürdige Dinge passiert, und sein Tod kam als ein furchtbarer Schlag.«

»Ich hörte von Bessie, daß er nichts Gutes trieb.«

»Nichts Gutes! Er hätte es gar nicht schlimmer treiben können. Er hat sich die Gesundheit und sein Vermögen in der schlechtesten Gesellschaft ruiniert. Er machte Schulden und war im Gefängnis; dreimal hat ihm seine Mutter geholfen. Aber sowie er wieder in Freiheit war, kehrte er zu seinen liederlichen Gewohnheiten und zu seinen alten Kumpanen zurück. Er war halt ein Schwachkopf : das Pack, mit dem er sich einließ, hat ihn so geschröpft und betrogen, daß es kaum zu glauben ist. Vor drei Wochen kam er nach Gateshead und wollte von der gnädigen Frau, daß sie ihm das ganze Familienvermögen vermache. Die gnädige Frau hat sich geweigert: sie hatte schon eh nicht mehr viel übrig, da sie ja all seine Dummheiten bezahlen mußte. So ist er nach London zurückgekehrt, und dann kam die Nachricht von seinem Tode. Gott weiß, wie er gestorben ist! Man erzählt sich, er habe Selbstmord begangen.«

Ich schwieg; der Bericht war zu schrecklich. Robert Leaven fuhr fort: »Die gnädige Frau war schon seit einiger Zeit bei schlechter Gesundheit. Sie ist zwar sehr dick geworden, verlor aber all ihre Kraft; der große Geldverlust und die Angst vor der Armut haben ihr arg zugesetzt. Und dann kam die Nachricht über Herrn Johns Tod und die Todesumstände wohl allzu plötzlich; sie hat einen Schlaganfall gehabt. Drei Tage lang konnte sie nicht sprechen, aber am letzten Dienstag schien es ihr viel besser zu gehen. Wir hatten den Eindruck, sie wolle uns etwas sagen, denn sie gab mir und meiner Frau alle möglichen Zeichen und murmelte vor sich hin. Erst gestern früh hat Bessie dann endlich verstanden, was sie sagen wollte, denn sie nannte Ihren Namen, und schließlich brachte sie die Worte hervor: ›Holt Jane — holt Jane Eyre: ich muß mit ihr reden.‹ Bessie weiß allerdings nicht, ob sie noch ganz richtig im Kopfe ist und ob sie wirklich meint, was sie sagt, aber sie hat es Fräulein Reed und Fräulein Georgiana erzählt und sie gebeten, Sie holen zu lassen. Erst haben sich die jungen Damen nicht drum gekümmert, aber ihre Mutter wurde so unruhig und sagte immer wieder ›Jane, Jane‹, daß sie endlich einwilligten. Ich bin gestern aus Gateshead abgefahren, und wenn Sie sich bereitmachen können, würde ich morgen früh mit Ihnen zurückfahren.«

»Ja, Robert. Ich werde mich bereithalten. Es scheint mir, ich sollte wirklich fahren.«

»Das glaube ich auch, Fräulein Byte. Bessie sagte, sie sei sicher, daß Sie es nicht ausschlagen würden; aber ich nehme an, Sie müssen erst noch um Urlaub bitten?«

»Jawohl; und das werde ich jetzt gleich tun.« Ich führte ihn in die Gesindestube, vertraute ihn der Pflege Leahs und Johns an und machte mich auf die Suche nach Herrn Rochester.

Er war in keinem der unteren Zimmer; er war auch weder auf dem Hof noch in den Ställen oder im Park zu finden. Ich fragte Frau Fairfax, ob sie ihn gesehen hätte — ja: sie glaubte, er spiele mit Fräulein Ingram Billard. So eilte ich ins Billardzimmer; schon draußen tönten mir das Klicken der Kugeln und Stimmengewirr entgegen. Herr Rochester, Fräulein Ingram, die beiden jungen Damen Eshton und ihre Verehrer waren eifrig mit dem Spiel beschäftigt. Ich mußte einigen Mut aufbringen, um eine so angeregte Unterhaltung zu stören, aber mein Anliegen duldete keinen Aufschub. Ich ging auf Herrn Rochester zu, der neben Fräulein Ingram stand. Sie drehte sich um, als ich erschien, und blickte mich hochmütig und abschätzend an. Sie schien sich zu fragen: »Was will denn nur dieses elende Geschöpf schon wieder?«, und als ich leise »Bitte, Herr Rochester« sagte, machte sie eine abweisende Bewegung. Ich kann mich noch gut an ihr Aussehen erinnern — sie war von auffallender Eleganz: ein wallendes Hauskleid aus himmelblauem Krepp und dazu ein passender Tüllschal im Haar. Sie war lebhaft mit dem Spiel befaßt, und ihr gereizter Ehrgeiz ließ sie nicht minder stolz und erhaben erscheinen.

»Will diese Person etwas von Ihnen?« fragte sie Herrn Rochester, der sich nun »der Person« zuwandte. Er schnitt eine seltsame Grimasse — eine seiner üblichen sarkastisch-zweideutigen Mienenspiele —, legte seine Queue nieder und folgte mir aus dem Zimmer.

»Nun, Jane?« sagte er, mit dem Rücken an die Schulzimmertür gelehnt, die er eben geschlossen hatte.

»Bitte, Herr Rochester, ich möchte für ein bis zwei Wochen Urlaub nehmen.«

»Wozu denn — wo wollen Sie hin?«

»Eine kranke Dame besuchen, die nach mir gesandt hat.«

»Was für eine kranke Dame? Wo wohnt sie?«

»In Gateshead, in der Grafschaft —.«

»In Gateshead? Dort unten? Das ist ja hundert Meilen weit von hier! Wer mag das wohl sein, wenn sie Leute von so weit her holen läßt?«

»Ihr Name ist Reed, Herr Rochester. Frau Reed.«

»Reed aus Gateshead? Da gab es doch einmal einen Reed, der Friedensrichter war.«

»Sie ist seine Witwe.«

»Und was haben Sie mit ihr zu schaffen? Wie kennen Sie sie eigentlich?«

»Herr Reed war mein Onkel — der Bruder meiner Mutter.«

»Ihr Onkel? Zum Kuckuck noch mal! Das haben Sie mir ja nie erzählt. Sie haben doch immer behauptet, Sie hätten keine Verwandten.«

»Keine, denen ich wirklich angehöre. Herr Reed ist tot, und seine Frau hat mich verstoßen.«

»Warum?« — »Weil ich arm und lästig war, und außerdem mochte sie mich nicht.«

»Aber Reed hatte doch Kinder? Dann haben Sie doch Vettern? Sir George Lynn erwähnte erst gestern einen Reed aus Gateshead, der angeblich einer der übelsten Schuhe in London ist, und Ingram erzählte von einer Georgiana Reed aus demselben Ort, die vor ein bis zwei Jahren in London sehr wegen ihrer Schönheit bewundert wurde.«

»John Reed ist gestorben, Herr Rochester. Er hat sich vollkommen ruiniert und seine Familie beinahe zugrunde gerichtet; und er hat angeblich Selbstmord begangen. Die böse Nachricht hat seiner Mutter so hart zugesetzt, daß sie einen Schlaganfall erlitt.«

»Und was können Sie ihr da noch helfen? Unsinn, Jane! Ich würde nie im Leben daran denken, hundert Meilen weit zu laufen, um eine alte Dame zu besuchen, die vielleicht schon tot ist, bevor Sie ankommen; außerdem hat sie Sie doch verstoßen.«

»Ja, das stimmt. Aber das ist nun schon lange her, und damals lebte sie ja noch in besseren Verhältnissen. Jetzt hingegen kann ich ihr den Wunsch schwer ausschlagen.«

»Wie lange wollen Sie bleiben?«

»So kurz wie möglich.«

»Versprechen Sie mir, daß Sie nicht länger als eine Woche bleiben.«

»Darauf gebe ich Ihnen lieber nicht mein Wort. Ich könnte gezwungen sein, es zu brechen.«

»Auf jeden Fall aber kommen Sie zurück. Sie werden sich doch unter keinen Umständen dazu verleiten lassen, ständig bei dieser Dame zu bleiben?«

»O nein! Ich komme gewiß zurück, wenn alles wieder gutgeht.«

»Und wer begleitet Sie? Sie werden doch nicht etwa hundert Meilen allein reisen?«

»Nein, Herr Rochester. Sie hat ihren Kutscher geschickt.«

»Kann man ihm vertrauen?«

»Unbedingt. Er ist schon seit zehn Jahren bei der Familie.«

Herr Rochester überlegte. »Wann wollen Sie fahren?«

»Morgen früh, Herr Rochester.«

»Nun, dann brauchen Sie ja wohl auch etwas Geld. Sie können doch nicht ohne Geld reisen, und ich nehme an, Sie haben nicht gerade viel. Ich habe Ihnen ja noch kein Gehalt gezahlt. Wieviel Geld haben Sie denn nun, Jane?« fragte er lächelnd.

Ich zog meinen Geldbeutel hervor; es war ein ärmliches Ding. »Fünf Schilling, Herr Rochester.« Er nahm den Beutel und leerte ihn in seine Hand, wobei er schmunzelte, als belustige ihn sein spärlicher Inhalt. Dann nahm er seine Brieftasche heraus. »Da«, sagte er und reichte mir einen Schein. Es waren fünfzig Pfund, und er schuldete mir nur fünfzehn. Ich erklärte ihm, daß ich kein Wechselgeld habe.

»Ich will kein Wechselgeld. Das wissen Sie doch. Nehmen Sie Ihr Gehalt.«

Ich weigerte mich, mehr zu nehmen, als mir zukam. Erst grollte er, und dann schien er sich anders zu besinnen und sagte: »Richtig, richtig! Es ist besser, ich gebe Ihnen jetzt nicht alles; Sie würden ja vielleicht drei Monate wegbleiben, wenn Sie fünfzig Pfund hätten. Hier haben Sie zehn; ist das nicht genug?«

»Ja, Herr Rochester, aber jetzt schulden Sie mir fünf.«

»Dann kommen Sie sie sich holen. Inzwischen werde ich Ihre vierzig Pfund verwalten.«

»Herr Rochester, ich möchte gern, da sich die Gelegenheit bietet, noch eine andere geschäftliche Angelegenheit erwähnen.«

»Eine geschäftliche Angelegenheit? Da bin ich aber neugierig.«

»Sie haben mir doch zu verstehen gegeben, daß Sie bald heiraten werden?«

»Ja, und?«

»In dem Fall sollte Adèle wohl in eine Schule gehen. Ich bin sicher, daß Ihnen die Notwendigkeit einleuchtet.«

»Damit sie meiner Zukünftigen aus dem Wege ist, die ihr sonst wohl mit allzuviel Nachdruck auf die Füße treten könnte? Ja, das ist ein vernünftiger Vorschlag. Zweifellos muß Adèle, wie Sie sagen, in eine Schule gehen. Und Sie müssen dann natürlich abmarschieren, und geradewegs — zum Teufel gehen?«

»Das hoffe ich nicht. Aber ich muß mir irgendwo eine andere Stellung suchen.«

»Ach so!« rief er mit greller Stimme aus, wobei er eine phantastisch-komische Fratze schnitt. Er schaute mich einen langen Augenblick lang an.

»Und die alte Madame Reed oder ihre Töchter sollen wohl dann von Ihnen ersucht werden, Ihnen eine neue Stelle zu besorgen, nicht wahr?«

»Nein, Herr Rochester. Die Beziehungen zu meinen Verwandten sind nicht so, daß ich sie um einen Gefallen bitten würde — aber ich werde eine Anzeige in der Zeitung aufgeben.«

»Sie werden die Pyramiden Ägyptens hinaufklettern!« grollte er. »Wehe Ihnen, wenn Sie eine Anzeige aufsetzen! Ich wollte, ich hätte Ihnen nur einen Sovereign statt zehn Pfund gegeben. Geben Sie mir neun Pfund zurück, Jane; ich habe Verwendung dafür.«

»Ich auch, Herr Rochester«, sagte ich und verbarg meinen Geldbeutel hinter meinem Rücken. »Ich kann das Geld auf keinen Fall entbehren.«

»Sie kleiner Geizhals!« sagte er. »Sie verweigern mir meine Geldbitte! Geben Sie mir wenigstens fünf Pfund, Jane.«

»Ich gebe Ihnen keine fünf Schilling und auch keine fünf Pence!«

»Lassen Sie mich doch mal in Ihren Beutel schauen.«

»Nein, Herr Rochester, ich kann Ihnen nicht trauen.«

»Jane!«

»Herr Rochester?«

»Versprechen Sie mir etwas?«

»Ich verspreche Ihnen alles, was ich einhalten kann.«

»Geben Sie keine Anzeige auf, und überlassen Sie mir die Stellungssuche. Ich werde Ihnen zu gegebener Zeit etwas finden!«

»Gern, Herr Rochester. Nur müssen Sie mir dann versprechen, daß Adèle und ich das Haus verlassen haben und in Sicherheit sind, bevor Ihre Frau hier einzieht.«

»Einverstanden! Einverstanden! Sie haben mein Wort darauf. Sie fahren also morgen ab?«

»Ja, bei Tagesanbruch.«

»Kommen Sie noch nach dem Essen in den Salon?«

»Nein, Herr Rochester. Ich muß mich für die Reise vorbereiten.«

»Dann müssen wir uns jetzt also für ein Weilchen verabschieden?«

»Das nehme ich an.«

»Und wie macht man das eigentlich, Jane? Wie verabschiedet man sich? Bringen Sie es mir bei; ich bin darin nicht geübt.«

»Man sagt Lebewohl — oder irgend etwas in dieser Art.«

»Dann sagen Sie es.«

»Leben Sie wohl, Herr Rochester; für einstweilen.«

»Was muß ich sagen?«

»Das gleiche, wenn es Ihnen beliebt.«

»Leben Sie wohl, Fräulein Eyre; für einstweilen. Ist das alles?«

»Ja.«

»Für meine Begriffe klingt das doch recht knauserig, trocken und unfreundlich. Da hätte ich lieber etwas anderes: eine kleine Zugabe zur Abschiedszeremonie. Wir könnten uns zum Beispiel die Hände reichen — aber nein —, das wäre mir wohl auch nicht genug. Sie wollen also wirklich nur Ihr ›Leben Sie wohl‹ sagen, Jane?«

»Es genügt doch, Herr Rochester. Man kann mit einem Wort genauso viel Sympathie ausdrücken wie mit vielen.«

»Das mag stimmen; aber es ist halt nun einmal recht nüchtern und kühl — dieses ›Leben Sie wohl‹.«

Ich fragte mich, ob er wohl noch lange mit dem Rücken an der Tür stehen bleiben würde; ich wollte meinen Koffer packen. Da läutete die Glocke zum Abendessen, und er eilte ohne ein weiteres Wort davon. Ich sah ihn an diesem Tag nicht mehr, und am nächsten Morgen war ich unterwegs, bevor er aufgestanden war.

Es war am ersten Mai um etwa fünf Uhr nachmittags, als ich in Gateshead ankam. Ich ging zuerst ins Pförtnerhäuschen, um Bessie zu begrüßen. Alles war hell und sauber dort; an den Zierfenstern hingen kleine weiße Vorhänge; der Fußboden war blitzblank gescheuert, der Kaminrost und die Feuereisen waren auf Glanz poliert, und dazu brannte ein helles Feuer. Bessie saß am Kamin mit ihrem Jüngsten, während Robert mit seiner Schwester in einer Ecke spielte.

»Gott segne Sie! Ich wußte ja, daß Sie kommen würden!« rief Bessie, als ich eintrat.

»Ja, Bessie«, sagte ich, nachdem ich sie geküßt hatte; »und hoffentlich komme ich nicht zu spät. Wie geht es Frau Reed? Sie lebt doch noch?«

»O ja, sie lebt noch, und sie ist wieder einigermaßen bei Sinnen. Der Arzt sagte, sie würde noch ein bis zwei Wochen durchhalten, aber er glaubt kaum, daß sie genesen wird.«

»Hat sie mich letzthin wieder erwähnt?«

»Erst heute früh hat sie von Ihnen gesprochen. Sie wünschte, daß Sie bald kämen; aber jetzt schläft sie — oder sie schlief wenigstens noch vor zehn Minuten, als ich oben im Haus war. Gewöhnlich liegt sie den ganzen Nachmittag apathisch da und erwacht erst gegen sechs oder sieben. Ruhen Sie sich doch eine Stunde hier aus, Fräulein Eyre, und dann werde ich Sie hinaufbegleiten.«

Jetzt trat Robert ein; Bessie legte das schlafende Kind in die Wiege und begrüßte ihren Mann. Dann bestand sie darauf, mir aus Mütze und Mantel zu helfen, und bot mir Tee an, denn sie fand, ich sähe blaß und müde aus. Ich ließ mir ihre Gastfreundschaft gern gefallen und verhielt mich so passiv, während sie mir die Reisekleider abnahm, wie ich es einst als Kind getan hatte.

Die Erinnerung an alte Zeiten stieg in mir auf, als ich sie geschäftig in ihrem Haushalt sah. Sie holte ihr bestes Porzellan aus dem Schrank, schnitt Brot und Butter, röstete einen Teekuchen und versetzte Robert oder Jane hie und da einen kleinen Schubs, ganz wie sie es früher mit mir zu tun pflegte. Bessie war ganz die alte geblieben: leicht aufbrausend, flink und hübsch.

Als der Tee angerichtet war, wollte ich mich an den Tisch setzen, aber sie befahl mir in ihrer gewohnten Art stillzusitzen.

Ich sollte am Kaminfeuer sitzen bleiben, sagte sie und brachte mir einen Schemel mit meiner Tasse und einem Teller Kuchen und Brot, ganz wie früher, als sie mir im Kinderzimmer hie und da einen heimlich entwendeten Leckerbissen servierte. Ich lächelte und ließ sie gewähren.

Sie wollte wissen, ob ich in Thornfield glücklicher sei und ob ich eine gute Herrin habe. Als ich ihr erklärte, daß ich dort nur einen Herrn habe, fragte sie, ob er er auch nett sei und ob ich ihn gern mochte. Ich erzählte ihr, er sei zwar ziemlich häßlich, aber sehr freundlich, daß er mich gut behandle und daß ich zufrieden sei. Dann beschrieb ich ihr die fröhliche Gesellschaft, die bei uns zu Gast war, und Bessie hörte sich alle Einzelheiten mit großem Interesse an, denn das war ganz nach ihrem Geschmack.

Bei diesen Gesprächen war die Stunde bald vergangen. Bessie half mir wieder in Mantel, Mütze und so weiter und begleitete mich zum Herrenhaus. Vor fast neun Jahren war ich, auch in ihrer Begleitung, denselben Weg in umgekehrter Richtung gegangen. An jenem dunklen, nebligen, kalten Januarmorgen hatte ich verzweifelt und verbittert ein feindseliges Haus verlassen — mit einem Gefühl der Ausgestoßenheit, ja fast Verwerfung —, um in der Kälte des so fernen und unbekannten Lowood Zuflucht zu suchen.

Jetzt hatte ich das feindselige Dach wieder vor mir: Wieder war ich im ungewissen, wieder tat mir das Herz weh. Ich war immer noch eine einsame Wanderin auf Erden. Aber inzwischen hatte ich mehr Selbstvertrauen und weniger Furcht vor Unterdrückung. Die klaffende Wunde des an mir begangenen Unrechts war geheilt und die Flamme des Hasses erloschen.

»Gehen wir zuerst ins Frühstückszimmer«, sagte Bessie und führte mich durch die Halle. »Die jungen Damen werden fort sein.«

Einen Augenblick später war ich in jenem Raum. Jedes Möbelstück sah noch genauso aus wie an jenem Morgen, als man mich Herrn Brocklehurst vorgestellt hatte: der Teppich, auf dem er gestanden hatte, lag noch am selben Platz. Ich blickte auf die Bibliothek und glaubte, die beiden Bände von Bewicks Britischer Vogelwelt an ihrem alten Platz zu sehen. Darüber standen Gullivers Reisen und Tausendundeine Nacht. Die leblosen Objekte hatten sich nicht verändert — aber die lebenden waren nicht mehr wiederzuerkennen.

Zwei junge Damen erschienen vor mir. Die eine war sehr hoch gewachsen, fast so groß wie Fräulein Ingram, auch sehr schlank, mit einem bleichen, streng dreinblickenden Gesicht. Ihr Blick hatte etwas Asketisches, und dieser Eindruck wurde noch durch die ausgeprägte Nüchternheit ihres schwarzen Tuchkleides mit langem Rock, einem gesteiften Leinenkragen, einer strengen Frisur und dem nonnenhaften Schmuck einer Kette aus Elfenbeinperlen mit einem Kruzifix verstärkt. Das mußte Eliza sein, sagte ich mir, obgleich sie wenig Ähnlichkeit mit dem Kind, das ich kannte, hatte.

Die andere war gewiß Georgiana, aber nicht jenes schlanke, elfenhafte Mädchen, als das ich sie in Erinnerung hatte. Sie war ein aufgeblasenes, sehr fülliges Fräulein. Ihre Haut war zart und weiß wie Wachs, sie hatte hübsche, regelmäßige Gesichtszüge, schmachtende blaue Augen und geringeltes, flachsblondes Haar. Auch sie war in Schwarz gekleidet, aber nach ganz anderer Art als ihre Schwester — sie sah viel eleganter aus und war so kokett, wie die andere puritanisch war.

Jede der beiden Schwestern hatte einen Gesichtszug von ihrer Mutter geerbt: die schmale und blasse ältere hatte dieselben rauchtopasfarbenen Augen, die blühende üppige jüngere das gleiche Kinn — wenn auch etwas weicher, aber trotzdem mit seiner unbeschreiblichen Härte, die ganz im Gegensatz zu dem sonst so wollüstigen und drallen Gesicht stand.

Beide Damen erhoben sich, als ich eintrat, und begrüßten mich als »Fräulein Eyre«. Eliza sprach mit tonloser Stimme, zeigte kein Lächeln, setzte sich sogleich wieder und starrte in das Feuer und nahm keine weitere Notiz von mir. Georgiana fügte ihren Begrüßungsworten einige Gemeinplätze über meine Reise, das Wetter und so weiter an, sprach ziemlich affektiert und maß mich dabei mit ihren Blicken von Kopf bis Fuß, blickte leicht verächtlich auf meinen schäbigen Mantel und meine schmucklose Wollmütze. Junge Damen haben eine bemerkenswerte Art, ihrer Geringschätzung Ausdruck zu geben, ohne ein Wort zu sagen, das man ihnen als unhöflich vorwerfen könnte.

Aber Hohn und Spott hatten nicht mehr die gleiche Macht über mich wie früher; als ich zwischen meinen beiden Cousinen saß, spürte ich überrascht, wie unberührt die völlige Gleichgültigkeit der einen und die spöttische Aufmerksamkeit der anderen mich ließen. Eliza vermochte mich nicht zu verletzen, und Georgiana brachte mich nicht in Wut. Tatsächlich beschäftigten mich andere Dinge. In den letzen Monaten hatten sich so viele weit stärkere Gefühle, als die beiden in mir hervorrufen konnten, angesammelt — so viel heftigere und herrlichere Schmerzen und Freuden, daß ihre Haltung mir nichts anhaben konnte.

»Wie geht es Frau Reed?« fragte ich, zu Georgiana gewandt, die sich wegen der direkten Anrede zu zieren schien, als fände sie es nicht statthaft.

»Frau Reed? Ach, Sie meinen Mama. Es geht ihr sehr schlecht. Ich glaube kaum, daß Sie sie heute abend noch besuchen können.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, sagte ich, »Wenn Sie hinaufgehen würden, um ihr meinen Besuch anzukündigen.«

Georgiana fuhr auf und blickte mich empört aus ihren blauen Augen an.

»Ich weiß, daß sie ausdrücklich wünschte, mich zu sehen«, fügte ich hinzu; »und ich möchte sie auf keinen Fall länger als unbedingt nötig warten lassen.«

»Mama wünscht abends nicht gestört zu werden«, bemerkte Eliza.

Ich erhob mich, zog unaufgefordert die Handschuhe aus, nahm meine Mütze ab und sagte, ich würde jetzt zu Bessie gehen, die sicher in der Küche sei, und sie fragen, ob Frau Reed mich heute abend zu sehen wünsche oder nicht. Ich ging, schickte Bessie hinauf und plante meine weiteren Schritte. Bisher war es meine Gewohnheit gewesen, Arroganz als verletzend zu empfinden; so, wie man mich heute empfangen hatte, hätte ich noch vor einem Jahr Gateshead am nächsten Morgen verlassen, aber jetzt war es mir klar, wie töricht ein solcher Entschluß wäre. Ich war hundert Meilen gereist, um meine Tante zu sehen, und jetzt mußte ich bei ihr bleiben, bis sie genas — oder starb. Ich durfte mich von dem dummen Hochmut der Töchter nicht beeinflussen lassen. So wandte ich mich an die Haushälterin, bat sie, mir ein Zimmer herzurichten, sagte ihr, ich würde wahrscheinlich ein bis zwei Wochen hierbleiben, ließ meine Koffer herauftragen und ging die Treppe hinauf. Bessie kam mir entgegen.

»Frau Reed ist wach«, sagte sie. »Ich habe ihr gesagt, daß Sie hier seien. Kommen Sie, wir wollen sehen, ob sie Sie erkennt.«

Ich kannte den Weg zu dem Zimmer, in das ich so oft gerufen worden war, um Strafe oder Tadel entgegenzunehmen, nur zu gut. Ich öffnete leise die Tür: ein abgeschirmtes Licht stand auf dem Tisch, denn es wurde dunkel. Da stand das große Himmelbett mit den gelblichen Vorhängen, wie früher. Da war der Toilettentisch, der Sessel und der Fußschemel, auf dem ich hundertmal hatte knien und für nicht begangene Missetaten um Verzeihung bitten müssen. Ich warf einen Blick in eine gewisse Ecke und erwartete, dort immer noch die verhaßte Rute hängen zu sehen, mit der ich so viele Schläge auf Nacken und Handflächen erhalten hatte. Ich ging auf das Bett zu, öffnete die Vorhänge und beugte mich über die aufgestapelten Kopfkissen.

Ich erinnerte mich wohl an Frau Reeds Gesicht, und jetzt suchte ich gespannt die wohlbekannten Züge wiederzuerkennen. Es ist doch gut, daß die Zeit Rachegelüste, Abneigung und Haß auslöscht. Ich hatte diese Frau in bitterem Haß verlassen, und nun kam ich zurück und fühlte nur eine Art von Mitleid für ihr schweres Leiden, den Wunsch, zu vergessen und zu vergeben — die Hoffnung auf ein Versöhnen und vielleicht eine neue Freundschaft.

Das wohlbekannte Gesicht war da: streng und unbarmherzig wie je — der harte Blick, der sich durch nichts erweichen ließ, und die herrschsüchtig nach oben gezogene Braue. Wie oft hatte sie diesen Blick drohend und haßerfüllt auf mich gerichtet! Und wie schnell kehrte all der Schrecken und Kummer meiner Kindheit zurück, als ich sie jetzt betrachtete! Und doch neigte ich mich über sie und küßte sie. Sie blickte mich an.

»Ist das Jane Eyre?« fragte sie.

»Ja, Tante Reed. Wie geht es Ihnen, liebe Tante?«

Ich hatte mir einst gelobt, sie nie wieder Tante zu nennen, aber ich hielt es jetzt für keine Sünde, das Gelöbnis zu brechen. Ich hielt ihre Hand, die über dem Laken lag. Hätte sie jetzt meine Hand mit etwas Zärtlichkeit gedrückt, so hätte ich wahre Freude empfunden. Aber harte Naturen lassen sich nicht so schnell erweichen, und Abneigungen verschwinden nicht plötzlich. Frau Reed zog ihre Hand fort, wandte ihr Gesicht von mir ab und bemerkte, der Abend sei warm. Dabei blickte sie mich so eisig an, daß ich mir augenblicklich ihrer unveränderten Gefühle bewußt war. Ich erkannte in ihrem steinharten Blick, daß sie mich bis zum Schluß als schlecht betrachten würde, denn täte sie es nicht, so würde ihr das nur Reue und keine großzügige Freude einbringen.

Zuerst war ich bedrückt, dann fühlte ich Zorn, und dann entschloß ich mich, sie zu bezwingen — mich erhaben über ihren Willen und ihren Charakter hinwegzusetzen. Fast hätte ich wie einst als Kind geweint, aber ich drängte meine Tränen zurück. Ich zog einen Stuhl an ihr Bett, setzte mich und neigte mich über sie.

»Sie haben mich gerufen«, sagte ich, »und hier bin ich. Und ich beabsichtige zu bleiben, bis es Ihnen besser geht.«

»Ach ja, natürlich. Hast du meine Töchter gesehen?«

»Ja.«

»Nun, sag ihnen, ich wünsche, daß du hier bleibst, bis ich einige Dinge, die mich beschäftigen, mit dir besprochen habe. Heute abend ist es zu spät dazu, ich habe Mühe, mich daran zu erinnern. Aber da war etwas, das ich dir sagen wollte — was war es noch —.«

Der umherschweifende Blick und die veränderte Stimme verrieten, zu welchem Wrack diese einst so robuste Frau geworden war. Sie wurde unruhig, zog ihre Bettücher an sich und spürte meinen Arm; der auf einer Ecke der Bettdecke ruhte. Im Nu wurde sie zornig.

»Setz dich hin!« sagte sie; »laß gefälligst meine Bettdecke in Ruhe. Bist du Jane Eyre?«

»Ja, ich bin Jane Eyre.«

»Es ist nicht zu glauben, wieviel Scherereien ich mit diesem Kind gehabt habe. So eine Bürde — täglich und stündlich hat sie mir nur Ärger gemacht mit ihrem unbegreiflichen Charakter, ihren Wutausbrüchen und ihrer ständigen unnatürlichen Art, jede meiner Bewegungen zu beobachten. Ja, einmal hat sie wie eine Wahnsinnige, wie ein Teufel zu mir gesprochen — kein Kind hätte sich je wie sie aufgeführt. Ich war froh, sie endlich loszuwerden. Aber was hat man in Lowood mit ihr gemacht? Die Fieberepidemie ist dort ausgebrochen, und viele Schülerinnen starben. Nur sie starb nicht. Aber ich sagte, sie sei gestorben — ich wünschte so, sie sei gestorben!«;

»Ein seltsamer Wunsch, Frau Reed. Warum hassen Sie sie so?«

»Ich hatte ihre Mutter nie gemocht, denn sie war die einzige Schwester meines Mannes, der sie sehr liebte. Er widersetzte sich der Familie, die sie enterbte, als sie sich unter ihrem Stand verheiratete. Und als wir von ihrem Tode hörten, weinte er wie ein Einfaltspinsel. Dann ließ er das Kind kommen, obgleich ich ihm zuredete, es einfach in Pflege zu geben und dafür zu bezahlen. Ich haßte dieses Kind von dem Augenblick an, als ich es sah — es war ein kränkliches, weinerliches, jämmerliches Ding. Es wimmerte nächtelang in seiner Wiege, es schrie nicht etwa wie ein normales Kind, sondern stöhnte und jammerte. Reed hatte Mitleid, hätschelte und pflegte es, als sei es sein eigenes — ja, er schien es mehr zu lieben als seine eigenen Kinder. Dann wollte er meine Kinder dazu bringen, diesem Bettelkind Freundlichkeit zu bezeugen, aber meine lieben Kleinen konnten es nicht leiden, und wenn sie ihre Abneigung zeigten, wurde er zornig. Während seiner letzten Krankheit ließ er es immer wieder an sein Bett kommen, und eine Stunde, bevor er starb, mußte ich ihm schwören, diese Kreatur im Haus zu behalten. Ich hätte ebensogern einen Balg aus dem Armenhaus zu mir genommen, aber er war nun einmal ein schwacher Mensch. John ähnelt seinem Vater gar nicht, und ich bin froh darüber. John gleicht mir und meinen Brüdern — er ist ein wahrer Gibson. Ach, wenn er mich nur nicht ständig mit seinen Briefen und Geldwünschen quälte! Ich kann ihm nicht mehr Geld geben, denn wir verarmen. Ich muß schon die Hälfte meines Dienstpersonals wegschicken und einen Teil des Hauses schließen, oder es verpachten. Doch dazu könnte ich mich einfach nicht überwinden. Wie soll es nur weitergehen? Zwei Drittel meines Einkommens gehen allein für Zinsen und Hypotheken drauf. John ist ein furchtbarer Spieler, und der arme Junge verliert immer. Er ist das Opfer von Gaunern und Betrügern. John ist heruntergekommen — er sieht entsetzlich aus —, ich schäme mich, wenn ich ihn sehe.«

Sie war ganz aufgeregt. »Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagte ich zu Bessie, die am anderen Ende des Bettes stand.

»Das wäre vielleicht besser, aber sie redet oft so um die Abendstunde — am Morgen ist sie ruhiger.«

Ich erhob mich. »Halt!« rief Frau Reed. »Ich wollte noch etwas sagen. Er bedroht mich — er bedroht mich ständig mit seinem eigenen Tod oder dem meinen, und manchmal sehe ich ihn im Traum, wie er tot mit einer klaffenden Wunde am Hals oder mit aufgeschwollenem schwarzen Gesicht vor mir liegt. Ich bin in einer schlimmen Lage. Ich habe schwere Sorgen. Was soll ich nur tun? Wie soll ich mir Geld beschaffen?«

Bessie überredete sie schließlich, ein Beruhigungsmittel zu nehmen, was ihr mit einigen Schwierigkeiten gelang. Bald danach wurde Frau Reed ruhiger und versank in Schlummer. Ich ging.

Mehr als zehn Tage vergingen, bis ich wieder mit ihr sprach. Sie phantasierte in ihrem Fieber oder verfiel in Lethargie, und der Arzt verbot ihr jede Aufregung. Inzwischen bemühte ich mich, so gut wie möglich mit Georgiana und Eliza auszukommen. Sie waren zuerst sehr kalt und abweisend. Eliza saß tagsüber in ihrem Sessel, nähte, las oder schrieb und richtete kaum ein Wort an mich oder ihre Schwester. Georgiana plapperte mit ihrem Kanarienvogel und nahm keine Notiz von mir. Aber ich war entschlossen, mir keine Gelegenheit zu Beschäftigung oder Vergnügen entgehen zu lassen. Ich hatte mir mein Zeichenmaterial mitgebracht, was mir zu beidem verhalf. Ich setzte mich abseits von ihnen mit meinen Zeichenstiften und Papier ans Fenster und skizzierte alles, was mir gerade in den Sinn kam; das Meer zwischen zwei Felsen, den aufgehenden Mond und ein Schiff, das auf der nächtlichen See vorüberzog; Schilfrohr und Sumpfblumen, ein mit Lotusblumen bekränzter Najadenkopf, der aus dem Wasser tauchte, ein Zwerg in einem Waldsperlingsnest unter einem Kranz von Rotdornblüten.

Eines Morgens zeichnete ich ein Gesicht, aber ich wußte noch nicht, wie es aussehen sollte. Ich nahm einen weichen schwarzen Stift und begann zu arbeiten. Bald hatte ich eine breite und ausgeprägte Stirn, waagerechte Augenbrauen, eine gerade Nase und ein eigenwilliges Kinn gezeichnet. Es gefiel mir. Dann zeichnete ich einen zierlichen aber keinesfalls schmallippigen Mund dazu, schwarzes Haar und große, ausdrucksvolle Augen. Ich betrachtete mir die Zeichnung, fand sie gut, aber noch nicht ganz treffend. Ich vertiefte die Schatten, so daß das Licht heller erschien — jetzt hatte ich’s. Das Gesicht eines Freundes schaute mich an, und was konnten mir jetzt noch die jungen Damen ausmachen, die mir den Rücken zukehrten? Ich betrachtete mein Bild, lächelte es an, war zufrieden und ganz darin versunken.

»Ist das das Porträt eines deiner Bekannten?« fragte Eliza, die plötzlich an mich herangetreten war. Ich antwortete, es sei einfach ein Phantasiegesicht, und schob das Blatt schnell unter die anderen. Natürlich war das eine Lüge: es war ein sehr getreues Porträt von Herrn Rochester; aber was ging das sie an oder irgendwen sonst als mich allein? Jetzt kam auch Georgiana dazu. Ihr gefielen die anderen Zeichnungen, aber dieses nannte sie »einen häßlichen Mann«. Meine Zeichenkunst schien beide zu überraschen. Ich bot ihnen an, ihre Porträts zu skizzieren, und sie saßen mir beide Modell. Dann brachte Georgiana ihr Album, und ich versprach ihr, ein Aquarell hininzuzeichnen, was sie augenblicklich in gute Laune versetzte. sie schlug einen Spaziergang im Park vor. Bevor zwei Stunden verstrichen waren, steckten wir in einem vertraulichen Gespräch. Sie beschrieb mir den erfolgreichen Winter, den sie vor zwei Jahren in London verbracht hatte — wie man sie dort mit Aufmerksamkeit und Bewunderung empfangen hatte, und sie erwähnte sogar einige ihrer betitelten Eroberungen. Im Laufe des Nachmittags und Abends sprach sie weiter davon, berichtete von zärtlichen Gesprächen und manchen rührseligen Szenen. Kurz, es war ein Stück des eleganten, gesellschaftlichen Lebens von London, das sie mir zeigte. Und nun ging es tagtäglich so weiter. Sie erzählte von sich selbst, ihren Verliebtheiten und Kümmernissen. Seltsamerweise erwähnte sie nicht einmal die Krankheit ihrer Mutter, den Tod ihres Bruders oder die bedrohliche Lage des Familienbesitzes. Sie schien ausschließlich mit den Erinnerungen an die vergangene Fröhlichkeit und Hoffnungen auf kommende Vergnügen beschäftigt. Sie verbrachte täglich nie mehr als fünf Minuten im Zimmer der Mutter.

Eliza sprach immer noch wenig. Scheinbar fand sie keine Zeit dazu. Nie sah ich jemanden so beschäftigt, wie sie es zu sein schien, und doch war es schwer zu sagen, was sie tat, oder irgendein Resultat ihres Tuns zu entdecken. Sie ließ sich sehr früh am Morgen wecken, und ich weiß nicht, mit was sie sich vor dem Frühstück beschäftigte, aber danach teilte sie ihre Zeit sehr genau ein, und jede Stunde entsprach einer besonderen Tätigkeit. Dreimal am Tag vertiefte sie sich in ein Büchlein, welches, wie ich herausfand, ein gewöhnliches Gebetbuch war. Ich fragte sie, was sie an diesem Buch so besonders anzöge, und sie antwortete: »Die lithurgischen Anweisungen.« Drei Stunden waren der Stickarbeit gewidmet. Sie arbeitete mit goldenem Faden auf einer rechteckigen roten Decke, die fast so groß wie ein Teppich war. Als ich sie fragte, wozu diese Arbeit bestimmt sei, sagte sie mir, sie sticke eine Altardecke für eine kürzlich in Gateshead errichtete neue Kirche. Zwei Stunden schrieb sie an ihrem Tagebuch, zwei weitere verbrachte sie im Gemüsegarten und eine mit ihrer Buchhaltung. Sie schien keine Gesellschaft und kein Gespräch zu wünschen. Ich glaube, sie war in ihrer Art glücklich und zufrieden mit ihrem Tagewerk, denn nichts brachte sie so außer sich als die geringste Abweichung von ihrer genauen Zeiteinteilung.

Eines Abends, als sie gesprächiger war, erzählte sie mir, daß Johns Betragen und die drohende Verarmung ihrer Familie sie zuerst sehr bekümmert hatten, daß sie sich aber jetzt in ihr Schicksal gefunden und ihren Entschluß gefaßt habe. Ihren eigenen Besitz habe sie gerettet, und sowie ihre Mutter sterben müsse, was, wie sie sehr ruhig sagte, gewiß sehr bald geschehen werde, könne sie endlich einen langgehegten Wunsch verwirklichen: nämlich sich an einen Ort zurückziehen, an dem sie durch ein völlig geregeltes Leben ganz vor den störenden Einflüssen der schnöden Welt geschützt sei. Ich fragte sie, ob Georgiana sie dorthin begleiten werde.

Natürlich nicht. Georgiana und sie hätten nichts gemein. Unter keinen Umständen wollte sie sich die Gesellschaft ihrer Schwester aufbürden. Georgiana solle nur tun, was ihr gefalle, und sie, Eliza, desgleichen.

Wenn Georgiana mir nicht ihr Herz eröffnete, verbrachte sie ihre meiste Zeit auf dem Sofa, klagte, wie langweilig es im Hause sei, und hoffte, daß ihre Tante Gibson sie doch endlich in die Stadt einladen würde. »Es wäre doch so viel besser«, sagte sie, »Wenn ich von hier fort könnte, bis alles vorüber ist.«

Ich fragte sie nicht, was sie mit den Worten »alles vorüber« meinte, nehme aber an, sie spielte auf den bevorstehenden Tod ihrer Mutter und die traurigen Begräbnisfeierlichkeiten an.

Eliza nahm im allgemeinen keine Notiz von den Klagen und Wünschen ihrer Schwester, aber eines Tages ließ sie sich heftig gegen sie aus. Sie klappte ihr Kontobuch zu, faltete ihre Stickerei zusammen und begann: »Georgiana. Ein eitleres und nichtsnutzigeres Tier als dich hat es noch nie auf Erden gegeben! Du hast ja nicht das Recht, geboren zu sein, denn du machst nichts aus deinem Leben. Anstatt für dich, in dir und mit dir als ein vernünftiges Wesen zu leben, versuchst du nur, deine Schwäche an die Kraft eines anderen zu heften. Und wenn du niemanden findest, der bereit ist, sich mit einem so fetten, schwachen, aufgedunsenen, nutzlosen Wesen, wie du es bist, zu befassen, dann heulst du los und beklagst dich, daß man dich schlecht behandle und vernachlässige. Außerdem muß das Leben für dich stets Veränderung, Vergnügen und Aufregungen bieten, denn sonst erscheint dir die Welt wie ein Gefängnis. Wenn du nicht bewundert wirst, wenn man dir nicht schmeichelt, dir den Hof macht — du mußt ja immer Musik, Tanz und Gesellschaft um dich haben —, dann welkst du einfach dahin. Kannst du deinem Leben denn keine Richtung geben, kannst du dich denn nicht unabhängig machen? Nimm einen Tag und teile ihn dir ein und gib jedem Teil seine Aufgabe. Verschwende keine Viertelstunde, keine zehn Minuten und auch keine fünf Minuten. Nutze jeden Augenblick. Tue alles methodisch, regelmäßig und bleibe fest dabei. Dann wird der Tag zu Ende gehen, ehe du bemerkst, daß er begonnen hat; dann schuldest du niemandem etwas, dann brauchst du niemandes Gesellschaft, Konversation, Sympathie oder Zuneigung. Dann hast du gelebt, wie ein unabhängiges Wesen leben sollte. Beherzige diesen Rat: Es ist der erste und letzte, den ich dir gebe. Wenn du ihn nicht befolgst und so weitermachst wie bevor, dann wirst du anspruchsvolles, weinerliches und faules Wesen nur die Früchte deiner Dummheit ernten. Ich sage es dir ganz offen, und hör mir gut zu, denn ich werde es nicht noch einmal sagen: Nach dem Tod meiner Mutter habe ich mit dir nichts mehr zu tun. Vom Augenblick, an dem ihr Sarg in die Gruft der Kirche von Gateshead gebracht wird, sind du und ich so voneinander getrennt, als hätten wir uns nie gekannt. Bilde dir nicht ein, daß ich mich mit dir abgeben werde, weil wir zufällig von denselben Eltern stammen. Und noch eins: Wenn die ganze Menschheit außer uns beiden untergehen würde und wir allein auf der Erde blieben, so ließe ich dich in der alten Welt zurück und machte mich in die neue auf.«

Georgiana antwortete:

»Du hättest dir die Mühe dieser langen Rede ersparen können. Jeder weiß, daß du das selbstsüchtigste, herzloseste Wesen bist, und ich weiß schon lange, daß du mich haßt. Du hast mir dafür ein Beispiel geliefert, als du bei Lord Edwin Vere gegen mich intrigiertest, denn du konntest es nicht ertragen, daß ich dir einmal an Rang überlegen sein, daß ich einmal in der Welt des Adels empfangen werden würde, in Kreisen, in denen du dich nicht sehen lassen könntest. Und deshalb hast du dich als Spionin und Denunziantin betätigt und meine Aussichten für immer zunichte gemacht.«

Georgiana ergriff ihr Taschentuch und blies sich noch eine Stunde lang die Nase, Eliza saß kalt, unberührt und mit ihrer Arbeit beschäftigt da. Manche Menschen machen sich nichts aus wahren, großzügigen Gefühlen, aber hier waren zwei, die sich bitter nötig gebraucht hätten. Gefühl ohne Urteilsvermögen ist gewiß ein verwaschenes, unnützes Ding; aber Urteilsvermögen, das von keinem Gefühl geleitet wird, ist wahrhaftig ein zu rauher und bitterer Klumpen für jede menschliche Verdauung.

Es war ein nasser und windiger Nachmittag. Georgiana lag auf dem Sofa und war über einem Roman eingeschlafen. Eliza war in der Kirche. Kein Wetter konnte sie davon abhalten, am Sonntag dreimal und in der Woche so oft wie möglich ihren »religiösen Pflichten« nachzugehen.

Ich gedachte hinaufzugehen und nach dem Befinden der Sterbenden zu sehen. Sie lag dort ganz allein, denn auch die Dienstbotenschaft kümmerte sich nicht viel um sie. Die für sie bestellte Krankenschwester verließ das Zimmer, sooft sie nur konnte. Bessie war ihr treu geblieben, aber sie hatte für ihre eigene Familie zu sorgen und konnte nur gelegentlich heraufkommen. Wie erwartet, war niemand außer der Kranken im Zimmer. Sie lag still und wie in Lethargie. Ihr bleiches Gesicht war in die Kopfkissen versunken. DasKaminfeuer war fast verlöscht; ich zündete es neu an, zog das Bettzeug zurecht, betrachtete eine Weile lang die Schlafende und ging dann zum Fenster.

Der Regen schlug heftig gegen die Scheiben, und der Wind tobte in den Bäumen. Ich war in Gedanken versunken: »Die, die hier liegt, Wird bald dem Kampf der irdischen Elemente enthoben sein. Wohin wird dieser Geist, der nun bald seine sterbliche Hülle verlassen Wird, sich wenden, wenn er einmal frei ist?«

Die Gedanken an das große Mysterium des Todes brachten mir Helen Burns, ihre letzten Worte, ihren unerschütterlichen Glauben und ihre Theorie über die Gleichheit der entkörperten Seelen in Erinnerung. Ich glaubte, ihre wohlbekannte Stimme zu hören, sah ihr bleiches und vergeistigtes Gesicht und jenen verklärten Blick vor mir, als sie auf ihrem Sterbebett lag — da machte sich eine schwache Stimme im Zimmer hörbar: »Wer ist das?«

Ich wußte, daß Frau Reed tagelang nicht mehr gesprochen hatte. Lebte sie wieder auf? Ich ging auf sie zu. »Ich bin’s, Tante Reed.«

»Ich — wer?« war ihre Antwort. »Wer bist du?« Sie schaute mich überrascht, aber nicht gerade zornig an. »Du bist mir ganz unbekannt — wo ist Bessie?«

»Sie ist im Dienerhaus, Tante.«

»Tante« wiederholte sie. »Wer nennt mich Tante? Du bist doch keine Gibson. Und doch kenne ich dich — dieses Gesicht, diese Augen, diese Stirn sind mir wohlbekannt. Du sieht aus wie — nein, du bist Jane Eyre.«

Ich antwortete nicht, denn ich fürchtete, sie würde sich nur aufregen, wenn ich mich ihr nochmals vorstellte.

»Doch glaube ich«, sagte sie, »mich geirrt zu haben. Meine Gedanken täuschen mich. Ich wünschte Jane Eyre zu sehen, und schon sehe ich eine Ähnlichkeit, die keine ist. Außerdem muß sie sich in den acht Jahren sehr verändert haben.« Ich versicherte ihr nun, daß ich wirklich die Person sei, die sie zu sehen wünschte, und da sie mich endlich zu verstehen schien, erklärte ich ihr, daß Bessie ihren Mann extra nach Thornfield geschickt hatte, um mich zu holen.

»Ich weiß, daß ich sehr krank bin«, sagte sie. »Vor ein paar Minuten wollte ich mich umdrehen, doch kann ich kein Glied rühren.Und so will ich mir vor meinem Tode noch das Herz erleichtern. Dinge, die wir als unwichtig betrachten, wenn wir gesund sind, bedrücken uns plötzlich, wenn wir leiden, und so geht es mir. Ist die Schwester da? Ist irgend jemand außer dir im Zimmer?«

Ich versicherte ihr, daß wir allein seien.

»Nun, ich habe dir zweimal unrecht getan, was ich jetzt bedauere. Einmal, als ich das meinem Mann gegebene Versprechen brach, dich wie mein eigenes Kind aufzuziehen. Das andere Mal —«, sie hielt inne. »Ach, vielleicht ist es gar nicht so wichtig«, flüsterte sie zu sich selbst, »und ich könnte ja vielleicht doch noch genesen, und dann wäre mir die Demütigung zu peinlich.«

Jetzt versuchte sie, sich umzudrehen, aber es gelang ihr nicht. Ihr Gesicht verzog sich, sie schien irgendein inneres Gefühl zu verspüren, das ihr ihre letzte Stunde ankündigte.

»Nun, ich muß es hinter mich bringen. Die Ewigkeit erwartet mich. Ich muß es ihr jetzt sagen. Gehe zu meinem Toilettentisch, ziehe die Schublade auf und nimm den Brief heraus, den du dort finden wirst.« Ich gehorchte.

»Lies den Brief«, sagte sie.

Es war ein kurzer Brief, und er lautete wie folgt:

»Madame,

Wollen Sie die Güte haben, mir die Adresse meiner Nichte, Jane Eyre, mitzuteilen und mir zu berichten, wie es ihr geht. Ich habe die Absicht, ihr bald zu schreiben, und möchte sie zu mir nach Madeira kommen lassen. Die Vorschung hat meine Geschäfte gesegnet und mir Sicherheit und Wohlstand gebracht, und da ich unverheiratet und kinderlos bin, wünsche ich, sie zu adoptieren und ihr nach meinem Tode meinen gesamten Besitz zu vermachen.

Empfangen Sie, Madame, etc. etc.

John Eyre, Madeira.«

Das Datum lag drei Jahre zurück.

»Warum habe ich nie etwas davon gehört?« fragte ich.

»Weil meine Abneigung gegen dich zu stark und ausgeprägt war, als daß ich je hätte mithelfen wollen, dir zu Reichtum zu verhelfen. Ich konnte dein Betragen mir gegenüber nie vergessen, Jane — die Wut, mit der du mir einmal begegnet bist, den Ton, in dem du mir erklärtest, daß du mich mehr als alles in der Welt verabscheutest. Das unkindliche Aussehen und die Stimme, mit der du sagtest, allein der Gedanke an mich mache dich krank, und wie du mir vorwarfst, ich hätte dich elend grausam behandelt. Und ich konnte auch meine eigenen Gefühle nicht vergessen, als du mir dein Gift entgegenschleudertest. Ich fürchtete mich wie vor einem Tier, das ich geschlagen hatte und das mich plötzlich mit Menschenaugen anstarrte und mich mit menschlicher Stimme verwünschte. Bring mir Wasser! Beeile dich!«

»Liebe Frau Reed«, sagte ich, als ich ihr das Wasser reichte, »denken Sie nicht mehr daran, lassen Sie es vergessen sein. Vergeben Sie mir meine heftige Sprache; ich war ja nur ein Kind, und inzwischen sind acht oder neun Jahre verstrichen.«

Sie hörte mir gar nicht zu, und als sie einen Schluck Wasser getrunken und frischen Atem geschöpft hatte, fuhr sie fort: »Ich sage dir, ich konnte es nicht vergessen, und so habe ich mich gerächt, denn daß dein Onkel dich adoptierte und dir ein Leben in Sicherheit und Wohlstand ermöglichte, das konnte ich nicht ertragen. So schrieb ich ihm, ich bedauerte, ihn enttäuschen zu müssen, aber Jane Eyre sei gestorben. Sie sei der Typhus-Epidemie in Lowood zum Opfer gefallen. So, nun tu, was du willst! Schreib an deinen Onkel und strafe mich Lügen, wenn es dir Spaß macht. Du bist tatsächlich nur auf die Welt gekommen, um mich zu quälen, und meine letzte Stunde ist durch eine Tat befleckt, die ich nie begangen hätte, wenn du nicht gewesen wärst.«

»Wenn ich Sie nur überzeugen könnte, das alles zu vergessen, liebe Tante, und wenn Sie nur einmal etwas Güte und Verzeihen bezeugen würden.«

»Du hast einen sehr schlechten Charakter«, sagte sie, »und bis zum heutigen Tage kann ich einfach nicht begreifen, wie du neun Jahre lang ruhig und geduldig jede Behandlung hingenommen hast, um dann im zehnten Jahr mit soviel Feuer und Heftigkeit auszubrechen.«

»Mein Charakter ist nicht so schlecht, wie Sie glauben. Gewiß, ich bin leidenschaftlich und heftig, aber nicht rachsüchtig. Als kleines Kind hätte ich Sie gern geliebt, wenn Sie es zugelassen hätten, und nun möchte ich mich wirklich mit Ihnen versöhnen. Küssen Sie mich, Tante.« Ich näherte meine Wange ihren Lippen, aber sie berührte mich nicht. Sie beklagte sich, ich lastete zu schwer auf ihr; dann bat sie wieder um Wasser. Als ich sie niederlegte, denn ich hatte sie in meinem Arm aufgestützt, während sie trank, bedeckte ich ihr ihre eiskalte steife Hand mit der meinen. Die schwachen Finger zogen sich vor meiner Berührung zurück, die glasigen Augen wichen meinem Blick aus.

»So lieben Sie mich oder hassen Sie mich, ganz wie Sie wollen«, sagte ich schließlich. »Ich habe Ihnen verziehen. Nun bitten Sie Gott um Vergebung und finden Sie Ihren Frieden.«

Die arme leidende Frau! Es war zu spät für sie. Sie konnte sich nicht mehr ändern. Sie hatte mich lebend gehaßt — nun mußte sie mich auch sterbend hassen.

Die Schwester trat ins Zimmer, und Bessie folgte ihr. Ich blieb noch etwa eine halbe Stunde und hoffte vergebens auf ein Zeichen von Freundlichkeit. Sie verfiel in Erstarrung und erlangte ihr Bewußtsein nicht mehr zurück. Sie starb um Mitternacht. Ich war nicht da, um ihr die Augen zu schließen, und auch ihre Töchter nicht. Man erzählte uns am nächsten Morgen, daß alles vorüber war. Man hatte sie aufgebahrt. Ich ging mit Eliza, um Abschied zu nehmen. Georgiana, die in lautes Heulen ausgebrochen war, sagte, sie traue sich nicht ins Zimmer. Da lag nun Sarah Reed, die einst so kräftige und aktive Frau jetzt steif und still. Die kalten Lider bedeckten ihre harten Augen, und in ihren starken und ausgeprägten Gesichtszügen spiegelte sich die Unerbittlichkeit ihrer Seele wider. Ein seltsamen feierlicher Gegenstand war diese Leiche für mich. Ich betrachtete sie bedrückt: nichts Weiches, nichts Zartes, kein Schimmer von Mitgefühl, von Hoffnung oder Ergebenheit. Ich sah nur die Angst vor ihrem Unheil — nicht vor meinem Verlust —, und vor einem Tod in dieser Form erschreckte ich.

Eliza schaute die Tote schweigend an. Dann sagte sie: »Mit ihrer Veranlagung hätte sie noch recht alt werden können. Der Kummer hat ihr Leben verkürzt.«

Dann verzog sich ihr Mund einen Augenblick lang zu einer schmerzhaften Grimasse, sie wandte sich um und verließ mit mir das Zimmer. Keine von uns hatte eine Träne vergossen.

22

Herr Rochester hatte mir nur eine Woche Urlaub gegeben, doch ein ganzer Monat war verstrichen, bevor ich Gateshead verließ. Eigentlich wollte ich unmittelbar nach der Beerdigung wegfahren, aber Georgiana bat mich zu bleiben, bis sie nach London abreiste, wohin ihr Onkel Gibson sie nun endlich eingeladen hatte. Er war zur Beerdigung seiner Schwester und zur Regelung der Familienangelegenheiten gekommen. Georgiana wollte auf keinen Fall mit ihrer Schwester Eliza allein bleiben, denn sie hatte weder Trost noch Hilfe an ihr. So ertrug ich noch eine Weile ihre schwachsinnigen Klagen und ihr Selbstmitleid. Ich half ihr beim Nähen und beim Packen, und während ich beschäftigt war, faulenzte sie, und ich dachte mir: Wenn wir beide zusammenleben müßten, liebe Cousine, so würden wir die Dinge ganz anders anpacken. Dann würde ich mich nicht lahm dazu hergeben, deine Dienstmagd zu sein; dann würde ich dir deine Arbeit anweisen und dich zwingen, sie zu tun Dann würde ich dich auch auffordern, dein ständiges Geweine für dich zu behalten. Nur weil unsere jetzige Begegnung sehr vorläufig ist und weil sie zu einer so traurigen Zeit stattfindet, bin ich bereit, so geduldig und tolerant mir dir zu sein.

Endlich reiste Georgiana ab. Aber jetzt war es Eliza, die mich bat, noch eine Woche zu bleiben. Sie sagte, ihre Pläne nähmen all ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Auch sie war im Begriff zu verreisen, teilte mir aber ihr Reiseziel nicht mit. Sie blieb den ganzen Tag in ihrem Zimmer hinter verriegelter Tür, füllte Koffer, leerte Laden und Schränke, verbrannte Papiere und sprach mit niemandem. Ich sollte für sie nach dem Hause sehen, Besucher empfangen und Beileidsschreiben beantworten.

Eines Morgens erklärte sie mir, ich könne nun gehen. »Und«, fügte sie hinzu, »ich danke dir für deine wertvollen Dienste und deine Diskretion. Es ist schon ein Unterschied, ob man mit dir lebt oder mit Georgiana. Du findest dich selbständig in deinem Leben zurecht und fällst niemandem zur Last. Morgen fahre ich nach Europa. Ich werde mich in ein von Schwestern geführtes Haus — du magst es Kloster nennen — in der Nähe von Lille zurückziehen. Dort werde ich ruhig und unbelästigt sein. Ich werde mich mit dem Studium der römisch-katholischen Dogmen befassen, und falls ich in diesem Glauben, so wie ich annehme, jene Weltordnung finde, die dem göttlichen Willen entspricht, so werde ich mich zu ihm bekennen und wahrscheinlich den Schleier nehmen.« Ich zeigte keine Überraschung und versuchte auch nicht, sie von diesem Entschluß abzubringen. Ich dachte mir aber: Das paßt dir ausgezeichnet. Wohl bekomm’s dir.

Als wir uns voneinander verabschiedeten, sagte sie: »Leb wohl, Cousine Jane Eyre. Ich wünsche dir alles Gute. Du bist sehr vernünftig.«

Ich erwiderte: »Auch du bist vernünftig, Cousine Eliza; aber was du an Vernunft hast, wird übers Jahr in einem französischen Kloster eingemauert sein. Doch das geht mich nichts an, und wenn es dir gefällt — so ist’s mir gleich.«

»Da hast du ganz recht«, sagte sie, und mit diesen Worten ging jede ihres Weges. Und da ich nicht mehr auf sie oder ihre Schwester zurückkommen werde, sei gleich hier erwähnt, daß Georgiana eine gute Partie mit einem reichen, abgetakelten Lebemann machte und daß Eliza wirklich den Schleier nahm und heute Oberin in jenem Kloster ist, in dem sie ihr Noviziat verbracht und dem sie ihr ganzes Vermögen vermacht hat.

Ich wußte nicht, wie man sich fühlt, wenn man von einer mehr oder weniger langen Abwesenheit nach Hause zurückkehrt, denn ich hatte dieses Gefühl nie erlebt. Ich hatte gewußt, wie es war, wenn ich als Kind von einem langen Spaziergang nach Gateshead zurückkam — wie ich dann gescholten wurde, weil ich erfroren oder verdrießlich aussah; und später hatte ich erlebt, wie es war, wenn ich von der Kirche nach Lowood zurückkehrte — wie ich mich dann nach einem reichlichen Mahl und nach einem warmen Feuer sehnte und weder genügend Essen noch Wärme fand. In keinem dieser Fälle war die Heimkehr angenehm oder ersehnenswert gewesen; nie hatte ich mich wie von einem Magneten angezogen gefühlt. Die Rückkehr nach Thornfield stand mir noch bevor.

Die Reise schien langweilig, sehr langweilig sogar. Fünfzig Meilen am Tag, die Nacht in einem Gasthaus und fünfzig Meilen am nächsten Tag. Während der ersten zwölf Stunden dachte ich viel an Frau Reed auf ihrem Sterbebett. Ich sah ihr entstelltes und entfärbtes Gesicht und hörte ihre seltsam veränderte Stimme. Dann sah ich wieder den Tag des Begräbnisses vor mir, den Sarg, den Leichenwagen, den schwarzgekleideten Zug von Landpächtern und Dienstboten — es waren nur wenig Verwandte erschienen —, die offene Gruft, die stille Kirche und den feierlichen Gottesdienst. Dann dachte ich an Eliza und Georgiana, stellte mir die eine als Ballkönigin und die andere als Nonne vor, bemühte mich, die Verschiedenheiten ihrer Charaktere zu analysieren. Erst am Abend, als wir in der großen Stadt X ankamen, zerstreuten sich diese Gedanken, und die Nacht gab ihnen eine ganz andere Wendung: denn kaum lag ich auf meinem Reisebett, da wichen die Erinnerungen den Gedanken an die Zukunft.

Jetzt kehrte ich also nach Thornfield zurück, aber wie lange würde ich dort bleiben? Nicht lange, dessen war ich mir gewiß. Während meiner Abwesenheit hatte ich von Frau Fairfax gehört, die Gäste seien abgereist, Herr Rochester sei vor drei Wochen nach London gefahren, würde aber in vierzehn Tagen wieder zurück sein. Frau Fairfax nahm an, er treffe dort Vorbereitungen für seine Hochzeit, da er vom Kauf eines neuen Wagens gesprochen habe. Sie sagte, es schiene ihr immer noch seltsam, daß er Fräulein Ingram heiraten wolle, aber nach dem, was alle sagten und was sie selbst gesehen habe, gäbe es für sie keinen Zweifel mehr, daß die Hochzeit bald stattfinden werde. »Nein, daran gibt es nichts mehr zu zweifeln«, schloß ich in Gedanken. »Ich, für meinen Teil, bezweifle es nicht.«

Jetzt fragte ich mich: »Wohin nun?« Ich träumte die ganze Nacht von Fräulein Ingram, und gegen Morgen wurde der Traum noch lebhafter: Sie verschloß die Tore von Thornfield vor mir und wies mir eine andere Straße, und Herr Rochester stand mit verschränkten Armen dabei und lächelte uns beiden ironisch zu.

Ich hatte Frau Fairfax den genauen Tag meiner Rückkehr nicht mitgeteilt, denn ich wollte in Millcote nicht mit dem Wagen abgeholt werden. Ich hatte vor, den Weg allein zu Fuß zurückzulegen.

Ich ließ mein Gepäck im Gasthaus und machte mich um etwa sechs Uhr an jenem Juniabend auf den Weg nach Thornfield. Der Weg führte meist durch Felder und war um diese Stunde recht einsam.

Es war kein herrlicher Sommerabend, obgleich das Wetter klar und warm war. Zu beiden Seiten des Weges wurde das Heu eingefahren, und der Himmel war zwar bewölkt, versprach aber schönes Wetter für den nächsten Tag, denn sein Blau leuchtete mild und zart, wo es sichtbar war, und die Wolken schienen hoch und dünn zu sein. Vom Westen her kam mir ebenfalls Wärme entgegen — es war nicht jene wäßrige, blasse Dämmerung —, es sah vielmehr aus, als brenne ein großes Altarfeuer am Horizont und strahle in seinem rotgoldenen Glanz.

Ich fühlte mich froh, wie ich da ging; so froh, daß ich einmal stehenblieb, um mich zu fragen, was dieser plötzliche Frohsinn zu bedeuten habe, und um mich daran zu erinnern, daß ich ja nicht nach Hause, an einen Ort ewiger Ruhe oder zu Freunden ging, die freudig meine Ankunft erwarteten. Gewiß wird Frau Fairfax mich mit einem warmen Lächeln begrüßen, sagte ich mir, und die kleine Adèle wird in die Hände klatschen und herumtollen, wenn sie mich sieht, aber du weißt sehr wohl, daß du nicht an sie, sondern an einen anderen denkst, der dich nicht begrüßen wird.

Aber was gibt es Hartnäckigeres als ein junges Wesen? Was gibt es Blinderes als Unerfahrenheit? Es schien mir ein genügend großes Vergnügen, die Ehre zu haben, Herrn Rochester wiederzusehen, ob er mich nun beachtete oder nicht, und schon gaben mir meine inneren Stimmen ein: Spute dich, spute dich! Sei bei ihm, solange es dir vergönnt ist. Noch ein paar Tage, vielleicht noch ein paar Wochen, und dann mußt du ihn für immer verlassen! Und dann fühlte ich neue Qualen — die Qualen, etwas besitzen zu wollen, das ich nicht haben konnte —, und ich lief weiter.

Auf den Wiesen von Thornfield waren sie jetzt auch bei der Heuernte, denn als ich ankam, sah ich die Landarbeiter mit ihren Harken auf den Schultern nach Hause gehen. Ich mußte noch ein paar Felder überqueren, über die Straße gehen, und dann war ich am Tor. Die Heckenrosen standen in voller Blüte, aber ich hatte keine Zeit, mir welche zu pflücken. Ich wollte im Hause sein. Ich schreite an einem wilden Rosenstrauch vorbei, sehe die Steintreppe vor mir, und sehe — Herrn Rochester, der dort mit Buch und Bleistift in der Hand sitzt. Er schreibt.

Nun, er ist kein Gespenst, und doch sind meine Nerven zum äußersten angespannt. Einen Augenblick lang glaube ich, die Beherrschung zu verlieren. Was hat das zu bedeuten? Daß ich in seiner Gegenwart so zittern würde und daß es mir die Sprache verschlagen würde, hätte ich nicht gedacht. Ich werde zurückkommen, sowie ich mich beruhigt habe, denn ich will mich doch nicht wie eine Närrin aufführen. Ich kenne einen anderen Eingang zum Haus. Aber ich könnte zwanzig andere Wege kennen, jetzt nützt es nichts mehr, denn er hat mich gesehen.

»Hallo«, ruft er und legt Buch und Bleistift beiseite. »Da sind Sie ja. Bitte, kommen Sie doch her.«

Ich komme, aber ich weiß nicht, in welcher Verfassung ich bin, denn ich bin mir kaum meiner eigenen Bewegungen bewußt und bin nur bemüht, ruhig zu erscheinen und die Muskeln meines Gesichts zu beherrschen, die ganz gegen meinen Willen etwas ausdrücken wollen, das ich verbergen möchte. Aber ich habe ja einen Schleier. Schnell hänge ich ihn mir vors Gesicht. Vielleicht gelingt es mir doch, beherrscht und ruhig zu erscheinen.

»Ist das wirklich Jane Eyre? Und Sie kommen zu Fuß von Millcote? Ja — das sieht Ihnen wieder einmal ähnlich: Sie bestellen keinen Wagen und kommen einfach über Wege und Straßen gelaufen wie eine gewöhnliche Sterbliche, und trotzdem — wenn Sie sich im Dämmerlicht nach Hause stehlen, sind Sie wie ein Traum oder ein Schatten. Was zum Teufel haben Sie den ganzen letzten Monat lang getrieben?«

»Ich war bei meiner Tante, die gestorben ist.«

»Eine wahre janische Antwort! Der Himmel soll mich bewahren! Sie kommt aus dem Jenseits — direkt aus dem Reich der Toten, und das erzählt sie mir, der ich hier allein im Dunkeln sitze! Am liebsten würde ich Sie berühren, um zu sehen, ob Sie aus Fleisch und Blut oder nur ein Schatten sind, Sie Elfenwesen! Aber da könnte ich genausogut versuchen, ein Irrlicht im Sumpf anzufassen. Sie Schwänzerin!« fügte er hinzu, nachdem er sich unterbrochen hatte. »Einen ganzen Monat waren Sie fort und haben mich völlig vergessen.«

Ich wußte, wie froh ich sein würde, meinen Herrn wiederzusehen, obgleich die Furcht, ihn bald als Herrn zu verlieren, und die Gewißheit, daß ich ihm nichts bedeutete, mich quälten. Aber Herr Rochester hatte nun einmal (wenigsten bildete ich’s mir so ein) ein so einnehmendes Wesen und strahlte so viel von seinem eigenen Glück aus, daß die Krumen, die er fallen ließ, für einen fremden und heimatlosen Vogel wie mich ein wahres Festmahl waren. Seine letzten Worte waren wie ein Balsam. Sie schienen mir zu sagen, daß es ihm doch etwas bedeutete, ob ich ihn vergaß oder nicht. Und dann hatte er von Thornfield als meinem Zuhause gesprochen — ach, wäre es mein Zuhause!

Er saß immer noch auf der Treppe, und ich wollte ihn nicht bitten, mich vorbeizulassen. Ich fragte ihn, ob er nicht in London gewesen sei.

»Ja. Ich denke, das haben Sie mir gleich angesehen.«

»Frau Fairfax hat es mir geschrieben.«

»Und hat sie Ihnen auch gesagt, weshalb ich dorthin fuhr?«

»O ja. Es ist ja allen bekannt, was Sie vorhaben.«

»Jane, Sie müssen sich den Wagen anschauen und mir sagen, ob er nicht ausgezeichnet zu der neuen Frau Rochester passen wird, und ob sie darin nicht auf ihren roten Kissen wie die Königin Boadicea aussehen wird. Ach, Jane, ich wollte, ich paßte äußerlich etwas besser zu ihr. Und nun sagen Sie mir, Sie Zauberfee — können Sie mir nicht irgendeinen Zaubertrunk oder etwas Ähnliches brauen und mich zu einem schönen Mann machen?«

»Das übersteigt die Kräfte einer Zauberin«, sagte ich und fügte in Gedanken hinzu: Ein liebendes Auge genügt dazu schon. Ihm würden Sie schön genug erscheinen, und außerdem liegt in Ihrer strengen Männlichkeit etwas, das mehr als Schönheit ist.

Zuweilen hatte Herr Rochester mit einer mir unverständlichen Eingabe meine Gedanken lesen können.

Auch jetzt nahm er von meiner schroffen Antwort keine Notiz und lächelte mich nur mit seinem eigenen seltenen Lächeln an, das er wahrscheinlich für zu wertvoll hielt, um es bei jeder Gelegenheit ausstrahlen zu lassen, denn es war wahrer Sonnenschein der Gefühle — und jetzt bestrahlte er mich damit.

»Gehen Sie, Jane«, sagte er und gab mir den Weg frei. »Gehen Sie ins Haus und ruhen Sie Ihre müden kleinen Füße unter dem Dache eines Freundes aus.«

Jetzt brauchte ich ihm nur noch still zu gehorchen. Ein weiteres Gespräch war nicht mehr nötig. Wortlos ging ich die Stufen hinauf, denn ich wollte ihn stumm verlassen. Aber irgend etwas hielt mich zurück — eine Gewalt zwang mich, mich umzudrehen —, und etwas in mir begann zu sprechen und sagte ganz gegen meinen Willen:

»Ich danke Ihnen für Ihre große Güte, Herr Rochester. Ich bin unbeschreiblich glücklich, wieder bei Ihnen zu sein, denn wo Sie sind, da ist mein Heim — mein einziges Heim.«

Ich ging so schnell weiter, daß er mich kaum hätte einholen können, wenn er es versucht hätte. Die kleine Adèle war ganz wild vor Freude, als sie mich sah. Frau Fairfax begrüßte mich mit gewohnter Freundlichkeit. Leah lächelte, und selbst Sophie rief mir ein freudiges »Bon soir« zu. Das alles war sehr angenehm; es ist immer ein Glück, wenn man von seinen Mitmenschen geliebt wird und das Gefühl hat, mit seiner Gegenwart zu ihrem Wohlsein beizutragen.

An jenem Abend verschloß ich der Zukunft die Augen: Ich verschloß meine Ohren vor der warnenden Stimme, die mir baldige Trennung und Kummer ankündigte. Wir hatten den Tee eingenommen, Frau Fairfax strickte, ich saß auf einem Schemel neben ihr, und Adèle, die auf dem Teppich kniete, kuschelte sich eng an mich. Ein Gefühl gegenseitiger Zuneigung schien uns wie mit einem schützenden Friedenswall zu umgeben. Ich betete stumm, das Schicksal möge uns nicht so bald wieder auseinanderreißen. Aber da kam Herr Rochester unangekündigt ins Zimmer, blickte uns an und schien Vergnügen an unserem zärtlichen Beisammensein zu finden. Dann sagte er, er nehme an, die alte Dame sei nun zufrieden, da sie ihre Adoptivtochter wiederhabe, und Adèle sei »préte à croquer sa petit maman Angleuse«. So gab es eine Hoffnung, daß er uns nach semer Heirat doch unter seinem Schutz behalten und nicht der wohltuenden Wärme seiner Gegenwart berauben würde.

Meiner Rückkehr nach Thornfield folgten zwei bemerkenswert ruhige Wochen. Von der Hochzeit des Herrn wurde nicht gesprochen, und ich sah auch keinerlei Vorbereitungen für ein solches Ereignis. Fast jeden Tag fragte ich Frau Fairfax, ob sie irgend etwas Entscheidendes gehört habe, aber ihre Antwort war stets negativ. Einmal, sagte sie, habe sie Herrn Rochester direkt gefragt, wann er nun seine Braut heimführen würde, aber er habe ihr nur mit einem Scherz und einem seiner seltsamen Blicke geantwortet, und so wisse sie überhaupt nicht mehr, was sie von ihm halten sollte.

Eins überraschte mich besonders. Es gab kein Hinundherfahren, keine Besuche in Ingram Park. Gewiß, der Ort lag zwanzig Meilen entfernt, an der Grenze einer anderen Grafschaft, aber was konnte das einem Verliebten ausmachen? Zumal Herr Rochester ein so geübter und unermüdlicher Reiter war. Für ihn wäre es nur ein Morgenritt gewesen. Ich begann Hoffnungen zu hegen, auf die ich keinerlei Recht hatte, daß die Verlobung gelöst worden war, daß die Gerüchte mich irregeführt hatten, daß einer der beiden sich anders besonnen hatte. Ich suchte am Ausdruck des Gesichts meines Herrn Trauer oder Zorn auszumachen, aber nie hatte ich ihn so lange unbeschwert und heiter gesehen. Und wenn ich, während wir mit Adèle bei ihm saßen, in Trübsal versank, wurde er sogar ausgesprochen fröhlich. Nie hatte er mich so oft zu sich gerufen, nie war er gütiger zu mir gewesen — und ach!, nie hatte ich ihn inniger geliebt.

23

Ein herrlicher Hochsommer strahlte über England. Der Himmel war blau, und die Sonne schien, und die schönen Tage folgten einander wie nur selten in unserem regnerischen Land. Es war, als sei das italienische Klima aus dem Süden zu uns gekommen wie ein Schwarm prächtiger Zugvögel und schütte seinen Glanz über den Klippen von Albion aus. Das Heu war eingebracht, die Felder rings um Thornfield waren gemäht, die Straßen mit weißem Staub bedeckt, die Bäume prangten dunkelgrün, Hecken und Wälder waren voll belaubt und hoben sich dunkel von den blassen, sonnenversengten Feldern ab. Am Abend vor Johanni war Adèle, die den ganzen Tag lang Walderdbeeren gesammelt hatte, müde bei Sonnenuntergang zu Bett gegangen. Ich blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war, und ging dann in den Garten.

Dies war die süßeste Stunde des Tages, »nachdem die Sonnenglut des Tags verloschen«; es war die Stunde, in der der nächtliche Tau zu fallen begann. Die Sonne war untergegangen — und sie strahlte aus ihrem Wolkenbett noch einen feierlichen roten Glanz, der bald wie ein Feuer oder ein Edelstein funkelte und dann allmählich in weichere, dunklere, bläulichere Farbtöne überging. Im Osten war der Himmel dunkelblau, und ein einsamer Stern schimmerte am Zenit. Bald würde der Mond aufgehen, aber noch war er hinter dem Horizont. Ich spazierte eine Weile auf dem Steinpfad, als ein feiner wohlbekannter Geruch — der Geruch einer Zigarre — zu mir drang. Er kam aus einem Fenster und, wie ich sah, aus der Bibliothek. Jetzt wußte ich, daß man mich von dort aus beobachtete, und so ging ich in den Obstgarten. Auf dem ganzen Gut gab es keinen geschützteren und paradiesischeren Winkel. Eine hohe Mauer schloß ihn auf einer Seite vom Hof ab, und auf der anderen Seite beschirmte ihn eine Birkenallee. Hinten war ein Zaun, der ihn von den einsamen Feldern trennte, und ein gewundener Pfad mit Lorbeerbüschen, an dessen Ende ein riesengroßer Kastanienbaum stand, führte zu dem Zaun und den Feldern hinunter. Hier konnte man ungesehen lustwandeln. Der kühlende Tau, die erhabene Stille, die Wärme der Nacht waren so angenehm, daß ich für immer hätte in diesem Schatten bleiben wollen. Ich ging an den Blumenbeeten entlang und sah gerade den Mond aufgehen, als ich wieder von einem Duft aufgeschreckt wurde.

Heckenrosen und Jasmin hatten ihren Duft schon seit langem ausgeströmt; aber dieser neue Duft kam weder von Blumen noch Büschen. Ich kannte ihn gut. Es war Herr Rochesters Zigarre. Ich schaute mich um und lauschte. Ich sah die fruchtbeladenen Bäume, hörte eine Nachtigall etwa eine halbe Meile von mir entfernt singen. Kein Schatten bewegte sich, kein Schritt war vernehmbar, und doch nahm der Duft ständig zu. Ich trat in die Efeulaube, und da sah ich Herrn Rochester kommen. Ich verkroch mich in eine Ecke, dachte mir, er würde nicht lange bleiben und gleich wieder ins Haus zurückgehen, während ich unbemerkt sitzen konnte.

Aber nein, der Abend gefiel ihm so gut wie mir, und auch er fand diesen alten Garten ganz nach seinem Geschmack. Er geht weiter, hebt den Zweig eines Stachelbeerstrauchs und schaut sich die fast pflaumengroßen Früchte an, pflückt eine große reife Kirsche, beugt sich über ein paar Blumen, um ihren Duft einzuatmen oder ihre Schönheit zu bewundern. Jetzt fliegt ein großer Nachtfalter an mir vorbei, landet auf Herrn Rochesters Fuß, der ihn sieht und ihn betrachtet.

»Jetzt hat er mir den Rücken zugekehrt«, dachte ich mir, »und ist beschäftigt; vielleicht kann ich unbemerkt entkommen, wenn ich mich leise davonmache.«

Ich trat auf ein Stückchen Rasen, um mich nicht auf dem knirschenden Kies zu verraten. Er stand kaum zwei Meter von mir entfernt und war immer noch mit dem Nachtfalter beschäftigt. Da komme ich noch gut vorbei, überlegte ich. Als ich an seinem Schatten vorbeikam, den der Mond über die Wiese warf, sagte er ganz ruhig und ohne sich umzudrehen:

»Jane, kommen Sie und schauen Sie sich diesen Kerl an.«

Ich hatte kein Geräusch gemacht, und er hatte doch keine Augen im Hinterkopf. Hatte sein Schatten mich gefühlt? Ich war zuerst ein wenig erschreckt und ging dann auf ihn zu.

»Schauen Sie sich seine Flügel an«, sagte er. »Er erinnert mich an ein westindisches Insekt. In England sieht man nicht oft so große und bunte Nachtschwärmer. Da! Er ist weg.«

Der Nachtfalter flog davon. Auch ich wollte mich leise zurückziehen, aber Herr Rochester folgte mir, und als wir am Pförtchen waren, sagte er:

»Kommen Sie zurück. An einem so schönen Abend wäre es eine Schande, im Hause zu sitzen, und gewiß wird doch niemand zu Bett gehen wollen, wenn sich die untergehende Sonne und der aufgehende Mond begegnen.«

Es ist eine meiner Schwächen, daß mir manchmal die Zunge völlig versagt, während ich zu anderen Zeiten eher vorlaut bin, und dieses Versagen tritt immer gerade dann ein, wenn irgendeine kleine Entschuldigung mich aus einer großen Verlegenheit retten könnte. Ich wünschte nicht, zu dieser Stunde allein mit Herrn Rochester im dunklen Obstgarten spazierenzugehen, aber ich fand einfach keine Ausrede. So folgte ich ihm zögernd und bemühte mich, irgendeinen Vorwand zum Weggehen zu finden. Er aber sah so ruhig und ernst aus, daß ich mich schließlich meiner Verwirrung schämte. Wenn es hier überhaupt etwas Unrechtes gab, so hatte ich es nur mir zuzuschreiben, denn er war unbeschwert und gelassen.

»Jane«, begann er, als wir an den Lorbeerbüschen entlanggingen und uns langsam dem Zaun und dem Kastanienbaum zubewegten, »ist Thornfield im Sommer nicht ein angenehmer Ort?«

»Ja, Herr Rochester.«

»Sie haben doch sicher das Haus irgendwie liebgewonnen — Sie haben doch einen Sinn für Schönheit der Natur und auch für Anhänglichkeit?«

»Es ist mir wirklich ans Herz gewachsen.«

»Und obgleich ich nicht recht verstehe, warum, habe ich den Eindruck, daß Sie auch zu dem kleinen dummen Mädchen Adèle und sogar zu der einfältigen Dame Fairfax Zuneigung gefaßt haben?«

»Ja, ich bin beiden zugetan, wenn auch auf verschiedene Weise.«

»Und Sie würden sich ungern von ihnen trennen?«

»Ja.«

»Wie schade«, sagte er, seufzte und schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort:

»So geht es immer im Leben. Kaum hat man sich an einem schönen Ort der Ruhe niedergelassen, da ruft schon eine Stimme und befiehlt, aufzustehen und weiterzuwandern, denn die Stunde der Rast ist abgelaufen.«

»Muß ich denn fort von hier?« fragte ich; »muß ich Thornfield verlassen?«

»Ich glaube, ja, Jane. Es tut mir leid, Jane, aber ich glaube wirklich, daß Sie fort müssen.«

Das war ein Schlag; aber ich ließ mir nichts anmerken.

»Nun, Herr Rochester, ich werde bereit sein, wenn der Marschbefehl kommt.«

»Er ist schon gekommen — ich muß ihn heute abend noch erteilen.«

»Dann werden Sie also doch heiraten?«

»Genau; so ist es; mit Ihrem üblichen Scharfsinn haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen.« — »Bald?«

»Sehr bald, mein — ich meine: Miß Eyre. Und Sie werden sich erinnern, daß, als ich oder das Gerücht Ihnen zum erstenmal meine Absicht mitteilte, meinen alten Junggesellenhals in jene heilige Schlinge zu legen, das heißt: in den heiligen Stand der Ehe zu treten, kurz: Fräulein Ingram an mein Herz zu drücken (sie ist eigentlich viel für einen Arm, aber das spielt hier keine Rolle, denn von einem so schönen Ding wie meiner Blanche kann man nicht genug bekommen), nun, wie ich sagte — Jane, hören Sie mir zu! Sie wenden sich doch nicht ab, um weitere Nachtfalter zu suchen? Das war nur ein Marienkäfer, mein Kind, der nach Hause fliegt. Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie es waren, die mir zuallererst mit jener Diskretion, Voraussieht, Klugheit und Bescheidenheit, die ich an Ihnen so schätze und die so gut zu Ihrer verantwortlichen und abhängigen Stelle passen, mitteilten, daß Sie sich wohl besser mit Adèle davonmachten, falls ich Fräulein Ingram heiratete. Ich übergehe den in diesem Vorschlag angedeuteten Tadel am Charakter meiner Liebsten, denn wenn Sie weit fort sind, Jane, werde ich versuchen, es zu vergessen. Ich werde mich dann nur noch an die darin enthaltene Weisheit erinnern und sie mir zur Richtlinie meines weiteren Tuns machen. Adèle muß in die Schule, und Sie, Fräulein Eyre, müssen eine neue Stellung finden.«

»Ja, ich werde sofort eine Anzeige aufgeben, und inzwischen kann ich wohl —«, ich wollte sagen: kann ich wohl hierbleiben, bis ich eine andere Bleibe gefunden habe, aber ich hielt inne, denn der Satz erschien mir zu lang, und ich hatte meine Stimme nicht mehr in der Gewalt.

»In etwa einem Monat hoffe ich zu heiraten«, fuhr Herr Rochester fort; »und inzwischen werde ich mich selbst nach einer Stellung und Bleibe für Sie umschauen.«

»Vielen Dank; es tut mir leid, Ihnen —.«

»Oh, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich finde, daß eine Angestellte, die ihren Pflichten so gut wie Sie nachgekommen ist, eine Art von Recht hat, von ihrem Arbeitgeber etwas Hilfe zu erwarten, soweit es möglich ist, und ich habe bereits durch meine künftige Schwiegermutter von einer Stelle gehört, die Ihnen sicher passen wird: Es handelt sich um die Erziehung der fünf Töchter einer Frau Dionysius O’Gall, die im Schloß Bitternuß, Grafschaft Connaught, in Irland lebt. Irland wird Ihnen gewiß gefallen. Die Iren sollen warmherzige Menschen sein.«

»Das ist aber sehr weit.«

»Das macht nichts. Ein vernünftiges Mädchen wie Sie wird die Reise und die Entfernung nicht scheuen.«

»Nicht die Reise, aber die Entfernung. Und dann trennt — mich die See —.«

»Von was, Jane?«

»Von England, von Thornfield, und —«

»Und?«

»Von Ihnen.«

Das sagte ich fast unbewußt, und ganz unbeherrscht schossen mir die Tränen hervor. Immerhin weinte ich still und schluchzte nicht. Der Gedanke an Frau O’Gall und das Schloß Binernuß jagt mir einen kalten Schauer ein, aber schlimmer noch erschien mir all das schäumende Wasser, das mich von meinem Herrn trennen würde, der jetzt noch an meiner Seite ging, und am schlimmsten erschien mit jener noch größere Ozean — Reichtum, Standesunterschied und Tradition —, der zwischen mir und dem, den ich so über alles liebte, lag.

»Es ist sehr weit«, sagte ich wieder.

»Ja, es ist weit, und wenn Sie nach Schloß Bitternuß in Connaught, Irland, gehen, werde ich Sie nie mehr wiedersehen, Jane; das ist so gut wie sicher. Ich fahre nie nach Irland, denn ich mag das Land nicht besonders gern. Jane, wir sind doch gute Freunde gewesen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und wenn Freunde sich trennen müssen, dann möchten sie doch die kurze Zeit, die ihnen verbleibt, nahe beieinander verbringen. Kommen Sie, wir wollen uns in aller Ruhe eine halbe Stunde lang über die Reise und die Trennung unterhalten, während die Sterne dort oben zu ihrem leuchtenden Leben erwachen. Hier ist der Kastanienbaum, und hier steht eine Bank auf seinen alten Wurzeln. Kommen Sie, setzen wir uns friedlich hin, ganz so, als sei es zum allerletzten Mal.«

Wir setzten uns.

»Es ist eine lange Reise nach Irland, Jane, und es tut mir sehr leid, daß ich meine kleine Freundin auf so eine beschwerliche Reise schicken muß, aber ich kann es nicht ändern, denn wie sollte ich’s, Jane, sind Sie mir irgendwie verwandt?«

Ich konnte ihm nichts darauf erwidern, denn das Herz stand mir still. Er fuhr fort:

»Ich habe nämlich zuweilen ein merkwürdiges Gefühl Ihnen gegenüber — besonders, wenn Sie, wie jetzt, nahe bei mir sind. Es ist mir dann, als fessele mich irgendein starker Faden, der von meinem Herzen unter meinen linken Rippen hinausgeht, an Ihre zarte Gestalt. Und wenn nun dieser stürmische Kanal und etwa zweihundert Meilen Land dazwischenkommen, dann fürchte ich, daß dieser Faden zerreißen wird. Und dann habe ich das beängstigende Gefühl, daß ich innerlich verbluten werde. Aber Sie — Sie werden mich vergessen.«

»Das werde ich nie, das wissen Sie doch —.« Es war mir unmöglich weiterzureden.

»Jane, hören Sie die Nachtigall im Walde schlagen? Hören Sie.«

Ich versuchte zu lauschen, aber jetzt schluchzte ich krampfhaft. Ich konnte nicht mehr verbergen, was ich fühlte. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich zitterte von Kopf bis Fuß und fühlte mich elend und unglücklich. Und als ich endlich sprach, machte ich meinem heftigen Wunsch Luft, nie auf die Welt oder nie nach Thornfield gekommen zu sein.

»Weil es Ihnen weh tut, es zu verlassen?«

Die Erregung, der Kummer und die Liebe gewannen in mir die Oberhand, und diese Gefühle forderten immer stärker ihr Recht, sich auszudrücken.

»Ja, es tut weh, Thornfield zu verlassen. Ich liebe Thornfield, ich liebe es, weil ich hier ein erfülltes und herrliches Leben hatte, wenn auch nur für eine Zeit. Hier hat man mich nicht mit Füßen getreten, hier hat man mich nicht gedemütigt, hier wurde ich nicht wie eine Ausgestoßene behandelt und von jedem Kontakt, der stark und groß und leuchtend war, ausgeschlossen. Ich habe von Angesicht zu Angesicht mit dem gesprochen, den ich verehre, der mich begeisterte — ich habe einen einmaligen, starken und weitreichenden Geist kennengelernt. Ich habe Sie kennengelernt, Herr Rochester, und es erfüllt mich mit Angst und Schrecken, wenn ich daran denke, daß ich nun auf ewig von Ihnen fortgerissen werde. Ich sehe die Notwendigkeit meines Fortgehens ein, und es erscheint mir wie die Notwendigkeit des Todes.«

»Wo sehen Sie die Notwendigkeit?« fragte er plötzlich.

»Wo? Sie haben sie mir doch vor Augen gestellt.«

»In welcher Form?«

»In der Form von Fräulein Ingram, einer vornehmen und schönen Frau — Ihrer Braut.«

»Meine Braut! Was für eine Braut? Ich habe keine Braut!«

»Aber Sie werden eine haben.«

»Ja — das werde ich! Das werde ich!«

»Dann muß ich gehen — Sie haben es ja selbst gesagt.«

»Nein. Sie müssen bleiben! Ich schwöre es — und ich werde diesen Schwur halten.«

»Ich sage Ihnen, daß ich gehen muß!« erwiderte ich fast heftig. »Glauben Sie, ich könne bleiben, um in Ihren Augen zu einem Nichts zu werden? Glauben Sie, ich sei ein Automat — eine Maschine ohne Gefühle? Daß ich es ertragen könnte, wenn man mir das Brot aus dem Munde und das Wasser von den Lippen nimmt? Glauben Sie, ich hätte weder Seele noch Herz, nur weil ich arm, unbedeutend, häßlich und klein bin? Da irren Sie sich! Ich habe genausoviel Seele wie Sie — und ebensoviel Herz! Und wenn Gott mich mit einiger Schönheit und Reichtum begabt hätte, so hätte ich es Ihnen genauso schwergemacht, mich zu verlassen, wie es mir jetzt schwerfällt, von Ihnen zu gehen. Ich rede jetzt nicht mit Ihnen, wie meine Stellung, mein Rang und die Konventionen es verlangen, ja nicht einmal, wie es meinem irdischen Leib zustände. Jetzt spricht mein Geist zu ihrem, gerade als seien wir gestorben und ständen vor Gottes Thron — nämlich gleichberechtigt — wie wir es sind!«

»Gleichberechtigt«, wiederholte Herr Rochester. »So«, fügte er hinzu, nahm mich in seine Arme, drückte mich an seine Brust und preßte seine Lippen auf die meinen: »So, Jane!«

»Ja, so«, erwiderte ich, »und doch nicht so, denn Sie sind ein verheirateter Mann — oder so gut wie verheiratet, und zwar mit einer, die Ihnen unterlegen ist, für die Sie gar kein Verständnis haben und die Sie meiner Meinung nach gar nicht wirklich lie— ben, denn ich habe gesehen und gehört, wie Sie sich über Sie lustig machten. Eine solche Ehe würde ich verachten, und darum bin ich besser als Sie — lassen Sie mich gehen.«

»Wohin, Jane? Nach Irland?«

»Jawohl, nach Irland. Ich habe gesagt, was mir auf dem Herzen lag, und nun ist es mir gleich, wohin ich gehe.«

»Jane, seien Sie doch ruhig, wehren Sie sich doch nicht wie ein wilder verängstigter Vogel, der sich aus Verzweiflung die Federn ausreißt.«

»Ich bin kein Vogel, und in keinem Netz gefangen. Ich bin ein freies menschliches Wesen mit meinem eigenen Willen, und den wende ich jetzt an, um Sie zu verlassen.«

Ich wand mich frei und stand jetzt aufrecht vor ihm.

»Und Ihr Wille wird Ihr Schicksal entscheiden«, sagte er. »Ich biete Ihnen mein Herz, meine Hand und meinen gesamten Besitz.«

»Sie spielen eine Posse, über die ich kaum lachen kann.«

»Ich bitte Sie, an meiner Seite durchs Leben zu gehen, mein anderes Ich und mein bester irdischer Gefährte zu sein.«

»Dazu haben Sie schon eine andere gewählt, und nun müssen Sie dabei bleiben.«

»Jane, beruhigen Sie sich doch nur für einen Augenblick. Sie sind überreizt. Auch ich werde ganz ruhig sein.«

Ein Windstoß kam durch die Lorbeerbüsche und brachte die Zweige des Kastanienbaums zum Erzittern, und dann entfernte er sich und erstarb in der Unendlichkeit. Die Stimme der Nachtigall war nun der einzige vernehmbare Laut. Ich lauschte ihr und mußte wieder weinen. Herr Rochester saß ruhig da und schaute mich liebevoll und ernsthaft an. Einige Zeit verging, bevor er wieder sprach.

Schließlich sagte er:

»Kommen Sie an meine Seite, Jane, und versuchen wir, uns gegenseitig zu verstehen.«

»Nie wieder will ich an Ihre Seite kommen. Ich habe mich von Ihnen fortgerissen und kann nicht mehr zurück.«

»Aber Jane, ich begehre Sie zur Frau. Nur Sie beabsichtige ich zu heiraten.«

Ich schwieg und glaubte, er treibe Spott mit mir.

»Kommen Sie, Jane, kommen Sie her.«

»Ihre Braut steht zwischen uns.«

Er erhob sich und war mit einem Schritt neben mir.

»Meine Braut ist hier«, sagte er und zog mich wieder an sich; »denn hier ist die, die mir gleichberechtigt und ähnlich ist. Jane, wollen Sie mich heiraten?«

Ich antwortete immer noch nicht und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, denn ich glaubte ihm nicht.

»Zweifeln Sie an mir, Jane?«

»Absolut.«

»Haben Sie kein Vertrauen zu mir?«

»Nicht das geringste.«

»Bin ich in Ihren Augen ein Lügner?« fragte er heftig. »Sie kleine Skeptikerin, ich werde Sie schon überzeugen. Was für eine Liebe soll ich denn für Fräulein Ingram verspüren? Überhaupt keine, und das wissen Sie. Und liebt sie mich? Durchaus nicht. Dafür habe ich Beweise. Ich ließ ihr ein Gerücht zu Ohren kommen, wonach mein Vermögen nicht ein Drittel von dem betrage, was man annähme, und dann ließ ich mich wieder sehen, um das Ergebnis festzustellen: sie und ihre Mutter empfingen mich äußerst kühl. Ich wollte und könnte Fräulein Ingram nie heiraten. Aber Sie, seltsames, fast unirdisches Wesen, Sie liebe ich wie mein eigenes Fleisch und Blut. Sie armes, unbedeutendes, häßliches und kleines Ding, Sie flehe ich an, meine Frau zu werden.«

»Was — mich!« stieß ich hervor, denn sein Ernst und besonders seine Unhöflichkeit ließen mich allmählich an seine Aufrichtigkeit glauben. »Mich, die auf der ganzen Welt keinen anderen Freund hat als Sie — wenn Sie mein Freund sind; und die ich außer dem, was Sie mir gegeben haben, keinen Schilling besitze?«

»Sie, Jane. Ich muß Sie ganz für mich haben — ganz mein eigen nennen. Wollen Sie mein sein? Sagen Sie ja, schnell.«

»Herr Rochester, lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen. Drehen Sie sich dem Mondlicht zu.«

»Warum?«

»Weil ich Ihren Ausdruck sehen möchte — drehen Sie sich — um.«

»So. Sie werden es kaum lesbarer finden als eine zerknitterte und zerkratzte Seite. Lesen Sie nur, aber beeilen Sie sich, denn ich leide.«

Sein Gesicht war sehr bewegt und errötet. In den Zügen und Furchen schien es zu zucken, und seine Augen hatten einen seltsamen Glanz.

»Oh, Jane, Sie quälen mich!« rief er aus. »Mit diesem forschenden und doch treuen und offenen Blick quälen Sie mich!«

»Wie könnte ich das? Wenn Sie aufrichtig sind und Ihr Antrag ehrlich ist, dann kann ich Ihnen doch nur Dankbarkeit und Ergebung entgegenbringen — und die können Sie doch nicht quälen.«

»Dankbarkeit!« rief er aus und fügte wild hinzu: »Jane, sagen Sie schnell ja, sag schnell ja, sag Edward — nenn mich bei meinem Namen, sag Edward, ich will dich heiraten.«

»Ist das Ihr Ernst? Lieben Sie mich wirklich? Möchten Sie mich wirklich zur Frau haben?«

»Ja. Und wenn ich es schwören muß, so schwöre ich es.«

»Dann, dann will ich Sie heiraten.«

»Sag Edward zu mir — meine kleine Frau!«

»Lieber Edward!«

»Komm zu mir — komm jetzt ganz zu mir«, sagte er. Er hielt seine Wange an die meine und flüsterte mir mit dem tiefsten Ton seiner Stimme ins Ohr:

»Mach mich glücklich — so wie ich dich glücklich machen werde.«

»Gott möge mir verzeihen!« begann er wieder; »und die Menschen sollen mir nicht dazwischenkommen. Jetzt habe ich sie, und werde sie behalten.«

»Es gibt ja niemand, der dazwischenkommen könnte. Ich habe keinerlei Verwandtschaft mehr.«

»Nein — das ist vielleicht noch das Beste daran«, sagte er.

Hätte ich ihn weniger geliebt, so wäre mir sein Ton und sein Aussehen plötzlich seltsam wild erschienen. Aber da ich so neben ihm saß, von dem Alpdruck der Trennung befreit und in das Paradies des Zusammenseins getreten, dachte ich nur an das Glück, von dem ich in so vielen Zügen trinken durfte. Immer wieder fragte er: »Bist du glücklich, Jane?«, und immer wieder antwortete ich: »Ja.« Und danach murmelte er: »Das wird es wieder gutmachen — das wird es wieder gutmachen. Habe ich sie nicht aufgenommen, als sie allein, verlassen und der Kälte ausgesetzt war, will ich sie behüten, lieben und trösten? Ist mein Herz nicht voll Liebe und mein Geist voller Entschlossenheit? Darum wird Gott mir vor seinem Gericht vergeben. Ich weiß, daß mein Schöpfer meine Tat gutheißt. Denn das Urteil der Welt kümmert mich nicht, und die Meinung der Menschen — mit der kann ich es aufnehmen.«

Aber was war mit der Nacht geschehen? Der Mond war noch nicht untergegangen, und doch war es finster um uns: ich konnte kaum das Gesicht meines Herrn sehen, obgleich es mir so nahe war. Und der Kastanienbaum? Er krümmte sich und ächzte, während der Wind in den Lorbeerbüschen heulte und über uns hinwegfuhr.

»Wir müssen ins Haus«, sagte Herr Rochester. »Das Wetter schlägt um. Ich hätte mit dir bis zum Morgen sitzen können, Jane.«

Ich auch, dachte ich. Vielleicht hätte ich es sagen sollen, aber da fuhr gerade ein fahler leuchtender Strahl aus einer Wolke, die ich eben betrachtete, und dann gab es ein Krachen, ein Knallen und ein nahes, donnerndes Rollen, und ich dachte nur noch daran, meine geblendeten Augen an Herrn Rochesters Schulter zu bergen.

Der Regen strömte nieder. Wir eilten den Weg hinauf, durch den Park und ins Haus, aber wir waren ganz durchnäßt, bevor wir die Schwelle erreichten. Er nahm mir gerade in der Diele das Halstuch ab und schüttelte das Wasser aus meinem gelösten Haar, als Frau Fairfax aus ihrem Zimmer trat. Ich hatte sie zuerst gar nicht bemerkt, und auch Herr Rochester hatte das nicht. Die Lampe war angezündet. Die Uhr schlug zwölf.

»Geh schnell und zieh dir deine nassen Kleider aus.«

»Aber bevor du gehst, gute Nacht — gute Nacht, mein Liebes.«

Er küßte mich lange. Als ich mich aus seiner Umarmung löste und aufblickte, sah ich die bleiche, ernsthaft und verblüfft dreinblickende Witwe. Ich lächelte ihr nur zu und rannte hinauf. Ich kann es ihr ein anderes Mal erklären, dachte ich. Als ich aber in meinem Zimmer war, fühlte ich einen Stich bei dem Gedanken, sie könne, wenn auch nur für kurze Zeit, das, was sie sah, falsch auslegen. Aber bald übertönte die Freude jedes andere Gefühl, und so laut der Wind auch heulte, so nah und tief der Donner krachte, so grell und häufig die Blitze zuckten, so prasselnd der Regen während dieses zweistündigen Unwetters herniederging, empfand ich keine Angst. Dreimal kam Herr Rochester an meine Tür, um mich zu fragen, ob ich sicher und ruhig sei, und das gab mir Trost und Kraft für alles.

Bevor ich am nächsten Morgen erwachte, kam die kleine Adèle in mein Zimmer gelaufen und erzählte mir, daß der große Kastanienbaum am Ende des Gartens in der Nacht vom Blitz getroffen und entzweigespalten worden sei.

24

Als ich aufstand und mich ankleidete, dachte ich über das Geschehene nach und fragte mich, ob ich geträumt habe. Ich konnte mir der Wirklichkeit nicht sicher sein, bevor ich Herrn Rochester wiedergesehen und noch einmal seine Liebesbeteuerung und sein Versprechen gehört hatte.

Ich kämmte mein Haar und schaute in den Spiegel. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr häßlich zu sein. Mein Gesicht strahlte Hoffnung und Leben aus, die Augen glänzten, als hätten sie den Quell der Wonne erblickt. Oft hatte ich mich gescheut, meinen Herrn anzuschauen, weil ich fürchtete, mein Aussehen könne ihm mißfallen. Aber jetzt war ich sicher, ihm in die Augen blicken zu können, ohne mir solche Sorgen machen zu müssen. Ich nahm ein einfaches Sommerkleid aus dem Schrank, und als ich es angezogen hatte, schien es mir besser als irgendeines zu stehen, wahrscheinlich weil ich in so glücklicher Stimmung war.

Als ich die Diele betrat, war ich nicht erstaunt, daß ein strahlender Junimorgen dem nächtlichen Gewitter gefolgt war. Durch die offene Glastür wehte eine frische und duftige Brise. Ja, die Natur mußte sich freuen, wenn ich so glücklich war! Eine blasse, zerlumpte Bettlerin kam mit ihrem kleinen Jungen des Wegs, und ich rannte zu ihr und gab ihr alles Geld, was ich in meiner Tasche hatte — es mochten drei oder vier Schillinge gewesen sein —, denn auch sie sollte an meinem Glücke teilhaben. Die Saatkrähen krächzten, und die Vögel sangen, aber nichts schlug fröhlicher als mein freudiges Herz. Frau Fairfax schaute unerwartet aus dem Fenster, sah etwas griesgrämig aus und fragte mich in sehr ernsthaftem Tone, ob ich nicht zum Frühstück kommen wolle. Während des Essens war sie kühl und sprach nicht, aber ich konnte ihr noch nichts sagen, denn ich mußte ja auf meinen Herrn warten, bis ich ihr eine Erklärung geben konnte. Ich aß ein wenig und eilte dann hinauf. Droben traf ich Adèle, die gerade aus dem Schulzimmer kam.

»Wo läufst du hin? Es ist Zeit für den Unterricht.«

»Herr Rochester hat mich ins Kinderzimmer geschickt.«

»Wo ist er?«

»Dort drinnen«, und sie zeigte auf das Schulzimmer. Ich trat ein.

»Komm und sag mir guten Morgen«, rief er mir zu. Ich ging ihm freudig entgegen, und jetzt bekam ich nicht nur ein paar höfliche Worte zu hören und einen Händedruck, sondern er umarmte und küßte mich. Es schien so natürlich, so herrlich, von ihm so zärtlich geliebt zu werden.

»Jane, du siehst blühend und frisch aus«, sagte er, »Wirklich hübsch. Ist das meine bleiche, kleine Fee? Ist das mein Senfkorn? Dieses strahlende Mädchen mit den Grübchen in den Wangen, dem weichen braunen Haar, den nußbraunen Augen und den rosigen Lippen?« (Meine Augen waren in Wirklichkeit grün, lieber Leser, aber du mußt ihm diesen Irrtum verzeihen, denn wahrscheinlich hatten sie für ihn eine neue Farbe bekommen.)

»Es ist Jane Eyre.«

»Und bald Jane Rochester«, fügte er hinzu. »In vier Wochen, Janet, und keinen Tag später, hörst du?«

Ich hörte es, aber ich konnte es noch nicht fassen: es gab mir ein Schwindelgefühl. Diese Ankündigung rief in mir ein so überwältigendes Gefühl hervor, daß ich fast Schrecken empfand.

»Du bist rot geworden, und nun bist du blaß, Jane. Was soll das heißen?«

»Sie haben mir einen neuen Namen gegeben — Jane Rochester. Das klingt seltsam.« — »Jawohl, die junge Frau Rochester. Fairfax Rochesters junge Braut.«

»Das kann doch nie sein, das klingt so unwahrscheinlich. Dem Menschen ist in dieser Welt nie vollkommenes Glück beschieden, und warum sollte ich anders als meinesgleichen sein? Wenn ich mir solch ein Glück vorstelle, scheint es mir ein Märchen oder ein Wachtraum zu sein.«

»Aber ein Traum, der sich verwirklichen wird. Heute schon fängt es an. Heute früh habe ich en meinen Bankierr in London geschrieben und ihn gebeten, mir den Schmuck zu schicken, den er in Verwahrung hat — die Erbstucke der Damen von Thornfield. In ein oder zwei Tagen hoffe ich, sie dir in den Schoß legen zu können, denn du sollst jetzt mit der gleichen Zuvorkommenhit behandelt werden wie die Tochter eines Lords.«

»Ach, Herr Rochester — lassen Sie den Schmuck! Ich will davon nichts hören. Juwelen für Jane Eyre, das klingt so unnatürlich und falsch. Nein, ich möchte keinen Schmuck.«

»Ich werde dir das Diamantenhalsband anlegen und deine Stirn mit dem goldenen Reif schmücken — und es wird dir gut anstehen, denn die Natur hat dich ja bereits geadelt, Jane, und ich werde dir Armbänder und Ringe geben.«

»Nein, nein, bitte nicht! Denken Sie sich etwas anderes aus, sprechen wir von etwas anderem, und nicht in solchem Ton. Sprechen Sie nicht mit mir, als wäre ich eine Schönheit. Ich bin doch nur eine unbedeutende, schlichte Erzieherin.«

»In meinen Augen bist du eine Schönheit, und eine Schönheit, die dem Wunsche meines Herzens entspricht. Du bist zart und feenhaft.«

»Kümmerlich und unbedeutend wollten Sie sagen. Träumen Sie, oder verspotten Sie mich? Um Gottes willen, werden Sie bitte nicht spöttisch!«

»Ich will, daß die ganze Welt deine Schönheit erkennt«, fuhr er fort, während ich mich unbehaglich zu fühlen begann; denn so, wie er redete, machte er sich entweder selbst etwas vor, oder er versuchte, mir etwas vorzumachen. »Ich werde meine Jane in Seide und Spitzen kleiden, ihr Haar mit Rosen schmücken und ihr den kostbarsten Schleier anlegen.«

»Und dann werden Sie mich nicht wiedererkennen, und ich werde nicht mehr Ihre Jane Eyre sein, sondern ein Affe im Clownkostüm — eine Krähe mit fremden Federn. Ebenso könnte ich mir Sie als Schauspieler wie mich als Hofdame vorstellen, und ich sage Ihnen auch nicht, daß Sie hübsch sind, obgleich ich Sie von ganzem Herzen liebe, denn ich liebe Sie zu sehr, um Ihnen schmeicheln zu können. Lassen Sie bitte die Schmeicheleien.«

Er fuhr jedoch fort, ohne meinen Einwänden Aufmerksamkeit zu schenken.

»Noch heute fahre ich mit dir nach Millcote, und dort sollst du dir Kleider aussuchen. Ich sagte dir ja, daß wir in vier Wochen heiraten. Die Trauung soll in aller Stille in der Kirche da unten stattfinden, und dann fahren wir sofort in die Stadt. Dort werden wir nur kurze Zeit bleiben, und dann werde ich meinen Schatz in sonnigere Gegenden bringen, in die Weinberge Frankreichs und die Ebenen Italiens, und sie wird alle historischen und modernen Sehenswürdigkeiten erblicken, sie wird vom Leben der Städte kosten, und sie wird lernen, sich anderen gegenüber ebenbürtig zu fühlen.«

»Reisen soll ich? Und mit Ihnen?«

»Du wirst in Paris, Rom und Neapel, in Florenz, Venedig und Wien leben, du wirst überall dorthin fahren, wo ich bisher rastlos gewandert bin. Vor zehn Jahren bin ich halb wahnsinnig vor Ekel, Haß und Wut durch Europa gereist, und jetzt werde ich geheilt und geläutert, mit meinem Engel zur Seite, all die Länder wiedersehen.«

Ich mußte lachen, als er das sagte. »Ich bin kein Engel«, beteuerte ich, »ich ich werde auch bis zu meinem Tode keiner sein: Ich will ich selbst bleiben, Herr Rochester, und Sie dürfen nichts Himmlisches von mir erwarten oder verlangen — denn das wäre verlorene Müh. Ich erwarte Derartiges ja auch nicht von Ihnen.«

»Und was erwartest du von mir?«

»Eine Weile werden Sie vielleicht so bleiben, wie Sie jetzt sind, aber nur eine kleine Weile; und dann werden Sie kühler sein, und dann werden Sie launenhaft und düster sein, und ich werde alle Mühe haben, Ihnen zu gefallen. Aber wenn Sie sich ganz an mich gewöhnt haben, werden Sie mich vielleicht wieder mögen — und ich sage mögen und nicht lieben. Denn Ihre Liebe wird etwa sechs Monate lang dauern, oder noch weniger. Ich habe in Büchern, die von Männern geschrieben wurden, gelesen, daß die Liebesglut eines Ehemannes nie länger anhält. Aber danach hoffe ich als Freundin und Gefährtin meinem lieben Herrn nie ganz zuwider zu werden.«

»Zuwider! Und wieder mögen! Ich glaube, ich werde dich immer wieder und wieder mögen, und ich werde dir beweisen, daß ich dich nicht nur mag, sondern daß ich dich von ganzem Herzen heiß und innig liebe.«

»Aber sind Sie nicht launisch?«

»Frauen gegenüber, die nur ein hübsches Gesicht haben, bin ich ein wahrer Teufel, wenn ich herausfinde, daß sie weder Herz noch Seele haben — wenn sie mich ihre Oberflächlichkeit, Beschränktheit, Dummheit, Boshaftigkeit und Launenhaftigkeit erkennen lassen. Aber wo ich einen klaren Blick und eine linke Zunge, eine durch Feuer geläuterte Seele und einen Charakter antreffe, der sich biegt, aber nie bricht, der schmiegsam und fest zugleich, nachgiebig und standhaft ist — dann bin ich für immer zärtlich und treu.«

»Haben Sie jemals einen solchen Charakter angetroffen? Und ihn geliebt?«

»Ich liebe ihn jetzt.«

»Ich meine vorher, denn ich glaube kaum, daß ich Ihren hohen Erwartungen entsprechen könnte.«

»Nie ist mir jemand begegnet, der dir gleicht, Jane. Du gefällst mir, und du beherrschst mich — du bist scheinbar nachgiebig, und ich liebe deine Fügsamkeit, aber letzten Endes bin ich der Besiegte, denn es liegt ein Zauber in diesem Besiegtsein, der schöner ist als jeder Triumph. Warum lächelst du, Jane? Was soll dieser plötzliche Wechsel, den ich mir nicht erklären kann?«

»Ich dachte« (und der Leser möge mir diesen unabsichtlichen Gedanken verzeihen), »ich dachte an Herkules und Simson und ihre Bezauberinnen —«.

»Du dachtest, du kleine Fee —«.

»Schweigen Sie. Ihre Worte sind nicht klug. Sie sind nicht klüger als die Taten jener Männer. Hätten sie jedoch geheiratet, so hätten sie wahrscheinlich ihre Schwächen als Verliebte durch ehemännliche Strenge wieder wettgemacht, und das werden Sie leider ebenfalls tun. Ich frage mich, wie sie mir antworten werden, wenn ich Sie in einem Jahr um einen Gefallen bitten will, der Ihnen lästig sein könnte.«

»Bitte mich um einen Gefallen, Janet — jetzt — verlange irgend etwas. Ich lasse mich gern bitten.«

»Das werde ich auch gleich tun. Ich habe schon meinen Wunsch parat.«

»So sprich! Aber wenn du mich mit diesem Lächeln anschaust, so muß ich dir schon alles unbesehen gewähren, und damit würde ich mich zum Narren machen.«

»Durchaus nicht, Herr Rochester. Ich habe nur eine Bitte: Lassen Sie den Schmuck nicht kommen, und schmücken Sie mich nicht mit Rosen; Sie könnten ebensogut das einfache Taschentuch, das Sie in der Hand halten, mit goldenen Spitzen einfassen lassen.«

»Ich könnte auch reines Gold vergolden lassen. Ich weiß. Deine Bitte sei dir gewährt — einstweilen wenigstens. Ich werde den Auftrag an meinen Bankier rückgängig machen. Aber du hast mich ja noch um nichts gebeten, bisher hast du nur gebeten, daß ich dir etwas nicht schenke. Versuch es noch einmal.«

»Nun gut, dann befriedigen Sie bitte meine Neugierde. Da ist etwas, das ich mir nicht erklären kann.«

Er blickte mich verstört an und sagte hastig: »Was? Was soll das? Die Neugierde erzeugt gefährliche Wünsche. Es ist gut, daß ich dir nicht versprochen habe, jeden Wunsch zu erfüllen.«

»Aber es ist ja nichts Gefährliches dabei.«

»Also frage, Jane. Aber es wäre mir lieber, du verlangtest mein halbes Vermögen, als daß du mich nach einem Geheimnis fragst.«

»Was soll ich mit Ihrem halben Vermögen? Glauben Sie, ich sei ein Wucherer, der nach guten Investitionen sucht? Nein, lieber habe ich Ihr Vertrauen, und zwar Ihr ganzes Vertrauen. Sie werden mich doch nicht aus Ihrem Vertrauen ausschließen, wo Sie mir Ihr Herz geöffnet haben?«

»Du sollst all das Vertrauen haben, das sich lohnt zu besitzen, Jane, aber um Himmels willen wünsche dir nichts, das dich unnötig belasten könnte. Sehne dich nicht nach vergifteten Freuden — werde nicht zur verlockenden Eva.«

»Aber warum denn nicht? Eben haben Sie mir noch gesagt, Sie liebten es, sich erobern und überreden zu lassen. Glauben Sie nicht, ich sollte mir das Geständnis zunutze machen und locken und bitten — ja vielleicht auch weinen und schmollen, Wenn nötig — um einmal voll und ganz meine Macht auszukosten?«

»Willst du es darauf ankommen lassen? Nun gut, frage, frage schon. Ich geb’s auf.«

»Wirklich? Sie geben es schnell auf. Und wie düster Sie jetzt dreinschauen! Ihre Augenbrauen sind so dick wie mein Finger und Ihre Stirn gleicht dem, was ich einmal in einem erstaunlichen Gedicht als ›blaugesäulten Donnerhort‹ beschrieben fand. Ist das Ihr Ehemannsblick?«

»Wenn das dein Ehefrauenblick ist, dann wird mir als Christenmenschen kaum etwas anderes übrigbleiben, als mir den Gedanken, mit einem Kobold oder einem Feuersalamander zusammenzuleben, aus dem Kopfe zu schlagen. Aber du wolltest etwas fragen, du Ding. Heraus damit!«

»Da sehen Sie es. Jetzt sind Sie nicht mehr höflich, und Ihre Grobheit gefällt mir viel besser als Ihre Schmeicheleien. Lieber bin ich ein Ding als ein Engel. Nun kommt meine Frage: Warum haben Sie sich solche Mühe gemacht, mich glauben zu lassen, Sie wollten Fräulein Ingram heiraten?«

»Ist das alles? Gott sei Dank! Es hätte schlimmer kommen können.«

Seine Stirn glättete sich, er schaute mich lächelnd an, streichelte mir das Haar und war froh, als sei er einer Gefahr entgangen. Er fuhr fort: »Ich werde es dir berichten, selbst wenn es dich ein wenig empören sollte, Jane — und ich habe gesehen, wie hitzig du sein kannst, wenn du empört bist. Du glühtest gestern nacht im kühlen Mondlicht, als du dich gegen das Schicksal auflehntest und Gleichberechtigung fordertest. Und eigentlich, Janet, hast du mir ja den Antrag gestellt.«

»Natürlich, natürlich. Aber kommen wir bitte zur Sache. Wie war es nun mit Fräulein Ingram!«

»Nun, ich habe ihr den Hof gemacht, weil ich wollte, daß du dich ebenso wahnsinnig in mich verliebtest wie ich in dich, und ich wußte, daß die Eifersucht meine beste Verbündete für diesen Zweck sei.«

»Ausgezeichnet! Jetzt sind Sie klein, nicht größer als die Spitze meines kleinen Fingers. Es war eine Schande und ein großes Unrecht, so zu handeln. Haben Sie denn überhaupt nicht an Fräulein Ingrams Gefühle gedacht?«

»Ihre Gefühle beschränkten sich nur auf eins — Hochmut. Und der braucht Demütigung. Warst du eifersüchtig, Jane?«

»Das tut nichts zur Sache, Herr Rochester. Für Sie ist das von keinerlei Interesse. Aber antworten Sie mir noch einmal ganz ehrlich. Glauben Sie, daß Fräulein Ingram nicht unter ihrem unehrlichen Spiel leiden wird? Wird sie sich nicht verraten und verlassen fühlen?«

»Ausgeschlossen! Ich habe dir doch gesagt, daß sie mich verlassen hat, daß die Flamme ihrer Leidenschaft erlosch, als sie hörte, daß ich nicht so reich sei.«

»Herr Rochester, Sie haben einen seltsam berechnenden Verstand. Ich fürchte, ich finde Ihre Prinzipien in manchen Punkten recht exzentrisch.« — »Meine Prinzipien sind nie geschult worden, Jane; sie sind vielleicht aus Mangel an Pflege etwas wild emporgeschossen.«

»Aber noch einmal, und in allem Ernst: Kann ich das große Glück, das mir beschert ist, genießen, ohne fürchten zu müssen, daß nun eine andere die bitteren Qualen leidet, die ich noch vor kurzer Zeit erlitt?«

»Das sollst du, mein liebes kleines Mädchen. Es gibt kein Wesen auf der Welt, das mich so rein und innig liebt wie du — denn diesen Balsam geb’ ich meiner Seele: Jane, ich glaube an deine Liebe!«

Ich küßte die Hand, die auf meiner Schulter lag. Ich liebte ihn so sehr — mehr als ich mir gestehen konnte — mehr als Worte es auszudrücken vermögen.

»Frag mich noch etwas«, sagte er nun. »Es gefällt mir, dir zu Willen zu sein.«

Ich hatte eine neue Bitte bereit. »Bitte, teilen Sie Ihre Absichten Frau Fairfax mit. Sie sah uns gestern nacht in der Diele und war sehr betroffen. Bitte, geben Sie ihr doch irgendeine Erklärung, bevor ich ihr wieder entgegentrete. Ich möchte von dieser lieben Frau nicht falsch beurteilt werden.«

»Geh in dein Zimmer und hol dir deine Mütze«, sagte er. »Wir wollen heute früh noch nach Millcote fahren, und während du dich bereitmachst, werde ich die alte Dame aufklären. Janet, meinst du, sie glaubte, du habest dich hoffnungslos verliebt und seist nun verloren?«

»Ich vermute, sie hat vor allem geglaubt, ich hätte meinen Rang und Ihren Stand vergessen.«

»Rang! Stand! Dein Rang und Stand ist in meinem Herzen, und wer dich je beleidigen sollte, wird es zu spüren kriegen. Nun geh.«

Ich war bald angekleidet, und als ich Herrn Rochester aus Frau Fairfax’ Zimmer gehen hörte, eilte ich hinunter. Die alte Dame hatte, wie üblich, ihre Bibelstelle gelesen, die ihr die Losung für den Tag gab. Die Bibel lag offen vor ihr, und sie hatte ihr Brille daraufgelegt. Sie schien ihre Beschäftigung jetzt ganz vergessen zu haben, starrte die gegenüberliegende Wand an und sah verstört und überrascht aus. Als sie mich sah, erhob sie sich, bemühte sich zu lächeln und sagte ein paar beglückwünschende Worte, aber das Lächeln brach ab, sie unterbrach ihren Satz, nahm ihre Brille auf, klappte die Bibel zu und schob ihren Stuhl vom Tisch fort.

Dann begann sie: »Ich bin so überrascht, daß ich kaum weiß, was ich Ihnen sagen soll, Fräulein Eyre. Ich habe doch nicht etwa geträumt? Manchmal verfalle ich in Halbschlaf, wenn ich allein sitze, und dann stelle ich mir Dinge vor, die nie geschehen. So ist es mir oft passiert, wenn ich vor mich hin dämmerte, daß mein lieber Mann, der schon seit fünfzehn Jahren tot ist, ins Zimmer trat und sich neben mich setzte, und ich habe sogar seine Stimme gehört, als er mich beim Namen rief: ›Alice‹, pflegte er zu sagen. Also bitte, können Sie mir jetzt sagen, ob es wirklich wahr ist, daß Herr Rochester Sie gebeten hat, seine Frau zu werden? Bitte, lachen Sie mich nicht aus. Aber es war mir wirklich, als sei er vor fünf Minuten hier hereingekommen und habe mir gesagt, in einem Monat seien Sie seine Frau.«

»Das hat er mir auch gesagt«, erwiderte ich.

»So, so. Und glauben Sie ihm? Haben Sie ja gesagt?«

»Ja.«

Sie sah mich bestürtzt an.

»Das hätte ich mir nie gedacht. Er ist ein stolzer Mann. Alle Rochesters waren stolz, und sein Vater zumindest liebte das Geld. Auch er war immer als sparsam bekannt. Will er Sie wirklich heiraten?«

»Er hat es mir gesagt.«

Sie blickte mich forschend an, und ich las in ihren Blicken, daß sie keinen Reiz an mir entdeckt hatte, der ihr dieses Rätsel lösen könnte.

»Es übersteigt mein Verständnis«, fuhr sie fort. »Aber es muß ja wahr sein, wenn Sie es sagen. Aber was daraus werden soll, das weiß ich nicht. Gleicher Rang und gleiches Vermögen sind doch in solchen Fällen ratsam, und dann ist er zwanzig Jahre älter als Sie. Er könnte ja Ihr Vater sein.«

»Nein, Frau Fairfax«, rief ich ärgerlich aus; »er könnte nie mein Vater sein! Niemand, der uns zusammen sähe, würde auf diesen Gedanken kommen. Herr Rochester ist so jung und sieht so jung aus wie mancher Fünfundzwanzigjährige.«

»Will er Sie wirklich aus Liebe heiraten?« fragte sie.

Ihre Kälte und Ungläubigkeit verletzten mich so sehr, daß die Tränen in mir aufstiegen.

»Es tut mir leid, Ihnen Kummer zu machen«, fuhr die Witwe fort; »aber Sie sind so jung und unerfahren im Umgang mit Männern, daß Sie vorsichtig sein müssen. Denken Sie an das alte Sprichtwort ›Es ist nicht alles Gold, das glänzt‹, und in diesem Fall fürchte ich, daß da etwas ganz Unerwartetes dahintersteckt.«

»Warum? Bin ich denn ein Ungeheuer?« sagte ich. »Ist es denn unmöglich, daß Herr Rochester echte Zuneigung zu mir gefaßt haben könnte?«

»Nein. Sie sind schon ganz recht, und Sie haben sich in letzter Zeit wirklich herausgemacht, und Herr Rochester hat Sie sicher gern. Ich habe schon lange bemerkt, daß er Gefallen an Ihnen fand. Manchmal war ich deshalb etwas besorgt um Sie, und ich wollte Sie schon warnen, aber dann wollte ich auch wieder kein Unrecht tun. Denn eine solche Bemerkung hätte Sie ja verletzen können, und Sie waren immer so zurückhaltend, zutiefst bescheiden und feinfühlig, daß ich hoffte, Sie würden sich schon selbst schützen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich letzte Nacht durchgemacht habe. Ich suchte Sie im ganzen Haus und fand weder Sie noch Herrn Rochester, und dann sah ich Sie um Mitternacht mit ihm hereinkommen.«

»Nun, das ist ja jetzt unwichtig«, unterbrach ich ungeduldig. »Es genügt ja, daß schließlich alles recht war.«

»Hoffentlich wird auch alles gut ausgehen«, sagte sie, »aber glauben Sie mir, man kann nie zu vorsichtig sein. Bemühen Sie sich, Herrn Rochester nie zu nahezukommen, mißtrauen Sie sich selbst und ihm. Männer seines Ranges pflegen nicht die Kindererzieherin zu heiraten.«

Jetzt wurde ich richtig ärgerlich, aber glücklicherweise kam Adèle angerannt. »Nehmen Sie mich mit — nehmen Sie mich doch bitte mit nach Millcote«, rief sie. »Herr Rochester will nicht, aber im neuen Wagen ist doch so viel Platz. Bitten Sie ihn doch, daß er mich mitfahren läßt, Mademoiselle.«

»Das werde ich tun, Adèle.« Ich eilte mit ihr aus dem Zimmer und war froh, meine düstere Ermahnerin zu verlassen. Der Wagen stand bereits vor dem Portal, und Herr Rochester kam gerade über den Kiesweg, gefolgt von Pilot.

»Adèle kann doch mitkommen, nicht wahr?«

»Ich habe ihr nein gesagt. Ich will das Balg nicht! Ich will nur dich.«

»Lassen Sie sie doch mitfahren, Herr Rochester, bitte. Es wäre doch besser.«

»Nein, sie wäre uns nur im Wege.«

Sein Blick und Ton waren sehr gebieterisch. Und die Mahnungen und Zweifel der Frau Fairfax lasteten noch kalt und feucht auf mir: etwas Ungewisses und Unfaßbares verdrängte meine Hoffnungen. Ich schien schon keine Macht mehr über ihn zu haben und wollte schon mechanisch und ohne Widerrede gehorchen.

Aber als er mir in den Wagen half, schaute er mir ins Gesicht.

»Was ist los?« fragte er. All der Sonnenschein war fort. »Willst du denn wirklich die Kleine mitnehmen? Macht es dir Kummer, wenn sie hierbleiben muß?«

»Es wäre mit lieber, wenn sie mitkäme.«

»Dann hol dir deine Mütze und beeile dich gefälligst!« rief er Adèle zu.

Sie rannte davon.

»Schließlich macht ja ein unterbrochener Morgen nicht viel aus«, sagte er, »zumal ich ja bald deine Gedanken, deine Worte und deine Gegenwart fürs Leben besitzen werde.«

Adèle kam zurück und küßte mich, um mir zu danken. Aber er wies sie sofort in eine Ecke auf seiner anderen Seite. Sie sah mich verstohlen an und schien ganz eingeschüchtert. Er sah so streng aus, daß sie sich nicht traute, den Mund aufzumachen.

»Lassen Sie sie nur zu mir kommen«, bat ich. »Sie wird Ihnen nur im Wege sein. Auf dieser Seite ist Platz genug.«

Er reichte sie mir herüber wie ein Schoßhündchen. »Ich werde sie bald zur Schule schicken«, sagte er, aber jetzt lächelte er.

Adèle hatte ihn gehört und fragte, ob sie ohne Mademoiselle zur Schule gehen müsse.

»Jawohl«, erwiderte er. »Absolut ohne Mademoiselle, denn ich werde Mademoiselle auf den Mond nehmen, und dann werde ich mir eine Höhle in einem der weißen Täler inmitten der großen Krater aussuchen, und dort wird Mademoiselle mit mir leben, und zwar ganz allein mit mir.«

»Sie wird nichts zu essen haben, und Sie werden Sie verhungern lassen«, bemerkte Adèle.

»Ich werde ihr morgens und abends Manna bringen, denn die Ebenen und Hügel des Mondes sind voller Manna, Adèle.«

»Sie wird aber frieren, und womit soll sie sich wärmen?«

»Die Mondberge speien Feuer, und wenn sie friert, werde ich sie auf einen Bergesgipfel tragen und sie an den Rand eines Kraters legen.«

»Oh, qu’elle y sera mal — peu comfortable, und wenn ihre Kleider abgetragen sind, wie kann sie sich neue beschaffen?«

Herr Rochester tat verlegen. »Hm«, sagte er. »Was würdest du denn tun, Adèle. Versuche, dir eine Lösung auszudenken. Was meinst du? Wie wär’s mit einer weißen oder rosigen Wolke als Kleid? Und ein Schal aus einem Regenbogen stünde ihr gewiß gut.«

»Sie hat es viel besser, wo sie ist«, schloß Adèle nach einigem Überlegen. »Außerdem würde es ihr langweilig werden, mit Ihnen alleine auf dem Mond. Wenn ich Mademoiselle wäre, ginge ich nicht mit Ihnen.«

»Sie hat sich aber einverstanden erklärt, sie hat mir ihr Wort gegeben.«

»Aber Sie können sie ja gar nicht dahin bringen. Es führt keine Straße zum Mond; es ist alles Luft, und ihr könnt beide nicht fliegen.«

»Adèle, schau das Feld an.« Wir hatten das Tor von Thornfield verlassen und rollten nun auf der Straße nach Millcote, die nach dem gestrigen Gewitterregen nicht mehr so staubig war. Die niedrigen Hecken und Bäume leuchteten sattgrün und hatten sich im Regen erfrischt.

»In diesem Feld, Adèle, ging ich vor etwa vierzehn Tagen spätabends spazieren — es war an dem Tag, als du mir beim Heuen der Wiese im Obstgarten halfst. Da ich müde war, setzte ich mich auf einen Zauntritt, nahm mein Büchlein und den Bleistift hervor und schrieb über ein Unglück, das mich vor langer Zeit betroffen hatte, und von meinem Wunsch, glücklichere Zeiten zu erleben. Ich schrieb sehr rasch, denn es dämmerte bereits. Da kam etwas den Pfad entlang und blieb vor mir stehen. Es war ein kleines Ding mit einem Schleier aus Spinnweben vor dem Gesicht. Ich ließ es nah an mich herankommen, und bald stand es an meinem Knie. Ich sprach kein Wort zu ihm, und es sprach auch nicht zu mir, aber ich las in seinen Augen, und es las in den meinen, und was es mir in diesem wortlosen Gespräch erzählte, will ich dir jetzt sagen —:

Es war eine Fee aus dem Elfenreich, und sie war extra gekommen, um mich glücklich zu machen, und sie sagte, ich müsse mit ihr an einen einsamen Ort gehen — wie zum Beispiel dem Mond —, und dann nickte sie der Mondsichel zu und sagte, so eine Silber- und Alabasterhöhle dort oben sei vielleicht der geeignete Platz.

Ich sagte ihr, ich würde gerne gehen, wendete aber ein, wie du es tatest, daß ich nicht fliegen könne.

›Ach‹, sagte da die Fee, ›das macht doch nichts. Hier hast du einen Talisman, der dir über alle Schwierigkeiten hinweghelfen wird‹, und sie reichte mir einen schönen goldenen Ring. ›Streife ihn auf den vierten Finger meiner linken Hand, so bin ich dein und du bist mein, und wir verlassen die Erde und machen uns unseren eigenen Himmel.‹ Dann zeigte sie wieder auf den Mond. Den Ring habe ich noch in der Tasche, Adèle. Ich habe ihn zwar vorläufig in ein Goldstück verwandelt, aber bald werde ich wieder einen Ring daraus machen.«

»Aber was hat denn Mademoiselle damit zu tun? Die Fee ist mir ganz gleich, aber Sie sagten doch, Sie wollten mit Mademoiselle auf den Mond gehen?«

»Mademoiselle ist eben die Fee«, sagte er geheimnisvoll flüsternd. Worauf ich ihr sagte, sie solle auf sein Geschwätz nicht achten. Und sie zeigte wahre französische Skepsis, nannte Herrn Rochester »un vrai menteur«, warf ihm vor, er erzähle ihr »des contes de fée«, stellte fest: »du teste, il n’y avait pas des fées et quand méme in n’y avait« sei sie sicher, eine Fee würde sich ihm gar nicht zeigen, ihm keine Ringe schenken und ihn auch nicht auf den Mond einladen.

Die Stunde, die Wir in Millcote verbrachten, war recht beschwerlich für mich. Herr Rochester führte mich in einen großen Stoffladen, wo ich mir ein halbes Dutzend Kleiderstoffe aussuchen sollte. Mir war es zuwider und ich bat ihn, die Sache aufzuschieben: aber nein — es mußte jetzt sein. Nach langem energischem Geflüster erreichte ich, daß das halbe Dutzend auf zwei beschränkt wurde, aber diese wollte er nun selbst aussuchen. Ängstlich folgte ich seinem Blick. Er entschloß sich für einen schweren Seidenstoff von leuchtendem Amethystblau und einen anderen herrlichen rosa Atlas. In weiterem Flüstern erklärte ich ihm, dann könne er mir ebensogut gleich ein goldenes Kleid und einen silbernen Hut kaufen, denn ich würde nie solche Kleider tragen können. Nach langen Mühen — denn er war sehr starrköpfig — gelang es mir, ihn umzustimmen und einen einfachen schwarzen Atlas und einen perlgrauen Seidenstoff zu nehmen.

»Vorläufig mag es so hingehen«, sagte er; »aber bald wirst du wie ein ganzer Hofstaat leuchten.«

Ich war froh, als wir aus dem Laden traten; aber dann ging es zum Juwelier. Je mehr er mir kaufte, um so beschämter und gedemütigter fühlte ich mich. Als wir zum Wagen zurückgingen, lehnte ich mich müde und erhitzt zurück, und erst da fiel mir ein, daß ich im Laufe all dieser Ereignisse ganz und gar den Brief meines Onkel John Eyre an Frau Reed und seine Absicht, mich zu adoptieren und zu seiner Universalerbin einzusetzen, vergessen hatte. Und ich dachte mir, welche Erleichterung es wäre, wenn ich wenigstens ein wenig finanzielle Unabhängigkeit hätte, denn der Gedanke, mich von Herrn Rochester wie eine Puppe ausstaffieren zu lassen, war mir unerträglich. Noch heute wollte ich nach Madeira schreiben und meinem Onkel John mitteilen, daß ich mich verheiratete. Wenn ich auch nur die geringste Absicht hatte, Herrn Rochester etwas Vermögen einzubringen, so fiele es mir weniger schwer, jetzt alles von ihm anzunehmen. Dieser Gedanke stimmte mich froher (ich schrieb wirklich noch am gleichen Tage); und ich traute mich wieder, meinem Herrn und Geliebten in die Augen zu schauen. Vordem hatte er mich mit seinen Blicken gesucht, und ich war ihm ausgewichen. Jetzt lächelte er, und sein Lächeln glich dem eines Sultans, der eben seine Sklavin mit Gold und Edelsteinen beschenkt hat. Ich drückte seine Hand, die immer nach mir suchte, und schob sie dann energisch zurück.

»Sie brauchen mich nicht so anzuschauen«, sagte ich, »denn sonst werde ich bis zum Schluß nur noch meine alten Kleider aus Lowood tragen. Ich werde in diesem lila Baumwollkleid heiraten, und Sie können sich einen Schlafrock aus der perlgrauen Seide und eine Unzahl von Westen aus dem schwarzen Atlas schneidern lassen.«

Er lachte vergnügt und rieb sich die Hände. »Ach, wie bereichernd es ist, sie zu sehen und anzuhören!« rief er. »Ist sie nicht originell? Ist sie nicht geistvoll? Ich möchte diese kleine Engländerin nicht gegen das gesamte Serail des Großtürken — mit all seinen gazellenäugigen Houris — eintauschen!«

Diese östliche Anspielung pikierte mich wieder. »Ich beabsichtige auch nicht, Ihnen ein Serail zu ersetzen«, sagte ich; »und bitte, betrachten Sie mich nicht als eins. Wenn Sie derlei Dinge wollen, dann begeben Sie sich schleunigst nach Stambul, und dort können Sie all das Geld, das Sie hier nicht loswerden, in Sklaveneinkäufen investieren.«

»Und was wirst du tun, Janet, wenn ich mir soviel Tonnen Fleisch und eine solche Auswahl an schwarzen Augen anschaffe?«

»Dann werde ich als Missionarin in die Welt hinausgehen und allen denen, die versklavt sind — Ihre Hareminsassinnen eingeschlossen —, die Freiheit predigen. Ich werde sie alle zum Aufstand anschüren; und Sie, großmächtiger Pascha, werden sich plötzlich in unserer Gewalt befinden. Aber ich werde Ihre Fesseln nicht lösen, bis Sie nicht den liberalsten Freibrief unterzeichnet haben, der je einem Tyrannen abgetrotzt wurde.«

»Ich würde mich ganz deiner Gnade ausliefern, Jane.«

»Ich hätte keine Gnade, Herr Rochester, wenn Sie darum auch mit solchen Blicken flehten. Denn dann wäre ich sicher, daß Sie jedes Versprechen, was man Ihnen abgezwungen hat, sofort wieder brechen würden, wenn Sie frei wären.«

»Aber Jane, was willst du eigentlich! Ich fürchte, du willst mich neben Kirche und Standesamt noch zu einer privaten Trauung zwingen und mir besondere Bedingungen diktieren, wie werden sie sein?«

»Ich möchte nur nicht durch zu viele Verpflichtungen belastet sein. Erinnern Sie sich an das, was Sie mir von Céline Varens erzählten? Von den Diamanten und den Seidenstoffen, die Sie ihr schenkten? Ich werde nicht Ihre englische Céline Varens sein. Ich werde weiterhin Adèles Erzieherin bleiben und mir damit Kost und Unterkunft und dreißig Pfund im Jahr verdienen. Davon werde ich meine Garderobe bestreiten, und Sie geben mir nichts außer — .«

»Außer was?«

»Ihrer Zuneigung; und da ich Ihnen die zurückgebe, steht niemand in des anderen Schuld.«

»Nun, an kalter Unverschämtheit und angeborenem Hochmut hast du jedenfalls nicht deinesgleichen«, sagte er. Wir kamen nach Thornfield. »Würde es dir zusagen, heute abend mit mir zu speisen?« fragte er, als wir durchs Tor fuhren.

»Nein, vielen Dank.«

»Und warum ›Nein, vielen Dank‹, wenn man fragen darf?«

»Ich habe nie mit Ihnen zu Abend gespeist, Herr Rochester, und ich sehe keinen Grund dazu, bis —«

»Bis was? Du liebst halbe Sätze.«

»Bis ich es nicht mehr vermeiden kann.«

»Glaubst du, ich esse wie ein Menschenfresser oder ein Dämon, daß du dich so fürchtest, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten?«

»Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, aber ich möchte diesen Monat wie bisher weiterleben.«

»Du wirst dein Erzieherinnen-Sklavendasein sofort aufgeben.« — »Das werde ich eben, mit Verlaub, nicht tun. Ich werde weiterleben wie bisher. Ich werde mich tagsüber von Ihnen fernhalten, wie ich es gewohnt bin. Wenn Sie mich abends sehen wollen, können Sie mich rufen lassen. Aber sonst zu keiner anderen Zeit!«

»Nach alldem möchte ich rauchen, eine Prise Schnupftabak nehmen oder sonst etwas tun, ›pour medonner une contenance‹, wie Adèle sagen würde; aber leider hab’ ich weder mein Zigarrenetui noch meine Tabaksdose bei mir. Aber hör mir gut zu, kleine Tyrannin, denn bald wirst du mein sein; und wenn ich dich erst einmal richtig habe, dann werde ich dich — bildlich gesprochen — wie meine Uhr an die Kette legen. Ja, du wirst in meinem Herzen verschlossen sein, und dann gibt’s kein Entrinnen mehr.«

Er half mir aus dem Wagen, und während er Adèle heraushob, ging ich ins Haus und zog mich auf mein Zimmer zurück.

Am Abend ließ er mich kommen. Ich hatte mir eine Beschäftigung für ihn ausgedacht, denn ich war entschlossen, nicht die ganze Zeit mit Süßholzgeraspel zu verbringen. Er hatte eine schöne Stimme, und er sang gern — gute Sänger singen immer gern. Ich war zwar keine Sängerin und nach seinem strengen Urteil nicht einmal besonders musikalisch, aber ich hörte gern gutem Gesang zu. Als nun die Dämmerstunde kam und ihr romantisch-duftendes Blau ausstrahlte, ging ich ans Klavier und bat ihn, mir etwas vorzusingen. Er meinte, ich sei launenhaft, und er wolle lieber ein anderes Mal singen, aber ich behauptete, daß keine Zeit dazu besser sei als jetzt.

Er fragte mich, ob ich seine Stimme möge.

»Sehr.« Eigentlich war ich sonst nicht für Schmeicheleien, aber hier sah ich, daß es meinem Vorhaben nutzte.

»Dann mußt du mich aber begleiten, Jane.«

»Ich werde es versuchen.«

Ich versuchte es, wurde aber bald vom Schemel gestoßen und kleine Stümperin genannt. Nachdem er meinen Platz eingenommen hatte — und das hatte ich mir ja gerade gewünscht —, begleitete er sich selbst, denn er spielte so gut, wie er sang. Ich setzte mich ans Fenster, schaute auf die Bäume und die Wiese hinaus und laüschte der zarten Melodie.

Die reinste Lieb’, die je das Herz

In meinem Busen fühlt’,

Hat rasch in süßem Wonneschmerz

Mein Wesen aufgewühlt.

Wie hofft’ ich auf ihr Kommen, ach,

Wie litt ich, wenn sie schied,

Und kann sie spät, so wurd’ ich schwach,

Fürchtend, daß sie mich mied.

Ich träumt’ vom namenlosen Glück,

Daß Gegenlieb’ ich find.

Das war mein Ziel, ‘s gab kein Zurück,

Eifrig verfolgt’ ich ‘s blind.

Doch weit und weglos war der Raum,

Der unsere Leben trennt’,

Gefahrvoll wie der Woge Schaum,

Des Meeres Element.

Und wie ein Räuberpfad voll Dorn

Und wildem Felsenruns,

Denn Macht und Recht und Web und Zorn,

Sie standen zwischen uns.

Ich achtet’ der Gefahren nicht,

Hört’ Warnrufe nicht an,

Sah kühl der Drohung ins Gesicht

Und stürmte wild voran.

Auf Regenbogen ritt ich fort,

Flog wie im Traum dahin,

Denn schon erblickt mein Aug’ sie dort,

Die hehre Königin.

Durch Wolken strahlt sie feierlich

Und lieblich zart mich an,

Im Abgrund ballt das Unheil sich,

Sei’s drum, mich ficht’s nicht an.

In diesem süßen Augenblick

Schreckt mich kein Unglücksdroh’n,

Kein Racheschwur, kein Mißgeschick

Und nicht der Menschen Hohn.

Will kalter Haß mich stürzen jetzt,

Will Recht mit Streit mich stören.

Mag wilde Macht mir noch zuletzt

Ewige Feindschaft schwören.

Mein Lieb’ reicht mir die kleine Hand,

Die sich zur meinen findet;

So knüpfen wir das Lebensband,

Das uns auf ewig bindet.

Mein Lieb’ besiegelt küssend mir

Den Schwur — bis in den Tod.

Mein namenloses Glück ist hier,

Vorüber alle Not.

Er erhob sich und schritt auf mich zu, sein zerfurchtes Gesicht, der durchdringende Falkenblick — und doch so viel leidenschaftliche Zärtlichkeit. Einen Augenblick lang verzagte ich — doch dann faßte ich mich. Ich wollte es nicht zu einer rührenden und gewagten Szene kommen lassen, und ich erkannte die Gefahr. So mußte ich mir schnell ein Verteidigungsmittel ausdenken — ich netzte meine Zunge, als er mich in die Arme nahm, und fragte plötzlich schroff : »Und mit wem knüpfte er nun das Lebensband?«

»Eine seltsame Frage, die ihm seine liebe Jane da stellt.«

»Warum? Ich finde diese Frage sehr natürlich und notwendig. Was war mit diesem Schwur ›bis in den Tod‹ gemeint? Meint er damit ein gemeinsames Sterben? Das scheint mir doch ein recht heidnischer Gedanke zu sein.«

»Nein, all sein Sehnen war ja nur, mit ihr zu leben. Da denkt man nicht an den Tod.«

»Und doch denkt er daran. Hat nicht jeder von uns das Recht zu sterben, wenn unsere Zeit gekommen ist? Sollte ich etwa den indischen Witwentod sterben müssen?«

»Du hast recht. Das war ein selbstsüchtiger Gedanke. Verzeih mir und gib mir einen Kuß.«

»Nein; dann bitte ich lieber Sie um Verzeihung.«

Jetzt schalt er mich ein hartherziges kleines Ding und fügte hinzu, jede andere Frau wäre einfach dahingeschmolzen, wenn man sie mit solchen Lobgesängen priese.

Ich versicherte ihm, daß ich von Natur aus recht hart sei, daß er sich daran gewöhnen müsse, und daß ich entschlossen sei, ihn alle Schattenseiten meines Charakters kennenlernen zu lassen, bevor die vier Wochen verstrichen seien, denn er sollte voll und ganz wissen, was er sich da eingehandelt habe, bevor es zu spät sei.

»Kannst du nicht ruhig sein und vernünftig reden?«

»Ich kann wohl ruhig sein, wenn Sie es wünschen, und was das vernünftige Reden anbetrifft, so glaube ich, gerade dabei zu sein.« Er brummte und gab seiner Unzufriedenheit Ausdruck.

Sehr wohl, dachte ich mir; ärgern Sie sich nur, aber das ist gewiß im Augenblick das beste Verhalten Ihnen gegenüber. Ich liebe Sie mehr, als ich sagen kann, aber ich werde jetzt nicht in Gefühlsseligkeit versinken; und indem ich Ihnen etwas frech widerspreche, erspare ich auch Ihnen das Abgleiten in Rührseligkeit, und außerdem halte ich Sie damit auf der nötigen Distanz, die im Augenblick für beide von uns angebracht ist.

So steigerte er sich dank meiner Behandlung allmählich fast in Wut, und nachdem er sich beleidigt in die andere Ecke des Zimmers zurückgezogen hatte, erhob ich mich, sagte in meinem üblichen respektvollen Ton: »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Herr Rochester«, und verschwand durch die Seitentür.

Dieses System befolgte ich während der ganzen Probezeit mit bestem Erfolg. Er gab sich immer noch verdrießlich und grob, aber ich sah, daß er sich aufs beste unterhielt und daß lammfromme Unterwürfigkeit und Turteltaubengegurre zwar seiner Herrschsucht geschmeichelt, ihm aber weniger gefallen hätten.

In Gegenwart anderer verhielt ich mich zurückhaltend und still, wie es meiner Stellung zukam, und nur bei unseren abendlichen Gesprächen neckte und ärgerte ich ihn. Er ließ mich stets pünktlich um sieben Uhr kommen, begrüßte mich aber nicht mehr mit honigsüßen Worten wie »mein Liebes« und »mein Schatz«, sondern eher mit »freches Ding«, »böse Fee«, »Kobold« und dergleichen; anstatt Liebkosungen schnitt er mir Grimassen, anstatt mir die Hand zu streicheln, kniff er mich in den Arm, anstatt mich auf die Wange zu küssen, zog er mich am Ohr. Mir war es recht, denn vorläufig zog ich diese Behandlung vor. Frau Fairfax schien mein Betragen zu billigen, denn sie war nicht mehr beunruhigt. Das bestätigte mir, daß ich richtig handelte. Herr Rochester behauptete zwar, er sei meinetwegen bald nur noch Haut und Knochen und drohte mit schrecklicher Rache; aber ich lachte und sagte mir: so hab’ ich Sie in der Gewalt, und das ist ein gutes Zeichen für die Zukunft. Doch muß ich stets erfinderisch bleiben.

Und doch fiel es mir nicht immer leicht. Oft wäre ich ihm lieber zu Gefallen gewesen, anstatt ihn zu quälen. Mein Mann war mir die ganze Welt geworden, und mehr als das: Er war auch meine Hoffnung auf das Paradies. Er stand zwischen mir und all meinem religiösen Glauben, so wie der Schatten der Sonnenfinsternis sich zwischen den Menschen und die Sonne breitet Nein, in jenen Tagen sah ich Gott nicht mehr, sondern nur seine Kreatur, die ich zu meinem Gott gemacht hatte.

25

Der Verlobungsmonat war fast vorüber. Der Tag der Hochzeit stand bevor, und nichts konnte mehr dazwischenkommen. Alle Vorbereitungen waren getroffen, und ich hatte nichts mehr zu tun, denn meine Koffer standen gepackt, verschlossen, verschnürt und in Reih und Glied in meinem kleinen Zimmer. Morgen um diese Zeit würden sie unterwegs nach London sein, und ich auch — oder vielmehr: nicht ich, sondern eine gewisse Jane Rochester, die mir noch völlig unbekannt war. Nur die Anhänger mit der Adresse, die Herr Rochester selbst mit »Frau Rochester, Hotel X …, London« beschrieben hatte, waren noch nicht an den Koffern. Ich konnte mich nicht entschließen, sie anzubinden, denn diese Frau Rochester gab es ja noch gar nicht. Sie würde erst morgen, etwas nach acht Uhr morgens, geboren werden, und bevor ich ihr all diesen Besitz aushändigte, mußte ich doch sicher sein, daß sie wirklich das Licht der Welt erblickt hatte. Es war schon genug, daß ihre Kleider mein schwarzes Kleid aus Lowood und meinen Strohhut verdrängt hatten. Das perlweiße Brautkleid und der durchsichtige Schleier hingen jetzt dort. Ich schloß die Schranktür, denn das Abendlicht warf einen fast gespenstischen Schimmer auf diese Dinge. So sagte ich zu mir: »Du weißer Traum, ich werde dich auf ein Weilchen verlassen. Ich bin so erregt, und ich höre den Wind; ich werde hinausgehen und mich von ihm umspielen lassen.«

Es war nicht nur die Eile der Vorbereitungen, die Erwartung des großen Wendepunkts, des neuen Lebens, das morgen beginnen sollte, die mich in diese rastlose Erregung versetzten, obgleich sie stark dazu beitrugen, aber ein drittes Element war dazugekommen.

Ein seltsamer Gedanke bedrückte mich. Etwas war geschehen, das ich mir nicht erklären konnte. Niemand sonst hatte es gesehen, und es hatte sich in der letzten Nacht zugetragen. Herr Rochester war fortgeritten und noch nicht heimgekehrt — Geschäfte, die er persönlich vor seiner Abreise aus England erledigen wollte, hatten ihn gerufen. Ich wartete ungeduldig auf ihn, denn nur er konnte mir die Antwort auf das Rätsel geben. Warte mit mir, lieber Leser, und sei mein Zeuge, wenn ich ihm mein Geheimnis erzähle!

Ich ging in den Obstgarten, wo ich mich ein wenig vor dem starken Südwind, der den ganzen Tag geweht hatte, ohne Regen zu bringen, schützen konnte. Jetzt, wo es Nacht wurde, schien er noch stärker zu sein, heulte in den Baumkronen und bog die Stämme nach Norden, während schwere Wolken heranzogen.

Ich lief mit einer gewissen wilden Freude dem Wind entgegen, als hoffe ich, er würde mich von meinem quälenden Gedanken befreien. Ich ging an den Lorbeerbüschen vorbei und blieb vor dem vom Blitz gefällten Kastanienbaum stehen. Der Stamm war in der Mitte gespalten und klaffte wie eine offene Wunde. Die beiden Hälften waren nicht auseinandergebrochen, denn die starken Wurzeln hielten sie zusammen, aber die Lebenskraft der Bäume war zerstört. Die beiden großen Äste waren tot, und im Winter würden sie vollends absterben.

Ihr tut recht, euch aneinander zu halten, sagte ich, als könnte das zersplitterte Holz mir zuhören. Ihr seht zwar zerborsten, zerbrochen und verbrannt aus, aber dank eurer treuen Wurzeln ist sicher noch ein wenig Leben in euch geblieben. Jetzt werden keine grünen Blätter mehr auf euch wachsen, keine Vögel Nester in euren Zweigen bauen, die Zeit der Freude und der Liebe ist für euch vorüber — aber wenigstens müßt ihr nicht einsam sein, denn ihr habt aneinander einen Kameraden im Untergang.

Ich schaute zu ihnen hinauf; der Mond brach gerade durch die Wolken, schien mir einen verwirrten, traurigen Blick zuzuwerfen und verschwand. Eine Sekunde lang ließ der Wind nach, aber in der Ferne hörte man ihn noch rollen. Das stimmte mich traurig, und ich lief weiter.

Ich streifte durch den Obstgarten hin und her, las die heruntergefallenen Apfel auf, schied die reifen von den unreifen, brachte sie ins Haus und legte sie in den Vorratsraum. Dann ging ich in die Bibliothek, um zu sehen, ob das Feuer angezündet sei, denn ich wußte, daß Herr Rochester an einem solch düsteren Abend gern ein behagliches Kaminfeuer vorfand, selbst wenn es Sommer war. Ja, das Feuer brannte gut. Ich stellte den Armstuhl an den Kamin, den Tisch daneben, zog den Vorhang zu und ließ die Kerzen bringen.

Nachdem ich all das getan hatte, war ich trotzdem nicht ruhiger. Ich konnte nicht stillsitzen oder im Hause bleiben. Die Uhr schlug zehn.

Wie spät es ist! sagte ich zu mir. Ich werde zum Tor hinunterlaufen. Es ist genügend Mondlicht, daß ich die Straße sehen kann. Vielleicht kommt er gerade jetzt, und ich werde ihn ein paar Minuten früher sehen.

Der Wind heulte stärker in den Baumkronen, als ich am Tor war, aber auf der Straße war rechts und links, so weit ich blicken konnte, nichts zu sehen. Nur die Wolkenschatten huschten über den weißen Sand.

Und als ich dort stand und ausschaute, spürte ich eine Träne — eine Träne der Enttäuschung und der Ungeduld —, ich schämte mich und wischte sie fort. Ich wartete. Der Mond hatte sich jetzt völlig in sein Wolkenzimmer eingeschlossen, die Nacht wurde dunkel, und der Sturm brachte Regen.

»Ach, wenn er nur käme!« rief ich von panischen Ängsten und Vorahnungen erfüllt. Ich hatte ihn vor dem Tee zurückerwartet, und jetzt war es dunkel: Was hatte ihn aufgehalten? War ihm etwas zugestoßen? Ich dachte wieder an das Ereignis der letzten Nacht. War es nicht ein Unheilszeichen? Hatte ich nicht zu freudige Hoffnungen gehegt und mich in so viel Glück gesonnt? Mußte da jetzt nicht ein Abstieg folgen?

Ich kann nicht ins Haus zurückgehen, sagte ich mir; ich kann mich nicht an den Kamin setzen, während er da draußen im Unwetter ist. Lieber will ich körperliche Müdigkeit als Herzensangst auf mich nehmen: Ich werde ihm entgegengehen.

Ich schritt aus, ging schnell voran, aber ich kam nicht weit. Ein Reiter kam mir in vollem Galopp entgegen, und ein großer Hund lief hinter ihm her. Im Nu waren alle bösen Vorahnungen verflogen. Er war da. Er war da, auf seinem schwarzen Hengst Mesrour und gefolgt von seinem Hund, Pilot. Er sah mich, denn der Mond war gerade ein wenig herausgekommen. Er schwenkte seinen Hut, und ich rannte ihm entgegen.

»So!« rief er und streckte mir die Hand vorn Sattel aus entgegen. »Du kannst ohne mich nicht mehr leben, das scheint mir jetzt erwiesen. Steig auf meine Stiefelspitze, reich mir beide Hände und steig auf.«

Ich gehorchte, und die Freude machte mich gelenkig. Ich setzte mich vor ihm auf den Sattel, er begrüßte mich mit einem herzlichen Kuß und einigen triumphierenden Worten, die ich schlucken mußte. Doch dann unterbrach er sich doch in seinem Jubel und fragte:

»Ist irgend etwas vorgefallen, Janet, daß du mir in dieser Stunde entgegenkommst? Ist irgend etwas geschehen?«

»Nein, aber ich glaubte, Sie würden nie mehr kommen. Es war mir unerträglich, im Haus zu warten, besonders bei diesem Regen und Wind.«

»Regen und Wind, das kann man wohl sagen! Du tropfst ja wie eine Meerjungfrau. Leg meinen Mantel um dich. Aber du hast ja Fieber, Jane; dein Gesicht und deine Hände sind glühend heiß. So sag mir doch, ist irgend etwas geschehen?«

»Jetzt nicht mehr. Ich habe keine Angst mehr und bin auch nicht unglücklich.«

»Du hattest aber Angst und warst unglücklich?«

»Ja, sehr. Aber ich werde es Ihnen nach und nach erzählen, und wahrscheinlich werden Sie mich dann nur auslachen.«

»Ich werde dich herzlich gern auslachen, wenn der morgige Tag vorüber ist. Bis dahin traue ich mich nicht dazu, denn mein Preis ist mir nicht sicher. Und das hier bist du — du, die so glatt wie ein Aal und so stachelig wie eine Heckenrose sein kann. Kaum streckte ich den Finger aus, so war ich gestochen, und jetzt scheine ich ein verirrtes Lämmlein in meinen Armen zu halten. Bist du aus dem Stall gelaufen, um den Hirten zu suchen, Jane?«

»Ich wollte zu Ihnen; aber bitte prahlen Sie jetzt nicht. Wir sind in Thornfield: Lassen Sie mich jetzt absteigen.«

Er ließ mich vom Pferd herunter, John führte das Pferd in den Stall, und er folgte mir ins Haus. Er bat mich, mir schnell etwas Trockenes anzuziehen und dann zu ihm in die Bibliothek zu kommen. An der Treppe hielt er mich an und rang mir das Versprechen ab, mich zu beeilen. Fünf Minuten später war ich bei ihm. Er saß beim Nachtessen.

»Setz dich und iß etwas mit mir, Jane. Weiß Gott, das wird auf lange Zeit die letzte Mahlzeit sein, die du in Thornfield ißt.«

Ich setzte mich, sagte ihm aber, ich könne nicht essen.

»Ist es die Aufregung vor der Reise, Jane? Verschlägt dir der Gedanke an London den Appetit?«

»Ich sehe heute abend überhaupt nicht klar, und ich bin mir kaum meiner eigenen Gedanken bewußt. Das ganze Leben scheint mir so unwirklich.«

»Außer mir. Ich bin bestimmt aus Fleisch und Blut — faß mich nur an.«

»Sie sind das Allerunwirklichste. Sie sind ja nur ein Traum.«

Er streckte lachend die Hand aus und legte sie mir auf die Augen. »Ist das ein Traum?«

»Ja; obwohl ich Sie berühren kann, sind Sie doch ein Traum. Haben Sie fertig gegessen?«

»Jawohl, Jane.«

Ich klingelte und ließ den Tisch abräumen. Als wir wieder alleine waren, schürte ich das Feuer an und setzte mich meinem Herrn zu Füßen.

»Es ist fast Mitternacht«, sagte ich.

»Ja; aber denk daran, Jane, du hast mir versprochen, die Nacht vor unserer Hochzeit mit mir wach zu bleiben.«

»Das habe ich getan, und ich werde mein Versprechen auch halten, wenigstens für ein paar Stunden, denn ich verspüre nicht den Wunsch, ins Bett zu gehen.«

»Sind all deine Vorbereitungen getroffen?«

»Jawohl.«

»Und meinerseits auch«, sagte er. »Ich habe alles erledigt, und wir werden Thornfield morgen eine halbe oder eine Stunde nach der Trauung verlassen.«

»Ausgezeichnet.«

»Wie seltsam hast du bei diesem Wort ›ausgezeichnet‹ gelächelt; und deine Wangen sind ganz rot und deine Augen leuchten so sonderbar. Ist dir nicht gut?«

»Ich glaube schon.«

»Ich glaube! Was ist los? Sag mir, was du hast.«

»Das könnte ich nicht. Ich kann es in Worten gar nicht ausdrücken. Ach, könnte diese Stunde nie enden! Wer weiß, was das Schicksal für den nächsten Tag bestimmt?«

»Du bist schwermütig, Jane. Du bist übererregt oder übermüdet.«

»Sind Sie ruhig und glücklich?«

»Ruhig? Nein. Aber glücklich — von ganzem Herzen glücklich.« Ich schaute ihn an, um die Zeichen des Glücks in seinem Gesicht zu lesen. Es glühte.

»Schenk mir dein Vertrauen, Jane«, sagte er. »Erleichtere dein Herz, und sag mir, was dich bedrückt. Was beängstigt dich so? Daß ich kein guter Ehemann sein werde?«

»Das würde mir nie in den Sinn kommen.«

»Fürchtest du dich vor der neuen Umgebung und vor dem neuen Leben, in das du jetzt eintrittst?«

»Nein.«

»Du bist mir ein Rätsel, Jane. Dein besorgtes Aussehen und dein besorgter Ton schmerzen mich. Ich möchte eine Erklärung.«

»Also dann hören Sie. Heute nacht waren Sie nicht hier?«

»Nein. Das weiß ich, und du hast schon vor einer Weile angedeutet, daß etwas in meiner Abwesenheit geschehen ist. Wahrscheinlich ist es nichts von Bedeutung, aber da es dich beunruhigt hat, möchte ich hören, was es war. Hat Frau Fairfax dir vielleicht etwas gesagt? Oder hast du die Dienerschaft schwatzen gehört? Hat irgendwer deinen empfindlichen Stolz verletzt?«

»Nein.« Die Uhr schlug zwölf — ich wartete, bis die Schläge verhallt waren, und fuhr dann fort:

»Ich war gestern den ganzen Tag sehr beschäftigt und war glücklich dabei, denn ich habe überhaupt keine Angst vor der neuen Umgebung und allem, wie Sie zu glauben scheinen. Ich finde es herrlich, einem Leben mit Ihnen entgegenzusehen, denn ich liebe Sie. Nein, bitte, keine Zärtlichkeiten jetzt — lassen Sie mich ungestört weiterreden. Gestern war ich voller Vertrauen in die Zukunft und glaubte, daß alles zu Ihrem und meinem Besten zusammenwirke. Es war ein schöner Tag, wie Sie sich erinnern werden — die Wärme und der blaue Himmel ließen mich alle Ängste um Sie vergessen. Nach dem Tee machte ich einen kleinen Spaziergang und dachte an Sie, und Sie waren mir in Gedanken so nahe, daß ich Ihre Gegenwart kaum vermißte. Ich dachte an das Leben, das vor mir liegt — an Ihr Leben an ein schöneres und anregenderes Leben, als ich es bisher gekannt habe: so unendlich viel schöner, wie etwa die Meerestiefe sich mit der eines Bächleins vergleichen ließe. Ich fragte mich, warum die Moralisten diese Welt ein Jammertal nennen, denn für mich blüht sie wie ein Rosengarten. Erst zur Dämmerstunde, als es kühler wurde und der Himmel sich bewölkte, ging ich ins Haus. Sophie rief mich herauf, um mir mein Hochzeitskleid zu zeigen, das gerade angekommen war, und darunter fand ich in der Schachtel Ihr Geschenk — den Schleier, den Sie in Ihrer aristokratischen Großzügigkeit extra in London bestellt hatten, da Sie mir, nachdem ich Ihnen die Juwelen ausschlug, trotzdem irgendeine Kostbarkeit anhängen wollten. Ich lächelte, als ich ihn betrachtete, und malte mir schon aus, wie ich Sie wegen Ihres noblen Geschmacks und Ihrer Mühen, Ihre plebejische Braut als Edeldame zu verkleiden, necken würde. Ich wollte den einfachen, unbestickten Schleier, den ich selbst für mein einfaches Haupt zugeschnitten hatte, herunterbringen und Sie fragen, ob er nicht gut genug für eine Braut sei, die ihrem Mann weder Vermögen noch Schönheit oder gute Beziehungen einbringt. Ich sah schon, welches Gesicht Sie machen, wie Sie heftig und republikanisch protestieren und alle Notwendigkeit, Ihr Vermögen zu vergrößern oder in Ihrem gesellschaftlichen Rang aufzusteigen, ableugnen würden.«

»Du kleine Hexe, wie gut du mich schon kennst!« unterbrach Herr Rochester. »Aber was fandest du in dem Schleier außer den Stickereien? Fandest du etwa Gift oder einen Dolch, daß du jetzt so traurig dreinblickst?«

»Nein, nein. Außer Zartheit und Schmiegsamkeit des Gewebes fand ich darin nur des erwähnten Fairfax Rochesters Stolz, und der machte mir keine Angst, denn an den Anblick dieses Dämons bin ich gewöhnt. Aber hören Sie nun — als es dunkel wurde, erhob sich ein Wind, und er heulte gestern abend nicht etwa so wie jetzt, so wild und laut — nein, er klang ganz gespenstisch und klagend, und mir wurde unheimlich zumute. Ich wünschte Sie zurück. Ich kam in dieses Zimmer, und als ich den leeren Sessel und den Kamin ohne Feuer sah, fröstelte ich. Nach einiger Zeit ging ich zu Bett, aber ich konnte nicht schlafen — irgendeine angstvolle Erregung bedrückte mich, der Wind wurde stärker, und ich vermeinte, in seinem Heulen noch ein anderes klagendes Geräusch zu hören, konnte mir aber zuerst nicht erklären, ob es aus dem Haus oder von draußen kam. Aber da war es wieder, dieser gespenstische Klagelaut, und schließlich sagte ich mir, es müsse ein Hund sein, der irgendwo in der Ferne heulte. Jedenfalls war ich froh, als es aufhörte. Als ich einschlief, träumte ich wieder von einer dunklen und stürmischen Nacht, und ich sehnte mich nach Ihnen und hatte ein seltsames Gefühl, als wenn ein unüberwindliches Hindernis zwischen uns stünde. Ich träumte, ich gehe eine gewundene unbekannte Straße entlang, in finsterer Nacht und im Regen, und ich trüge ein kleines Kind in den Armen, ein kleines schwaches Wesen, das noch nicht laufen konnte, das in meinen Armen fröstelte und leise vor sich hin weinte. Und ich glaubte, daß Sie mir ein langes Stück vorangeritten waren; ich brachte all meine Kraft auf, um Sie einzuholen, rang nach Atem, um Sie anzurufen — aber ich war wie gelähmt, und meine Stimme versagte, während Sie sich immer weiter von mir entfernten.«

»Und diese Träume bedrücken dich nun, Jane, wo ich doch bei dir bin? Du kleines Nervenbündel! Vergiß das eingebildete Leid und denke an das wirkliche Glück! Du hast gesagt, du liebtest mich, Janet, ja, ja, das werde ich nicht vergessen, und du kannst es nicht wieder ableugnen. Und bei diesen Worten versagte dir die Stimme nicht, denn ich hörte sie ganz klar und deutlich; sie klangen vielleicht ein wenig zu feierlich, aber in meinen Ohren waren sie Musik. So liebst du mich also, Jane? Sag’s mir noch einmal.«

»Ja, von ganzem Herzen.«

Er schwieg ein paar Minuten, und dann sagte er: »Es ist seltsam, aber dieser Satz hat mich schmerzlich berührt. Warum nur! Vielleicht, weil du so ernst und inbrünstig gesprochen hast und weil du mich jetzt so treu, vertrauensvoll und ergeben anschaust. Da gruselt’s mich ein bißchen. Schau wieder bös aus, Jane, wie du es so gut kannst. Lächele mich spöttisch und aufreizend an, sag mir, daß du mich verabscheust — necke mich, ärgere mich, tu alles, was du willst, nur rühre mich nicht, denn ich bin lieber wütend als traurig.«

»Ich werde Sie necken und ärgern, soviel Sie wollen, wenn ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe. Jetzt hören Sie mir aber bitte zu.«

»Ich dachte, du habest mir schon alles erzählt, Jane. Ich dachte, ein Traum sei schuld an deiner Traurigkeit.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was? Es ist also noch mehr? Aber ich glaube trotzdem nicht, daß es etwas von Bedeutung ist. Ich warne dich im voraus, daß ich es vielleicht nicht sehr ernst nehmen werde.«

Seine plötzliche Unruhe und fahrige Ungeduld überraschten mich, aber ich fuhr fort: »Ich hatte noch einen Traum: Thornfield Hall war eine Ruine, Fledermäuse und Eulen nisteten in seinen Mauern. Von der stattlichen Fassade stand nur noch ein Stück geborstene Mauer, das sehr hoch zum Himmel ragte Und jeden Augenblick einstürzen konnte. Ich wanderte in einer Mondnacht über die Wiese dem Hause zu, stolperte über Marmorbrocken und Trümmerstücke von den Gipswänden. Ich hatte mich in meinen Schal gehüllt und hielt immer noch das unbekannte kleine Kind im Arm, und ich konnte es nirgends niederlegen, obgleich mir die Arme vor Müdigkeit schmerzten — es war mir eine schwere Last, aber ich mußte sie tragen. Da hörte ich in der Ferne den Hufschlag eines Pferdes, und ich wußte, daß Sie es waren und daß Sie mich für viele Jahre verlassen würden. Ich kletterte die brüchige dünne Mauer empor, sputete mich, weil ich Sie noch einmal sehen wollte; aber die Steine zerbröckelten unter mir, die Efeuzweige, nach denen ich griff, zerrissen, das Kind klammerte sich in Todesangst an meinen Hals und erwürgte mich fast. Schließlich erreichte ich die Mauerhöhe, und ich sah Sie wie einen Punkt, der immer kleiner wurde. Der Wind wehte so stark, daß ich nicht aufrecht stehen konnte; so setzte ich mich auf den engen Sims, nahm das Kind in den Schoß, und da sah ich, wie Sie vom Weg abritten, und im gleichen Augenblick wankte die Mauer unter mir, das Kind glitt mir aus dem Schoß, ich verlor das Gleichgewicht, stürzte — und erwachte.«

»So, Jane, das ist es also.«

»Das ist nur das Vorspiel. Die Geschichte kommt noch. Als ich erwachte, blendete mich ein Licht, und zuerst dachte ich, es sei das Tageslicht; dann aber sah ich, daß es nur eine Kerze war. Ich nahm an, es sei Sophie. Eine Kerze stand auf dem Tisch, und die Tür zum Schrank, in den ich mein Hochzeitskleid und den Schleier gehängt hatte, stand offen. Ich hörte ein Geräusch von dort und fragte: ›Sophie, was machst du da?‹ Ich erhielt keine Antwort; aber dann sah ich eine Gestalt am Schrank, die mit der Kerze in der Hemd die Kleider betrachtete. Wieder rief ich: ›Sophie, Sophie‹, und wieder erhielt ich keine Antwort. Ich hatte mich im Bett aufgerichtet und beugte mich vor. Zuerst war ich überrascht, dann bestürzt, und dann überlief es mich kalt. Herr Rochester, es war nicht Sophie und nicht Frau Fairfax oder Leah und bestimmt auch nicht diese seltsame Grace Poole.«

»Es muß aber eine von ihnen gewesen sein«, unterbrach er mich.

»Nein, dessen bin ich ganz und gar sicher. Die Gestalt, die vor mir stand, war mir völlig unbekannt. Ich hatte sie nie in Thornfield gesehen.«

»Beschreibe sie, Jane.«

»Es schien eine große und füllige Frau zu sein. Langes, dichtes, schwarzes Haar hing ihr in den Rücken. Ihr Gewand konnte ich nicht erkennen. Es war weiß und faltenlos, aber ich kann nicht sagen, ob es ein Kleid, ein Laken oder ein Leichentuch war.«

»Hast du ihr Gesicht gesehen?«

»Zuerst nicht, aber dann nahm sie meinen Schleier, hob ihn in die Höhe, betrachtete ihn lange, schlang ihn dann um ihren Kopf und schaute in den Spiegel. Da sah ich ganz deutlich ihr Gesicht im Glas.«

»Und wie sah es aus?«

»Grauenhaft und entsetzlich — oh, Herr Rochester, ein solches Gesicht hatte ich noch nie gesehen! Es war bleich, entstellt und wild. Diese rollenden roten Augen und dieses aufgedunsene Gesicht werde ich nie vergessen!«

»Gespenster sind gewöhnlich bleich, Jane.«

»Dieses Gesicht war aber bläulichrot: die Lippen waren dunkel und angeschwollen, die Stirn war gerunzelt, die Augenbrauen waren über ihren weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen hochgezogen. Soll ich Ihnen sagen, an was sie mich erinnerte?«

»Bitte sehr.«

»Sie sah wie jenes schreckliche deutsche Gespenst — der Vampir — aus.«

»So, und was tat sie?«

»Sie nahm den Schleier von ihrem zerfurchten Kopf, riß ihn in zwei Stücke, warf ihn auf den Boden und trampelte darauf herum.«

»Und dann?«

»Dann zog sie den Vorhang auf und schaute aus dem Fenster. Vielleicht sah sie die Morgendämmerung, und dann ging sie mit der Kerze zur Tür. An meinem Bett blieb sie stehen, schaute mich mit ihren wilden Augen an, hielt mir die Kern ganz nahe ans Gesicht und blies sie dann plötzlich aus. Ich spürte ihr grauenhaftes Gesicht über dem meinen und verlor das Bewußtsein zum zweitenmal in meinem Leben — der Schreck hatte mich gelähmt.«

»Wer war bei dir, als du erwachtest?«

»Niemand. Es war hellichter Tag. Ich stand auf, wusch mich gründlich und trank einen tiefen Schluck Wasser, stellte fest, daß ich nicht krank war, und beschloß, niemandem als Ihnen davon zu erzählen. Und jetzt sagen Sie mir bitte, wer und was diese Frau war.«

»Die Ausgeburt einer überreizten Phantasie. Das ist gewiß. Ich muß in Zukunft sehr auf dich achten, mein Schatz. Deine Nerven müssen sanft behandelt werden.«

»Herr Rochester, meine Nerven waren ganz in Ordnung, darauf können Sie sich verlassen. Es war Wirklichkeit: Es hat sich alles wirklich so zugetragen.«

»Und deine vorherigen Träume? Waren die auch Wirklichkeit? Ist Thornfield Hall eine Ruine? Stehen unüberwindbare Hindernisse zwischen uns? Verlasse ich dich ohne Träne — ohne Kuß — ohne ein Abschiedswort?« — »Noch nicht.«

»Werde ich es je tun? Der Tag, der uns unlöslich verbinden wird, hat schon begonnen, und wenn wir erst vereint sind, dann wird es keine Angstträume mehr geben. Das verspreche ich dir.«

»Angstträume! Ach, wäre es nur einer gewesen! Das wünsche ich mir jetzt mehr als je, wo nicht einmal Sie mir dieses Rätsel erklären können.«

»Und da ich es nicht erklären kann, Jane, muß es ein Traum gewesen sein.«

»Das sagte ich mir auch, als ich heute morgen erwachte; und als ich mich im Zimmer umschaute, um jedes Ding an seinem Platz zu finden, was mich beunruhigt hätte, sah ich auf dem Teppich den eindeutigen Beweis meiner schlimmsten Befürchtung — da lag der entzweigerissene Schleier!«

Herr Rochester erschauerte und legte seinen Arm fest um mich. Dann sagte er: »Gott sei Dank hat nur dein Schleier Schaden genommen, falls wirklich irgendein Ungeheuer bei dir im Zimmer war. Wenn ich nur daran danke, was da hätte geschehen können!«

Er atmete keuchend und drückte mich so fest an sich, daß ich nach Luft rang.

Nach einigem Schweigen sagte er fröhlich:

»Also hör zu, Janet, ich werde es dir erklären. Es war halb Traum, halb Wirklichkeit. Zweifellos war eine Frau in deinem Zimmer, und diese Frau war — oder muß — Grace Poole gewesen sein. Du sagst ja selbst, daß sie sonderbar ist, und nach allem, was du weißt, hast du auch ein Recht dazu — du weißt ja, wie sie sich mir und Mason gegenüber aufgeführt hat. Du mußt im Halbschlaf gewesen sein, als du ihr Eintreten bemerktest, und in deinem Fieber ist sie dir so entsetzlich erschienen: das lange, struppige Haar, das aufgedunsene Gesicht, die übertrieben große Figur — alles das war in deiner Phantasie. Es war wie ein Alptraum. Das Zerreißen des Schleiers war Wirklichkeit und auch die Besucherin. Natürlich wirst du mich fragen, warum ich eine solche Frau in meinem Hause dulde, und wenn wir ein Jahr und einen Tag verheiratet sind, werde ich’s dir sagen. Jetzt noch nicht. Bist du zufrieden, Jane? Bist du mit meiner Lösung des Geheimnisses einverstanden?«

Ich überlegte, und in der Tat schien es mir die einzige Möglichkeit zu sein. Ich war nicht überzeugt, stellte mich aber so, um ihm gefällig zu sein. Und erleichtert war ich gewiß. Ich lächelte ihm zufrieden zu, und da es inzwischen nach ein Uhr war, wollte ich zu Bett gehen.

»Schläft Sophie bei Adèle im Kinderzimmer?« fragte er mich, als ich meine Kerze anzündete.

»Ja.«

»In Adèles Bett ist genügend Platz für dich. Schlaf bei ihr heute nacht, Jane. Es ist kein Wunder, daß das Geschehen der letzten Nacht dich erregt hat, und da ist es besser, daß du nicht alleine schläfst. Versprich mir, daß du ins Kinderzimmer gehst.«

»Das werde ich sehr gern tun.«

»Und verriegele die Tür gut von innen. Wecke Sophie auf, wenn du nach oben gehst — sag ihr einfach, sie solle dich frühzeitig morgen wecken, denn du mußt vor acht angezogen sein und gefrühstückt haben. Und jetzt keine finsteren Gedanken mehr. Verjag all die traurigen Hirngespinste. Hörst du, wie windstill es geworden ist? Und auch der Regen prasselt nicht mehr gegen die Fensterscheiben. Da, schau (er schob den Vorhang auf): Es ist eine herrliche Nacht.«

Das war es wirklich. Der halbe Himmel war klar, und die Wolken, die der Wind nach Westen geblasen hatte, zogen sich in langen Silberstreifen am Horizont hin. Der Mond schien friedlich.

»Nun«, sagte Herr Rochester und schaute mir forschend in die Augen, »Wie geht es jetzt meiner kleinen Janet?«

»Die Nacht ist klar und ruhig, und so bin ich es jetzt auch.«

»Und heute nacht wirst du nicht von Trennung und Kummer, sondern von Liebe und Glückseligkeit träumen.«

Diese Prophezeiung erfüllte sich nur halb: Ich träumte nicht von Kummer, aber ebensowenig von Glückseligkeit, denn ich schlief überhaupt nicht. Ich hielt die kleine Adèle in meinen Armen, beobachtete ihren so friedlichen, unschuldigen und süßen Kinderschlaf und erwartete im übrigen den kommenden Tag. Ich war hellwach, und sowie der Tag graute, stand ich auf. Adèle klammerte sich an mich, als ich sie verließ, ich küßte sie und löste ihre Händchen von meinem Hals — und plötzlich weinte ich, von einer seltsamen Rührung ergriffen, und lief schnell davon, damit mein Schluchzen sie nicht aufwecke. Sie schien mir irgendwie das Symbol meines vergangenen Lebens zu sein, und jetzt erwartete ich angsterfüllt und hoffnungsvoll den gefürchteten, ersehnten und so ungewissen neuen Tag.

26

Sophie kam um sieben Uhr, um mich anzukleiden. Sie brauchte aber so lange dazu, daß Herr Rochester ungeduldig wurde und fragen ließ, warum ich nicht komme. Sie befestigte gerade noch meinen Schleier (es war schließlich doch mein einfacher, selbstgefertigter Schleier) mit einer Brosche an meinem Haar. Ich eilte zur Tür, sowie sie damit fertig war.

»Halt!« rief sie mir auf französisch zu. »Schauen Sie sich doch wenigstens im Spiegel an.«

So drehte ich mich noch einmal um und sah im Spiegel eine verkleidete und verschleierte Gestalt, die mir so wenig glich, daß sie mir wie das Bild einer Fremden erschien.

»Jane!« rief eine Stimme, und ich lief hinunter. Herr Rochester erwartete mich an der Treppe.

»Zögernde!« sagte er; »ich brenne vor Ungeduld und du trödelst so lange!«

Er führte mich ins Speisezimmer, betrachtete mich aufmerksam von oben bis unten, nannte mich »schön wie eine Lilie, den Stolz seines Lebens und die Freude seiner Augen«, und dann sagte er, er gäbe mir zehn Minuten für das Frühstück, läutete und fragte den eintretenden Diener:

»Macht John den Wagen bereit?«

»Jawohl, Herr Rochester.«

»Ist das Gepäck unten?«

»Man bringt es gerade herunter, Herr Rochester.«

»Gehen Sie in die Kirche und schauen Sie, ob Pfarrer Wood und der Küster dort sind; und dann kommen Sie zurück und geben mir Bescheid.«

Die Kirche war, wie der Leser weiß, ganz in der Nähe, Und der Diener war rasch zurück. »Herr Wood ist in der Sakristei, Herr Rochester, und macht sich bereit.«

»Und der Wagen?«

»Er wird gerade angespannt.«

»Wir brauchen ihn nicht, um in die Kirche zu gehen, aber er soll bei unserer Rückkehr mit aufgeschnalltem Gepäck und dem Kutscher auf dem Bock bereitstehen.«

»Jawohl, Herr Rochester.«

»Jane, bist du bereit?«

Ich erhob mich. Keine Brautjungfern, keine Freunde und Verwandten begleiteten uns. Herr Rochester und ich waren ganz allein. Frau Fairfax stand in der Diele, als wir vorbeigingen. Ich hätte ihr gern noch ein paar Worte gesagt, aber meine Hand war wie in einer Eisenzange. Er zog mich in einem Tempo mit sich, dem ich kaum folgen konnte, und ich sah auf seinem Gesicht, daß er keine Sekunde Verspätung dulden würde. Ich fragte mich, welcher Bräutigam wohl sonst so grimmig, entschlossen und energisch seinem Ziel entgegenrannte.

Ich weiß nicht mehr, ob das Wetter schön oder schlecht war, denn ich sah weder Himmel noch Erde. Mein Herz und meine Augen waren ganz auf Herrn Rochester gerichtet, und ich wollte jenes unsichtbare Ding sehen, das er auf dem ganzen Wege so wild und heftig anblickte, und ich wollte wissen, welchen Gedanken er sich augenscheinlich mit solcher Kraft zu widersetzen bemühte.

Beim Kirchhof blieb er stehen und bemerkte, daß ich ganz außer Atem sei. »Bin ich grausam in meiner Liebe?« sagte er. »Ruh dich einen Augenblick aus und lehne dich an mich, Jane.«

Noch sehe ich das alte graue Gotteshaus vor mir. Ein Rabe umkreiste den Turm, und der Himmel war grau. Ich erinnere mich auch an die grünen Grabhügel und die zwei fremden Gestalten, die auf den bemoosten Steinen die Inschriften zu entziffern suchten. Ich bemerkte sie, denn als sie uns sahen, zogen sie sich hinter die Kirche zurück, und ich glaubte, sie würden durch den Seiteneingang hineingehen, um der Zeremonie beizuwohnen. Herrn Rochester waren sie nicht aufgefallen, er schaute mir ständig ins Gesicht, und ich muß bleich ausgesehen haben, denn meine Stirn fühlte sich feucht an, und die Wangen und Lippen waren mir kalt. Aber ich verhielt mich ruhig, und dann führte er mich behutsam in die Kirche.

Es war ein ruhiger und schlichter Tempel. Der Pfarrer wartete in seinem weißen Talar mit seinen Ministranten am Altar. Alles war still. Zwei Schatten bewegten sich in einer entfernten Ecke: Ich hatte ganz richtig angenommen, daß die beiden Fremden vor uns in die Kirche getreten waren, und nun standen sie vor der Familiengruft der Rochester, wandten uns ihre Rücken zu und betrachteten die Marmorfigur eines knienden Engels, der die sterblichen Überreste des in Marsten Moor gefallenen Damers von Rochester und seiner Frau Elizabeth bewachte.

Wir stellten uns am Altargitter auf. Ich hörte einen leisen Schritt hinter mir, blickte über die Schulter und sah einen der Fremden auf die Kanzel zuschreiten. Der Gottesdienst begann. Der Pfarrer erklärte den Sinn der Ehe und dann trat er einen Schritt hervor, neigte sich Herrn Rochester zu und sagte:

»Ich frage Euch und ermahne Euch, wahrheitsgemäß zu sagen, ob einem von Euch irgendein Ehehindernis bekannt ist. Bedenket, daß Ihr am Tage des jüngsten Gerichtes Rechenschaft ablegen müßt, und daß keine Ehe, die nicht vor Gott gefügt ist, gesetzlichen Bestand hat.«

Er hielt inne, wie es Brauch ist. Wann ist je die Stille nach diesem Satz von einer Antwort unterbrochen worden? Vielleicht einmal alle hundert Jahre. Und der Pfarrer, der immer noch auf seine Bibel blickte, wollte schon seine Hände nach Herrn Rochester ausstrecken und die alte Frage stellen: »Willst du dieses Mädchen zu deinem angetrauten Weihe nehmen«, als eine klare Stimme ganz deutlich sagte:

»Die Ehe kann nicht geschlossen werden. Ich erkläre hiermit, daß ein Ehehindernis besteht.«

Pfarrer und Ministrant schauten den Sprechenden an und verstummten. Herr Rochester fuhr leicht zusammen, als hätte die Erde unter ihm gebebt. Dann nahm er sich zusammen und sagte, ohne sich umzuwenden, zum Pfarrer: »Bitte, fahren Sie fort.«

Tiefe Stille trat ein, und der Pfarrer sagte:

»Ich kann nicht fortfahren, ehe nicht festgestellt worden ist, ob der Einspruch berechtigt ist oder nicht.«

»Die Trauung muß auf jeden Fall abgebrochen werden«, fuhr die Stimme hinter uns fort. »Ich bin durchaus in der Lage, die Rechtmäßigkeit meines Einspruchs zu beweisen. Es besteht tatsächlich ein unüberwindliches Ehehindernis.«

Herr Rochester hörte es, achtete aber nicht auf diese Worte. Er stand reglos steif und hartnäckig da und hielt meine Hand fest umschlossen. Wie heiß und stark war sein Griff! Und seine bleiche hohe Stirn war wie von Marmor. Seine Augen glänzten wachsam, jedoch mit verhaltener Wildheit.

Der Pfarrer schien sehr verlegen. »Welcher Art ist denn das Hindernis?« fragte er. »Vielleicht läßt es sich erklären, und wir können darüber hinweggehen?«

»Das wird kaum möglich sein«, war die Antwort. »Ich habe unüberwindlich gesagt, und ich wäge meine Worte.«

Der Sprechende trat hervor und lehnte sich über das Altargitter; er fuhr fort und sprach mit klarer und deutlicher Stimme:

»Das Hindernis besteht darin, daß Herr Rochester bereits verheiratet ist. Seine Frau lebt.«

Bei diesen Worten stand ich wie vom Donner gerührt da. Das Blut erstarrte mir in den Adern; aber ich hatte mich gefaßt und ließ kein Gefühl der Ohnmacht aufkommen. Ich schaute Herrn Rochester an und zwang ihn, mich anzusehen. Sein Gesicht war wie ein fahler zerklüfteter Fels, und seine Augen glänzten wie Stahl. Er stritt nichts ab und schien der ganzen Welt trotzen zu wollen. Wortlos, ohne zu lächeln, und scheinbar ohne in mir ein menschliches Wesen zu sehen, legte er seinen Arm um mich und zog mich an seine Seite.

»Wer sind Sie?« fragte er den Eindringling.

»Mein Name ist Briggs. Ich bin Anwalt in London.«

»Und Sie wollen mir nun eine Frau anhängen?«

»Ich wollte Ihnen nur die Existenz Ihrer Ehefrau in Erinnerung bringen, denn das Gesetz erkennt Ihre bereits geschlossene Ehe an, auch wenn Sie es nicht tun.«

»Teilen Sie mir bitte etwas über sie mit — ihren Namen, ihre Verwandtschaft, ihren Wohnsitz.«

»Gewiß.« Herr Briggs zog ein Stück Papier aus seiner Tasche und las in amtlichem, näselndem Ton:

»Ich erkläre hiermit und kann unter Beweis stellen, daß Edward Fairfax Rochester, wohnhaft in Thornfield Hall, am 20. Oktober des Jahres (das Datum lag 15 Jahre zurück) meine Schwester Bertha Antoinetta Mason, Tochter des Jonas Mason und der Antoinetta Mason, einer Kreolin, in der Kirche in Spanisch Town in Jamaika gesetzmäßig geheiratet hat. Eine Abschrift der Eintragung im dortigen Kirchenbuch befindet sich in meinem Besitz. Unterschrieben R. Mason.«

»Dieses Dokument — falls es echt ist — könnte höchstens beweisen, daß ich einmal verheiratet war, es beweist aber nicht, daß die darin erwähnte Frau noch am Leben ist.«

»Vor drei Monaten war sie jedenfalls noch am Leben«, erwiderte der Anwalt.

»Wie wollen Sie das beweisen?«

»Ich habe einen Zeugen, dem wohl nicht einmal Sie widersprechen werden.«

»Dann holen Sie ihn — oder scheren Sie sich zum Teufel.«

»Ich werde ihn sogleich vorstellen — er ist hier anwesend Herr Mason, wollen Sie bitte näher treten.«

Als Herr Rochester diesen Namen hörte, knirschte er mit den Zähnen und ein konvulsirisches Zucken schüttelte ihn. Ich stand so nahe bei ihm, daß ich ihn vor Wut und Verzweiflung erheben fühlte. Der zweite Fremde, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat jetzt näher. Er blickte mit bleichem Gesicht über die Schulter des Anwalts. Ja, es war Mason. Herr Rochester wandte sich um und starrte ihn an. Seine sonst schwarzen Augen bekamen einen wilden, fast blutroten Glanz. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, rötete seine bleichen Wangen und seine farblose Stirn. Er hob seinen linken Arm — er hätte Mason leicht niederschlagen können, aber Mason wich zurück und jammerte leise: »Ach du lieber Gott!« Jetzt wich die Wut der Verachtung, und Herr Rochester war wieder gefaßt und kühl. Er fragte nur:

»Was hast du zu sagen?«

Masons blutlose Lippen brachten eine unhörbare Antwort hervor.

»Zum Teufel mit dir, wenn du jetzt nicht einmal antworten kannst. Ich frage dich noch einmal: Was hast du zu sagen?«

»Aber bitte, Herr Rochester«, unterbrach ihn der Pfarrer, »vergessen Sie nicht, daß Sie in einem Gotteshaus sind.« Dann wendete er sich an Mason und fragte ihn: »Können Sie uns mitteilen, ob die Ehefrau dieses Herrn hier noch am Leben ist oder nicht?«

»Nur Mut«, drängte ihn der Anwalt. »So reden Sie doch.«

»Sie lebt gegenwärtig in Thornfield Hall«, sagte Mason, der sich inzwischen etwas gefaßt hatte. »Ich sah sie dort im April. Ich bin ihr Bruder.«

»In Thornfield Hall?« entfuhr es dem Pfarrer. »Unmöglich! Ich lebe seit vielen Jahren dort in der Nähe und habe noch nie von einer Frau Rochester dort gehört.«

Herr Rochester verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln und murmelte: »Nein, bei Gott, das konnten Sie nicht. Ich habe dafür gesorgt, daß niemand von ihr erfuhr — von ihr oder ihrem Namen.« Dann versank er in Gedanken und schien einige Minuten lang mit sich selbst Rat zu halten. Schließlich erklärte er:

»Genug! Ich werde Ihnen allen die Wahrheit sagen, und sie ist umwerfend wie ein Schuß aus der Kanone. Pfarrer Wood, klappen Sie Ihre Bibel zu und legen Sie Ihren Talar ab. John Green (zu dem Ministranten gewandt), verlassen Sie die Kirche, die Trauung findet heute nicht statt.«

Der Mann gehorchte.

Jetzt fuhr Herr Rochester trotzig und rücksichtslos fort: »Bigzmie ist ein häßliches Wort; und doch hatte ich die Absicht, eine Doppelehe einzugehen. Aber das Schicksal hat mich überlistet, oder die Vorschung hat es anders gewollt — und wahrscheinlich trifft letzteres zu. In diesem Augenblick bin ich kaum besser als ein Teufel, und der Herr Pfarrer würde mir gewiß sagen, daß mir zweifellos die strengste Strafe Gottes gebührt, vielleicht sogar die ewige Verdammnis. Meine Herren, mein Plan ist zusammengebrochen. Was dieser Anwalt und sein Klient ausgesagt haben, entspricht der Wahrheit. Ich bin verheiratet, und die Frau, mit der ich verheiratet worden bin, ist noch am Leben. Sie sagen, Sie hätten noch nie von einer Frau Rochester im Hause dort gehört, Herr Wood: aber Sie haben ganz bestimmt die Gerüchte gehört über jene geheimnisvolle Irre, die dort unter Bewachung gehalten wird. Man mag Ihnen erzählt haben, sie sei meine uneheliche Halbschwester oder meine ehemalige Mätresse. Nun, jetzt kann ich Ihnen mitteilen, daß sie meine Ehefrau ist. Ich heiratete sie vor fünfzehn Jahren. Sie hieß Bertha Mason und ist die Schwester dieses tapferen Herrn hier, der schlotternd und bleich vor Ihnen steht und vor Furcht fast vergeht. Laß nur, Dick — du brauchst keine Angst zu haben! Ich würde fast eher eine Frau schlagen als dich. Bertha Mason ist irrsinnig, und sie stammt aus einer Familie, in der sich der Wahnsinn vererbt hat. Drei Generationen von Idioten und Irren! Ihre Mutter, die Kreolin, war eine Wahnsinnige und eine Trinkerin. Aber das fand ich erst heraus, nachdem ich die Tochter geheiratet hatte, denn die Familiengeheimnisse wurden wohl behütet. Bertha war ein gehorsames Kind und tat es ihrer Mutter getreulich nach. So hatte ich eine reizende Gefährtin — und Sie können sich vorstellen, wie glücklich ich war. Ach, da gab es großartige Auftritte! Mein Leben war einfach himmlisch, Sie können es sich kaum vorstellen, aber wozu soll ich es Ihnen weiter erklären. Meine Herren Briggs, Wood und Mason, ich lade Sie hiermit herzlich ein, in mein Haus zu kommen und sich Frau Pooles Patientin, meine Ehefrau, anzusehen; dann werden Sie sehen, in welche Ehe man mich hineinmanövriert hat, und dann können Sie beurteilen, ob ich das Recht hatte, diesen Bund zu brechen und zu versuchen, mit einem menschlichen Wesen zusammenzuleben. Dieses Mädchen«, sagte er und schaute mich dabei an, »wußte nicht mehr als Sie, Herr Wood, von diesem scheußlichen Geheimnis. Sie glaubte, alles ginge rechtmäßig und legal zu, und sie hätte sich nie träumen lassen, daß sie fast eine Scheinehe mit einem Betrüger eingegangen wäre, der bereits an eine bösartige Wahnsinnige und vertierte Gefährtin gebunden ist. Kommen Sie alle mit.«

Er hielt mich immer noch fest an der Hand, verließ die Kirche, und die drei Herren folgten ihm. Der Wagen stand vor dem Hauptportal.

»Fahr ihn wieder in den Schuppen, John«, sagte Herr Rochester kalt. »Der Wagen wird heute nicht gebraucht.«

Am Eingang kamen uns Frau Fairfax, Adèle, Sophie und Leah entgegen, um uns zu beglückwünschen.

»Kehrt! Alle miteinander«, schrie der Herr sie an. »Weg mit euch und euren Glückwünschen! Wer braucht sie denn? Ich nicht! Sie kommen fünfzehn Jahre zu spät!«

Er ging an ihnen vorbei und die Treppe hinauf, hielt mich immer noch bei der Hand und forderte die Herren von neuem auf, ihm zu folgen. Wir stiegen in den ersten Stock, durchschritten den Flur und nahmen dann die Treppe bis zum dritten Stock. Herr Rochester nahm seinen Schlüssel, öffnete die niedrig schwarze Tür und ließ uns in den mit Wandteppichen geschmückten Raum ein, in dem ein großes Bett und ein malerischer Schrank standen.

»Kennst du dieses Zimmer, Mason?« sagte er. »Hier hat sie dich angefallen, gebissen und versucht, dich zu ermorden.« Er hob die Wandteppiche höher, hinter denen eine zweite Tür sichtbar wurde; er öffnete sie. Es war ein fensterloses Zimmer, in dem ein Kaminfeuer hinter einem hohen und starken Gitter brannte. Eine Lampe hing an einer Kette von der Decke herab. Grace Poole beugte sich über das Feuer und schien etwas in einer Pfanne zuzubereiten. In der dunkelsten Ecke des Zimmers bewegte sich eine Gestalt unruhig hin und her. Auf den ersten Blick konnte man nicht sagen, ob es ein Mensch oder ein Tier war. Es schien auf allen vieren zu kriechen, schnappte und knurrte wie ein wildes Tier, aber es war wie ein Mensch bekleidet, und dichtes, fülliges, etwas angegrautes Haar hing ihm wie eine Mähne über das Gesicht.

»Guten Morgen, Frau Poole«, sagte Herr Rochester; »wie geht es Ihnen? Und wie geht es Ihrer Schutzbefohlenen heute?«

»Es geht so einigermaßen, danke«, erwiderte Grace und nahm behutsam die brutzelnde Pfanne vom Feuer. »Ein bißchen erregt und bissig, aber nicht allzu wild.«

Ein wilder Schrei schien diesen beschönigenden Bericht Lügen strafen zu wollen. Das bekleidete, hyänenartige Wesen richtete sich auf und stellte sich auf die Hinterbeine.

»Oh, Herr Rochester, sie hat Sie erkannt«, rief Grace. »Sie sollten besser gehen.«

»Nur einen kleinen Augenblick, Grace. Einen Augenblick müssen Sie mir gestatten.«

»Dann nehmen Sie sich aber in acht! Um Gottes willen, nehmen Sie sich nur in acht!«

Die Wahnsinnige brüllte auf. Sie strich sich ihre zerzausten Locken aus dem Gesicht und starrte die Besucher wild an. Ich erkannte dieses puterrote aufgedunsene Gesicht. Frau Poole trat hervor.

»Gehen Sie aus dem Weg«, sagte Herr Rochester und schob sie beiseite. »Sie hat doch jetzt kein Messer bei sich, und ich werde schon aufpassen.«

»Man weiß nie, was sie hat, sie ist so verschlagen, daß es gar nicht menschenmöglich ist, ihr hinter ihre Schliche zu kommen.«

»Wir sollten jetzt aber lieber gehen«, flüsterte Mason.

»Scher dich zum Teufel«, erwiderte ihm sein Schwager.

»Passen Sie auf!« schrie Grace. Die drei Herren wichen zurück. Herr Rochester stieß mich hinter sich, die Wahnsinnige sprang ihn an, umklammerte seine Kehle und versuchte, ihm in die Wange zu beißen. Sie kämpften miteinander. Sie war fast so groß wie er und dazu stark und dick. Sie schien über männliche Kräfte zu verfügen, denn zu wiederholten Malen würgte sie ihn fest, ihn, der immerhin athletisch stark war. Er hätte sie vielleicht mit einem wohlgezielten Schlag zu Boden schlagen können. Aber er wollte sie nicht schlagen und rang nur mit ihr. Schließlich konnte er ihre Arme fassen, Grace Poole gab ihm einen Strick, mit dem er sie fesselte; dann setzte er sie auf einen Stuhl und band sie daran fest. Das alles spielte sich inmitten wilder Schreie und krampfhaftem Zucken ab. Jetzt wandte sich Herr Rochester an die Besucher und blickte sie mit einem bitteren, verzweifelten Lächeln an.

»Das ist meine Frau«, sagte er; »so sieht die einzige eheliche Umarmung aus, die ich je erleben durfte — das sind die Liebkosungen, die mich in meinen Mußestunden trösten sollen! Und diese hier habe ich mir gewünscht« — (er legte mir die Hand auf die Schulter) — »dieses junge Mädchen, das so ernsthaft und still hier an den Pforten der Hölle steht und so gefaßt den teuflischen Spielen dieses Dämonen zuschaut! Ich wollte sie als eine Abwechslung von dieser wildgepfefferten Speise. Schauen Sie sich den Unterschied an! Vergleichen Sie diese klaren Augen mit jenen roten Kugeln — dieses Gesicht mit jener Fratze und diese schmalen Formen und jenen Haufen tierischen Fleisches! Und dann urteilen Sie, Sie als Pfarrer und Sie als Anwalt, und vergessen Sie nicht den Richter, vor den Sie einst treten werden! Und nun hinaus mit Ihnen! Ich muß meinen Schatz wieder einschließen!«

Wir zogen uns alle zurück, Herr Rochester blieb noch einen Augenblick lang im Zimmer, um Grace Poole weitere Anweisungen zu geben; und als wir die Treppe hinuntergingen, sagte der Anwalt zu mir:

»Sie sind jedenfalls völlig unschuldig an alldem, Madame. Ihr Onkel wird sich freuen, das zu hören — falls er noch am Leben ist, wenn Herr Mason nach Madeira zurückkehrt.«

»Mein Onkel? Kennen Sie ihn denn?«

»Herr Mason kennt ihn. Herr Eyre hat jahrelang eine Firma in Funchal geleitet, die mit der des Herrn Mason in Verbindung stand. Als Ihr Onkel Ihren Brief erhielt, in dem Sie ihm ihre Absicht, Herrn Rochester zu heiraten, mitteilten, war Herr Mason gerade bei ihm, da er einen Erholungsurlaub in Madeira verbrachte, bevor er wieder nach Jamaika zurückkehrte. Herr Eyre erwähnte es, denn er wußte, daß mein Klient mit einem Herrn Rochester bekannt war. Herr Mason war natürlich, wie Sie sich vorstellen können, bestürzt und betrübt über diese Nachricht und erzählte Ihrem Onkel den wahren Sachverhalt. Ihr Onkel ist leider seit einiger Zeit krank, und sein Leiden ist solcher Art, daß er wohl kaum je genesen wird. So konnte er nicht nach England fahren, um Sie aus der Gefahr zu retten, in die Sie sich begeben hatten; aber er flehte Herrn Mason an, sofort die nötigen Schritte einzuleiten, um diese falsche Ehe zu verhindern. Er gab ihm eine Empfehlung an mich mit, und ich habe mich sofort der Sache angenommen und bin froh, daß wir rechtzeitig hier waren. Ich nehme an, daß auch Sie darüber froh sind. Wenn ich nicht fast sicher wäre, daß Ihr Onkel gestorben ist, bevor Sie nach Madeira kommen, so hätte ich Ihnen vorgeschlagen, mit Herrn Mason diese Reise zu machen. Aber wie die Dinge jetzt liegen, ist es wohl besser, wenn Sie in England bleiben, bis Sie weiteres erfahren.« Dann wendete er sich an Herrn Mason und fragte: »Haben wir hier noch etwas zu erledigen?«

»Nein — gehen wir«, antwortete er unruhig. Und sie verließen das Haus, ohne sich von Herrn Rochester verabschiedet zu haben. Der Pfarrer blieb noch eine Weile, um ein paar vorwurfsvolle oder ermahnende Worte an seinen hochmütigen Kirchgänger zu richten, und zog sich dann auch zurück.

Ich hörte ihn gehen, als ich an der halboffenen Tür meines Zimmers stand. Ich hatte mich dorthin zurückgezogen, da nun das Haus wieder leer war. Ich verriegelte die Tür, um niemanden einzulassen, und setzte mich. Ich konnte weder weinen noch klagen. Dafür war ich zu ruhig, fast gelähmt ruhig. Ich zog mir das Brautkleid aus und legte wieder das alte Baumwollkleid an, von dem ich gestern glaubte, es zum letzten Male getragen zu haben. Ich fühlte mich schwach und müde, stützte die Arme auf den Tisch und den Kopf in meine Hände. Ich begann nachzudenken: Bisher hatte ich nur zugehört, zugeschaut, mich bewegt, mich führen lassen, wohin man mich führen wollte, hatte hilflos alle Ereignisse über mich ergehen lassen — aber jetzt begann ich zum erstenmal nachzudenken.

Es war eigentlich ein ruhiger Morgen gewesen — wenn man von der kurzen Szene mit der Wahnsinnigen absah. Die Verhandlung in der Kirche war ohne Lärm vor sich gegangen; es gab keine heftigen Ausbrüche, keinen lauten Streit, keine Diskussionen, keine Tränen und kein Jammern. Es waren nur ein paar Worte gefallen, man hatte ganz rasch den Einwand gegen die Trauung erhoben. Herr Rochester hatte einige kurze Fragen gestellt, man hatte ihm darauf geantwortet, Beweise erbracht, und dann hatte mein Herr offen die Wahrheit zugegeben, und daraufhin hatten wir den lebenden Beweis gesehen. Und jetzt waren die Eindringlinge fort, und alles war vorüber.

Ich war in meinem eigenen Zimmer wie gewöhnlich — eigentlich hatte sich ja nichts geändert. Mir war ja nichts zugestoßen, ich war weder geschlagen noch verletzt, noch entstellt worden. Und doch — wo war die Jane Eyre von gestern? Was war aus ihrem Leben, aus ihren Hoffnungen und Plänen geworden?

Jane Eyre, die eben noch so erwartungsvoll in die Zukunft sah und fast eine Braut war, war nun wieder ein einsames Mädchen.

Das Leben war wieder farblos und bleich, und die Aussichten lagen in grauer Ungewißheit. Es war, wie wenn ein eisiger Schneesturm mitten im Juni über das Land gefegt wäre, die Äpfel an den Bäumen, die blühenden Rosen und die Blumen auf den Feldern mit seinem weißen Leinentuch überdeckt hätte. Alle meine Hoffnungen waren erstorben; sie waren in ägyptische Finsternis entschwunden. Gestern noch erschien alles blühend und strahlend, und jetzt war alles leblos geworden. Und meine Liebe, die mein Herr in mir erweckt hatte, die er geschaffen hatte, sie erzitterte in meinem Herzen wie ein krankes Kind in einer kalten Wiege.

Sie war krank und verängstigt. Sie durfte sich nicht mehr nach Herrn Rochesters Armen sehnen und auf seine Wärme hoffen. Sie konnte sich ihm überhaupt nicht mehr zuwenden. Denn aller Glaube war gebrochen, das Vertrauen zerstört. Herr Rochester war nicht mehr der, der er gewesen war; er war nicht mehr der, den ich mir vorgestellt hatte. Gewiß, ich wollte ihm keine bösen Absichten zuschreiben, ich würde nicht sagen, daß er mich verraten und betrogen hatte; aber mein Glaube an ihn war erschüttert, und ich wußte wohl, daß ich ihn verlassen mußte. Wann, wie, wohin — das wußte ich noch nicht. Auch er würde mich zweifellos schnellstens aus Thornfield entfernen wollen. Eine wirkliche Zuneigung zu mir konnte er ja gar nicht haben. Es war wohl nur ein Anflug von Leidenschaft gewesen, und die war verflogen, und jetzt konnte er mich nicht mehr wollen. Jetzt hatte ich sogar Angst, ihm in den Weg Zu treten, denn allein mein Anblick mußte ihm zuwider sein. Ach, wie blind waren meine Augen gewesen und wie schwach mein Charakter! Ich hielt die Augen geschlossen, und Dunkelheit schien mich zu umfassen. Es war mir, als hätte ich mich willenlos entspannt und widerstandslos in ein großes vertrocknetes Flußbett gelegt, wo ich von weitem das Wasser auf mich zukommen hörte und weder den Willen noch die Kraft hatte zu fliehen. Ich sehnte mich nach dem Tod. Nur ein Gedanke noch erhielt mich am Leben — es war der Gedanke an Gott, und er ließ mich wortlos beten, ließ mich ein Gebet hauchen, da alle Kraft des Wortes aus mir gewichen war:

»Steh mir bei, denn die Not: ist nah und niemand hilft mir.«

Ja, die Not war nah. Und da ich den Himmel nicht gebeten hatte, sie von mir zu wenden, da ich weder auf die Knie gefallen war noch meine Hände gefaltet oder meine Lippen bewegt hatte — kam es. Die tobenden Wasser kamen auf mich zu und überschwemmten mich. Das ganze Bewußtsein meines zerstörten Lebens, meiner verlorenen Liebe, begrabene Hoffnungen, meines getöteten Glaubens, all das fiel über mich her wie eine schwere, feuchte Masse. Solch eine Stunde der Bitternis läßt sich nicht beschreiben. Es war wirklich so: »Die Wasser drangen in meine Seele.«

Ich versank, verlor den Halt und die Fluten überspülten mich.

27

Irgendwann im Laufq des Nachmittags hob ich den Kopf, blickte mich um und sah den Widerschein der untergehenden Sonne die Zimmerwände vergolden. Ich fragte mich: »Was soll ich tun?«

Aber die Antwort aus meinem Innern: Verlasse Thornfield auf der Stelle, kam so prompt und klar, daß ich mir die Ohren zuhielt. Ich sagte mir, ich könne solche Worte jetzt nicht ertragen. Daß ich nicht Edward Rochesters Frau bin, ist noch das geringste Unglück, sagte ich mir. Daß ich aus meinen herrlichsten Träumen erwacht bin, sie als eitle Schemen erkenne und nun die traurige Wirklichkeit erblicke, ist schrecklich. Doch ich kann es ertragen. Aber daß ich ihn jetzt gleich, und für immer, verlassen soll, das ist mir unerträglich.

Aber da gab mir eine innere Simme wieder ein, ich könne es tun und ich müsse es tun. Ich rang mit mir selbst. Ich wollte schwach sein, diesen Entschluß nicht fassen können, um nicht leiden zu müssen. Aber das tyrannische Gewissen packte die Leidenschaft an der Kehle und warnte sie, daß sie bis jetzt ja nur begonnen habe, sich in den Sumpf zu begeben, und daß es sie mit eiserner Faust vom weiteren Eindringen darin abhalten würde.

»Dann will ich von hier weggerissen werden«, rief ich. »Soll doch ein anderer mir dazu verhelfen.«

»Nein. Du wirst von hier weggehen, und niemand wird dir dabei helfen. Du selbst mußt dir das rechte Auge ausstechen und dir die rechte Hand abschneiden. Dein Herz allein wird das Opfer sein, und du bist der dazu ausersehene Opferpriester.«

Ich erhob mich wie vom Schlag gerührt von diesem harten, unerbittlichen Urteil. Mir schwindelte, als ich dastand, und ich fühlte, wie ich vor Aufregung und Schwäche krank wurde. Keine Speise hatte an diesem Tage meine Lippen berührt, ich hatte nicht einmal gefrühstückt. Und nun bemerkte ich, und es gab mir einen seltsam stechenden Schmerz, daß niemand sich nach meinem Befinden erkundigt hatte. Nicht einmal die kleine Adèle hatte an die Tür geklopft, nicht einmal Frau Fairfax fragte nach mir. Wer in Not ist, der verliert auch schnell seine Freunde, sagte ich mir, als ich den Riegel zur Seite schob und aus der Tür trat. Ich stolperte über etwas, ich fühlte mich noch schwindelig, mein Blick war wie vernebelt, und die Glieder waren schwach. Ich konnte mich kaum aufrecht halten — und dann fiel ich. Aber ich fiel nicht zu Boden. Ein ausgestreckter Arm hielt mich. Ich blickte auf und sah, daß es Herr Rochester war, der auf einem Stuhl vor meiner Tür gesessen hatte.

»Endlich kommst du heraus«, sagte er. »Ich habe lange auf dich gewartet und an der Tür gelauscht, doch hörte ich keine Bewegung und keinen Seufzer. Hätte diese Todesstille noch fünf Minuten länger gedauert, so hätte ich wie ein Einbrecher die Tür geöffnet. So weichst du mir also aus? Du schließt dich ein und überläßt dich deinem Kummer! Es wäre mir lieber gewesen, du wärest herausgekommen und hättest mich mit heftiger Rede angegriffen, denn du bist ja heftig. Ich erwartete eigentlich einen solchen Auftritt. Ich hatte mich auf den warmen Tränenregen vorbereitet; nur wollte ich, daß er an meine Brust fließe.

Und nun ist er auf den gefühllosen Fußboden getropft oder in ein nasses Taschentuch. Aber ich sehe, ich irre mich; du hast ja überhaupt nicht geweint! Ich sehe bleiche Wangen und einen trüben Blick, aber keine Spur von Tränen. Ich nehme an, dein Herz hat dafür blutige Tränen geweint?

Nun, Jane! Kein Wort des Vorwurfs? Keine Bitternis, keine Rührung? Du sitzt still dort, wo ich dich hingesetzt habe, und schaust mich nur traurig und willenlos an. Jane, ich habe nicht beabsichtigt, dich so tief zu verletzen. Wirst du mir je verzeihen?«

Lieber Leser, ich verzieh ihm auf der Stelle, sein Auge drückte solche Reue aus, seine Stimme war so mitleidsvoll und er zeigte sich so stark und männlich, und außerdem sah ich, daß er mich immer noch liebte — ich verzieh ihm. Aber noch nicht in Worten, nur im Grunde meines Herzens.

»Du weißt, daß ich ein Schuft bin, Jane?« fragte er, offensichtlich, weil er sich über mein Schweigen wunderte, das allerdings mehr aus Schwäche als absichtlich entstanden war.

»Dann sag es mir rundheraus und in aller Schärfe — schone mich nicht.«

»Das kann ich nicht. Ich bin so müde und krank. Ich möchte etwas Wasser.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, nahm mich in die Arme und trug mich hinunter. Zuerst wußte ich nicht, in welchem Zimmer ich war, alles schwamm wie im Nebel um mich. Aber dann spürte ich die belebende Wärme eines Feuers, denn obgleich es Sommer war, hatte ich in meinem Zimmer furchtbar gefroren. Er setzte ein Glas Wein an meine Lippen, ich kostete ihn und er belebte mich. Dann aß ich etwas, das er mir reichte, und bald hatte ich mich wieder in der Gewalt. Ich war in der Bibliothek, saß in seinem Sessel, und er stand nahe bei mir. Ich dachte: Wenn ich jetzt sterben könnte, ohne daß es zu sehr schmerzte, so wäre das das beste für mich; denn dann bräuchte ich nicht die Anstrengung zu machen, die Bänder meines Herzens zu zerreißen, um mich von Herrn Rochester zu lösen. Und ich muß ihn ja verlassen. Aber ich will ihn nicht verlassen — ich kann ihn nicht verlassen.

»Wie geht es dir jetzt, Jane?«

»Viel besser; bald bin ich wieder wohlauf.«

»Trinke noch etwas Wein, Jane.«

Ich gehorchte; dann stellte er das Glas auf den Tisch, trat vor mich und schaute mich aufmerksam an. Plötzlich wandte er sich ab, wie von einem heftigen Gefühl gepackt, schritt durch das Zimmer und kam wieder zurück. Er neigte sich über mich, als wolle er mich küssen. Aber ich wußte, daß Zärtlichkeiten nun verboten waren. Ich wandte mein Gesicht ab und stieß ihn sanft von mir.

»Was? Was soll das bedeuten?« rief er hastig aus. »Ach, ich weiß. Du weigerst dich, den Gatten Bertha Masons zu küssen. Du findest, ich hätte schon genug an meiner Frau und sollte meine Zärtlichkeiten für sie bewahren!«

»Auf jeden Fall ist hier nicht mehr mein Platz, und ich habe auf nichts mehr Anrecht.«

»Aber warum, Jane? Ich will dir gerne jede lange Rede ersparen, und so will ich für dich antworten. Weil ich bereits eine Frau habe — ist es deshalb? Habe ich richtig geraten?«

»Ja.«

»Wenn du so denkst, so mußt du eine seltsame Meinung von mir haben; dann betrachtest du mich wohl als einen liederlichen, verwerflichen Menschen, als einen Schuft niedrigsten Rangs, der dir Liebe vorgespielt hat, um dich in eine Falle zu locken und dir Ehre und Respekt vor sich selbst zu rauben. Was sagst du dazu? Ich sehe, daß du dazu nichts sagen kannst, denn erstens bist du noch zu schwach, kannst kaum Atem holen, und zweitens kannst du dich noch nicht daran gewöhnen, mich anzuklagen und mir Vorwürfe zu machen; und außerdem sind die Schleusen der Tränen geöffnet, und der Tränenstrom würde fließen, wenn du redest. Und du hast nicht den Wunsch, eine Szene zu machen und deine Gefühle ausbrechen zu lassen. Du denkst jetzt nur daran, was zu tun ist— denn reden betrachtest du als nutzlos. Ich kenne dich — und ich bin auf der Hut.«

»Ich will ja nichts gegen Sie tun«, sagte ich, und meine unsichere Stimme warnte mich, den Satz rasch abzubrechen.

»Nicht in deinem Sinne des Wortes, aber in meinem planst du, mich zu zerstören. Du hast es gesagt, daß ich ein verheirateter Mann bin — und da ich verheiratet bin, wirst du mir aus dem Wege gehen und jeden Kontakt mit mir meiden, so wie du dich eben geweigert hast, mich zu küssen. Du beabsichtigst, dich mir gegenüber wie eine Fremde aufzuführen und in diesem Haus einzig und allein als Adèles Erzieherin zu leben. Und wenn ich je ein freundliches Wort zu dir sage, und falls du je in Versuchung kommst, ein freundliches Gefühl mir gegenüber zu hegen, dann wirst du dir sagen: Dieser Mann hätte mich beinahe zu seiner Mätresse gemacht, und deshalb muß ich ihm mit eisiger Kälte begegnen. Und infolgedessen wirst du auch zu einem eiszerklüfteten Fels erstarren.«

Ich sammelte meine Stimme, um zu antworten: »Alles hat sich für mich geändert, und so muß auch ich mich ändern; darüber gibt es keinen Zweifel. Und um ständige Gefühlswallungen, innere Kämpfe, schmerzliche Erinnerungen und Vergleiche zu vermeiden, gibt es nur einen Weg— Adèle muß eine neue Erzieherin bekommen.«

»Ach, Adèle wird in die Schule geschickt, das habe ich bereits angeordnet. Ich will dich auch nicht mit den entsetzlichen Vergleichen und Erinnerungen von Thornfield quälen — diesem verfluchten Ort — dieser Gespensterhöhle, in der sich schaurig der lebendige Tod im offenen Tageslicht zeigt, dieser steinernen Hölle mit ihrem bösen Teufel, der schlimmer ist als alle anderen Teufel — nein, Jane, du sollst hier nicht bleiben und auch ich nicht! Es war ein Fehler von mir, dich je hierherzubringen, denn ich kannte ja den Fluch, der über diesem Haus lastet. Ich hatte alle beauftragt, das Geheimnis vor dir zu hüten, bevor ich dich zum erstenmal sah. Ich tat es, weil ich fürchtete, keine Erzieherin würde je bei Adèle bleiben, wenn sie wüßte, welche Hausgenossin sie hier hätte, und außerdem gestatteten mir meine Pläne nicht, die Wahnsinnige hier herauszuschaffen — obwohl ich ein altes Haus in Ferndean Manor besitze, das noch zurückgezogener und versteckter liegt als dieses. Dort hätte ich sie sicher unterbringen können, aber ich hatte Bedenken, weil die Lage dort mitten im Wald mir zu ungesund erschien. Wahrscheinlich hätten mich die feuchten Mauern dort bald von ihrer Gegenwart befreit. Aber auch jeder Schurke hat seine Schwäche, und meine Schwäche ist es, daß ich keinen indirekten Mord begehen kann. Selbst an der, die ich am meisten verabscheue.

Immerhin war die Vorsicht, die Gegenwart der Wahnsinnigen vor dir zu verbergen, eine Schutzmaßnahme, wenn auch eine törichte, denn der Ort ist nun einmal vergiftet, und daran ändert sich nichts. Aber ich werde Thornfield Hall schließen. Ich werde die Eingangstür vernageln und Bretterverschläge vor die unteren Fenster zimmern lassen. Ich werde Frau Poole 200 Pfund im Jahre bezahlen, daß sie hier bei meiner Frau bleibt, denn so nennst du ja dieses Scheusal. Grace tut alles für Geld, und außerdem kann sie ihren Sohn hierherziehen lassen (er ist Jagdhüter in Grimsby), um ihr Gesellschaft zu leisten und ihr bei allzu heftigen Anfällen zu helfen, wenn es zum Beispiel meiner Frau wieder einfallen sollte, Leute nachts in ihren Betten zu verbrennen, sie zu erstechen, ihnen das Fleisch mit den Zähnen vom Leibe zu reißen —.«

»Herr Rochester«, unterbrach ich ihn, »Sie sind unerbittlich gegen diese unglückliche Frau. Sie sprechen mit Haß und Abscheu von ihr — mit rachsüchtiger Gehässigkeit. Das in grausam — sie kann doch nichts dafür, daß sie wahnsinnig ist.«

»Jane, mein kleiner Liebling (so will ich dich nennen, denn das bist du), du weißt ja gar nicht, wovon du redest. Du beurteilst mich wieder einmal falsch. Ich hasse sie ja nicht, weil Sie wahnsinnig ist. Glaubst du etwa, ich würde dich hassen, wenn du wahnsinnig würdest?«

»Das glaube ich bestimmt.«

»Dann bist du im Irrtum, und dann weißt du nichts von mir und nichts über die Liebe, der ich fähig bin. Jede Faser deines Fleisches ist mir so lieb wie mein eigenes, und ich würde es noch lieben, wenn es wund und krank wäre. Dein Geist in mein Schatz, und wäre er zerstört, so wäre er immer noch mein Schatz. Wenn du wütetest, würden dich meine Arme umfangen und nicht eine Zwangsjacke — denn selbst wenn du tobtest, würdest du mich noch bezaubern. Wenn du mich so wild anfallen würdest, wie es jene wilde Frau heute früh tat, so würde ich dich einfach in meine Arme nehmen, und niemals würde ich mit Ekel von dir weichen, so wie ich von ihr wich; in deine ruhigen Augen würde ich blicken und mich allein um dich kümmern. Ich würde dich mit nie ermüdenden Zärtlichkeiten umgeben, auch wenn du mich nie mit einem Lächeln dafür belohntest, und ich wäre nie müde, dir in die Augen zu schauen, selbst wenn dein Blick mich nicht mehr erkennen sollte. — Aber warum reden wir über solche Dinge? Ich sagte immer, ich würde dich von Thornfield wegnehmen. Du weißt, daß alles für eine rasche Abreise vorbereitet ist. Morgen wirst du von hier fortgehen. Ich bitte dich nur, noch eine Nacht unter diesem Dach zu verbringen, und dann sagst du all diesem Elend und Schrecken für immer Lebewohl! Ich habe einen Ort, an den wir uns zurückziehen können, an dem wir frei von häßlichen Erinnerungen und unwillkommenen Eindringlingen sind und wo wir auch weder Falschheit noch Verleumdung zu fürchten haben.«

»Dann nehmen Sie Adèle mit«, unterbrach ich ihn. »Sie wird Ihnen Gesellschaft leisten.«

»Aber Jane, was soll das heißen? Ich sagte dir doch, ich würde Adèle auf die Schule schicken. Und was sollte ich mit einem Kind als Gesellschafterin anfangen? Sie ist ja nicht einmal mein eigenes Kind, sondern der Bastard einer französischen Tänzerin. Warum belästigst du mich mit ihr? Warum willst du mir unbedingt Adèle als Gesellschafterin aufschwatzen?«

»Sie sprachen davon, daß Sie sich zurückziehen wollten, und da könnte es Ihnen zu einsam werden und zu langweilig.«

»Einsam! Einsam!« wiederholte er ärgerlich. »Ich sehe, daß hier eine Erklärung nötig ist. Ich weiß nicht, in welch geheimnisvolles Gebaren du dich zurückziehst. Du sollst die Einsamkeit mit mir teilen. Verstehst du das?«

Ich schüttelte den Kopf, und ich brauchte schon Mut dazu, denn er war sehr erregt. Er war im Zimmer auf und ab gegangen und blieb plötzlich wie mit dem Boden verwachsen stehen. Er warf mir einen langen und harten Blick zu. Ich wandte meine Augen von ihm ab, schaute ins Feuer und bemühte mich, ruhig und gefaßt auszusehen.

»Da haben wir einmal wieder Janes Charakter«, sagte er schließlich, und seine Stimme war viel ruhiger, als ich es aus seinem Verhalten erwartet hatte. »Der Seidenfaden ist bisher reibungslos durch die Spindel gelaufen, aber ich wußte wohl, daß einmal ein Knoten kommen würde, und hier ist er. Jetzt fängt der Ärger und das Ringen wieder an, das mich zur Verzweiflung bringt. Bei Gott, ich wünschte, ich hätte einen Teil der Kraft Simsons und könnte all die Fesseln sprengen.«

Er begann wieder im Zimmer herumzugehen, blieb aber bald wieder stehen, dieses Mal direkt vor mir.

»Jane! Willst du Vernunft annehmen?« Er beugte sich über mich und näherte seine Lippen meinem Ohr. »Denn wenn du keine Vernunft annimmst, werde ich Gewalt anwenden.«

Seine Stimme war roh. Er sah aus wie ein Mann, der daran ist, in wildeste Wut auszubrechen. Ich sah ein, daß es mir nicht möglich sein würde, ihm irgend etwas zu erklären, wenn ich ihn nur ein wenig mehr reizte. So saß ich still da und reagierte nicht. Die geringste Bewegung des Widerstandes, der Flucht oder der Angst hätten mein Schicksal besiegelt und seines auch. Aber ich hatte keine Angst. Nicht im geringsten. Ich fühlte eine innere Macht, eine Art von Einfluß, die mir Kraft gab. Die Krise war gewiß nicht gefahrlos, aber sie entbehrte nicht ihres Reizes. Vielleicht empfindet der Indianer ähnliches, wenn er in seinem Kanu über Stromschnellen gleitet. Ich nahm seine verkrampften Hände, löste ihm die gespannten Finger und sagte beschwichtigend:

»Setzen Sie sich. Ich werde reden, so lange Sie wollen, und mir alles, was Sie zu sagen haben, anhören, ob es nun Vernunft oder Unvernunft ist.«

Er setzte sich, aber jetzt sagte er nichts. Ich hatte seit einiger Zeit mit den Tränen gekämpft und mir große Mühe gegeben, sie zurückzuhalten, denn ich wußte, daß er mich nicht gerne weinen sah. Jetzt jedoch fand ich es richtig, ihnen freien Lauf zu lassen. Und wenn es ihn ärgerte, um so besser. So saß ich da und weinte aus vollem Herzen. Bald hörte ich ihn, wie er mich ernsthaft ermahnte, mich zusammenzunehmen. Ich sagte, ich könne es nicht, solange er so wütend sei.

»Aber ich bin ja gar nicht wütend, Jane. Ich liebe dich nur zu sehr, und du hattest dein kleines und bleiches Gesicht mit einem solchen entschlossen festen Blick gepanzert, daß ich es einfach nicht mehr ertragen konnte. Nun beruhige dich und wisch dir die Tränen aus den Augen.«

Seiner milderen Stimme nach schloß ich, daß auch er sich beruhigt hatte, und so faßte auch ich mich. Jetzt versuchte er, den Kopf auf meine Schulter zu legen, aber ich erlaubte es nicht. Dann wollte er mich an sich ziehen, aber ich lehnte es ab.

»Jane! Jane!« sagte er in einem so bitter traurigem Ton, daß es jeden Nerv in mir erzittern ließ. »Liebst du mich denn nicht mehr? War es denn nur mein Rang und Namen; kam es dir denn nur darauf an, eine Ehefrau zu sein? Jetzt, wo du weißt, daß ich nicht dein Ehemann sein darf, ziehst du dich vor meiner Berührung zurück, als wäre ich eine Kröte oder Schlange?«

Diese Worte schnitten mir ins Herz. Aber was konnte ich sagen oder tun? Vielleicht hätte ich auch nichts sagen oder tun sollen, aber ich hatte seine Gefühle verletzt, und jetzt quälte mich die Reue.

Ich konnte den Wunsch, Balsam auf seine Wunden zu gießen, nicht unterdrücken.

Und so sagte ich: »Ich liebe Sie mehr als je, aber ich darf meine Gefühle nicht mehr zur Schau stellen; und ich gestehe sie Ihnen zum letzten Mal.«

»Zum letzten Mal, Jane! Glaubst du denn wirklich, du könntest mit mir leben, mir täglich begegnen und dabei kalt und zurückhaltend sein, obgleich du mich liebst?«

»Nein, das könnte ich gewiß nicht, und deshalb sehe ich nur einen Ausweg. Aber Sie werden wütend sein, wenn ich es Ihnen sage.«

»So sag es schon! Wenn ich wütend werde, bleibt dir ja noch die Kunst des Weinens.«

»Herr Rochester, ich muß Sie verlassen.«

»Für wie lange, Jane? Für ein paar Minuten, um dir dein Haar zu kämmen — es sieht wirklich etwas zerzaust aus; um dir das Gesicht zu erfrischen, das mir ein wenig fieberhaft zu sein scheint?«

»Ich muß Adèle und Thornfield verlassen. Und ich muß mich von Ihnen fürs Leben trennen. Ich muß ein neues Leben unter fremden Menschen und in einer fremden Umgebung beginnen.«

»Natürlich. Das sagte ich dir ja schon; Den Wahnsinnsgedanken der lebenslänglichen Trennung von mir will ich übergehen. Du meinst eher, du müßtest ein Teil von mir werden. Und was das neue Leben anbetrifft, so habe keine Sorge. Du wirst meine Frau werden. Ich bin nicht richtig verheiratet. Du wirst Frau Rochester sein — dem Gesetz und dem Namen nach, und ich werde bei dir sein, solange ich lebe. Ich habe ein Haus in Südfrankreich, und dorthin wirst du ziehen. Es ist eine weiße Villa an der Küste des Mittelmeeres. Dort wirst du ein glückliches, wohlbehütetes und unschuldiges Leben führen. Fürchte nicht, daß ich dich zu irgend etwas Unrechtem verführen werde — ich habe nicht die Absicht, dich zu meiner Mätresse zu machen. Warum schüttelst du den Kopf, Jane? Nun sei doch vernünftig; oder ich muß wirklich in Wut geraten!«

Seine Stimme und seine Hand erzitterten, die Nüstern blähten sich, das Auge zuckte, aber ich wagte es trotzdem zu sprechen:

»Herr Rochester, Ihre Frau lebt. Das ist eine Tatsache, die Sie heute früh selbst eingestanden haben. Wenn ich mit Ihnen so leben würde, wie Sie es wünschen — dann wäre ich nichts anderes als Ihre Mätresse, und jede andere Bezeichnung wäre nur eine beschönigende Lüge.«

»Jane, vergiß nicht, daß ich ein aufbrausender Mensch bin! Ich bin kein Geduldsengel. Ich bin nun einmal nicht kalt und leidenschaftslos. Ich bitte dich in deinem und meinem Interesse — fühle meinen Puls, fühle, wie er schlägt — und sei auf der Hut!«

Er schob seinen Ärmel hoch und streckte mir den Arm entgegen. Seine Wangen und Lippen waren bleich, als ob alles Blut aus ihnen gewichen wäre. Ich war zutiefst betrübt. Es war grausam, ihm einen Widerstand, den ich selbst verabscheute, entgegenzusetzen; aber andererseits kam es nicht in Frage, ihm nachzugeben. So tat ich, was Menschen instinktiv tun, wenn sie in höchster Not sind. Ich flehte um höhere Hilfe, und die Worte: »Gott, hilf mir!« entfuhren mir, ohne daß ich es wollte.

»Ich bin ein Narr!« rief Herr Rochester plötzlich aus. »Da erzähle ich ihr, ich sei nicht verheiratet, und gebe ihr keine Erklärung. Ich vergesse, daß sie den Charakter dieser Frau und die Umstände, die zu dieser höllischen Verbindung mit ihr geführt haben, gar nicht kennt. Ach, ich bin sicher, daß Jane mir zustimmen wird, wenn sie weiß, was ich weiß. Gib mir die Hand, Jane — ich möchte deine Nähe nicht nur sehen, sondern auch fühlen, um sie mir ganz zu beweisen — ich will dir in wenigen Worten den wahren Sachverhalt erklären. Kannst du mir zuhören?«

»Ja, stundenlang, wenn Sie wollen.«

»Es wird nur einige Minuten dauern, Jane. Hast du je gehört oder erfahren, daß ich nicht der älteste Sohn meiner Familie war und daß ich einen älteren Bruder hatte?«

»Ich erinnere mich, daß Frau Fairfax mir davon erzählte.«

»Und hast du je gehört, daß mein Vater ein geldgieriger, geiziger Mann war?«

»Ich habe Derartiges munkeln gehört.«

»Nun, Jane, so war es; und er hatte beschlossen, den ganzen Besitz zusammenzuhalten. Er ertrug den Gedanken nicht, seinen Besitz aufzuteilen und mir ein angemessenes Erbe zu hinterlassen. So hinterließ er alles meinem Bruder Rowland. Andererseits aber wollte er auch wieder nicht, daß einer seiner Söhne als armer Mann gelte. So sollte ich dank einer guten Partie versorgt werden. Zu diesem Zwecke setzte er sich mit einem Herrn Mason, einem Kaufmann und Plantagenbesitzer in Westindien, den er seit langem kannte, in Verbindung. Er war sicher, daß Herr Mason außerordentlich reich war, und er zog Erkundigungen ein, die ergaben, daß Herr Mason einen Sohn und eine Tochter hatte und daß er bereit war, seiner Tochter eine Mitgift von dreißigtausend Pfund zu geben. Das genügte. Als ich aus der Schule kam, wurde ich nach Jamaika geschickt, um eine bereits für mich ausgesuchte Braut zu heiraten. Mein Vater erwähnte mir gegenüber nichts von ihrem Geld, aber er erzählte mir, Fräulein Mason sei in ganz Spanish Town für ihre Schönheit berühmt, und das war keine Lüge. Ich fand sie als eine stattlich schöne Frau — etwa in der Art einer Blanche Ingram: sie war groß, dunkelhaarig und majestätisch. Ihre Familie war bemüht, sich meiner zu versichern, denn auch ich war aus guter Familie. Ich begegnete ihr auf Abendgesellschaften, wo sie stets herrlich gekleidet erschien. Selten sah ich sie allein, und ich hatte kaum einmal Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch. Sie umgab mich mit allerlei Schmeicheleien und ließ ihren Charme spielen. Alle Männer in ihrer Umgebung schienen sie zu bewundern und mich zu beneiden. Ich war verblendet und gleichzeitig freudig erregt. Sie hatte meine Sinne betört, und da ich ein unwissender, unerfahrener junger Mann war, bildete ich mir ein, daß ich sie liebte. Es gibt keine gefährlichere Torheit, als die des idiotischen, gesellschaftlichen Ehrgeizes und der jugendlichen Verblendung, die einen Mann bald in die Falle locken. Ihre Verwandten ermutigten mich, Rivalen stachelten mich an, sie lockte mit all ihren Reizen — und so fand die Heirat statt, bevor ich recht wußte, wie mir geschah. Ach, wenn ich daran denke, schwindet alle meine Selbstachtung! Wenn ich daran denke, packen mich geradezu Ekel und Abscheu vor mir selbst. Ich liebte sie nie, schätzte sie nie, und ich kannte sie nicht einmal. Von ihrem Charakter wußte ich überhaupt nichts; und ich hätte keine einzige gute Eigenschaft an ihr nennen können. Ich hatte an ihr weder Bescheidenheit, Güte, Aufrichtigkeit, Sorgfältigkeit in ihren Manieren noch einen regen Geist bemerkt — und doch heiratete ich sie. Ach, welch ein vernarrter, blinder, verdummter, starrköpfiger Tölpel ich war! Da hätte ich ebensogut — aber vergessen wir nicht, zu wem ich rede.

Die Mutter meiner Braut habe ich nie gesehen. Ich glaubte, sie sei gestorben. Erst nach den Flitterwochen wurde ich über meinen Irrtum aufgeklärt: Sie war nicht tot, sondern nur wahnsinnig, und sie war in einem Irrenhaus. Es gab auch noch einen jüngeren Bruder, der völlig idiotisch war. Der ältere wird wohl eines Tages dem gleichen Schicksal erliegen. Ihn hast du ja gesehen, und ich kann ihn nicht hassen, obgleich ich seine ganze Familie verabscheue, denn er hat in seinem schwachen Sinn wenigstens ein Körnchen von Güte, er ist immerhin um seine elende Schwester besorgt und war mir früher in fast hündischer Anhänglichkeit zugetan. Mein Vater und mein Bruder Rowland wußten das alles, aber sie dachten nur an die dreißigtausend Pfund und verbündeten sich gegen mich.

Das waren schlimme Entdeckungen, aber ich hatte noch keinen Anlaß, meiner Frau Vorwürfe zu machen, außer dem, daß sie mich belogen hatte; und ich sagte auch nichts, als ich feststellte, daß sie charakterlich überhaupt nicht zu mir paßte. Ich fand ihren Geschmack abscheulich, ihre Denkart niedrig, engstirnig und gemein, fand sie völlig unfähig, sich je zu etwas Höherem zu entwickeln; ich fand, daß ich nicht einen einzigen Abend oder eine einzige Stunde des Tages in ihrer Gesellschaft verbringen konnte, ohne daß unser Gespräch, sosehr ich mich auch bemühte, ihm einen angenehmen Verlauf zu geben, nicht sofort in rohe, gemeine, oberflächliche, triviale und völlig unsinnige Bahnen gelenkt wurde. Ich fand, daß ich nie einen ruhigen und geordneten Haushalt haben würde, denn kein Diener hielt ihre ständigen Wutausbrüche und die Boshaftigkeit ihrer stets widersprüchlichen Anordnungen und Befehle aus. Aber auch da hielt ich mich zurück: ich vermied jeden Streit, hielt mich vor Vorwürfen zurück, und ich versuchte die Reue und den Ekel vor dieser Ehe geheimzuhalten und die wachsende Abneigung, die ich gegen sie fühlte, zu bekämpfen.

Jane, ich will dich nicht mit entsetzlichen Einzelheiten plagen. Ich will nur in wenigen Worten ausdrücken, was ich zu sagen habe. Ich habe jahrelang mit dieser Frau dort oben gelebt, und vor dieser Zeit hat sie mir wahrlich hart zugesetzt. Ihr Charakter reifte und entwickelte sich erschreckend schnell: Ihre Bösartigkeit nahm solche Formen an, daß nur Grausamkeit sie hätte bezähmen können. Aber ich wollte nicht grausam sein. Sie hatte ein wahres Zwergenhirn und dazu Riesenkräfte. Die Ehe war ein fürchterlicher Fluch auf meinem Leben. Bertha Mason, die Tochter einer irrsinnigen Mutter, zwang mir ein ebenso scheußliches wie entwürdigendes Leben auf, ein Leben, wie es einem Mann beschieden ist, der an eine zügellose und verderbte Frau gekettet ist.

Dann starb mein Bruder, und vier Jahre später starb auch mein Vater. Jetzt war ich ein reicher Mann — und doch so arm. Denn die verderblichste, schlechteste, abscheulichste Kreatur, die ich je sah, war auf immer und ewig an mich gebunden und dem Gesetz und den gesellschaftlichen Anstandsregeln nach ein Teil von mir. Es gab keine Möglichkeit, mich gesetzlich von ihr zu trennen, denn die Ärzte hatten inzwischen herausgefunden, daß sie wahnsinnig war — ihre Ausschweifungen hatten die vorzeitige Entwicklung der Geisteskrankheit hervorgerufen. Jane, meine Erzählung gefällt dir nicht: Du siehst aus, als ob dir schlecht sei — soll ich dir den Rest an einem anderen Tag erzählen?«

»Nein, erzählen Sie nur. Sie tun mir so leid — ich habe solches Mitleid mit Ihnen.«

»Das Mitleid ist für manche Menschen ein unerwünschtes und beleidigendes Geschenk, und man ist oft versucht, es denen, die es anbieten, ins Gesicht zurückzuschleudern. Aber das ist das Mitleid der selbstsüchtigen Herzen und ist eine Art von zweifelhafter Schadenfreude und leider jenes Bedürfnis nach Leidensgeschichten, denen manche Leute gern leicht verächtlich zuhören. Aber dein Mitleid ist nicht so, Jane; es ist ein Gefühl, das dein ganzes Gesicht erfüllt, von dem dir die Augen überlaufen, das in deinem Herzen pocht, das deine Hand in der meinen erzittern läßt. Dein Mitleid, meine Liebste, ist die leidende Mutter der Liebe. Seine Ängste sind die Geburtswehem der göttlichen Passion. So nehme ich dein Mitleid entgegen, Jane.«

»Bitte, Herr Rochester, fahren Sie fort. Was taten Sie, als Sie herausfanden, daß sie wahnsinnig war?«

»Jane, ich war am Rande der Verzweiflung, und nur ein Rest von Selbstachtung hielt mich vor dem Abgrund zurück. In den Augen der Welt war ich zweifellos entehrt und mit Schande bedeckt; aber ich war entschlossen, in meinen eigenen Augen rein zu sein, und ich war ja nicht von ihren Verbrechen angesteckt und war nicht für ihren Irrsinn verantwortlich. Und doch war in der Gesellschaft mein Name und meine Person mit ihr verbunden. Ich sah und hörte sie täglich, atmete dieselbe Luft wie sie, und außerdem wurde ich ständig daran erinnert, daß ich ihr Ehemann war — ein Gedanke, der mir damals wie jetzt unaussprechlichen Abscheu einflößt; und ich wußte, daß ich, solange Sie lebt, niemals mit einer besseren Frau glücklich sein würde, denn obgleich sie fünf Jahre älter ist als ich (ihre Familie hatte mich sogar in bezug auf ihr Alter angelogen), wird sie mindestens solange leben wie ich, weil sie körperlich ebenso kräftig ist wie schwach im Geiste. So war ich als sechsundzwanzigjähriger ein Mann ohne jede Hoffnung.

Eines Nachts wurde ich durch ihre Schreie geweckt (seit die Ärzte sie für geisteskrank erklärt hatten, lebte sie eingeschlossen); es war eine glühendheiße westindische Nacht, eine jener schweren Nächte, die oft den Wirbelstürmen in jenen Zonen vorausgehen. Die Luft war wie Schwefel — man glaubte zu ersticken. Stechmücken flogen zum Fenster herein und summten durch das Zimmer, das Meer tobte draußen wie ein Erdbeben — schwarze Wolken wellten sich am Himmel, der Mond leuchtete breit und groß wie eine glühende Kanonenkugel über den aufgepeitschten Wassern — und sie tobte in ihrem Zimmer, schrie ihre Verwünschungen, in denen sie meinen Namen mit einem so entsetzlichen Haß aussprach und so furchtbare Beschimpfungen aussprach, wie ich sie gemeiner und niederträchtiger noch nie gehört hatte. Obgleich mich zwei Zimmer von ihr trennten, hörte ich jedes Wort und vernahm jeden ihrer wölfischen Schreie.

Und da sagte ich mir: Dieses Leben ist die Hölle — diese Klänge sind die Untiefen ihres Abgrundes. Ich habe ein Recht, mich daraus zu befreien, wenn ich es kann. Die Leiden dieses sterblichen Zustandes werden mich mit der schweren Last plagen, die jetzt meine Seele bedrückt. Ich fürchtete mich nicht vor jener flammenden Verderbnis, von der die Fanatiker sprechen; denn es kann keine Höllenqualen geben, die diese hier übertreffen — fort von hier und zu dir, o Gott! Das rief ich aus, während ich auf meinen Knien lag und eine Tür öffnete, in der zwei geöffnete Pistolen lagen. Ich wollte meinem Leben ein Ende setzen. Doch trug ich mich nur einen Augenblick lang mit einer solchen Absicht, denn ich war ja nicht wahnsinnig; und die Verzweiflung, die mich zu diesen Wunsch getrieben hatte, war nur vorübergehend.

Ein frischer Wind kam von Europa über das Meer geweht, der Sturm war gebrochen, und eine frische Luft strömte zum Fenster herein. Da faßte ich einen Plan und einen Entschluß. Ich ging hinaus, schöpfte Luft von den noch tropfenden Orangenbäumen im Garten und hatte folgenden Gedanken, Jane und höre mir gut zu, denn in jener Stunde fand ich Trost in der Weisheit, die mir den richtigen Weg wies.

Die frische, von Europa kommende Brise ließ noch die Blätter rascheln, das Meer rauschte vom Sturm befreit, mein ganzes Wesen sehnte sich nach Erneuerung, und meine Seele dürstete. Da sah ich die neue Hoffnung — und ich fühlte die Möglichkeit eines Wiederauflebens. Ich blickte über die See, hinter der die alte Welt mit ihren neuen Möglichkeiten lag.

Und die Hoffnung sagte: Geh und lebe wieder in Europa, denn dort weiß niemand, wie befleckt dein Name ist und mit welcher abscheulichen Bürde du belastet bist. Nimm die Wahnsinnige mit dir nach England, laß sie dort in guter Obhut in Thornfield leben, und dann reise du in der Welt herum und gehe neue Bindungen ein. Dieses Weib, das dir soviel Leiden verursacht und deinen Namen so in den Schmutz gezogen hat, das dich deiner Ehe beraubt und um deine Jugend betrogen hat, ist nicht deine Frau, und du bist nicht ihr Mann. Sorge dafür, daß sie eine ihrem Zustand angemessene Pflege erhält, und dann hast du Gott und der Welt gegenüber deine Pflicht getan. Sieh zu, daß alles, was sie betrifft, in Vergessenheit begraben wird, denn du kannst dich nicht an sie gebunden fühlen. Bringe sie in Sicherheit, und lasse den Wahnsinn sein Zerstörungswerk hinter festen Mauern vollbringen.

Und das war es genau, was ich tat. Mein Vater und mein Bruder hatten in ihren Kreisen meine Ehe nicht bekanntgegeben, denn schon in meinem ersten Brief, in dem ich ihnen von der vollzogenen Trauung schrieb — ich hatte damals schon mit Abscheu die Folgen vorausgesehen —, hatte ich sie gebeten, die Sache geheimzuhalten, und sobald mein Vater von dem Schmachvollen Gebaren der Frau, die er für mich ausgewählt hatte, hörte, war er nicht gerade erpicht davon, sich mit einer solchen Schwiegertochter zu brüsten. Er hatte das gleiche Interesse wie ich, die Verbindung geheimzuhalten.

So brachte ich sie nach England. Die Schiffsreise mit diesem Ungeheuer war entsetzlich, und ich war froh, als ich sie in Thornfield hatte. Dort richtete ich sie in jenem Zimmer im dritten Stock ein, das damit der Käfig eines wilden Tieres geworden ist. Ich hatte einige Mühe, eine Pflegerin für sie zu finden, denn ich brauchte eine Person, auf deren Treue und Diskretion ich mich absolut verlassen konnte, da zu befürchten war, daß die Schreie meiner Frau das Geheimnis lüften könnten; und außerdem war sie manchmal tagelang bei klarem Verstand — den sie dazu benutzte, mich zu beschimpfen. Schließlich fand ich Grace Poole. Sie und der Wundarzt (der damals Masons Wunden verband, als sie ihn mit einem Messer angefallen hatte) waren die einzigen Personen, die in das Geheimnis eingeweiht waren. Frau Fairfax mag manches erraten haben, aber sie wußte nichts Genaues. Grace war im großen und ganzen eine gute Pflegerin, nur geschieht es zuweilen, daß sie sich in ihrer Wachsamkeit täuschen läßt, denn die Wahnsinnige ist böse und listig. Sie ist stets darauf aus, die geringste Unachtsamkeit ihrer Wärterin auszunützen. So hat sie ihr damals das Messer entwendet, mit dem sie ihren Bruder anfiel; zweimal ist es ihr gelungen, sich den Schlüssel zu ihrer Zelle anzueignen und nachts im Haus herumzuspuken. Das erste Mal, als sie dies tat, versuchte sie, mich in meinem Bett zu verbrennen, und das zweite Mal besuchte dich das Ungeheuer. Ich kann nur der Vorschung danken, daß sie ihre Wut an deinem Hochzeitsschleier ausließ, der sie vielleicht an ihre eigene Hochzeit erinnerte — denn ich wage nicht, daran zu denken, was sonst hätte geschehen können. Nein, wenn ich daran denke, erzittert mir das Blut in den Adern.«

»Und was taten Sie?« fragte ich, während er innehielt, »als Sie sie hier untergebracht hatten? Wo sind Sie dann hingereist?«

»Was ich tat, Jane? Ich verwandelte mich in einen Kobold. Und wohin ich ging? Ich reiste in der Welt umher, wie der ewige Jude. Ich reiste durch ganz Europa und fuhr kreuz und quer durch alle Länder. Ich hatte den Wunsch, eine gute und kluge Frau zu finden, die ich lieben könnte: Ein Gegenstück zu jener Furie, die ich in Thornfield zurückgelassen hatte.«

»Aber Sie hätten doch nicht heiraten können.«

»Ich war entschlossen, es doch zu tun, und war von meinem Recht dazu überzeugt. Ich hatte mir ursprünglich nicht vorgenommen zu lügen, so wie ich dich angelogen habe. Ich wollte ganz offen meine Geschichte erzählen, und es schien mir völlig vernünftig, mich als Freier betrachten zu können, zu lieben und geliebt zu werden. Damals zweifelte ich nicht daran, daß ich eine Frau finden würde, die Verständnis für meine Lage hatte und mich trotz des Fluches, der über mir lastete, nahm.«

»Und dann?«

»Wenn du mich so fragst, Jane, muß ich immer lächeln. Du öffnest die Augen wie ein hungriger Vogel, bewegst dich unruhig, als ob dir die Antworten nicht rasch genug kämen und als ob du bis ins Innere meines Herzens vordringen wolltest. Aber bevor ich fortfahre, sage mir bitte, was du mit diesem ›und dann‹ meinst. Du sagst diese Worte recht oft und hast mich damit zu unendlichen Erklärungen gezwungen.«

»Ich meine damit — was dann? Was haben Sie dann getan? Was ist dann geschehen?«

»Genau! Und was willst du jetzt wissen?«

»Ob Sie eine solche Frau gefunden haben? Ob Sie ihr die Ehe vorschlugen, und wie sie sich dazu äußerte?«

»Ich kann dir sagen, ob ich eine fand, die ich mochte, und ob ich die Ehe vorschlug — aber wie sie sich dazu äußerte, das steht im Buch des Schicksals geschrieben. Zehn lange Jahre reiste ich umher, lebte in dieser oder jener Hauptstadt: manchmal in St. Petersburg, öfter in Paris, gelegentlich in Rom, Neapel und Florenz. Ich hatte viel Geld und einen guten Namen. Ich konnte mir meine Gesellschaft aussuchen, denn es gab keine Kreise, die mir verschlossen waren.

Ich suchte mein Ideal unter englischen Ladys, französischen Komtessen, italienischen Signoras und deutschen Gräfinnen, aber ich fand sie nicht. Manchmal glaubte ich einen flüchtigen Augenblick lang, der Erfüllung meines Traumes nahe zu sein, aber immer wieder war ich enttäuscht. Und glaube bitte nicht, daß ich auf Vollkommenheit aus war. Ich sehnte mich ja nur nach etwas, das im Gegensatz zu dieser Kreolin stand. Aber ich sehnte mich vergeblich. Ich fand nicht eine, die ich, der immerhin einige Erfahrung in den Schrecken einer schlecht getroffenen Verbindung hatte, zu fragen bereit war, ob sie meine Frau werden wollte. Die Enttäuschung machte mich unstet. Dann versuchte ich es mit Zerstreuung — nie mit Ausschweifungen, die ich haßte und auch heute noch hasse, denn sie erinnern mich zu sehr an meine westindische Messalina, und alles, was mich auch nur im entferntesten an sie erinnerte, war mir zuwider.

Und doch konnte ich nicht allein leben. So versuchte ich es mit einer Geliebten. Die erste war Céline Varens — und das ist auch einer jener Schritte, an die man sich später ohne eine gewisse Scham nicht erinnert. Du weißt, wie sie war und wie ich meine Verbindung mit ihr löste. Sie hatte zwei Nachfolgerinnen: eine Italienerin namens Giacintha und eine Deutsche namens Clara. Beide galten als besonders hübsch. Aber was bedeutete mir ihre Schönheit noch nach ein paar Wochen? Giacintha war heftig und undiszipliniert. Nach drei Monaten war ich ihrer müde. Clara war ehrlich und still, aber sie war schwerfällig, dumm und stur. Ihre Häuslichkeit war nicht nach meinem Geschmack. So war ich froh, als ich ihr eine Summe Geldes gab, mit der sie sich niederlassen konnte und mit der ich mich von ihr befreite.

Aber Jane, ich sehe an deinem Gesicht, daß du jetzt nicht sehr gut von mir denkst. Du hältst mich für einen gefühllosen und liederlichen Lüstling, nicht wahr?«

»Ich mag Sie so nicht so gern wie unter anderen Umständen. Nein, wirklich, Herr Rochester, schien es Ihnen denn gar nicht schlimm, ein solches Leben zu führen? Erst mit der einen Geliebten und dann mit der anderen? Sie reden davon, als sei es etwas ganz Selbstverständliches.«

»Das war es auch, und das gefiel mir nicht. Es war schon eine verworfene Existenz, und zu einem solchen Leben möchte ich nie zurückkehren. Sich eine Geliebte anzuschaffen, ist fast ebenso übel, wie wenn man sich eine Sklavin kauft: denn beide sind oft ihrer Natur und ihrem Rang nach Untergebene. Und wer intim mit seinen Untergebenen verkehrt, würdigt sich selbst herab. Heute hasse ich die Erinnerung an die Zeit, die ich mit Celina, Giacintha und Clara verbrachte.«

Ich spürte die Wahrheit dieser Worte, und sie lehrten mich etwas, das ich bereits wußte: Sollte ich mich je so vergessen, daß ich unter irgendeinem Vorwand — durch irgendeine Rechtfertigung — durch irgendeine Versuchung — zur Nachfolgerin dieser armen Mädchen werden sollte, so würde er mich bald mit demselben Gefühl des Überdrusses und der Abscheu betrachten. Ich sprach diesen Gedanken nicht aus; es genügte mir, ihn zu fühlen. Ich schloß ihn in meinem Herzen ein, so daß er mir in der Stunde der Not beistehen würde.

»Nun, Jane, warum sagst du jetzt nicht: ›Was dann?‹ Du siehst so ernsthaft aus, ich sehe, daß du mein Betragen mißbilligst. Aber laß mich zur Sache kommen. Im letzten Jahr kehrte ich nach England zurück — meine Geliebten war ich los — ich war verbittert und grimmig enttäuscht von meinem nutzlosen, unsteten und einsamen Leben, das mir nur Enttäuschungen einbrachte. Ich wollte von den Menschen nichts mehr wissen und am wenigsten von den Frauen (denn der Gedanke an eine kluge, treue und liebende Frau kam mir wie ein Traumgespinst vor).

An einem eisigen Winternachmittag ritt ich auf Thornfield zu. Ach, dieser verfluchte Ort! Dort erwartete mich weder Frieden noch Freude. Und da sah ich auf dem Zaun beim Pfad nach Hay eine regungslose kleine Gestalt sitzen. Ich beachtete sie nicht mehr als die Hecken am Wegrand. Ich hatte keinerlei Vorgefühle, keine innere Stimme warnte mich oder offenbarte mir, daß die Entscheidung meines Lebens hier so unscheinbar am Wegrand hockte. Ich wußte es selbst dann noch nicht, als Sie nach dem Sturz meines Pferdes auf mich zutrat und mir ihre Hilfe anbot. Ein kindliches, zartes Wesen! Es schien mir, als sei ein Hänfling vor meine Füße gehüpft und schlage mir vor, mich auf seinen Flügeln zu tragen. Ich war verärgert, aber das kleine Ding wollte einfach nicht fortgehen, blieb selbstlos hartnäckig bei mir und redete mit einer Art von Autorität auf mich ein — ich brauchte Hilfe, und diese Hilfe ließ sie mir zuteil werden.

Als meine Hand erst die zarte Schulter berührte, spürte ich etwas Neues, es war, wie wenn frische Kraft durch mein ganzes Wesen strömte. Es war gut, daß ich von dieser Elfe erfuhr, sie gehöre zu meinem Haushalt, denn sonst hätte ich sie nicht so leicht wieder fortgehen lassen. Ja, Jane, ich hörte dich, wie du an jenem Abend zurückkamst. Du wußtest wahrscheinlich nicht, daß ich an dich dachte und dich erwartete. Am nächsten Tag beobachtete ich dich — du sahst mich nicht, während du mit Adèle auf der Veranda spieltest. Ich erinnere mich, daß es ein verschneiter Tag war und ihr deshalb nicht aus dem Haus konntet. Ich war in meinem Zimmer, und die Tür stand halb offen: so konnte ich hören und sehen. Adèle beanspruchte deine Aufmerksamkeit, aber ich sah wohl, daß du in Gedanken anderswo warst. Und doch zeigtest du viel Geduld mit ihr, meine kleine Jane. Du plaudertest und spieltest mir ihr eine lange Zeit. Als sie dich schließlich verließ, verfielst du sofort in Träumereien, und dann gingst du langsam auf der Veranda hin und her. Du blicktest durch das Fenster, sahst den Schnee fallen, hörtest den heulenden Wind, und dann gingst du träumend weiter. Ich glaube, daß deine Träume an jenem Tage angenehm waren, denn hie und da leuchtete dein Blick fast vergnügt auf, und dein ganzes Gebaren wies darauf hin, daß du nicht etwa in bitteren, selbstquälenden und krankhaften Gedanken brütetest. Ich glaube eher, daß du in schönen und hoffnungsvollen Vorstellungen schwelgtest. Dann riß die Stimme von Frau Fairfax dich aus deinen Träumereien, und es schien mir, als lächeltest du recht seltsam über dich selbst. Denn dieses Lächeln ergab keinen Sinn, es war irgendwie verschmitzt, so als machtest du dich über deine Geistesabwesenheit lustig. Es schien zu sagen ›All diese Traumbilder sind zwar sehr schön, aber ich darf nicht vergessen, daß sie unwirklich sind. Gewiß, in meinem Kopfe habe ich einen rosigen Himmel und ein blumengeschmücktes Paradies, aber ich bin mir trotzdem bewußt, daß mir noch eine lange Reise durch viele finstere Stürme bevorsteht.‹ Dann ranntest du hinunter und batest Frau Fairfax, dir eine Arbeit zu geben. Ich glaube, du machtest dann die wöchentlichen Aufstellungen der Haushaltsausgaben oder etwas Ähnliches. Jedenfalls ärgerte ich mich, daß du meinen Blicken entschwandest. Ich erwartete den Abend mit Ungeduld, denn erst dann konnte ich dich zu mir rufen lassen. Ich wollte dich endlich kennenlernen. Ich wollte mehr über dieses ungewöhnliche, mir völlig neue Wesen, als das du mir erschienst, wissen. Als du ins Zimmer tratest, sahst du schüchtern und selbstbewußt zugleich aus. Du warst einfach gekleidet — so wie du es jetzt noch bist. Ich brachte dich zum Sprechen, ich fand dich voller erstaunlicher Widersprüche. In deinem äußeren Wesen warst du zurückhaltend, und das entsprach wohl deiner Erziehung. Du erschienst von Natur aus feinfühlig und gewandt, aber völlig ungewohnt im gesellschaftlichen Umgang und ängstlich darauf bedacht, nichts Unpassendes zu sagen oder zu tun. Und doch, wenn man das Wort an dich richtete, erhobst du den Blick frei und ohne jede Scheu, und es war ein kluger und durchdringender Blick. Bedrängte man dich mit Fragen, so gabst du klare und sachliche Antworten. Bald schienst du dich an mich gewöhnt zu haben. Ich glaube, daß auch du jenes Gefühl empfandest, das zwischen dir und deinem kratzbürstigen Herren entstand, denn es war erstaunlich, wie schnell dein ganzes Verhalten sicherer und ruhiger wurde. War ich schroff und griesgrämig, so zeigtest du dich keinesfalls überrascht, verängstigt oder beleidigt, und du schienst an meinen schlechten Launen keinen Anstoß zu nehmen. Du beobachtetest mich und lächeltest mich so schelmisch weise an, daß ich zugleich zufrieden und angeregt war. Was ich sah, gefiel mir, und mehr wollte ich gar nicht sehen. Und dann mied ich dich eine Zeitlang und ließ dich nur selten kommen, denn ich wünschte, das Vergnügen an dieser Neuentdeckung soweit wie möglich zu verlängern, und außerdem quälte mich zuweilen die Befürchtung, daß diese Blume welken und brechen könne, wenn ich sie nicht behutsam behandelte — daß der Reiz der Frische verschwinden könne. Ich wußte ja damals noch nicht, daß diese Blüte nicht von vorübergehender Natur war, sondern eher der Dauerhaftigkeit eines Edelsteins glich, und dann wollte ich sehen, ob du mich suchen würdest, wenn ich dich mied; aber das tatest du nicht. Du bliebst ganz ruhig im Schlafzimmer, und wenn ich dir einmal zufällig begegnete, begrüßtest du mich mit einem kurzen respektvollen Kopfnicken. In jenen Tagen sahst du gedankenvoll aus — nicht etwa traurig, denn du warst nicht krank —, aber auch nicht freudig, denn du hattest wenig Hoffnung und kein Vergnügen. Ich fragte mich, was du von mir dächtest — oder ob du überhaupt an mich dächtest. Und um das herauszufinden, nahm ich unsere Unterhaltungen wieder auf. Dein Blick hatte etwas Aufleuchtendes, wenn wir miteinander plauderten. Ich sah, daß du deiner Natur nach gesellig warst und daß dein bisher so trauriges Leben dich bedrückte. Und dann war ich freundlicher zu dir, was wiederum zarte Töne in deiner Stimme erweckte. Ich liebte es, wenn du meinen Namen aussprachst, ich freute mich jedesmal, wenn wir uns zufällig begegneten, und damals bemerkte ich etwas seltsam Zögerndes in deinem Benehmen — als ob du dich fragtest wie meine Laune sein würde — ob ich den strengen Herrn oder den wohlwollenden Freund spielen würde. Aber inzwischen hatte ich dich zu lieb, um ersteres zu tun, und wenn ich dir die Hand entgegenstreckte, dann strahlte dein ganzes junges Wesen so viel Freude aus, daß ich mich sehr zurückhalten mußte, dich nicht gleich an mein Herz zu drücken.«

»Sprechen wir nicht mehr von jenen Tagen«, unterbrach ich ihn und wischte rasch ein paar Tränen fort. Solche Worte waren eine Folter für mich, denn ich wußte ja, was ich zu tun hatte — sehr bald zu tun hatte — und daß all diese süßen Regungen mein Vorhaben nur erschwerten.

»Nein, Jane«, erwiderte er. »Wozu in der Vergangenheit verweilen, wenn die Gegenwart soviel sicherer, die Zukunft soviel leuchtender ist?«

Ich erschauderte, als ich diese voreilige Feststellung hörte.

»Du siehst nun, wie die Dinge liegen, nicht wahr?« fuhr er fort. »Ich habe meine Jugend und meine ersten Mannesjahre in unsagbarer Trostlosigkeit und Einsamkeit vergeudet, und nun habe ich zum erstenmal das gefunden, was ich wirklich liebe — ich habe dich gefunden. Du bist mein Wunsch — mein besseres Ich — mein guter Engel. Dir fühle ich mich stark verbunden. Du bist gütig, begabt und schön für mich, und in meinem Herzen ist eine glühende und ernsthafte Leidenschaft entbrannt. Ich fühle mich in meinem ganzen Wesen zu dir hingezogen, und ich weiß, daß wir zusammengehören.

Und da ich das wußte und fühlte, wollte ich dich heiraten. Und wenn du mir jetzt sagst, daß ich bereits eine Frau habe, so empfinde ich das als Hohn. Denn du weißt ja, daß ich nur an eine abscheuliche Teufelin geraten war. Natürlich hätte ich dich nicht täuschen sollen, aber ich fürchtete den hartnäckigen Trotz, der dir eigen ist. Ich fürchtete, daß du dich von Vorurteilen leiten lassen würdest, und ich wollte mich deiner vergewissern und nichts durch unvorsichtige Enthüllungen riskieren. Ja, das war feige von mir. Ich hätte zuerst deinen Edelmut und deine Güte anrufen sollen, so wie ich es jetzt tue — dir von meinem entsetzlich trostlosen Leben erzählen — dir sagen, wie ich nach einer höheren und lohnenderen Existenz hungerte und dürstete — ich hätte dir zeigen sollen, daß ich dir in treuer und hingehender Liebe ergeben bin. Und dann hätte ich dich bitten sollen, meinen Treueschwur anzunehmen und mit deinen dafür zu geben.«

»Jane, gib ihn mir jetzt«, sagte er.

Ich erwiderte nichts.

»Warum schweigst du, Jane?«

Ich machte Höllenqualen durch. Eine eiserne Hand schien all meine Lebensfreude zu zerdrücken. Ach, welch ein schrecklicher Augenblick: Ich kämpfte mit mir, blickte der Finsternis entgegen und verbrannte innerlich. Kein Mensch auf Erden hätte sich eine bessere und schönere Liebe wünschen können als die, die mir zuteil wurde. Und der, der mich so liebte und den ich anbetete — ihn mußte ich zurückweisen, auf ihn mußte ich verzichten. Ein einziges verhaßtes Wort drückte meine unerträgliche Pflicht aus: Trennung.

»Jane, du verstehst doch, was ich von dir will? Nur dieses Versprechen: ›Ich werde Ihnen angehören, Herr Rochester.‹«

»Herr Rochester, ich werde Ihnen nicht angehören.«

Wiederum langes Schweigen.

»Jane!« begann er mit so sanfter Stimme, daß ich vor Kummer schier zerbrach und gleichzeitig in eisiger Angst erstarrte — denn hinter dieser ruhigen Stimme verbarg sich bereits die Grimmigkeit des Löwen — »Jane! Willst du damit sagen, daß sich unsere Wege hier trennen werden?«

»Ja.«

»Jane (er neigte sich zu mir und küßte mich), meinst du es jetzt immer noch?«

»Ja.«

»Und jetzt?« Er küßte mich auf Stirn und Wangen.

»Ja.« Ich löste mich schnell aus seiner Umarmung.

»O Jane, das ist bitter, das ist böse und unrecht. Es wäre doch kein Unrecht, mich zu lieben.«

»Aber es wäre unrecht, Ihnen zu gehören.«

Er sah mich wild und entgeistert an, aber noch war er beherrscht. Ich hielt mich an einem Stuhl fest, denn ich zitterte vor Kummer und Furcht — aber ich war entschlossen.

»Einen Augenblick, Jane. Bedenke, wie entsetzlich mein Leben sein wird, wenn du fort bist! Mit dir verschwindet an mein Glück. Was bleibt mir? Ach ja, jene Irrsinnige dort oben, die meine Ehefrau ist. Ebensogut wäre ich mit einer Leiche auf dem Kirchhof da unten verheiratet. Jane, was soll ich tun? Wo finde ich noch Hoffnung?«

»Tun Sie wie ich, vertrauen Sie auf Gott und sich selbst und glauben Sie an den Himmel, denn dort werden wir uns eines Tages wiederfinden.«

»Du willst also nicht nachgeben?«

»Nein.«

»Du verurteilst mich also dazu, elend zu leben und verdammt zu sterben?« Seine Stimme wurde laut.

»Ich rate Ihnen, ohne Sünde zu leben, und ich wünsche Ihnen, ruhig zu sterben.«

»Und so reißt du Liebe und Unschuld von mir fort? Du stößt mich in Verdorbenheit zurück — ins Laster und die Schande vielleicht.«

»Herr Rochester, ich füge Ihnen dieses Schicksal ebensowenig zu, wie ich es mir selbst auferlege. Wir sind zum Kämpfen und Ausharren geboren — Sie sowohl wie ich. Handeln Sie danach. Sie werden mich vergessen, bevor ich Sie vergesse.«

»Mit welchen Worten strafst du mich Lügen und kränkst meine Ehre! Ich sagte dir, daß meine Liebe unwandelbar ist, und du sagst mir ins Gesicht, ich würde dich bald vergessen! Welch ein Urteilsvermögen und welch verkehrte Gedanken drückt dein Betragen aus? Ist es denn besser, einen Menschen in Verzweiflung zu treiben, als ein nur von Menschen geschaffenes Gesetz zu übertreten und niemanden dabei zu schädigen? Denn du hast ja keine Verwandten oder Bekannten, deren Gefühle du durch ein Zusammenleben mit mir verletzen würdest.«

Das stimmte; und während er auf mich einredete, wurden mein Gewissen und mein Verstand zu Verrätern an meinem Entschluß, ließen es mich als ein Verbrechen empfinden, daß ich ihm nicht nachgebe. Ihre Stimmen wurden fast so laut wie die des Gefühls, das mir immer wieder heftig eingab: Gib nach! Denk an sein Elend, denk an seine Gefahr, denk an seine Einsamkeit, an die Unrast, der die Verzweiflung folgt; tröste ihn, fette ihn, liebe ihn, sag ihm, daß du ihn liebst und ihm gehörst. Denn wer auf der Welt kümmert sich schon um dich? Wen könnte es verletzen, wenn du es tätest?

Aber die Antwort war unerbittlich: Mich aber geht es an! Je einsamer, freundloser und schutzloser ich bin, desto mehr werde ich mich selbst achten. Ich werde mich an Gottes Gesetze halten, ich werde mich an die Grundsätze halten, die ich lernte, als ich noch bei Verstand war — und nicht im Wahn, wie ich es jetzt bin. Gesetz und Prinzipien sind nicht nur für jene Zeiten erschaffen, in denen es keine Versuchung gibt. Nein, sie sind eben für Augenblicke wie diesen da, wenn Körper und Seele gegen ihre Stimme aufbegehren. Ja, sie sind streng, und sie sollen geachtet werden. Was wären sie schon Wert, wenn ich sie um meiner eigenen Bequemlichkeit willen einfach umgehen könnte? Und sie haben einen Wert — und ich habe stets daran geglaubt. Und wenn ich jetzt nicht daran glauben will, so muß ich wahnsinnig sein — ja, ich bin wahnsinnig, das Blut kocht mir in den Adern, und das Herz pocht schneller und schneller. Vorgefaßte Meinungen, vorgefaßte Entschlüsse: Das ist alles, woran ich mich in dieser Stunde halten kann. Und auf sie will ich mich stützen.

Und das tat ich. Herr Rochester sah wohl, was in mir vorging. Seine Erregung war so groß, daß er sich einen Augenblick lang nicht beherrschen konnte. Er stürzte auf mich zu, ergriff meinen Arm und faßte mich um die Taille; er schien mich mit seinen flammenden Blicken zu verschlingen. Ich fühlte mich ihm gegenüber körperlich machtlos, aber nicht geistig: denn ich hatte meine Seele und mit ihr die Gewißheit, daß mir nichts geschehen konnte. Glücklicherweise hat die Seele ein Fenster, durch das sie ihren Ausdruck zu erkennen geben kann: das Auge. Ich blickte ihn an, und wie ich ihm in sein wilderregtes Gesicht schaute, entrang sich mir ein Seufzer, denn sein Griff war schmerzhaft, und die Kräfte schwanden mir.

Zähneknirschend sagte er: »Hat es je etwas so Zerbrechliches und zugleich so Unbeugsames gegeben? Sie ist wie ein Hahn in meiner Hand.« (Er schüttelte mich.) »Ich könnte sie mit meinem Zeigefinger zu Boden biegen, aber was wäre damit erreicht? Ich könnte sie biegen oder brechen. Schaut euch diesen Blick an, schaut euch an, was dahintersteckt: diese wild entschlossene, freie Seele, die mir mit unglaublichem Mut, ja triumphierend trotzt. Ihren Körper könnte ich zerbrechen, aber zu ihr gelange ich nicht — zu ihr, diesem herrlichen Wesen. Gewiß, die Hülle könnte ich erobern und beherrschen, ehe ich sie zu besitzen glaube. Denn sie sind es: die Seele und der Geist, der Wille und die tugendhafte Reinheit, die ich will, und nicht nur die zerbrechliche körperliche Hülle. Ach, Jane!«

Mit diesen Worten löste er seinen Griff und schaute mich an. Und diesem Blick zu widerstehen war schwerer als alles andere. Doch nur ein Schwachsinniger hätte jetzt nachgegeben. Ich hatte seiner Wut getrotzt, jetzt mußte ich auch mit seinem Kummer fertig werden. Ich ging zur Tür.

»Gehst du fort, Jane?«

»Ja.«

»Du willst mich also verlassen?«

»Ja.«

»Und du willst nicht mit mir kommen? Du willst nicht meine Trösterin und Helferin sein? Meine Liebe, meine Bitten und meine Verzweiflung bedeuten dir gar nichts?«

Seine Stimme klang unglaublich traurig, und es fiel mir sehr schwer, die harten Worte zu wiederholen:

»Ich gehe.«

»Jane!«

»Herr Rochester!«

»Dann geh — ich lasse dich gehen; aber vergiß nicht, daß du mich hier in Qualen zurückläßt. Geh hinauf in dein Zimmer, bedenke, was ich dir gesagt habe; und, Jane, denke daran, wie ich leide — denk an mich!«

Er wandte sich ab, und dann warf er sich auf das Sofa und schluchzte: »Ach Jane! Meine Hoffnung, meine Liebe, mein Leben!«

Ich stand schon an der Tür. Aber, lieber Leser, ich ging zu ihm zurück — ging zu ihm so entschlossen zurück, wie ich zur Tür gegangen war, ich kniete mich neben ihm nieder, hob sein Gesicht zu mir, küßte seine Wangen und streichelte sein Haar.

»Gott segne Sie, mein geliebter Herr! Gott beschütze Sie vor allem Übel und Unrecht — er führe Sie und tröste Sie — er belohne Sie für die Güte, die Sie mir gezeigt haben.«

»Die schönste Belohnung wäre die Liebe meiner kleinen Jane gewesen«, antwortete er; »ohne sie ist mein Herz gebrochen. Aber Jane wird mich lieben, ja, sie wird mir ihre edelmütige, großmütige Liebe schenken.«

Das Blut schoß ihm ins Gesicht, seine Augen glühten, und er sprang auf. Er wollte mich umarmen, aber ich wich ihm aus und rannte aus dem Zimmer.

»Leb wohl!« rief ihm mein Herz zu, als ich ihn verließ. Und die Verzweiflung fügte hinzu: »Für immer: Lebe wohl.«

* * *

In jener Nacht glaubte ich, keinen Schlaf finden zu können, aber kaum hatte ich mich niedergelegt, da verfiel ich in tiefen Schlummer. Meine träumenden Gedanken brachten mir Szenen meiner Kindheit in Erinnerung: Ich träumte, daß ich im roten Zimmer in Gateshead lag. Die Nacht war schwarz und ich ängstigte mich. Der Lichtschein, der mich vor vielen Jahren so wahnsinnig erschreckt hatte, erschien mir wieder, schimmerte an der Wand und hielt mitten auf der Zimmerdecke inne. Ich erhob den Blick. Die Zimmerdecke wurde zu einem hohen und finsteren Wolkenhimmel, und der Schimmer glich jetzt dem des Mondes, wenn er sich hinter dicken Wolken verbirgt.

Ich sah den Mond — blickte ihm bangend entgegen, als wenn er nur ein Wort der Verdammnis brächte. Und dann brach er durch die Wolken — nein, jetzt war es nicht mehr der Mond, es war eine Hand, die die Wolken beiseite schob, und dann erschien eine weiße Gestalt, die mich vom Himmel alls anblickte und zu meinem Geiste sprach. Die Stimme kam aus weiter Ferne, und doch war es, als flüsterte sie mir ins Ohr:

»Meine Tochter, fliehe der Versuchung!«

»Ja, Mutter.«

Mit diesen Worten erwachte ich aus meinem Traum. Es war noch finstere Nacht, aber die Julinächte sind kurz. Schon bald nach Mitternacht begann die Morgendämmerung. Da dachte ich: Es ist nicht zu früh, mein Vorhaben auszuführen.

Ich erhob mich. Ich war angekleidet, denn ich hatte nur die Schuhe ausgezogen. Ich wußte, wo ich in der Schublade etwas Wäsche und ein paar notwendige Gegenstände finden konnte. Während ich nach ihnen kramte, fand ich eine Perlenkette, die Herr Rochester mir vor ein paar Tagen als Geschenk aufgezwungen hatte. Ich ließ sie liegen, denn sie gehörte mir nicht. Sie gehörte jener Traumbraut, die sich in Luft aufgelöst hatte. Ich schnürte die anderen Dinge in ein Bündel, steckte meine Börse, die 20 Schilling (meine ganze Barschaft) enthielt, in die Tasche, nahm einen Strohhut, legte mir den Schal um, nahm meine Schuhe, die ich jetzt noch nicht anziehen wollte, in die Hand und schlich mich aus dem Zimmer.

»Leb wohl, liebe Frau Fairfax«, flüsterte ich, als ich an ihrer Tür vorbeiging. »Leb wohl, liebe kleine Adèle«, sagte ich mit einem letzten Blick auf das Kinderzimmer. Es war nicht daran zu denken, ihr noch einen Lebewohlkuß zu geben, denn ich mußte sehr behutsam sein. Vielleicht hörte man mich schon jetzt.

Ich wollte schnell an Herrn Rochesters Zimmer vorbeigehen, aber als ich vor seiner Tür war, setzte mein Herz aus, und ich mußte stehenbleiben. Er schlief nicht. Ich hörte ihn ruhelos hin und her gehen, und ich hörte ihn seufzen. Ach, in diesem Zimmer hätte ich den Himmel gefunden — wenigstens einen zeitweiligen Himmel, wenn ich mich jetzt anders entschied. Ich brauchte nur hineinzugehen und zu sagen:

»Herr Rochester, ich will Sie lieben und mit Ihnen leben, bis der Tod uns scheidet.« Bei diesem Gedanken schauderte ich vor Wonne und Traurigkeit zugleich.

Mein geliebter Herr, der jetzt keinen Schlaf fand, wartete ungeduldig auf den Tag. Er würde mich am Morgen rufen lassen; dann aber war ich schon fort. Er würde mich suchen — doch vergebens. Er würde sich verlassen und verstoßen fühlen, leiden und vielleicht verzweifeln. Ach, das war zu bedenken. Meine Hand streckte sich schon zu Türklinke aus. Dann zog ich sie zurück und schlich mich fort.

Traurig ging ich die Treppe hinunter. Ich wußte, was ich zu tun hatte, und tat es automatisch. Ich nahm den Schlüssel zur Seitentür der Küche, holte mir etwas Öl und eine Feder, ölte den Schlüssel und das Schloß. Dann trank ich etwas Wasser und aß ein Stück Brot, denn ein langer Weg stand mir bevor, und ich brauchte alle meine Kraft, um durchzuhalten. Ich bewegte mich geräuschlos, öffnete die Tür, trat hinaus und verschloß sie leise. Auf dem Hof graute der Morgen. Das große Tor war verschlossen und verriegelt, aber eine kleine Nebentür war nur angelehnt. Durch sie ging ich hinaus, schloß sie hinter mir — und jetzt hatte ich Thornfield verlassen.

Eine Meile entfernt war die Straße, die von Millcote wegführte. Ich hatte sie bisher noch nie benützt, aber oft bemerkt und mich immer gefragt, wo sie wohl hinführe. In diese Richtung lenkte ich meine Schritte. Jetzt gab es keine Überlegungen mehr. Kein wehmütiges Zurückblicken — ja nicht einmal ein Vorausblicken. Ich durfte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denken, das erstere war so himmlisch süß und so unendlich traurig, daß ein Gedanke an sie mir allen Mut nehmen und mich meiner Kräfte berauben würde. Und letztere war eine entsetzliche Leere. Sie glich der Welt am Tag der Sintflut.

Ich ging durch Felder und Wege, und ich glaube, es war ein schöner Sommermorgen. Meine Schuhe, in die ich geschlüpft war, nachdem ich das Haus verlassen hatte, wurden maß vom Tau. Aber ich sah weder die aufgehende Sonne noch den lächelnden Himmel, noch die erwachende Natur. Wer durch die lieblichste Landschaft zum Schafott schreitet, sieht ja auch nicht die Blumen auf dem Felde, sondern nur den Richtblock und die Axt; er sieht den kommenden Tod und sein offenes Grab vor sich. Und ich sah nur trostlose Flucht und heimatloses Wandern vor mir — und immer wieder zwangen sich mir die Gedanken an das, was ich verlassen hatte, auf. Ich konnte mich ihrer nicht wehren. Ich sah ihn vor mir, in seinem Zimmer, wie er die aufgehende Sonne betrachtete und hoffte, daß ich bald käme, um ihm zu sagen, daß ich bei ihm bleiben würde. Ach, wie ich mich danach sehnte, ihm zu gehören! Wie gerne wäre ich zurückgekehrt. Es war ja noch nicht zu spät. Noch konnte ich ihm den bitteren Schmerz des Verlassenseins ersparen. Bis jetzt hatte gewiß noch niemand meine Flucht entdeckt. Noch konnte ich zurückkehren und ihm Trösterin sein, ihn von all seinem Elend befreien, ja ihn vielleicht vor einer Katastrophe retten. Ach, wie sehr ich mich um ihn ängstigte, wie verlassen er jetzt war — das war viel schlimmer als meine eigene Verlassenheit. Es stach mir gleichsam ein Pfeil ins Herz, und es schmerzte noch mehr, als ich diesen Pfeil herausziehen wollte. Es war mir, als bohrte sich der Pfeil immer tiefer ein. Die Vögel begannen zu singen und zu zwitschern; die Vögel waren fröhlich beisammen in ihren Nestern. Vögel sind Sinnbilder der Liebe. Und was war ich? Wie ich mich blutenden Herzens bemühte, meine Prinzipien und Anstandsbegriffe aufrechtzuerhalten, hatte ich plötzlich Abscheu vor mir selbst. Welchen Trost brachte mir schon meine Selbstgerechtigkeit und meine Selbstachtung? Ich hatte meinen Herren verletzt — verwundet — und verlassen. Ich haßte mich dafür. Und doch konnte ich mich nicht umwenden, konnte keinen Schritt zurück tun. Gott muß mich geführt haben. Denn mein eigener Wille und mein Gewissen waren von meinem schweren Kummer niedergetreten. Ich weinte heftig, als ich meines einsamen Weges ging. Und ich ging schneller und schneller, als triebe mich ein Wahn. Und dann spürte ich eine Schwäche, die aus meinem Inneren kam und sich meinen Gliedern mitteilte, und ich stürzte zu Boden Dort lag ich einige Minuten lang und preßte mein Gesicht auf die nasse Erde. Ich fürchtete und hoffte zugleich, daß ich sterben würde. Aber bald war ich wieder auf, kroch zuerst auf Händen und Knien, kam wieder auf die Füße und ging der Straße zu.

Als ich sie erreicht hatte, mußte ich mich einen Augenblick an den Straßenrand setzen, und wie ich mich ausruhte, hörte ich plötzlich das Rollen von Rädern und sah eine Kutsche auf mich zukommen. Ich erhob mich und winkte. Sie hielt an. Ich fragte den Kutscher, wohin er führe, und er nannte einen Ort, der weit entfernt lag und wohin Herr Rochester bestimmt keine Verbindung hatte. Ich fragte ihn, was mich diese Reise kosten würde, und er sagte: Dreißig Schilling. Ich antwortete, ich hätte nur zwanzig, und er meinte, dann sollten es eben zwanzig sein. Er erlaubte mir sogar, im Innern der Kutsche zu sitzen, denn der Wagen war leer. Ich stieg ein, setzte mich, und wir fuhren davon.

Lieber Leser, ich wünsche dir nicht, daß du jemals das fühlen mußt, was ich damals empfand. Mögen deine Augen nie so schmerzende, stürmische, herzzerreißende Tränen vergießen wie damals meine. Mögen deine Lippen nie so hoffnungslose und verzweifelte Gebete zum Himmel schicken, und mögest du nie, wie ich, dir vorzuwerfen haben, daß du vom Schicksal ausersehen warst, die Geißel dessen zu sein, den du von Herzen liebst.

28

Zwei Tage vergingen.

Es ist ein Sommerabend. Der Kutscher hat mich an einem Ort namens Whitcross abgesetzt. Weiter konnte er mich für mein weniges Geld nicht fahren. Und nun besaß ich nicht einen einzigen Schilling. Die Kutsche ist sicher schon eine Meile fort, und ich bin allein. In diesem Augenblick fällt mir ein, daß ich vergessen hatte, mein Bündel aus der Kutsche zu nehmen. Nun ist es fort, und ich besitze überhaupt nichts mehr.

Whitcross ist keine Stadt, nicht einmal ein Dorf. Es ist nur ein steinerner Wegweiser an einer Straßenkreuzung. Er ist weiß gewaschen, wahrscheinlich, damit man ihn besser aus der Ferne und in der Dunkelheit erkennt. Vier Schilder sind auf ihm angebracht; ihnen entnahm ich, daß die nächste Stadt Zehn Meilen von hier entfernt ist und die weiteste über zwanzig. Aus den mir bekannten Städtenamen erfahre ich erst, wo ich angekommen bin. Es ist eine Grafschaft im nördlichen Mittelland Heide, Moor und Hügel. Überall erstreckt sich das Moor, und ganz hinten am Ende des breiten Tales, in dem ich bin, erheben sich die Hügelzüge. Die Gegend hier ist sicher dünn bevölkert, und auf den Straßen ist keine Menschenseele zu sehen. Die Straßen gehen nach Osten, Westen, Norden und Süden — es sind breite und weiße Straßen, sie sind einsam und leer, und sie laufen durch das Moor, und überall an ihrem Rand wächst Heidekraut. Und doch könnte ja zufällig ein Wanderer vorbeikommen. Aber ich möchte in meinem jetzigen Zustand lieber nicht gesehen werden. Außerdem würde sich ein Fremder wohl fragen, was ich hier ganz allein an diesem Wegweiser suche, denn ich sah sicher verirrt und verloren aus. Dann würde man mir Fragen stellen, auf die ich nicht antworten konnte, und das würde wiederum noch mehr Unglauben und Verdacht erregen. Nein, im Augenblick bin ich durch nichts mit der Gesellschaft der Menschen verbunden — nichts zieht mich zu meinen Mitmenschen hin — und niemand, der mich jetzt sehen würde, hätte einen lieben Gedanken oder einen guten Wunsch für mich. Ich habe keinen Verwandten außer der Natur, der wir alle gehören. Ihr will ich mich zuwenden, und bei ihr will ich Trost suchen.

Ich ging quer durch die Heide. Ich folgte einer Spur, die über den braunen Moorboden führte. Zuweilen watete ich bis zu den Knien im struppigen Heidekraut. Nach einigem Wandern kam ich an einen moosbewachsenen Granitfels, in dessen Schatten ich mich setzte. Er stand mitten im Moor. Es verging einige Zeit, bis ich mich etwas ruhiger fühlte. Ich hatte eine vage Befürchtung, daß vielleicht ein wilder Bulle in der Gegend weidte oder daß ein Jäger oder Wilderer mich hier entdecken könnte. Bei jedem Windhauch blickte ich auf und fürchtete, den Bullen auf mich zustürzen zu sehen. Wenn ein Vogel zwitscherte, glaubte ich, es sei ein Mann. Aber allmählich merkte ich, daß meine Befürchtungen unbegründet waren, und es gelang mir, mich zu beruhigen. Inzwischen war es Abend geworden. Bisher hatte ich noch nicht nachgedacht. Ich hatte nur gelauscht, gewacht, gefürchtet, und erst jetzt konnte ich wieder einen Gedanken fassen.

Was sollte ich tun? Wohin sollte ich gehen? Ach, das waren unerträgliche Fragen, denn ich konnte ja nichts tun und konnte nirgendwo hingehen — und doch hatte ich einen langen, langen Weg vor mir, bevor ich wieder ein menschliches Wesen erblickte — und ich mußte mich ja auf die kalte Barmherzigkeit der Menschen verlassen, um wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. Und ich mußte ja jemanden belästigen und würde mich wahrscheinlich demütigen müssen, bevor ich meine Geschichte erzählen oder irgend etwas sagen konnte, um wenigstens um das Allernotwendigste bitten zu können.

Ich berührte den Heideboden, er war trocken und warm von der Hitze des Sommertages. Ich schaute zum Himmel hinauf Er war klar, und ein Stern flimmerte über der Hügelkette. Der Abendtau fiel, aber er war mild und spärlich, und kein Windhauch regte sich. Die Natur schien mir wohlzuwollen. Ich glaubte schon, sie möge mich Ausgestoßene, und da ich voll den Menschen ja nur Mißtrauen, Argwohn, Verstoßung und Schimpf erwarten konnte, suchte ich kindlichen Trost bei ihr. Wenigstens für heute nacht war ich ihr Gast, und ich fühlte mich auch ganz als ihr Kind, denn als meine Mutter würde Sie mich ja auch ohne Geld und ohne Habe aufnehmen. Ich hatte noch ein Stückchen Brot, es war der Rest eines Brötchens, das ich mir um die Mittagszeit in einer Stadt, durch die wir fuhren, für meinen letzten Penny gekauft hatte. Ich sah hie und da reife Heidelbeeren, pflückte mir eine Handvoll und aß sie mit dem Brot. Mein Hunger, der mir stark zugesetzt hatte, war zwar nicht gestillt, aber dieses Eremitenmahl hatte ihn gemildert. Ich sprach mein Abendgebet und bereitete mir ein Lager.

Die Heide neben dem Fels wurde hoch. Wenn ich mich hinlegte, verschwanden meine Füße in ihr, das Kraut erhob sich zu beiden Seiten und ließ wenig Nachtluft zu mir herein. Ich nahm meinen Schal und bedeckte mich damit und bettete meinen Kopf ins weiche Moos. So war ich zumindest zu Beginn der Nacht vor Kälte geschützt.

Die Ruhe hätte mir auch wohlgetan, aber mein gebrochenes Herz ließ es nicht zu. Es blutete aus allen Wunden und zitterte für Herrn Rochester und sein Unheil; es betrauerte ihn mit bitterem Mitleid; es sehnte sich nach ihm in unendlichem Verlangen, und es fühlte sich so ohnmächtig wie ein Vogel, dem die Flügel gebrochen sind und der vergeblich fortzuflattern versucht.

Diese Qualen bedrängten mich so, daß ich mich niederkniete. Die Nacht war eingebrochen, und die Sterne standen am Himmel. Es war eine ruhige, stille Nacht, sie schien mir zu still für meine Angst. Wir wissen, daß Gott überall ist, aber wir spüren seine Gegenwart besonders dort, wo sich sein Werk am großartigsten vor uns offenbart, und das war hier, unter dem wolkenlosen, nächtlichen Sternenhimmel. Hier nahm seine Welt ihren lautlosen Lauf, hier offenbarte er sich in seiner Unendlichkeit, seiner Allmacht und seiner Allgegenwärtigkeit. So kniete ich mich vor ihn und betete für Herrn Rochester. Ich blickte zum Himmel und sah die Milchstraße vor mir. Und dann dachte ich an die unendlich vielen planetaren Systeme, die dort oben in einem milden Lichtscheine schwebten, und dieser Gedanke gab mir Zuversicht in die Allmacht Gottes. Wie sollte er nicht retten können, was er selbst geschaffen hatte. Ich überzeugte mich, daß so, wie die Erde nicht verdirbt, auch keine Seele von ihm vergessen wird. So fügte ich meinen Bitten ein Dankgebet hinzu. Denn die Quelle des Lebens war ja auch die Rettung der Seelen, und Herr Rochester mußte in Gottes Hut sein. Wieder legte ich mich nieder, und bald befreite mich Schlaf von meinen kummervollen Gedanken.

Aber am nächsten Tag stand die Not bleich und nackt wieder vor mir. Die Vögel hatten schon längst ihre Nester verlassen und sich auf Futtersuche begeben, die Bienen waren ausgeflogen, um Honig zu sammeln, die langen Morgenschatten verkürzten sich, und die Sonne erfüllte Himmel und Erde mit ihrer strahlenden Wärme. Ich stand auf und blickte mich um.

Welch ein ruhiger, warmer und herrlicher Tag! Dieses weite Moor glich einer goldenen Wüste. Alles lag in Sonnenlicht gebadet. Ich wünschte mir, hier und so zu leben. Ich sah eine Eidechse über den Felsen huschen, ich sah eine Biene bei den Heidelbeeren emsig fliegen. Wie gerne wäre ich in diesem Augenblick eine Biene oder eine Eidechse gewesen, denn sie fanden hier Nahrung und Unterschlupf! Aber ich war ein armes menschliches Wesen, und meine Bedürfnisse waren von menschlicher Art. Hier konnte ich nicht bleiben, denn hier konnte ich nicht leben. So erhob ich mich und blickte noch einmal auf mein Nachtlager. Die Zukunft erschien mir ohne Hoffnung, und ich wünschte mir nur eines — daß mein Schöpfer meine Seele zu sich rufen möge, während ich schlief, und daß meine arme Hülle endlich von ihren Schicksalsschlägen befreit in dieser Wildnis ihren Frieden fände. Aber nein, ich besaß ja noch mein Leben mit all seinen Bedürfnissen, Schmerzen und Verantwortlichkeiten. Die Bürde war mir auferlegt. Ich mußte weiterwandern.

Ich kehrte wieder nach Whitcross zurück und ging von dort aus so weiter, daß ich die Sonne im Rücken hatte. Ich ging eine lange Zeit, bis ich ziemlich erschöpft war und mich auf einen Stein am Wege setzte. Dann hörte ich plötzlich eine Kirchenglocke.

Ich wandte mich in die Richtung, aus der der Glockenton kam, und da sah ich zwischen den harmonischen Hügeln ein Dorf mit einem Kirchturm. Das ganze Tal rechter Hand war bedeckt mit Wiesen, Feldern und Wald, und ein in der Sonne glitzernder Fluß bahnte sich seinen Weg durch das Grün, das leuchtende Gelb der Kornfelder und die dunkleren Töne des Waldlandes. Jetzt hörte ich Räderrollen und sah einen schwer beladenen Wagen den Hügel hinanfahren, und nicht weit dahinter kamen zwei Kühe. Hier lebten also Menschen. So ging ich weiter in ihre Richtung.

Es war etwa zwei Uhr nachmittags, als ich ins Dorf kam. Am Ende einer seiner Straßen war ein kleiner Laden, in dessen Fenster einige Brotlaibe auslagen. Wie sehnte ich mich nach etwas Brot! Mit dieser Nahrung konnte ich vielleicht wieder zu einiger Lebenskraft kommen, und ohne sie wußte ich nicht, wie ich weiterkommen sollte. Der Wunsch nach Lebenskraft war zurückgekehrt, sowie ich wieder unter Menschen war. Und dann empfand ich es als demütigend, auf einer Dorfstraße vor Hunger ohnmächtig zusammenzusinken. Hatte ich denn nichts, das ich für ein Brötchen hätte hingehen können? Ich überlegte. Ich hatte ein kleines seidenes Halstuch, ich hatte meine Handschuhe. Aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie bettelarme Menschen sich benehmen sollten. Ich wußte nicht, ob man mir diese Dinge überhaupt abnehmen würde. Wahrscheinlich nicht; aber ich mußte es versuchen.

Ich betrat den Laden, und eine Frau kam mir entgegen. Sie hielt mich meiner Kleidung wegen für eine Dame und war höflich. Sie fragte mich, was ich wünsche. Da schämte ich mich, und die Zunge weigerte sich, die Bitte anszusprechen, die ich mir draußen vorberener hatte. Wie sollte ich ihr meine abgetragenen Handschuhe oder mein zerknülltes Seidentuch anbieten? Außerdem wäre es töricht gewesen. Als ich nur um Erlaubnis bat, mich einen Augenblick hinsetzen zu dürfen, da ich müde sei, war sie sichtlich enttäuscht, da ich nun doch nicht die Kundin war, die sie erwartete; doch sie bot mir einen Stuhl an. Ich setzte mich und fühlte die Tränen in mir aufsteigen; aber das konnte ich hier nicht zulassen, und so beherrschte ich mich. Ich fragte, ob es im Dorf eine Schneiderin oder Näherin gebe.

»Ja, Zwei oder drei. Gerade soviel, wie wir hier brauchen.«

Ich überlegte. Jetzt war ich an dem Punkt angelangt, wo ich der Notwendigkeit, ja der Not direkt gegenüberstand. Hier stand ich ohne Geld, ohne Freunde und ohne irgendein Hilfsmittel. Ich mußte etwas tun. Aber was? Ich mußte mich um irgend etwas bemühen. Aber wie?

Ich fragte sie, ob sie irgend jemand in der Nachbarschaft kenne, der eine Magd brauche.

Das wisse sie nicht, das könne sie mir nicht sagen.

»Was ist denn das Hauptgewerbe in diesem Ort? Was tun hier die meisten Leute?«

Einige seien Landarbeiter und viele arbeiteten in Herrn Olivers Nadelfabrik oder in der Gießerei.

»Beschäftigt Herr Oliver auch Frauen?«

»Nein, das ist Männerarbeit.«

»Und was tun die Frauen?«

»Das weiß ich nicht. Die einen tun dies, die andern das. Arme Leute tun halt, was sie können.«

Sie schien meiner Fragerei überdrüssig zu sein; und welches Recht hatte ich, sie zu belästigen? Dann kamen Leute in den Laden, und ich verabschiedete mich.

Ich ging die Straße hinauf und schaute mir die Häuser rechts und links an, aber ich fand keinen Vorwand und keine Gelegenheit, an irgendeiner Tür anzuklopfen. So ging ich im Dorf umher, entfernte mich von ihm und ging wieder zurück. Ich war sehr müde, und jetzt quälte mich der Hunger. Ich schlug einen kleinen Heckenweg ein und setzte mich. Einige Minuten verstrichen; dann war ich wieder auf den Beinen und suchte irgend etwas, wenigstens eine Auskunft. Oben auf dem Hügel stand ein hübsches kleines Haus mit einem Garten davor. Ich hielt vor ihm an. Mit welchem Recht ging ich an die weiße Tür und betätigte den blankgeputzten Türklopfer? Wie sollte ich die Bewohner dieses Hauses dazu bewegen, etwas für mich zu tun? Aber irgendwie fand ich den Mut und klopfte. Eine freundliche junge Frau öffnete die Tür. Ich fragte sie mit schmachvoll zitternder Stimme, ob sie hier eine Magd brauche

»Nein«, sagte sie, »Wir halten keine Dienstboten.«

»Können Sie mir sagen, wo ich hier Arbeit finden könnte? Ich bin fremd und auf der Arbeitssuche. Ich nehme jede Arbeit an.«

Aber es war ja nicht ihre Sache, für mich noch zu denken oder mir eine Stelle zu suchen, und außerdem muß ich ihr mit meiner Erzählung und meinem Gebaren als eine höchst zweifelhafte Person erschienen sein. Sie schüttelte den Kopf und sagte, sie bedaure, mir keine Auskunft geben zu können. Die weiße Tür schloß sich vor mir. Die Frau war freundlich und höflich gewesen, aber nun war die Tür zu, und ich war ausgeschlossen. Hätte sie sie nur ein wenig länger offengehalten, so hätte ich sie um ein Stück Brot angebettelt. So tief war ich schon gesunken.

Sollte ich in das Dorf zurückkehren, wo mir ebenfalls keinerlei Hilfe winkte? Lieber wäre ich in den Wald gegangen, den ich nicht fern vom Dorf sah und der mir wenigstens ein schützendes Dach zu bieten schien. Aber ich war so krank, so schwach, so erschöpft, daß ich instinktiv dort blieb, wo ich eine Hoffnung auf etwas Nahrung hatte. Denn die Einsamkeit wäre keine Einsamkeit und die Ruhe keine Ruhe gewesen, solange der Hunger mich quälte. Ich ging zu den Häusern, verließ sie, kehrte zu ihnen zurück, ging wieder fort, und immer wieder war ich mir bewußt, daß ich ja kein Recht hatte zu bitten, kein Recht zu erwarten, daß man an meinem Schicksal Anteil nahm. Inzwischen verging der Nachmittag, während ich wie ein verlorener und verhungernder Hund in den Dorfstraßen umherstreunte. Ich ging über ein Feld und sah den Kirchturm vor mir. Eilig schritt ich auf ihn zu. Am Rand des Kirchhof, und inmitten eines Gartens stand ein hübsches kleines Haus, das zweifellos die Pfarrei Sein mußte. Ich erinnerte mich, daß Fremde, die irgendwo ankommen, wo sie keine Freunde haben, und die nach einer Arbeit suchen, sich manchmal an den Ortspfarrer um Hilfe wenden. Denn es gehört ja zu den Pflichten des Pfarrers, denen, die sich selbst zu helfen wünschen, wenigstens mit Rat beizustehen. Ich meinte, daß ich hier wenigstens um einen Rat bitten dürfte. So nahm ich all meinen Mut zusammen, raffte meine letzten Kräfte auf, trat vor das Haus und klopfte an die Küchentür. Eine alte Frau öffnete mir. Ich fragte, ob dies die Pfarrei sei.

»Ja.«

»Ist der Pfarrer da?«

»Nein.«

»Kommt er bald zurück?«

»Nein; er ist fortgefahren.«

»Weit?«

»Nicht sehr weit— vielleicht drei Meilen. Er mußte zu seinem Vater, der plötzlich gestorben ist. Und nun ist er wohl in Marsh End. Vor vierzehn Tagen wird er kaum zurück sein.«

»Gibt es eine Pfarrfrau im Hause?«

»Nein; nur ich bin im Haus, und ich bin die Haushälterin.«

Das war es. Hier konnte ich also auch nichts ausrichten, und diese alte Frau anzubetteln, brachte ich nicht übers Herz. So machte ich mich auf den Weg. Wieder dachte ich an mein Halstuch, und wieder dachte ich an die Brote in dem kleinen Laden.

Ach, wenn ich nur die Kruste hätte! Nur einen Bissen, um den quälenden Hunger etwas zu stillen! Ich ging wie automatisch ins Dorf zurück, fand den Laden und trat ein, und obgleich noch andere Menschen da waren, fragte ich die Frau, ob sie mir für dieses Halstuch ein Brot geben würde.

Sie sah mich mißtrauisch an. Dann sagte sie: »Nein, auf diese Weise verkaufe ich nichts.«

Fast verzweifelt bat ich wenigstens um ein halbes Brot. Sie weigerte sich. »Wie soll ich denn wissen, wo Sie das Halstuch herhaben?«

»Dann nehmen Sie doch meine Handschuhe.«

»Nein; was soll ich mit Ihren Handschuhen?«

Lieber Leser, es ist gewiß kein Vergnügen, diese beschämenden Einzelheiten zu erzählen. Manche Leute behaupten, es bereite Vergnügen, an schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit zurückzudenken, aber mir ist noch heute der Gedanke an diese Ereignisse unerträglich. Die moralische Demütigung und die physische Qual sind wirklich nicht etwas, an das man sich gerne zurückerinnert. Ich verurteile die Menschen nicht, die mich damals zurückstießen. Das war ja zu erwarten, und es mußte wohl so sein. Gewöhnlich mißtraut man ja einem Bettler, und wie sollte man da einer verhältnismäßig gut angezogenen Bettlerin nicht ganz besonders mißtrauen? Gewiß, ich bettelte ja nur um Arbeit; aber wer war schon verpflichtet, mir Arbeit zu geben? Man sah mich ja hier zum erstenmal und wußte überhaupt nichts von mir, meiner Ehrlichkeit oder meinem Charakter. Und was die Frau anbetrifft, die sich weigerte, mein Halstuch gegen ein Brot einzutauschen, so hatte sie ja recht, denn es war kein gutes Geschäft für sie. Laß mich schneller zum Schluß kommen, lieber Leser. Das Thema widert mich an. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kam ich an einem Bauernhaus vorbei. Der Bauer saß vor seiner offenen Tür und aß Brot und Käse. Ich blieb stehen und sagte: »Würden Sie mir ein Stückchen Brot geben? Denn ich bin sehr hungrig.«

Er maß mich mit einem erstaunten Blick, aber dann schnitt er ein dickes Stück von seinem Brotlaib ab und gab es mir, ohne ein Wort zu sagen. Ich nahm an, er hielt mich nicht einmal für eine Bettlerin, sondern für eine überspannte Dame, die plötzlich Lust auf Schwarzbrot hatte. Sowie ich außer Sicht war, setzte ich mich nieder und aß.

Es gab keine Hoffnung für mich, in einem Hause aufgenommen zu werden, und so ging ich in den Wald. Aber es wurde eine schlimme Nacht. Ich fand keine Ruhe, der Boden war feucht und die Luft war kalt. Außerdem hörte ich mehrere Male, wie Menschen sich in meiner Nähe bewegten, und dann stand ich auf und suchte mir ein anderes Plätzchen, aber nirgends fühlte ich mich sicher. Am Morgen begann es zu regnen, und das dauerte den ganzen folgenden Tag über an. Frage mich nicht, was ich an diesem Tag tat, lieber Leser, denn wie am vorigen suchte ich Arbeit und fand keine. Wie am Vortag quälte mich der Hunger, aber einmal bekam ich doch etwas zu essen. Vor einem Haus sah ich ein kleines Mädchen, das dabei war, kalten Haferbrei in den Schweinetrog zu schütten.

»Kannst du mir das geben?« fragte ich.

Sie starrte mich an, und dann rief sie: »Mutter! Da ist eine Frau, die will, daß ich ihr diesen Haferbrei gebe.«

»Gut, Kind«, antwortete eine Stimme von drinnen: »Gib ihn ihr nur, wenn sie darum bettelt! Das Schwein braucht es ja nicht.«

Das Kind leerte den steif gewordenen kalten Brei in meine Hände, und ich verschlang ihn gierig.

Die Luft war feucht, und es dunkelte. Ich war seit einer Stunde gewandert und blieb nun auf einem einsamen Pfad stehen.

Ich sprach zu mir selbst: »Die Kräfte schwinden mir. Viel weiter kann ich nicht gehen. Soll ich diese Nacht wieder ohne Obdach sein? Muß ich mich in diesem Regen auf den Waldboden betten? Ich fürchte, es geht nicht anders; denn wer wird mich schon aufnehmen? Aber es wird wieder eine entsetzliche Nacht sein: Der Hunger plagt mich, ich fühle mich schwach und frierend und vor allem so einsam — so einsam und hoffnungslos. Wahrscheinlich werde ich noch vor dem Morgen sterben. Und warum schicke ich mich nicht in den Tod? Warum kämpfe ich noch um ein so wertloses Leben? Nur weil ich weiß oder glaube, daß Herr Rochester lebt; und außerdem ist der Tod durch Hunger und Kälte ein Schicksal, das man nicht einfach passiv hinnimmt. Oh, Vorsehung, gib mir noch etwas Zeit! Schicksal, hilf mir!«

Mein Blick wanderte über die neblige Landschaft. Ich sah, daß ich mich weit vom Dorf entfernt hatte, denn es war schon meinen Blicken entschwunden. Hier gab es nicht einmal mehr Felder; ich war wieder ins Moorland gelangt. Hie und da sah man noch ein paar winzige Felder, die auf diesem unfruchtbaren Heideboden recht ärmlich und verwildert aussahen.

Ich überlegte: Lieber wollte ich hier sterben als in einer Dorfstraße. Und es war immerhin besser, wenn Krähen und Raben mir das Fleisch von den Knochen rissen, als in einem ärmlichen Sarg zu liegen und im Armengrab zu verfaulen.

Ich wandte mich dem Hügel zu und stieg hinan. Jetzt brauchte ich nur noch eine Grube zu finden, in die ich mich hinlegen, mich verbergen und mir ein wenig Sicherheit suchen konnte. Aber weit und breit war keine Vertiefung im Boden zu sehen. Überall war grüne oder schwarze Moorerde. Es wurde immer dunkler, aber ich konnte noch die verschiedenen Farbtöne der Landschaft erkennen.

So stand ich im Moor und blickte unentschlossen in alle Richtungen, als in weiter Ferne plötzlich ein Licht aufleuchtete. Das muß ein Irrlicht sein, war mein erster Gedanke, und ich erwartete, es verlöschen zu sehen. Es leuchtete aber weiter fort und schien sich nicht zu bewegen. Da fragte ich mich, ob das vielleicht ein Heidebrand sein könne, der irgendwie plötzlich entstanden war. Ich beobachtete, ob er sich ausbreitete, aber das Licht blieb unverändert. So muß es eine Kerze in einem Hause sein, überlegte ich weiter; aber ist das der Fall, so könnte ich ohnehin nicht bis zum Haus gelangen. Es ist viel zu weit entfernt, und selbst wenn es ganz in der Nähe wäre, was würde es mir schon nutzen? Ich würde an die Türe klopfen, und man würde mich nicht einlassen.

Ich sank nieder, wo ich stand, und barg mein Gesicht in den Erdboden. So lag ich eine Weile. Der Nachtwind wehte über den Hügel und über mich und erstarb in der Ferne. Der Regen fiel und durchnäßte mich bis auf die Haut. Wäre ich da erfroren, hätte mich der Tod eingeschläfert, so hätte ich es nicht gespüft Aber mein schwacher Körper kämpfte, und ich erhob mich.

Das Licht war immer noch da. Jetzt leuchtete es durch die Regennacht. Ich versuchte weiterzugeben, schleppte mich erschöpft und langsam dem Haus entgegen. Mein Weg führte mich über den Hügel und auf einem Pfad, der im Winter gewiß nicht passierbar war, denn auch jetzt, mitten im Sommer, war der Boden glitschig. Ich fiel zweimal zu Boden, aber ich raffte mich wieder auf. Dieses Licht war meine einzige Hoffnung. Zu ihm mußte ich gelangen. Nachdem ich durch den Sumpf gekommen war, sah ich auf dem Moor eine weiße Spur, die direkt zu dem Licht führte. Es war eine Straße oder ein Weg. Aber als ich näher kam, war mein Leitstern plötzlich verschwunden. Irgendein Hindernis mußte mir die Sicht verborgen haben. Ich streckte die Hand aus, weil ich annahm, vor einem Felsen zu stehen, und ich entdeckte die rauhen Steine einer niedrigen Mauer und dahinter eine stachelige Hecke. Ich ging weiter. Jetzt leuchtete wieder etwas Weißes vor mir. Es war die Pforte, und sie öffnete sich, als ich sie aufstieß. Auf beiden Seiten dieser Tür standen Stechpalmenbüsche.

Jetzt war ich im Garten und sah die Silhouette eines Hauses. Es sah schwarz, niedrig und ziemlich lang aus, aber das Licht leuchtete nirgends. Alles war in Dunkel gehüllt. Waren die Hausbewohner schlafen gegangen? Ich befürchtete es. Ich suchte nach einer Tür und ging um das Haus herum, und da sah ich das freundliche Leuchten wieder. Es kam aus einem kleinen Fenster fast zu ebener Erde, das noch kleiner wirkte, weil dichter Efeu es umrankte. Die Fensteröffnung war so geschützt und schmal, daß es scheinbar unnötig war, es mit Vorhängen oder Fensterläden vor der Außenwelt zu verschließen, und als ich mich bückte und das Blattwerk ein wenig beiseite schob konnte ich hineinsehen. Ich erblickte ein sauberes Zimmer; dessen Boden mit Sand bestreut war; ich sah einen Nußbaumschrank und eine Reihe von Zinntellern, in denen sich die Röte eines Kaminfeuers spiegelte. Ich sah eine Wanduhr, einen weißgedeckten Tisch und einige Stühle. Die Kerze, deren Licht mich bis hierher geleitet hatte, brannte auf dem Tisch, und an dem Tisch saß eine ältere, etwas bäurische, aber sehr sauber aussehende Frau und strickte einen Strumpf. Ich schaute mir das alles ziemlich gleichgültig an, denn der Anblick war ja nichts Außergewöhnliches. Und dann sah ich etwas Interessanteres: Am Kamin saßen zwei liebliche junge Damen — es waren gewiß Damen — die eine in einem niedrigen Schaukelstuhl und die andere auf einem Schemel. Beide waren in Schwarz gekleidet und offenbar in Trauer. Ein großer Hund hatte seinen Kopf auf das Knie eines der Mädchen gelegt, und die andere hielt eine schwarze Katze auf ihrem Schoß.

Welch ein seltsamer Ort war diese bescheidene Küche für solche Bewohner! Wer waren sie? Gewiß waren es nicht die Töchter der alten Frau am Tisch, denn die sah wie eine Bäuerin aus, während die Mädchen mit ihren zarten Zügen eher den höheren Ständen anzugehören schienen. Diese Gesichter hatte ich noch nie gesehen, und doch schienen sie mir vertraut. Ich kann sie nicht gerade hübsch nennen — dazu waren sie zu bleich und ernsthaft; und jetzt, da sie sich beide über ein Buch beugten, wirkten sie fast streng in ihrer gedankenvollen Haltung. Zwischen ihnen war ein Tischchen mit einer zweiten Kerze, auf dem zwei große Bücher lagen, in denen sie oft nachschlugen. Sie verglichen etwas mit den kleineren Büchern, die sie in Händen hielten, so wie man ein Wörterbuch benützt, wenn man etwas übersetzt. Das alles spielte sich in einer solchen Stille ab, daß man hätte meinen können, die Gestalten seien die Figuren eines Gemäldes. Die einzigen Geräusche, die ich vernahm, waren das Knistern des Kaminfeuers und das Ticken der Wanduhr, und ich bildete mir sogar ein, das Klappern der Stricknadeln bei der alten Frau zu hören. Schließlich brach eine Stimme die seltsame Stille, und ich vernahm: »Höre nur, Diana«, sagte eines der beiden Mädchen. »Franz und der alte Daniel sitzen eines Nachts beisammen, und Franz erzählt einen Traum, aus dem er erschreckt erwacht ist. Höre zu!« Und mit leiser Stimme las sie dann etwas vor, von dem ich kein Wort verstand, denn es war in einer mir unbekannten Sprache geschrieben — und zwar weder in französisch noch lateinisch. Vielleicht war es Griechisch oder Deutsch? Ich wußte es nicht.

»Das ist kraftvoll«, sagte sie, als sie zu Ende war. »Das ist herrlich.« Das andere Mädchen, das ihrer Schwester zugehört hatte, wiederholte nun eine Zeile des Gelesenen und starrte dabei ins Feuer. Erst viel später lernte ich die Sprache und das Buch kennen, und deshalb will ich diese Zeile zitieren. Als ich sie zuerst hörte, vernahm ich nur den seltsamen Klang einer seltsamen Sprache, die mir nichts bedeutete: »Da trat einer hervor, anzusehen wie die Sternennacht …Herrlich! Herrlich!« rief sie, und ihr Blick flammte auf. »Da siehst du doch tatsächlich einen Erzengel vor dir stehen! Diese Zeile wiegt hundert Seiten unserer schwulstigen Literatur auf : Ich wäge die Gedanken in der Schale meines Zorns und die Werke mit dem Gewicht meines Grimms! Das gefällt mir.«

Beide schwiegen wieder.

»Gibt es denn ein Land, wo man so spricht?« fragte die alte Frau und blickte von ihrer Strickarbeit auf.

»Ja, Hannah — und dieses Land ist viel größer als England, und dort sprechen sie nichts anderes.«

»Na, das ist aber komisch! Da fragt man sich doch, wie die Leute sich untereinander verständigen können. Wenn eine von Ihnen dorthin reisen würde, könnte sie dann verstehen, was die Leute reden?«

»Wahrscheinlich würden wir etwas verstehen, vielleicht nicht alles — denn so klug, wie du glaubst, Hannah, sind wir wiederum auch nicht. Wir können nicht Deutsch sprechen, und wir können es nur mit Hilfe eines Wörterbuches lesen.«

»Und wozu soll das gut sein?«

»Wir wollen später einmal in dieser Sprache unterrichten oder wenigstens, wie man sagt, Elementarunterricht erteilen; denn damit würden wir etwas mehr Geld verdienen als jetzt.«

»Gut und schön. Aber jetzt habt ihr genug studiert! Für heute abend reicht es.«

»Das glaube ich auch. Ich wenigstens bin müde. Mary, bist du auch müde?«

»Todmüde. Es war ja auch eine harte Arbeit, sich mit einer Sprache herumzuschlagen und mit einem Wörterbuch als einzigem Hilfsmittel.«

»Das ist wahr. Besonders mit einer so komplizierten schwierigen Sprache wie der deutschen. Ich frage mich, wann St. John nach Hause kommen wird.«

»Er wird gewiß bald hier sein. Es ist gerade zehn Uhr (sie schaute auf eine kleine goldene Uhr, die sie aus ihrem Gürtel gezogen hatte). Es regnet in Strömen; Hannah, willst du so gut sein und nach dem Feuer im Wohnzimmer sehen?«

Die alte Frau stand auf, öffnete eine Tür, durch die ich einen Gang erkannte, und bald hörte ich, wie sie irgendwo drinnen ein Feuer schürte. Dann kam sie zurück.

»Ach, Kinder«, sagte sie. »Ich mag gar nicht in das Zimmer dort gehen. Es sieht dort so einsam aus, wenn ich auf den leeren Stuhl in der Ecke schaue.«

Sie wischte sich die Tränen mit ihrer Schürze ab, und die beiden Mädchen, die vorher ernsthaft ausgesehen hatten, waren nun traurig.

»Aber er ist an einem besseren Ort«, fuhr Hannah fort. »Wir dürfen uns ihn nicht zurückwünschen. Und dann hatte er ja einen so stillen Tod, wie ihn sich niemand hätte stiller wünschen können.«

»Und du sagst, er habe uns gar nicht einmal erwähnt?« fragte eine der jungen Damen.

»Er hatte ja gar keine Zeit dazu, mein Engel. Er war ja im Nu weg, dein Vater. Am Tag vorher ging es ihm nicht sehr gut, ab er das bedeutete ja nichts, und als Herr St. John fragte, ob er Sie holen solle, lachte er ihn nur aus. Am nächsten Tag fühlte er sich ein wenig schwer im Kopf, und dann legte er sich schlafen und wachte nicht mehr auf. ja, er war schon tot, als euer Bruder in das Zimmer trat und ihn dort fand. Ach, Kinder, er war der letzte Mensch vom alten Schlag, denn ihr beide und Herr St. John seid schon von anderer Art. Das ist nun alles vorüber. Eure Mutter war schon viel mehr wie ihr, und sie hatte gewiß ebensoviel Bücher gelesen. Mary, du siehst ihr aufs Haar ähnlich. Diana schlägt eher nach ihrem Vater.«

Ich fand die beiden Schwestern so ähnlich, daß ich die Unterschiede, von denen die alte Dienerin (denn es mußte die Dienerin sein) sprach, nicht zu erkennen vermochte. Beide hatten einen hellen Teint, waren schlank, sahen vornehm und intelligent aus. Gewiß, die eine hatte etwas dunklere Haare als die andere, und die Frisuren waren etwas verschieden. Marys hellbraune Locken waren im Scheitel gekämmt, und Dianas dunkle Zöpfe waren in ihrem Nacken zu einem Dutt geflochten.

Die Wanduhr schlug zehn.

»Ihr wollt jetzt sicher essen«, sagte Hannah; »und Herr St. John wird hungrig sein, wenn er heimkommt.«

Und sie machte sich daran, das Essen zuzubereiten. Die Damen erhoben sich und schienen sich in das Wohnzimmer zurückziehen zu wollen. Bis zu diesem Augenblick war ich so damit beschäftigt, sie zu beobachten, hatte ich mit solchem Interesse Ihrem Gespräch gelauscht, daß ich darüber fast meine eigene verzweifelte Lage vergessen hatte. Aber nun kam sie mir wieder zum Bewußtsein. Und der Gegensatz zwischen mir und denen dort drin ließ mir meine eigene Lage nur noch verzweifelter erscheinen. Wie sollte ich die Bewohner dieses Hauses dazu bringen, sich mit meinem Leiden zu befassen? Wie konnte ich erwarten, daß sie meine Klagen wirklich glaubten; wie konnte ich sie dazu überreden, mir ein Obdach und etwas Nahrung zu geben. Als ich an die Tür klopfte, tat ich es zögernd, denn das Ganze schien nur wie ein Traum zu sein. Hannah öffnete. »Was wollen Sie?« fragte sie überrascht und betrachtete mich im Schein ihrer Kerze.

»Kann ich mit Ihrer Herrin sprechen?« sagte ich.

»Sagen sie mir lieber, was Sie zu sagen haben. Wo kommen Sie denn her?«

»Ich bin eine Fremde.«

»Und was haben Sie zu dieser Stunde hier zu schaffen?«

»Ich suche ein Obdach für die Nacht, und sei es auch in Ihrer Scheune oder in Ihrem Stall, und ein Stückchen Brot.«

Argwohn, wie ich es gedacht hatte, machte sich in Hannahs Gesicht bemerkbar. »Ein Stückchen Brot kann ich Ihnen geben«, sagte sie nach einer Weile. »Aber wir können eine Landstreicherin nicht ins Haus lassen. Das geht einfach nicht.«

»Dann lassen Sie mich bitte mit Ihrer Herrin reden.«

»Nein, das werde ich nicht tun. Was könnte sie für Sie tun? Sie sollten sich nachts nicht so herumtreiben. Das sieht nicht gut aus.«

»Aber wo soll ich denn hin, wenn Sie mich fortweisen? Was soll ich denn tun?«

»Ach, Sie werden schon wissen, wohin Sie gehen können und was Sie tun sollen. Passen Sie nur auf, daß Sie nichts Unrechtes tun. Das ist alles. Hier haben Sie einen Penny. Gehen Sie jetzt.«

»Mit diesem Penny kann ich mich nicht ernähren, und ich habe einfach nicht die Kraft weiterzugeben. Verschließen Sie mir nicht die Tür, o Gott, bitte nicht!«

»Ich muß; es regnet ins Haus herein.«

»Reden Sie doch mit den jungen Damen. Lassen Sie mich zu ihnen sprechen.«

»Nein, das werde ich nicht tun. Mit Ihnen ist etwas nicht in Ordnung; sonst würden Sie nicht solchen Lärm machen. Gehen Sie schon.«

»Aber ich muß sterben, wenn Sie mich abweisen.«

»Nicht Sie. Ich fürchte eher, daß Sie etwas Böses im Schilde führen, da Sie sich so spät nachts um anderer Leute Häuser schleichen. Und sollten Sie Kemplicen haben wie Einbrecher oder Diebe, dann können Sie ihnen sagen, daß wir nicht allein im Hause sind. Wir haben auch einen Herrn und Hunde und Gewehre.«

Mit diesen Worten schlug die ehrliche, aber unbeugsame Dienerin die Türe zu und verriegelte sie von innen.

Ein umagbarer Schmerz — der Schmerz der Verzweiflung — stach mir ins Herz. Ich war erschöpft, und ich konnte keinen Schritt weitergehen. Ich sank auf die feuchte Türschwelle, stöhnte, rang die Hände und weinte bittere Tränen. Ach, das Gespenst des Todes! Ach, jetzt war die letzte Stunde da, und sie kam zu so schrecklicher Zeit! Ich war so einsam und von all meinen Mitmenschen verstoßen! Nicht nur die Hoffnung, sondern auch aller Mut war verschwunden — wenigstens für den Augenblick. Denn der Mut kehrte bald wieder zurück.

»Aber ich kann sterben«, sagte ich; »und ich glaube an Gott. Ich werde mich still seinem Willen fügen.«

Diese Worte dachte ich nicht nur, ich sprach sie aus, und mit all meinem Elend im Herzen bemühte ich mich, mich still und ergeben in mein Schicksal zu fügen.

»Alle Menschen müssen sterben«, sagte eine Stimme ganz nah bei mir; »aber nicht alle sind dazu verurteilt, so frühzeitig zu scheiden, wie Sie es tun müssen, wenn Sie hier vor Not vergehen.«

Wer oder was spricht da zu mir? fragte ich erschreckt über diese unerwartete Stimme. Ich war nicht einmal fähig, aus ihrer Gegenwart irgendeine Hoffnung auf Hilfe zu schöpfen. Eine Gestalt stand neben mir, aber die Nacht war schwarz, und ich konnte nicht erkennen, wer oder was es war. Jetzt klopfte der Neuangekommene stark an die Tür.

»Sind Sie das, Herr St. John?« rief Hannah.

»Ja, ja. Öffnen Sie schnell.«

»Ach, Sie müssen maß und durchfroren sein, welch scheußliche Nacht! Kommen Sie herein. Ihre Schwestern machen sich schon Sorgen um Sie, und ich glaube, daß böse Menschen um das Haus streunen. Da war so eine Bettlerin hier — sie ist tatsächlich noch da! Da liegt sie ja. Stehen Sie auf! Schämen Sie sich! Los, raus mit Ihnen!«

»Still, Hannah. Ich will mit dieser Frau ein Wort reden. Sie haben Ihre Pflicht getan, als Sie sie nicht hereinließen. Nun will ich meine Pflicht tun und ihr Obdach gewähren. Ich war in der Nähe und habe eurem Gespräch zugehört, und ich glaube, daß es sich hier um einen besonderen Fall handelt. Wenigstens muß ich die Sache näher untersuchen. Junge Frau, stehen Sie auf und treten Sie vor mir in das Haus.«

Es fiel mir schwer, mich zu erheben. Und nun stand ich in der hellen sauberen Küche vor dem Kaminfeuer, fühlte mich krank und schwach, zitterte und war mir meines sicher abstoßenden, verwilderten Anblicks bewußt. Die beiden jungen Damen, ihr Bruder, Herr St. John, und die alte Dienerin starrten mich an.

»St. John, wer ist das?« fragte die eine.

»Ich weiß es nicht. Ich fand sie an der Tür«, war die Antwort.

»Sie sieht ganz bleich aus«, sagte Hannah.

»So weiß wie Gips oder wie der Tod«, sagte jemand. »Sie kann ja kaum stehen. Gib ihr einen Stuhl.«

Und wirklich schwanden mir die Sinne, und ich sank zu Boden; aber man half mir auf einen Stuhl. Ich erlangte mein Bewußtsein wieder, fühlte mich aber zu schwach, um zu sprechen.

»Vielleicht bräuchte sie ein wenig Wasser. Hannah, geben Sie ihr Wasser. Aber sie ist ja ganz abgemagert. Wie dünn und blutleer sie aussieht.«

»Wie ein Gespenst.«

»Ist sie krank oder verhungert?«

»Eher verhungert. Hannah, ist das Milch? Reichen Sie mir den Topf und ein Stück Brot.«

Diana (ich erkannte sie an ihren langen Locken, als sie sich über mich beugte) brach ein Stück Brot, tauchte es in die Milch und führte es an meine Lippen. Jetzt war ihr Gesicht dem meinen ganz nah, und ich sah, daß sie Mitleid hatte und daß sie sich um mich Sorgen machte. Und auch ihre einfachen Worte waren wie Balsam für mein wundes Herz: »Versuchen Sie zu essen.«

»Ja — versuchen Sie«, wiederholte Mary, und sie nahm mir die durchnäßte Mütze vom Kopf. Ich kostete die gebotene Speise erst zögernd, und dann aß ich gierig.

»Nicht so viel auf einmal — das wird ihr nicht guttun«, sagte der Bruder. »Sie hat zunächst einmal genug.«

Und er nahm den Milchtopf und das Brot wieder fort.

»Nur noch ein bißchen St. John — schau doch, wie hungrig sie aussieht.«

»Nein, Schwester. Für den Augenblick ist es genug. Laß uns sehen, ob sie jetzt sprechen kann — frage sie nach ihrem Namen.«

jetzt konnte ich wieder sprechen und antwortete: »Mein Name ist Jane Elliott.«

Ich wollte nicht entdeckt werden und hatte deshalb beschlossen, meinen wahren Namen nicht zu nennen.

»Und wo leben Sie? Wo sind Ihre Freunde?«

Ich schwieg.

»Können wir irgend jemand holen lassen, den Sie kennen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was können Sie über sich sagen?«

Irgendwie fühlte ich mich jetzt nicht mehr als eine Ausgestoßene, nun, da ich die Schwelle dieses Hauses überschritten hatte ünd seinen Bewohnern gegenüberstand. Ich war jetzt keine Bettlerin mehr und konnte wieder ich selbst sein; und als Herr St. John mich fragte, was ich über mich zu sagen hatte, antwortete ich nach kurzem Überlegen:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber heute kann ich Ihnen keine Einzelheiten erzählen.«

»Aber was erwarten Sie denn von mir?« fragte er.

»Nichts«, erwiderte ich. Ich hatte nicht die Kraft für lange Antworten. Diana ergriff das Wort:

»Wollen Sie damit sagen, daß wir mit dem, was wir Ihnen gaben, Ihre Wünsche erfüllt haben? Und daß wir Sie jetzt wieder in das Moor und die regnerische Nacht hinausschicken sollen?«

Ich schaute sie an und fand, daß sie eine bemerkenwerte Haltung hatte, die Kraft und Güte ausströmte. Das gab mir plötzlichen Mut. Ich antwortete ihrem besorgten Blick mit einem Lächeln und sagte: »Ich will Ihnen vertrauen. Wäre ich ein herumirrender, herrenloser Hund, so wüßte ich, daß Sie mir für die Nacht Ihr Dach nicht verwehren würden. Aber so wie die Dinge stehen, fürchte ich nichts. Tun Sie, was und wie Sie wollen und entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht viel mehr sagen kann, denn der Atem geht mir aus — alles verkrampft sich in mir, wenn ich spreche.«

Die drei starrten mich an und schwiegen eine Weile. Schließlich sagte Herr St. John:

»Hannah, lassen Sie sie hier sitzen und stellen Sie ihr keine Fragen. In etwa zehn Minuten geben Sie ihr den Rest des Brotes und die Milch. Mary und Diana, gehen wir ins Wohnzimmer und besprechen wir die Angelegenheit!«

Sie zogen sich zurück. Bald kam eine der Damen wieder — ich konnte nicht sagen, welche von beiden es war. Ich verfiel in eine Art von glücklichem Halbschlaf, als ich am warmen Feuer saß. Ich hörte, wie sie flüsternd Hannah einige Anweisungen erteilte, und bald darauf stieg ich mit der Hilfe der alten Dienerin eine Treppe hinauf, man nahm mir meine nassen Kleider ab und legte mich in ein warmes, trockenes Bett. Ich dankte Gott und schlief ein.

29

Die Erinnerung an die folgenden drei Tage und Nächte ist recht verschwommen. Was ich damals fühlte, dachte oder tat, weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß, daß ich in einem kleinen Zimmer in einem engen Bett lag. Ich schien an dieses Bett angewachsen zu sein. Und lag bewegungslos da wie ein Stein. Hätte man mich aus diesem Bett gerissen, so wäre ich darüber gestorben. Ich hatte kein Gefühl der Zeit, wußte nicht, wann es Morgen, Mittag oder Abend war. Ich hörte nur, wenn jemand ins Zimmer oder ins Haus trat, und ich konnte sogar sagen, wer es war. Ich verstand die Worte, wenn der Sprechende ganz in meiner Nähe stand, aber ich konnte nichts erwidern, denn es war mir unmöglich, meine Lippen oder Glieder zu bewegen. Die Dienerin Hannah war mein häufigster Besucher, und irgendwie störte mich ihre Anwesenheit, denn ich hatte das Gefühl‘ daß sie mich fortwünschte, da sie kein Verständnis für meine Lage hatte, und daß sie mir gegenüber voreingenommen war. Diana und Mary kamen ein- bis zweimal am Tag ins Zimmer; dann flüsterten sie etwa folgende Sätze:

»Wir haben gut daran getan, sie aufzunehmen.«

»Ja, sonst hätten wir sie bestimmt am nächsten Morgen tot vor der Haustür gefunden. Sie hätte die Nacht nicht überlebt. Ich frage mich, was sie durchgemacht hat.«

»Ich denke, sie hat ein hartes Schicksal gehabt — die arme, magere, bleiche Wanderin.«

»Nach ihrer Redeweise ist sie meiner Meinung nach gebildet. Sie sprach akzentlos, und ihre Kleidung war zwar beschmutzt und naß, aber nicht abgetragen, und aus feinem Stoff.«

»Sie hat ein merkwürdiges Gesicht, und obgleich sie jetzt bleich und müde ist, gefällt es mir. Ich könnte mir vorstellen, daß sie bei guter Gesundheit recht angenehm aussieht.«

In keinem ihrer Gespräche hörte ich auch nur eine Silbe des Bedauerns, mir Gastfreundschaft gewährt zu haben, oder des Verdachtes oder der Abneigung gegen mich. Das tröstete mich.

Herr St. John kam nur einmal. Er schaute mich an und sagte, mein lethargischer Zustand sei die Folge großer Müdigkeit und Erschöpfung. Er meinte, man brauche keinen Arzt zu holen, denn die Natur würde sich schon selbst helfen. Er sagte, daß alle meine Nerven irgendwie überspannt seien und daß das ganze System jetzt Ruhe brauchte, denn krank sei ich nicht. Er glaubte, ich würde sehr schnell genesen. Er sagte das in wenigen Worten und mit ruhiger leiser Stimme, und nachdem er mich eine Weile betrachtet hatte, fügte er hinzu: »Kein gewöhnliches Gesicht. Nicht im geringsten vulgär oder verderbt.«

»Ganz im Gegenteil«, fiel Diana ein. »Um dir die Wahrheit zu sagen, St. John, habe ich diese arme Seele schon recht in mein Herz geschlossen. Es wäre schön, wenn wir sie für immer bei uns behalten könnten.«

»Das wird kaum gehen«, war die Antwort. »Du wirst sehen, daß diese junge Dame wahrscheinlich das Opfer eines Mißverständnisses war und die Ihren unüberlegt verlassen hat. Vielleicht wird es uns gelingen, sie wieder nach Hause zurückzubringen, wenn sie nicht zu starrköpfig ist. Ich sehe allerdings einige starke Züge in ihrem Gesicht, die mich an ihrer Fügsamkeit zweifeln lassen.« Er betrachtete mich noch eine Weile und sagte dann: »Sie sieht empfindsam aus, aber sie ist durchaus nicht hübsch.«

»Aber St. John, sie ist doch krank!«

»Krank oder gesund — sie wird immer unscheinbar sein. Ihrem Gesicht fehlt es an der Anmut und Harmonie der Schönheit.«

Am dritten Tag ging es mir besser, am vierten konnte ich reden, mich bewegen, mich im Bett aufsetzen und umdrehen. Hannah hatte mir etwas Brei und geröstetes Brot gebracht, und es mußte Abendessenszeit sein. Ich hatte mit Vergnügen gegessen, das Essen hatte mir geschmeckt — denn jetzt hatte es nicht mehr jenen giftigen Geschmack, den ich in meinem Fieber bei jedem Bissen zu verspüren vermeinte. Als sie aus dem Zimmer trat, fühlte ich mich verhältnismäßig bei Kräften, und bald hatte ich genug vom Ausruhen und spürte neuen Tatendrang. Ich wollte aufstehen, aber was sollte ich anziehen? Ich hatte ja nur mein durchnäßtes und verschmutztes Kleid, in dem ich auf dem Erdboden geschlafen hatte und in den Sumpf gefallen war, und ich hätte mich geschämt, in dieser Kleidung vor meinen Wohltätern zu erscheinen. Aber diese Demütigung blieb mir erspart.

Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen alle meine Sachen, und sie waren sauber und trocken. Mein schwarzes Seidenkleid hing an der Wand, die Spuren des Sumpfes waren entfernt, und die nassen Flecken waren verschwunden. Es sah jetzt wieder ganz ordentlich aus. Meine Schuhe waren geputzt und meine Strümpfe gewaschen. Im Zimmer gab es eine Waschgelegenheit und man hatte mir auch Kamm und Bürste hingelegt. Nach einer mühseligen Prozedur — alle fünf Minuten mußte ich mich ausruhen — war ich endlich fertig angekleidet. Die Kleidung hing locker an mir, denn ich war recht abgemagert, aber ich glich diese Unvollkommenheit mit dem Schal aus. Jetzt war ich wieder sauber und konnte mich sehen lassen. Der Schmutz und die Unordnung, die ich so haßte und die mir das entsetzliche Gefühl des Heruntergekommenseins gegeben hatten, waren verschwunden. Ich ging langsam die Steintreppe hinunter, hielt mich am Geländer fest und gelangte schließlich in die Küche.

Der Duft frisch gebackenen Brotes und die Wärme eines prasselnden Feuers empfingen mich. Hannah backte. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Vorurteile am schwersten bei den Menschen auszumerzen sind, die keine Erziehung genossen haben, denn bei ihnen wachsen und gedeihen sie wie Unkraut zwischen den Steinen. Hannah war mir gegenüber zuerst kalt und abweisend gewesen, später war sie ein wenig duldsamer, und als sie mich jetzt ordentlich und gut gekleidet eintreten sah, lächelte sie sogar.

»Was? Sie sind ja aufgestanden«, sagte sie. »Dann geht es Ihnen also besser. Setzen Sie sich nur auf meinen Stuhl am Kamin.«

Sie deutete auf den Schaukelstuhl, und ich setzte mich. Sie ging weiter ihrer Arbeit nach und warf mir von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick zu. Als sie ein paar Brote aus dem Ofen nahm, wandte sie sich mir zu und fragte plötzlich:

»Haben Sie schon je zuvor gebettelt, ehe Sie hierher kamen?«

Im ersten Augenblick war ich wütend; aber dann bedachte ich, daß Wut hier nicht am Platze war, denn schließlich hatte ich mich ihr als Bettlerin vorgestellt. So antwortete ich ruhig, aber fest:

»Sie sind im Irrtum, wenn Sie mich für eine Bettlerin halten. Ich bin keine Bettlerin. Ich bin es ebensowenig wie Sie oder die jungen Damen.«

Nach einer Weile sagte sie: »Das verstehe ich nicht. Sie haben doch kein Haus und kein Geld?«

»Auch ohne Haus und Geld bin ich noch lange keine Bettlerin, oder wenigstens nicht in dem Sinne, den Sie diesem Wort geben.«

»Haben Sie Bücher studiert?« fragte sie uhvermittelt.

»Ja, sehr viele sogar.«

»Aber in einem Pensionat waren Sie doch sicher nicht?«

»Ich habe acht Jahre in einem Pensionat verbracht.«

Sie riß die Augen weit auf : »Und warum können Sie dann nicht für sich selbst sorgen?«

»Das habe ich bis jetzt getan, und ich werde es auch wieder tun. Was haben Sie mit diesen Stachelbeeren vor?« fragte ich, als sie einen Korb davon hereinbrachte.

»Ich muß sie säubern, um eine Torte mit ihnen zu backen.«

»Geben Sie sie mir, ich werde das tun.«

»Nein, das kann ich Sie nicht tun lassen.«

»Aber ich muß doch etwas tun. Lassen Sie mich es machen.«

Sie willigte ein und brachte mir sogar ein sauberes Handtuch, das ich mir auf den Schoß legen sollte, um mein Kleid nicht zu beschmutzen.

»Sie sind an Küchenarbeiten nicht gewöhnt, das sehe ich an Ihren Händen«, sagte sie. »Waren Sie Schneiderin?«

»Nein, das war ich nicht. Und was ich war, das tut jetzt auch nichts zur Sache. Zerbrechen Sie sich nur nicht darüber den Kopf und sagen Sie mir lieber, wie dieses Haus hier heißt.«

»Manche nennen es Marsh End und andere Moor House.«

»Und der Herr, der hier lebt, heißt St. John?«

»Nein, der lebt hier nicht, er ist nur auf Besuch. Zu Hause ist er im Pfarrhaus zu Morton.«

»Ist das jenes Dorf, das ein paar Meilen von hier entfernt liegt?«

»Ja.« »Und was tut er dort?«

»Er ist Pfarrer.«

Jetzt erinnerte ich mich an die alte Haushälterin im Pfarrhaus, die mir geantwortet hatte, als ich den Pfarrer zu sprechen wünschte.

»Und in diesem Haus hat also sein Vater gelebt?«

»So ist es. Der alte Herr Rivers lebte hier, und sein Vater und Großvater und Urgroßvater auch.«

»Dann heißt der Herr also St. John Rivers?«

»Genau so. St. John ist sein Taufname.«

»Und seine Schwestern heißen Diana und Mary Rivers?«

»Ja.«

»Und der Vater ist gestorben?«

»Er starb vor drei Wochen am Schlag.«

»Und sie haben keine Mutter?«

»Sie ist schon lange tot.«

»Leben Sie schon lange bei der Familie?«

»Seit dreißig Jahren. Ich habe die drei Kinder aufgezogen.«

»Das beweist wohl, daß Sie eine ehrliche und treue Dienerin waren. Das muß ich Ihnen schon lassen. Obgleich ich es nicht gerade höflich von Ihnen fand, daß Sie mich eine Bettlerin nannten.«

Sie starrte mich überrascht an. Dann sagte sie: »Ich glaube, da habe ich mich sehr geirrt. Es tut mir leid. Aber heutzutage laufen so viele Betrüger herum. Da müssen Sie mich schon entschuldigen.«

»Und obgleich«, fuhr ich in recht strengem Ton fort, »Sie mich von der Tür wiesen in einer Nacht, in der man nicht einmal einen Hund draußen läßt.«

»Ja, das war hart von mir. Aber was sollte ich tun? Ich dachte ja eher an die Kinder als an mich selbst. Die armen Dinger! Sie haben ja niemanden, der für sie sorgt. Vielleicht scheine ich deshalb so hart.«

Ich schwieg eine Weile. Dann sagte sie:

»Sie müssen nicht schlecht von mir denken.«

»Aber ich muß Ihnen schon einen Vorwurf machen«, sagte ich. »Und ich sag Ihnen auch, warum: Es ist nicht nur, weil Sie mir kein Obdach gewähren wollten oder mich als Schwindlerin betrachteten — Sie haben mir auch vorgeworfen, ich hätte weder Geld noch ein Heim. Wissen Sie denn nicht, daß manche der besten Menschen ebenso arm sind wie ich? Und wie können Sie als Christin die Armut als ein Verbrechen betrachten?«

»Das hatte ich eben nicht bedacht«, sagte sie. »Herr St. John hat es mir auch schon gesagt, und ich sehe ein, daß es Unrecht von mir war — aber jetzt denke ich ganz anders über Sie als damals. Und außerdem sehen Sie jetzt ja wirklich wie ein gute und feine Person aus.«

»Schon gut — ich hab’s Ihnen verziehen. Geben Sie mir die Hand.«

Sie reichte mir ihre harte, mit Mehl bestäubte Hand, und ein herzliches Lächeln erleuchtete ihr runzliges Gesicht. Von diesem Augenblick an waren wir Freunde.

Hannah war äußerst gesprächig. Während ich die Stachelbeeren zubereitete und sie den Tortenboden knetete, erzählte sie mir manche Geschichte über ihren verstorbenen Herrn, die Herrin und die Kinder, wie sie die jungen Leute immer noch nannte.

So erzählte sie, der alte Herr Rivers sei ein sehr vornehmer Mann gewesen, und er stamme aus einer der ältesten Familien. Marsh End habe den Rivers seit Urzeiten gehört, und das Haus sei über zweihundert Jahre alt. Es sei zwar ein kleines, bescheidenes Haus und ließe sich nicht mit dem Herrenhaus der Olivers in Morton Vale vergleichen. Aber sie könne sich noch gut daran erinnern, daß Bill Olivers Vater ein Handelsreisender gewesen sei, bevor er seine Nadelfabrik hatte, und daß die Rivers schon damals zur besten Gesellschaft zählten. Allerdings sei der alte Herr ganz wie andere Leute gewesen und habe sich niemals groß getan. Er sei gern auf die Jagd gegangen und habe sich sonst um seine Landwirtschaft gekümmert. Die Herrin war aber anders. Sie las viel und studierte ständig. Das hatten die Kinder gewiß von ihr geerbt. Solche Kinder hatte es in dieser Gegend nie gegeben. Sie waren alle drei sehr lernbegierig, und das waren sie, seit sie sprechen konnten. Und selbständig waren sie auch. Herr St. John hatte studiert und war Pfarrer geworden und die Mädchen wollten nach Abschluß ihrer Schule sich Stellen als Hauslehrerinnen suchen, denn die Familie war verarmt. Vor einigen Jahren hatte der alte Herr Rivers einem Bekannten, dem er vertraute, eine große Summe Geldes geliehen, und dieser hatte Bankrott gemacht. So mußten sich die Kinder ihren Lebensunterhalt verdienen. Lange Zeit hatten sie nicht zu Hause gelebt, und jetzt waren sie nur für ein paar Wochen gekommen, weil ihr Vater gestorben war. Sie lebten sonst in London und vielen anderen großen Städten, aber sie hatten stets gesagt, daheim sei es am schönsten. Und dann waren sie immer so freundlich und nett zueinander und stritten sich nie. Es war eine harmonische Familie.

Ich hatte meine Arbeit beendet und fragte, wo die beiden Damen und ihr Bruder jetzt wären.

»Sie sind nach Morton spazierengegangen, aber sie werden in etwa einer halben Stunde zum Tee zurück sein.«

Und so war es auch. Eine halbe Stunde später kamen sie durch die Küche ins Haus. Als Herr St. John mich sah, verneigte er sich nur und ging weiter. Aber die beiden Damen blieben stehen. Mary sagte mir mit einigen wenigen Worten, wie sehr sie sich freue, mich wohlauf zu sehen, und Diana nahm meine Hand und sah mich kopfschüttelnd an.

»Sie hätten auf uns warten sollen, bevor Sie aufstanden«, sagte sie. »Sie sind immer noch sehr blaß — und so mager. Armes Kind! Armes Mädchen!«

Der Klang ihrer Stimme ertönte wie das Gurren einer Turteltaube in meinem Ohr. Sie hatte Augen, deren Glanz mich bezauberte. Und ihr Gesicht war äußerst reizvoll. Mary glich ihr gewiß an Intelligenz, und auch sie war hübsch, aber irgend wie schien sie zurückhaltender, kühler und distanzierter. Diana war lebhafter, und sie sprach mit einer gewissen Autorität. Sie hatte offenbar einen starken Willen. Und mir gefiel es, mich einer Autorität wie der ihren zu unterstellen, denn ich wußte, daß sie niemals mein Selbstbewußtsein verletzen würde.

»Und was tun Sie hier überhaupt?« fuhr sie fort. »Das ist doch kein Ort für Sie. Mary und ich, wir sitzen zuweilen in der Küche, weil wir hier zu Hause sind und uns ganz frei fühlen aber Sie sind unser Gast, und Sie sollten im Wohnzimmer bleiben.«

»Ich bin hier sehr wohl aufgehoben.«

»Nein, nein, wo Hannah hier herumwirkt und Sie mit Mehl bestäubt.«

»Und außerdem ist das Feuer hier viel zu heiß für Sie«, warf Mary ein.

»Das ist wahr«, sagte ihre Schwester. »Kommen Sie und seien Sie gehorsam.« Sie nahm mich bei der Hand und führte mich in das Wohnzimmer.

»Setzen Sie sich hierher«, sagte sie und wies auf das Sofa.

»Wir ziehen uns nur eben die Mäntel aus und bereiten den Tee. Das gehört zu den Vorteilen unseres kleinen Haushaltes im Moor — wir bereiten uns unsere Mahlzeiten, wie es uns paßt, oder wenn Hannah gerade beim Backen, Brauen oder Plätten ist.«

Sie schloß die Tür und ließ mich allein mit Herrn St. John, der mir mit einem Buch oder einer Zeitung gegenübersaß. Ich schaute mir zuerst das Zimmer und dann ihn an.

Das Zimmer war ziemlich klein und sehr bescheiden eingerichtet; aber es war behaglich, sauber und ordentlich. Die altmodischen Stühle waren mit hellem Stoff überzogen, und der Nußbaumtisch war spiegelglatt poliert. An den etwas abgenützten Wänden hing eine Reihe von alten Porträts aus längst vergangenen Zeiten, in einem Glastürschrank sah ich einige Bücher und altes Porzellangeschirr. Sonst gab es kein überflüssiges Schmuckwerk im Zimmer, nichts Modernes, außer einem Damenschreibtisch aus Rosenholz. Alles, einschließlich des Teppiches und der Vorhänge, sah bescheiden und ordentlich erhalten aus und war von guter Qualität.

Herr St. John saß so regungslos da wie die Porträts an den Wänden und starrte auf die aufgeschlagene Seite seines Buches. Seinen Lippen waren fest geschlossen, und ich hatte alle Muße, ihn zu betrachten. Er hätte ebensogut eine Statue sein können. Er war jung — etwa zwischen achtundzwanzig und dreißig — hoch gewachsen und schlank. Sein Gesicht war sehr ebenmäßig, fast klassisch griechisch: er besaß eine gerade Nase, einen Mund und ein Kinn, wie man es auf den Denkmälern der Athener sieht. Selten sieht man ein englisches Gesicht mit so klassischen Zügen. Kein Wunder, daß er sich an den Unregelmäßigkeiten meiner Physiognomie gestoßen hatte, wo er selbst soviel Harmonie ausdrückte. Seine Augen waren groß und blau und mit braunen Wimpern, seine hohe Stirn war bleich wie Elfenbein, und sein helles blondes Haar hing ihm in Locken über einen Teil seiner Stirn.

Alles in allem entspricht diese Beschreibung wohl einer milden, ausgeglichenen Person. Und doch machte der Betroffene durchaus nicht den Eindruck, friedlich, nachgiebig und leicht beeindruckbar zu sein. Hinter der Ruhe, die sein ganzes Verhalten jetzt auszudrücken schien, verbarg sich etwas Rastloses, Ungeduldiges und Hartes. Er sprach kein Wort zu mir und würdigte mich auch keines Blickes, bis seine Schwestern zurückkehrten. Diana brachte mir einen kleinen Kuchen, der eben gebacken worden war.

»Essen Sie das jetzt«, sagte sie. »Sie müssen hungrig sein. Hannah sagt, Sie hätten außer dem bißchen Haferbrei noch nichts gegessen.«

Ich nahm den Kuchen, denn mein Appetit war erwacht. Herr Rivers klappte jetzt sein Buch zu, setzte sich an den Tisch und blickte mich eine Weile aus seinen großen blauen Augen an. Sein Blick hatte etwas Direktes und Forschendes, was mir verriet, daß sein bisheriges Verhalten absichtlich und nicht etwa Gleichgültigkeit oder Interesselosigkeit gewesen war.

»Sie sind sehr hungrig«, sagte er.

»Das bin ich.«

Es ist meine Art — und es wird wohl immer so sein —, daß ich kurze Fragen ebenso kurz beantworte.

»Es war gut, daß das Fieber Sie in den letzten drei Tagen vom Essen abgehalten hat, denn in Ihrem Zustand wäre es gefährlich gewesen, dem Heißhunger nachzugeben. Aber jetzt sollten Sie essen, wenn auch in Maßen.«

»Nein, mein Herr. Sie werden mich nicht lange zu beköstigen brauchen«, war meine nicht gerade taktvolle Antwort.

»Nein«, sagte er kühl. »Wenn Sie uns mitteilen, wo Sie zu Hause sind, dann können wir schreiben und Sie dann sicher auf den Heimweg schicken.«

»Das ist mir leider ganz unmöglich, und ich muß Ihnen ganz klar sagen: Ich habe weder ein Heim noch Verwandte oder Freunde.«

Die drei schauten mich an, jedoch ohne Argwohn. Es war eher Neugier, die ihre Blicke belebte, besonders die der jungen Damen. Bei St. John war das schwierig zu sagen, denn seine Augen verrieten nichts. Er schien sich ihrer eher zu bedienen, um die Gedanken anderer zu lesen, als um seine eigenen auszudrücken.

»Wollen Sie damit sagen, daß sie absolut allein sind und keinerlei Beziehungen haben?« fragte er.

»Ja. Nichts bindet mich an irgendein lebendes Wesen. Und ich habe kein Anrecht auf Einlaß in irgendein Haus in England.«

»Eine sehr merkwürdige Lage in Ihrem Alter.«

Ich sah, daß er auf meine Hände schaute, die ich auf dem Tisch vor mir gefaltet hatte. Ich fragte mich, warum; aber seine Worte verrieten es mir bald.

»Sie sind nicht verheiratet?«

Diana lachte. »Aber St. John«, sagte sie. »Sie kann doch kaum älter als siebzehn oder achtzehn sein.«

»Ich bin fast neunzehn, aber verheiratet bin ich nicht. Nein.«

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, denn die bloße Erwähnung des Wortes »verheiratet« erweckte bittere und schmerzliche Erinnerungen in mir. Die drei erkannten meinen Gemütszustand, und Diana und Mary bemühten sich, mir aus der Verlegenheit zu helfen, indem sie zu Boden blickten, aber ihr Bruder schaute mich fest an, so daß mir schließlich die Tränen aus den Augen schossen.

»Wo haben Sie zuletzt gelebt?« fragte er jetzt.

»St. John, du fragst zuviel«, flüsterte ihm Mary zu; aber er lehnte sich über den Tisch und erwartete eine Antwort.

»Der Name des Ortes und der Person, bei der ich lebte, sind mein Geheimnis«, erwiderte ich.

»Und meiner Meinung nach haben Sie durchaus das Recht, Ihr Geheimnis zu bewahren. Es geht weder St. John noch irgend jemanden etwas an«, sagte Diana.

»Aber wenn ich nichts von Ihnen oder Ihrer Geschichte weiß, so kann ich Ihnen auch nicht helfen«, sagte er. »Und Hilfe brauchen Sie doch, nicht wahr?«

»Ich brauche Hilfe, und ich suche sie, und ich hoffe, daß irgendein Menschenfreund mir eine Arbeit anbietet, die ich zu verrichten vermag, und einen Lohn, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreiten kann.«

»Ob ich ein wahrer Menschenfreund bin, weiß ich nicht. Aber ich bin gewillt, Ihnen nach meinen Kräften zu helfen, da Ihr Vorhaben ehrlich ist. Sagen Sie mir bitte zuerst einmal, was Sie gewöhnlich tun und was Sie können.«

Ich hatte meinen Tee getrunken, und das Getränk hatte mich erfrischt. Es gab meinen Nerven neue Kraft; und jetzt fühlte ich mich meinem jungen Richter besser gewachsen.

So wandte ich mich ihm zu und blickte ihm ebenso fest in die Augen, und dann sagte ich: »Herr Rivers, Sie und Ihre Schwestern haben mir den größten Dienst erwiesen, den man einem Menschen entgegenbringen kann. Sie haben mich mit Ihrer edlen Gastfreundschaft vom Tod errettet. Schon allein deshalb haben Sie ein unbeschränktes Recht auf meine Dankbarkeit und bis zu einem gewissen Grade auch das Recht auf mein volles Vertrauen. Ich werde Ihnen soviel von der Geschichte derer, die Sie bei sich aufgenommen haben, erzählen, als ich es vermag, ohne meinen eigenen Seelenfrieden, meine moralische und physische Sicherheit und die anderer Personen zu gefährden. Ich bin eine Waise und die Tochter eines Pfarrers. Meine Eltern starben, bevor ich sie kannte. Ich wurde zuerst von einer Tante und dann in einem Waisenhaus erzogen. Ich kann Ihnen sogar dieses Waisenhaus nennen, in dem ich sechs Jahre als Schülerin und zwei als Lehrerin verbrachte. Es ist das Waisenhaus von Lowood. Sie haben sicher von ihm gehört, Herr Rivers? Der einstige Leiter und jetzige Schatzmeister ist Reverend Robert Brocklehurst.«

»Ich habe von Herrn Brocklehurst gehört und kenne auch die Schule.«

»Ich verließ Lowood etwa vor einem Jahr und trat eine Stelle als private Hauslehrerin an. Es war eine gute Stelle, und ich war glücklich dort. Aber vier Tage bevor ich hier erschien, mußte ich diesen Ort verlassen. Leider kann und darf ich Ihnen den Grund dafür nicht nennen. Denn das wäre nutzlos, gefährlich, und es würde auch zu unglaublich klingen. Eines kann ich jedoch sagen: Mich trifft kein Tadel, und ich bin frei von aller Schuld, ebenso frei wie Sie und Ihre beiden Schwestern. Aber ich bin elend und unglücklich, und das werde ich wohl noch lange Zeit sein, denn die Katastrophe, die mich zwang, ein Haus zu verlasen, in dem ich mein Paradies gefunden zu haben glaubte, ist von schrecklicher und trauriger Natur. Als ich mein Weggehen plante, mußte ich besonders darauf achten, es rasch und diskret zu tun. Und um das zu erreichen, mußte ich alles hinter mir lassen. Ich besaß nur ein kleines Bündel, das ich in meiner Eile und Seelennot in der Kutsche, die mich nach Whitecross führte, liegenließ. So kam ich hier völlig mittellos an. Zwei Nächte schlief ich im Freien und wanderte tagsüber, ohne in irgendein Haus eingelassen zu werden. Aber zweimal in jener Zeit bekam ich etwas zu essen, und als ich vor Hunger, Ermüdung und Verzweiflung an Ihrer Tür niedersank, kamen Sie, Herr Rivers, gewährten mir ein Obdach und retteten mich vor dem Tode. Ich weiß, was Ihre Schwestern für mich getan haben — denn in meiner scheinbaren Bewußtlosigkeit habe ich doch vieles beobachten können — und ich schulde Ihnen allen tiefste Dankbarkeit.«

»Bitte, St. John«, sagte Diana, als ich innehielt, »zwinge sie nicht, noch mehr zu reden. Sie ist offenbar noch zu schwach für Aufregungen. Kommen Sie, Fräulein Elliott, und setzen Sie sich zu mir auf das Sofa.«

»Sie sagten, Ihr Name sei Jane Elliott?« fragte er.

»Das sagte ich, und ich glaube, daß Sie mich einstweilen so nennen sollten, obgleich es nicht mein richtiger Name ist, denn wenn ich ihn höre, klingt er mir fremd.«

»Ihren wirklichen Namen wollen Sie uns nicht nennen?«

»Nein. Ich möchte alles vermeiden, was die Umstände meines Hierseins verraten und anderen Menschen Schaden zufügen könnte.«

»Sie haben ganz recht«, sagte Diana. »Nun laß sie schon ein wenig in Frieden, Bruder.«

St. John saß eine Weile nachdenklich da, aber da begann er wieder mit derselben Selbstsicherheit seine Fragen aufzunehmen. »Sie wollen also nicht allzulange unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen — Sie möchten also, wie ich sehe, bald auf eigenen Füßen stehen — und nicht auf das Mitleid meiner Schwestern und meine Barmherzigkeit (ich mache hier einen Unterschied, der mir angebracht erscheint) angewiesen sein. Mit anderen Worten: Sie möchten sich so schnell wie möglich selbständig machen?«

»Das möchte ich, und ich habe es bereits gesagt. Sagen Sie mir, wie oder wo ich eine Arbeit finden kann. Das ist alles, worum ich Sie bitte, und dann lassen Sie mich gehen. Ich werde mich mit allem zufriedengeben, und es wird mir nichts ausmachen, in der ärmsten Hütte zuleben. Aber bis dahin gestatten Sie mir bitte hierzubleiben, denn ich könnte die Schrecken der Ausgestoßenheit nicht noch einmal ertragen.«

»Natürlich werden Sie hierblieben«, sagte Diana und legte mir ihre weiße Hand auf den Kopf. »Sie werden hierbleiben«, wiederholte Mary in dem ehrlichen, aber scheinbar unbeteiligten Ton, der ihr eigen war.

»Wie Sie sehen, ist es meinen Schwestern ein Vergnügen, Sie hierzubehalten«, sagte St. John, »genauso, wie es ihnen Vergnügen macht, einen halberfrorenen Vogel zu pflegen, den sie zur Winterszeit im Garten finden. Ich bin eher geneigt, Ihnen so rasch wie möglich auf die eigenen Füße zu verhelfen, und ich werde mich bemühen, es zu tun. Aber bedenken Sie, daß meine Mittel sehr beschränkt sind. Ich bin ja nur der Seelsorger einer kleinen, armen Landgemeinde, und meine Hilfe wird sehr bescheiden sein. Und falls Sie Kleinlichkeiten verachten, müssen Sie sich schon an eine höhere Stelle wenden, um die Ihnen gebührende Hilfe zu finden.«

»Sie hat doch bereits gesagt, daß sie gewillt ist, jede ehrliche Arbeit anzunehmen«, antwortete Diana für mich.

»Und du weißt sehr gut, St. John, daß sie keine andere Wahl hat. Sie ist nun einmal gezwungen, sich mit einem so griesgrämigen Helfer wie dir zu begnügen.«

»Wenn es sein muß, kann ich als Schneiderin, Arbeiterin, Kindermädchen oder als Putzfrau arbeiten«, sagte ich.

»Gut«, sagte St. John ziemlich kühl. »Wenn das Ihre Einstellung ist, verspreche ich Ihnen meine Hilfe, zu meiner Zeit und auf meine Art.« Danach wandte er sich wieder seinem Buch zu, und ich zog mich in mein Zimmerchen zurück, denn ich hatte lange aufgesessen und lange geredet, vielleicht fast zu lange für meinen Zustand.

30

Je besser ich die Bewohner von Moor House kennenlernte, desto lieber hatte ich sie. In wenigen Tagen hatte sich mein Gesundheitszustand so gebessert, daß ich den ganzen Tag lang aufsein konnte und auch manchmal spazierenging. Ich konnte mich an Dianas und Marys Arbeiten beteiligen, mich mit ihnen unterhalten und ihnen behilflich sein, wenn sie es mir gestatteten. Dieses Zusammenleben war eine große Freude für mich und gab mir neue Kraft. Es war etwas, das ich bisher noch nicht kennengelernt hatte — das Vergnügen der Freundschaft, gemeinsamer Neigungen, Empfindungen und Ansichten.

Wir lichten die gleiche Lektüre, und alles, was ihnen gefiel, entzückte auch mich. Was sie guthießen, war auch für mich maßgebend. Sie liebten ihr abgeschiedenes Heim, und auch mir gefiel der graue kleine, altertümliche Bau mit dem niedrigen Dach, den vergitterten Fenstern, den verwitterten Mauern; die Allee mit den alten Kiefern, die der von den Bergen wehende Wind gekrümmt hatte; der Garten, in dem zwischen Buchs und Stechpalmen nur die zähesten Blumen gediehen. All das war in seiner Art reizvoll. Sie liebten auch das rote Moor ringsum, das kleine Tal, zu dem ein gewundener Weg hinunterführte, zuerst durch eine Wildnis von Farnkräutern und Heidekräutern, dann über kleine, abgelegene Weiden, wo graue Heideschafe mit ihren wolligen Lämmern grasten. Sie hingen mit wahrer Liebe und Begeisterung an ihrer Heimat, und auch ich war bald von dem Zauber dieser Landschaft gefangen. Ich empfand die Größe ihrer Einsamkeit, mein Blick trank sich satt an den sich sanft hinziehenden Hügeln, weidete sich an den wilden Farben und genoß die Formen und Schattierungen der Täler, Hügel, des Moores, des Heidekrautes, der Farnbüsche und der Granitfelsen. Alles das bedeutete mir bald soviel wie ihnen, und es war mir eine süße Quelle vergnüglicher Ruhe. Sowohl der starke Wind als auch die schwache Brise, das rauhe wie das milde Wetter, Morgen- und Abenddämmerung, das Mondlicht und auch die finstere Nacht — in allem fand ich jenen besonderen Reiz, der die Mädchen dieses Land so liebgewinnen ließ.

Auch im Hause verstanden wir uns gut. Die beiden jungen Damen waren zwar belesener als ich, aber ich folgte eifrig ihrem Beispiel. Ich verschlang die Bücher, die sie mir lieben, und dann war es mir ein Vergnügen, mich am Abend mit ihnen über das Gelesene zu unterhalten. Unsere Gedanken begegneten sich, unsere Ansichten stimmten überein, kurz: Wir lebten in vollkommener Harmonie. Wenn es unter uns dreien eine gab, die die Führerrolle spielte, so war es Diana. Körperlich war sie mir bei weitem überlegen: sie war schön, und sie war kräftig. Sie war von einer Lebendigkeit und strahlte eine Energie aus, die ich bewunderte und die mich in Erstaunen versetzte. Ich konnte wohl zu Beginn des Abends eine Weile reden, doch meine Lebhaftigkeit erlahmte rasch, und dann setzte ich mich auf einen Schemel zu Dianas Füßen, lehnte meinen Kopf an ihre Knie und hörte ihr und Mary abwechselnd zu, während sie das Thema, das ich angeschlagen hatte, gründlich besprachen. Diana erbot sich, mich Deutsch zu lehren. Ich lernte gern von ihr und fand, daß sie ihre Lehrerinnenrolle ausgezeichnet spielte. Unsere Naturen ergänzten sich, und eine tiefe gegenseitige Zuneigung entstand. Sie entdeckten, daß ich zeichnen konnte, und stellten mir oft ihre Staffelei und den Malkasten zur Verfügung. Meine Begabung, die in diesem Punkt und nur in diesem Punkt größer war als ihre, überraschte und entzückte sie. Mary konnte mir stundenlang zuschauen, und dann wollte sie es lernen, und sie war eine eifrige, intelligente, gelehrige und fleißige Schülerin. Bei diesen vergnügten Beschäftigungen verflogen die Tage wie Stunden und die Wochen wie Tage. Das intime Einvernehmen, das so natürlich zwischen mir und den beiden Schwestern entstanden war, erstreckte sich jedoch nicht auf Herrn St. John. Einer der Gründe dafür war sicher, daß er sehr selten zu Hause war. Er schien den größten Teil seiner Zeit den Besuchen der Armen und Kranken in seiner weitverstreuten Gemeinde zu widmen.

Bei jedem Wetter machte er sich auf seine seelsorgerischen Ausflüge. Ob es regnete oder die Sonne schien, sobald er sein Morgenstudium beendet hatte, nahm er seinen Hut und ging, von seines Vaters altem Jagdhund Carlo gefolgt, auf seinen Missionsgang — mir war es nie klar, ob er diese Aufgabe als ein Werk der Liebe oder der Pflichterfüllung betrachtete. Manchmal, wenn das Wetter gar zu schlecht war, baten ihn seine Schwestern, zu Hause zu bleiben. Dann sagte er mit einem seltsamen, eher feierlichen als heiteren Lächeln: »Wenn ich mich von ein Wenig Wind und einem Sprühregen von diesen leichten Pflichten abhalten ließe, welch eine Vorbereitung wäre das wohl für die Zukunft, die ich mir erwählt habe?«

Diana und Mary pflegten auf diese Frage nur mit einem Seufzer und traurigem Schweigen zu antworten.

Doch außer seiner häufigen Abwesenheit gab es noch ein anderes Hindernis, das uns nicht zu Freunden werden ließ. Er schien sehr zurückhaltend, in sich gekehrt und grüblerisch. Er war eifrig in der Erfüllung seiner seelsorgerischen Pflichten, untadelig in seinen Lebensgewohnheiten, doch er schien nicht die geistige Heiterkeit und innere Zufriedenheit zu genießen, die doch wohl jeder wahre Christ und Menschenfreund empfinden sollte. Oft saß er abends am Fenster an seinem Pult vor seinen Papieren, hielt plötzlich beim Schreiben inne, blickte, das Kinn auf die Hand gestützt, in die Ferne und folgte irgendeinem Gedankenflug, der aber ganz offenbar — denn das sah ich an seinem Blick — beunruhigend und stürmisch war.

Ich glaube außerdem, daß er der Natur nicht soviel Entzücken abgewann wie seine Schwestern. Nur einmal hörte ich ihn mit einer Art von verhaltener Liebe von der rauhen Landschaft und dem Haus im Moor, das er seine Heimat nannte, sprechen, aber nie schien er im weiten Moor und seiner Stille Frieden und Ruhe zu suchen oder an der Natur natürliche Freude zu empfinden.

Da er wenig mitteilsam war, verging einige Zeit, bevor ich Gelegenheit hatte, sein wahres Wesen zu ergründen. Die erste Ahnung von seiner wahren Natur bekam ich, als ich ihn in seiner Kirche in Morton predigen hörte. Ich wollte, ich könnte diese Predigt beschreiben, aber das übersteigt mein Vermögen. Ich kann nicht einmal genau den Eindruck wiedergeben, den sie auf mich gemacht hat.

Es begann ruhig — und soweit es die Stimme und ihren Klang anbetrifft, blieb die Rede bis zum Ende ruhig; jedoch bald ließ er einen strengen Eifer und eine verhaltene Kraft verspüren, die seinen Worten eine gewisse Heftigkeit verliehen. Und das setzte sich bald fort, obgleich er stets zurückhaltend, beherrscht und gelassen zu wirken sich bemühte. Die Macht seiner Predigt rührte das Herz und erstaunte den Geist — spendete jedoch keinen Trost. Es war etwas Bitteres in seiner Rede, der Linderung und Trost ganz zu fehlen schienen. Seine strengen und unerbitlichen Anspielungen auf die calvinistische Doktrin und Vorbestimmung, Auserwähltheit und Verdammnis waren häufig, und jede dieser Anspielungen klang wie ein verdammendes Urteil. Als er geredet hatte, fühlte ich mich nicht besser, ruhiger oder bereichert, sondern empfand eine unaussprechbare Traurigkeit, denn es schien mir — ich weiß nicht, ob die andern es auch so empfanden — daß die Beredsamkeit, der ich gelauscht hatte, einer Tiefe großer Enttäuschungen, unerfüllbarer Sehnsüchte und einem unruhigen Ehrgeiz entsprang. Ich war mir sicher, daß St. John Rivers — so untadelig, gewissenhaft und eifrig, wie er war — jenen Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt, noch nicht gefunden hatte. Er hatte ihn ebensowenig gefunden, wie ich mit meinem verborgen nagenden Kummer um mein zerbrochenes Glück und mein verlorenes Paradies, meinen Kummer, den ich mich hütete zu erwähnen, der mich aber erbarmungslos und tyrannisch beherrschte.

Inzwischen war ein Monat vergangen. Diana und Mary sollten bald Moor House verlassen und zu einem sehr anderen Leben als Erzieherinnen in einer großen, eleganten südenglischen Stadt zurückkehren. Dort würden sie in wohlhabenden Familien leben, deren hochmütige Mitglieder sie als bloße Angestellte betrachteten, sich keinen Deut um ihre seelischen Qualitäten scherten und sie genauso einschätzten wie ihre Köchinnen und Putzfrauen. Herr St. John hatte mir noch nichts über die versprochene Anstellung gesagt, aber allmählich wurde es dringend notwendig, daß ich eine Arbeit fand. Eines Morgens, als ich ein Weilchen mit ihm im Wohnzimmer saß, dessen eine Ecke ihm als Studierraum diente, faße ich mir ein Herz und trat auf ihn zu. Ich wußte noch nicht, mit welchen Worten ich das Eis brechen und mein Anliegen vorbringen sollte, aber er sah mein Zögern und kam mir zuvor.

Er schaute mich an: »Wollten Sie mich etwas fragen?«

»Ja, ich möchte wissen, ob Sie von irgendeiner Stelle gehört haben, die ich übernehmen könnte?«

»Ich habe schon vor drei Wochen etwas für Sie gefunden oder, besser gesagt, mir ausgedacht. Aber da Sie hier noch so nützlich und glücklich sind und meine Schwestern Ihnen so zugetan sind, denn sie empfinden Ihre Gesellschaft als ein ganz besonderes Vergnügen, hielt ich es für richtig, zuerst die Abfahrt meiner Schwestern abzuwarten, bevor ich Sie damit störte.«

»Und sie werden nun in drei Tagen abreisen?« fragte ich.

»Ja. Und wenn sie gegangen sind, kehre ich in das Pfarrhaus nach Morton zurück. Hannah wird mich begleiten, und dieses alte Haus wird geschlossen.«

Ich wartete einen Augenblick, dachte, er würde fortfahren, aber er schien plötzlich an etwas anderes zu denken. Sein Blick war ganz abwesend, und ich mußte ihn zum Thema zurückrufen, denn für mich war es eine Notwendigkeit.

»Was für eine Anstellung hatten Sie für mich im Auge, Herr Rivers? Hoffentlich wird diese Verzögerung keine Schwierigkeiten zur Folge haben.«

»O nein. Es handelt sich um eine Anstellung, die nur von mir und Ihnen abhängt.«

Er hielt wieder inne und schien es bei diesen Worten belassen zu wollen. Doch ich wurde ungeduldig, und aus meinen Bewegungen und Blicken entnahm er ebenso deutlich, als wenn ich gesprochen hätte, daß ich mehr wissen wollte.

»Sie brauchen gar nicht so ungeduldig zu sein«, sagte er. »Lassen Sie mich Ihnen ganz offen sagen, daß ich Ihnen nichts Vielversprechendes oder besonders Günstiges vorzuschlagen habe. Bevor ich es Ihnen erkläre, erinnern Sie sich bitte an meine früheren Worte, daß ich Ihnen nur soweit helfen könne, wie ein Blinder es einem Lahmen gegenüber vermag. Ich bin arm, und bis ich meines Vaters Schulden abbezahlt habe, wird mein ganzer Reichtum in dieser baufälligen Hütte, den krummen Kiefern, dem Stückchen Heideland und den paar Stechpalmenbüschen bestehen. Ich bin ein Niemand. Der Name Rivers ist ein alter Name, aber von den einzigen drei Nachfolgern dieser Familie verdienen sich zwei ihr Brot bei fremden Leuten, und der Dritte fühlt sich als Fremder im eigenen Land — nicht nur im Leben, sondern auch im Tod. Ja, er schätzt sich sogar glücklich darüber und sehnt sich nach dem Tage, da er, von allen fleischlichen Banden erlöst, das Kreuz auf sich nehmen wird, und daß das Haupt der streitbaren Kirche, zu deren demütigen Mitgliedern er gehört, zu ihm sagt: ›Stehe auf und folge mir!‹«

St. John sprach diese Worte so, wie er seine Predigten vortrug: mit einer ruhigen, tiefen Stimme und flammendem Blick. Er fuhr fort: »Und da ich arm und unbedeutend bin, kann ich Ihnen nur einen Dienst in Armut und Bedeutungslosigkeit anbieten. Sie mögen ihn sogar als erniedrigend empfinden — denn wie ich sehe, sind Ihre Lebensgewohnheiten das, was man in der Welt als vornehm bezeichnet. Ihr Geschmack neigt zu Edlem, und Sie sind es gewiß gewohnt, sich unter gebildeten Menschen zu bewegen. Aber ich finde, daß keine Arbeit erniedrigend sein kann, wenn sie es vermag, Menschen zu verbessern. Je dürrer und wilder der Boden ist, auf dem der christliche Landmann pflügt, desto höhere Ehre gebührt ihm. Denn unter solchen Umständen ist er ein Pionier, und die ersten Pionier des Evangeliums waren die Apostel — und ihr Anfänger war Jesus Christus, unser Heiland selbst.«

»Und?« sagte ich, als er wiederum schwieg. »Fahren Sie bitte ’ fort.«

Er sah mich lange und prüfend an, bevor er weitersprach. Er schien in meinem Gesicht zu lesen, als wenn die Linien darin Buchstaben auf einem Papier wären. Das Ergebnis dieser Beobachtung drückte er zum Teil in den folgenden Sätzen aus:

»Ich glaube, Sie werden den Posten, den ich Ihnen anbiete, annehmen und ihn eine Zeitlang ausfüllen. Nicht für immer, genausowenig, wie ich auf die Dauer das Amt eines stillen eingeengten, kleinen Landpfarrers ausfüllen könnte, denn in ihrer Natur liegt ein Element der Unrast, das auch mich, wenn auch in anderer Art, vorantreibt.«

»Erklären Sie doch bitte«, drängte ich, als er wieder schwieg. »Das will ich tun, und Sie werden jetzt hören, wie armselig der Vorschlag ist — wie nichtssagend und lästig. Ich werde nicht lange in Morton bleiben, da mein Vater jetzt tot ist und ich mein eigener Herr bin. Ich werde diesen Ort wahrscheinlich in einem Jahr verlassen, aber solange ich hier bin, will ich alles tun, um zu helfen und zu verbessern. Als ich vor zwei Jahren nach Morton kam, gab es keine Schule. Die Kinder armer Leute waren von jeder Hoffnung auf Fortschritt ausgeschlossen. Ich eröffnete eine Knabenschule, und nun möchte ich eine für Mädchen einrichten. Ich habe bereits zu diesem Zweck ein kleines Häuschen mit einer Zweizimmerwohnung für die Lehrerin gemietet. Sie werden einen Lohn von dreißig Pfund pro Jahr erhalten. Ihr Haus ist bereits möbliert — zwar sehr einfach, aber mit allem Notwendigen, und das schulde ich der Güte einer Dame, Fräulein Oliver, der einzigen Tochter des reichsten Mannes in meiner Gemeinde. Herr Oliver ist der Besitzer der Nadelfabrik und Eisengießerei. Und diese Dame bezahlt auch die Erziehungskosten eines Waisenkindes aus dem Arbeitshaus, unter der Bedingung, daß es der Lehrerin im Haushalt hilft, da sie ja vor allem mit dem Unterricht beschäftigt sein wird. Wollen Sie die Lehrerin sein?«

Er brachte die Frage ziemlich plötzlich hervor und schien fast eine entrüstete oder wenigstens eine verächtliche Absage zu erwarten. Er kannte ja meine Gedanken und Gefühle nicht, wenn er auch einige davon erriet; aber er konnte nicht voraussehen, wie ich auf seinen Vorschlag reagieren würde. Gewiß, es war eine bescheidene Stellung, aber sie bot mir Unterkunft, und das war es, was ich brauchte. Sie war ermüdend, aber verglichen mit der Arbeit einer Erzieherin in reichem Hause, hatte sie den Vorteil, mehr Unabhängigkeit zu bieten. Ich fürchtete ja vor allem, bei Fremden dienen zu müssen. Nein, diese Stellung hat nichts Demütigendes, nichts Entehrendes an sich, und mein Entschluß war schnell gefaßt.

»Ich danke Ihnen für Ihren Vorschlag, Herr Rivers, und ich nehme ihn von ganzem Herzen an.«

»Aber haben Sie mich auch wirklich verstanden?« sagte er. »Es handelt sich um eine Dorfschule. Ihre Schülerinnen werden nur arme Mädchen sein — die Kinder von Taglöhnern — bestenfalls Bauernmädchen. Und mehr als Stricken, Nähen, Lesen, Schreiben, Rechnen werden Sie ihnen nicht beibringen können. Was wird dann aus all Ihren Fähigkeiten? Ihrem Geist, Ihren Gefühlen, Ihrem Geschmack?«

»Die spare ich mir für später auf. Sie werden schon nicht verkommen.«

»Sie wissen also, auf was Sie sich da einlassen?«

»Ja.«

Jetzt lächelte er, und sein Lächeln war nicht mehr bitter, sondern wirklich glücklich und dankbar.

»Und wann werden Sie Ihr neues Amt antreten?«

»Wenn Sie es wünschen, kann ich schon morgen mein Haus beziehen und die Schule in der nächsten Woche eröffnen.«

»Sehr gut. So soll es denn sein.«

Er erhob sich und schritt durch das Zimmer. Dann blieb er stehen, schaute mich wieder an und schüttelte den Kopf.

»Was gefällt Ihnen nicht, Herr Rivers?« fragte ich.

»Sie werden nicht lange in Morton bleiben. Nein, nein!«

»Aber warum? Warum sagen Sie das?«

»Ich lese es in Ihren Augen. Und die sehen nicht danach aus, als ob sie sich auf die Dauer mit einem so eintönigen Leben zufriedengeben würden.«

»Ich bin nicht ehrgeizig.«

Bei dem Wort »Ehrgeiz« zuckte er zusammen. Dann sagte er! »Nein, wie kommen Sie auf Ehrgeiz? Wer ist ehrgeizig? Ich weiß, daß ich es bin, aber wie haben Sie das herausgefunden?«

»Ich sprach von mir selbst.«

»Nun, wenn Sie nicht ehrgeizig sind, so sind Sie —« er hielt inne.

»Bin ich was?«

»Ich wollte sagen: leidenschaftlich; aber Sie hätten das Wort vielleicht mißverstanden und sich daran gestoßen. Ich meine, daß menschliche Beziehungen und Bindungen für Sie sehr wichtig sind. Ich bin sicher, daß Sie sich nicht lange mit der Einsamkeit abfinden können, wo Sie sich einer langweiligen Arbeit widmen müssen, die kaum anerkannt wird. Genausowenig«, fuhr er fort, »wie ich es vertrüge, mich in diesem Moor begraben zu lassen. Denn das ist gegen meine mir von Gott gegebene Natur und meine Begabungen; hier bin ich gelähmt und nutzlos, obgleich vom Himmel gesegnet. Sie bemerken den Widerspruch in meiner Rede, denn ich predige Zufriedenheit mit der demütigsten Arbeit, und gleichzeitig bin ich, der Diener Gottes, von verzehrender Unruhe beherrscht. Ja, irgendwie muß man versuchen, Neigungen und Grundsätze in Einklang zu bringen.«

Er ging aus dem Zimmer. In dieser Stunde hatte ich mehr über ihn erfahren als im ganzen vorangegangenen Monat. Dennoch war er mir ein Rätsel.

Diana und Mary Rivers wurden mit jedem Tag trauriger, denn bald mußten sie ihren Bruder und ihr Heim verlassen. Sie waren bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, aber der Kummer, gegen den sie ankämpfen mußten, ließ sich nicht verbergen. Diana sagte, daß diese Trennung schlimmer sein würde, als alle früheren Abschiede, denn was St. John betreffe, so würden sie ihn wahrscheinlich jahrelang nicht wiedersehen, wenn überhaupt.

»Er will alles seinen vor langem gefaßten Entschlüssen opfern«, sagte sie. »Alles, seine Gefühle und seine natürlichen Neigungen. St. John scheint ruhig, Jane, aber in ihm brennt ein verborgenes Fieber. Er scheint sanftmütig zu sein, und doch ist er in manchen Dingen so unerbittlich wie der Tod. Und das schlimmste ist, daß ich mich nicht getraue, ihn von seinem schweren Entschluß abzubringen. Gewiß, ich kann seinen Entschluß nicht mißbilligen, denn er ist gerecht, edel und christlich, aber es bricht mir das Herz!« Tränen liefen ihr über das hübsche Gesicht, und Mary beugte sich tiefer über ihre Arbeit.

»Wir haben keinen Vater mehr, und bald werden wir ohne Bruder und heimatlos sein«, sagte sie.

In diesem Augenblick ereignete sich ein kleiner Zwischenfall, der dem alten Sprichwort »ein Unglück kommt selten allein« wieder einmal recht zu geben schien. St. John trat, einen Brief lesend, zu uns ins Zimmer.

»Unser Onkel John ist gestorben.«

Die beiden Schwestern blickten betroffen auf. Die Nachricht schien sie nicht allzusehr zu betrüben, aber sie mußte wichtig sein.

»Gestorben?« wiederholte Diana.

»Ja.«

Sie blickte ihren Bruder fragend an, und dann sagte sie leise: »Und was nun?«

»Was nun, Diana?« erwiderte er mit ausdrucksloser Miene. »Was nun? Nun: Gar nichts. Da, lies selbst.«

Er warf ihr den Brief in den Schoß. Sie überflog ihn und reichte ihn Mary. Mary las ihn schweigend und gab ihn ihrem Bruder zurück. Sie sahen sich alle drei lächelnd, aber traurig lächchelnd an.

»Amen! Wenigstens können wir noch leben«, sagte Diana schließlich.

»Jedenfalls sind wir nicht schlimmer dran als vorher«, bemerkte Mary.

»Nur zwingt es einen unwiderstehlich, sich vorzustellen, wie es hätte sein können«, sagte Herr Rivers; »und der Gegensatz ist wirklich ein wenig zu stark.«

Er faltete den Brief zusammen, verschloß ihn in seinem Schreibtisch und ging aus dem Zimmer.

Eine Zeitlang sprach niemand, dann wandte sich Diana an mich: »Jane, Sie werden sich über unsere Geheimnistuerei wundern«, sagte sie, »und uns für hartherzige Wesen halten, denen der Tod eines so nahen Verwandten nicht einmal zu Herzen geht, aber wir haben ihn nie gekannt und auch nie gesehen. Er war der Bruder meiner Mutter. Mein Vater hatte mit ihm Streit vor vielen Jahren, denn es war auf den Rat dieses Onkels, daß mein Vater den größten Teil seines Vermögens in einer Spekulation verlor. Seitdem machten sie einander heftige Vorwürfe, trennten sich im Zorn und versöhnten sich nie wieder. Danach beschäftigte sich mein Onkel mit glücklicheren Unternehmen und, wie es scheint, hat er ein Vermögen von etwa zwanzigtausend Pfund erworben. Er blieb unverheiratet und hatte außer uns keine näheren Verwandten, außer einer Person, die wir nicht kennen. Mein Vater hatte immer gehofft, er würde seinen Fehler gutmachen, indem er uns sein Vermögen hinterließe, aber dieser Brief teilt uns mit, daß er sein gesamtes Vermögen, mit Ausnahme von 30 Guineen, die zwischen St. John, Diana und Mary Rivers verteilt werden sollen, jener anderen Verwandten hinterlassen hat. Natürlich hatte er das Recht, frei über sein Vermögen zu verfügen, aber solche Nachricht wirkt halt recht bedrückend. Mary und ich hätten uns schon reich gesehen, wenn wir nur je tausend Pfund erhalten hätten, und St. John hätte mit einer solchen Summe viel Gutes tun können.«

Nach dieser Erklärung wurde das Thema nicht mehr erwähnt. Weder Herr Rivers noch seine Schwestern sprachen wieder davon. Am nächsten Tag zog ich nach Morton, und einen Tag darauf fuhren Diana und Mary in die Stadt, wo sie arbeiteten, und eine Woche später kehrten auch Herr Rivers und Hannah in das Pfarrhaus zurück, und das liebe alte Haus war völlig verlassen.

31

Mein Heim — ja: Endlich hatte ich ein Heim! — war ein Häuschen. Ein kleiner Raum mit weißgetünchten Wänden und Sandfußboden, ausgestattet mit vier gestrichenen Stühlen, einem Tisch, einer Wanduhr, einem Schrank mit einigen Tellern und Schüsseln und einem einfachen Teegeschirr. Im Stockwerk darüber lag ein Raum derselben Größe mit einem Bettgestell und einer Kommode, die zwar klein, jedoch für meine spärliche Garderobe immer noch zu groß war; obgleich mir meine lieben großzügigen Freunde noch einiges geschenkt hatten.

Es ist Abendzeit. Ich habe gerade das kleine Waisenkind, das mir hilft, mit einer Orange als Lohn nach Haus geschickt. Ich sitze allein vor meinem Kamin. An diesem Morgen habe ich die Schule eröffnet. Ich hatte zwanzig Schülerinnen. Aber nur drei von ihnen konnten lesen, und keine kann schreiben oder rechnen. Einige hatten schon Erfahrung im Stricken oder Nähen. Sie sprechen im schwerfälligen Akzent der Gegend, was die Verständigung einigermaßen erschwert. Manche von ihnen sind unmanierlich, grob und dumm, andere dagegen sind gehorsam, haben den Wunsch, etwas zu lernen, und sind auch sonst recht angenehm. Ich darf nicht vergessen, daß diese ungeschlachten Bauernmädchen aus dem gleichen Fleisch und Blut sind, wie die Sprößlinge der vornehmsten Adelsfamilien, und daß die Keime des Guten, Feinen, Schönen, der Intelligenz und der Güte genauso in ihren Herzen sprießen wie in denen der Hochwohlgeborenen. Und diese Keime zu entwickeln war nun meine Aufgabe, und gewiß würde mir die Erfüllung dieser Pflicht einige Befriedigung einbringen. Allerdings erwartete ich nicht, daß dieses Leben mir viel Freude bringen würde, aber dafür sollte es mir genügend Kraft geben, um mich von einem Tag zum andern durchzubringen.

War ich nun wenigstens in den Stunden, die ich in jenem schlichten Schulzimmer verbrachte, wirklich ruhig und zufrieden? Wenn ich ehrlich sein will, muß ich diese Frage mit nein beantworten. Ich fühlte mich einsam, und ich fühlte mich sogar — dumm, wie ich war — gedemütigt. Ich bildete mir ein, mit diesem Schritt eine Stufe auf der Leiter des menschlichen Ansehens herabgestiegen zu sein. Die Unwissenheit, Armut und Roheit, die mich umgab, bedrückten mich. Ich will mich jedoch dieser Gefühle wegen nicht unnötig anklagen: Ich weiß, daß ich ungerecht war, und diese Erkenntnis ist schon ein großer Schritt vorwärts, und nun werde ich mich bemühen, darüber hinwegzukommen. Morgen wird es sicher besser gehen, und vielleicht werde ich mich in einigen Monaten wenn nicht gerade glücklich, so doch immerhin einigermaßen zufrieden fühlen.

Nun muß ich mir aber eine Frage stellen: Wäre es besser gewesen, der Versuchung und der Leidenschaft nachzugeben, mich kampflos in den Morast sinken zu lassen, irgendwo im Süden Frankreichs in einer hübschen Villa in sonnigem Klima als die Geliebte Herrn Rochesters zu leben, liebestrunken zu sein? Denn er hätte mich ja zumindest eine Zeitlang wirklich geliebt. Er liebte mich doch — niemand wird mich je wieder so lieben. Nie wieder werde ich diese süßen Stunden verleben. War er nicht sogar stolz auf mich? Das wird kein Mann an meiner Seite je wieder sein. Aber wo führt mich das hin, was sage ich da, und vor allem: Was fühle ich wirklich? So ist die eigentliche Frage, ob es besser ist, als Sklavin in einem südfranzösischen Traumparadies zu leben — alles für das Glück einer Stunde preiszugeben — und vielleicht in der nächsten bittere Tränen der Reue und Scham zu weinen — oder eine freie und ehrenhafte Dorfschullehrerin im windigen Hügelland im Herzen Englands zu sein?

Ja, jetzt weiß ich, daß ich recht tat, als ich dem Gesetz meiner Prinzipien gehorchte und den trügerischen Verlockungen eines berauschenden Augenblicks widerstand. Ich danke seiner Voraussehung für die gute Führung.

Nachdem ich so meinen abendlichen Gedanken nachgehangen hatte, stand ich auf, ging an die Tür und schaute mir den Sonnenuntergang dieses Erntetages und die vielen Felder vor meinem Häuschen an, das, wie die Schule, eine halbe Meile vom Dorf entfernt lag. Die Vögel sangen ihr Abendlied: »Die Luft war mild, der Tau war frisch.«

Während ich schaute, glaubte ich fast, glücklich zu sein, und war deshalb erstaunt, daß ich weinen mußte. Warum? Weil das Schicksal mich von meinem geliebten Herrn getrennt hatte. Ach, ihn würde ich nie mehr wiedersehen. Und er war jetzt vielleicht verzweifelt und böse auf mich, und vielleicht hatte sein Zorn ihn schon vom rechten Wege abgebracht, so daß er in schlimme Hoffnungslosigkeit versunken war. Bei diesem Gedanken wandte ich mein Gesicht vom Abendhimmel und dem einsamen Tal von Morton ab — ich sage einsam, denn außer dem halb in den Bäumen verborgenen Pfarrhaus und der Kirche und weit entfernt dem Dach von Vale Hall, wo Herr Oliver und seine Tochter lebten, war weit und breit keine menschliche Behausung zu sehen. Ich lehnte den Kopf an den Steinrahmen meiner Tür und schloß die Augen. Aber plötzlich schreckte ich bei einem Geräusch in den Büschen meines kleinen Gartens auf, und ich sah einen Hund. Es war der alte Carlo, der Jagdhund Herrn Rivers, der die Gartentür mit der Nase aufstieß, und ihm folgte St. John mit verschränkten Armen und seinem ernsten, fast unangenehmen, starr auf mich gerichteten Blick. Ich bat ihn einzutreten.

»Nein, ich kann nicht bleiben. Ich bringe Ihnen nur ein kleines Päckchen, das meine Schwestern für Sie hinterlassen haben. Ich glaube, es enthält einen Malkasten, Stifte und Zeichenpapier.« Ich ging auf ihn zu, um die willkommene Gabe entgegaezunehmen. Er sah mir forschend und streng in die Augen, und ich nahm an, daß die Spuren meiner Tränen noch sichtbar waren.

»Ist Ihnen der erste Arbeitstag schwerer gefallen als erwartet?« fragte er.

»O nein. Im Gegenteil. Ich glaube, daß ich bald mit meinen Schülerinnen ganz gut auskommen werde.«

»Dann hat Sie vielleicht diese Einrichtung — das Häuschen — und dieses schmucklose Mobiliar in Ihren Erwartungen enttäuscht? Es ist ja tatsächlich alles ziemlich ärmlich, aber —«.

Ich unterbrach ihn: »Das Häuschen ist sauber und wetterfest. Die Einrichtung ist zulänglich und behaglich. Ich bin für alles dankbar und nicht etwa enttäuscht. Ich bin ja nicht so töricht und verwöhnt, daß mir das Fehlen eines Teppiches, eines Sofas oder eines Silbertellers etwas ausmachen würde, und außerdem hatte ich ja vor fünf Wochen überhaupt nichts. Damals war ich eine Ausgestoßene, eine Bettlerin und Landstreicherin, und jetzt habe ich Freunde, ein Heim und eine Beschäftigung. So danke ich dem Herrn für seine Güte und meinen Freunden für ihre Großzügigkeit. Ich habe keinen Grund zu klagen.«

»Aber Sie fühlen sich einsam und bedrückt? Das kleine Haus ist dunkel und leer.«

»Ich hatte kaum Zeit, meine Ruhe zu genießen, um so weniger konnte ich mich einsam fühlen.«

»Um so besser. Ich hoffe, Sie sind wirklich so zufrieden, wie Sie sagen. Jedenfalls wird Ihr gesunder Verstand Sie davor bewahren, es Lots Weihe gleichzutun. Ich weiß natürlich nicht, was Sie hinter sich gelassen haben, aber ich rate Ihnen, jeder Versuchung zurückzublicken standhaft zu widerstehen. Bleiben Sie auf dem eingeschlagenen Weg, wenigstens ein paar Monate lang.«

»Das beabsichtige ich auch«, antwortete ich. St. John fuhr fort: »Es fällt oft schwer, unsere natürlichen Neigungen zu beherrschen, aber ich weiß aus Erfahrung, daß es möglich ist. Gott hat uns in gewissem Maße auch die Macht erteilt, unser Schicksal zu meistern. Und wenn wir auch nach Dingen lechzen, die wir nicht haben können — wenn wir Pfaden folgen möchten, die uns versperrt sind — dann brauchen wir nicht zu verzweifeln, denn wir können unseren Geist anderen Nahrungen zuwenden, die ihm herzhafter bekommen als jene ersehnte verbotene Frucht und die auch reiner sind. Und wir können ruhig auf die breite bequeme Straße trüglichen Glücks verzichten und den schmalen und schwierigen Pfad der Tugend beschreiten. Noch vor einem Jahr war ich selbst todunglücklich, weil ich glaubte, mich in der Wahl meines Berufes getäuscht zu haben. Die eintönigen Pflichten langweilten mich zu Tode. Ich brannte vor Sehnsucht nach einem tätigeren Leben in der weiten Welt — ich hätte Schriftsteller, Künstler, Redner, alles andere als Geistlicher werden wollen. Ja, vielleicht sogar Politiker, Soldat hätte ich werden wollen, und ich dürstete nach Ruhm, Ansehen und Macht. Ich betrachtete mein Leben als so armselig, daß ich es entweder ändern oder sterben mußte. Nach langer Zeit der Finsternis und des Kampfes kamen mir endlich das Licht und der Frieden. Mein enges Dasein weitete sich plötzlich ins Unermeßliche, und ich hörte den Ruf des Herrn, der mir da sagte: Stehe auf und wandle. Gott hat eine Sendung für mich, deren Erfüllung all meine Kraft, meinen Mut, meine Beredsamkeit, all die besten Eigenschaften eines Soldaten, Staatsmanns oder Redners erforderten: denn alles das muß in einem guten Missionar zusammenwirken. Ich beschloß, Missionar zu werden. Und von diesem Augenblick an war ich ein anderer Mensch. Die Fesseln lösten sich, und die Wunden, die sie geschlagen hatten, wird die Zeit heilen. Mein Vater widersetzte sich zwar meinem Entschluß, aber nun, da er tot ist, ist kein rechtliches Hindernis mehr vorhanden. Sobald ich meine Angelegenheiten geregelt, einen Nachfolger in Morton eingeführt und einige gefühlsmäßige Bindungen gelöst habe — auch diesen letzten Rest menschlicher Schwäche werde ich überstehen, denn ich habe es mir gelobt —, werde ich Europa verlassen und mich in den Osten aufmachen.«

Er sagte dies alles in dem ihm eigenen beherrschten und doch eindringlichen Ton. Und als er geendet hatte, sah er nicht mich, sondern die untergehende Sonne an, und das tat ich auch. Wir standen beide mit dem Rücken zum Pfad am Zaun, und wir hörten keine Schritte herankommen, denn das Murmeln des nahen Baches füllte allein die abendliche Stille. So zuckten wir zusammen, als eine fröhliche, silberhelle Stimme rief:

»Guten Abend, Herr Rivers, und guten Abend, mein lieber alter Carlo! Ihr Hund erkennt seine Freunde schneller als Sie, mein Herr. Er spitzte schon die Ohren und wedelte mit dem Schwanz, als ich noch am anderen Ende des Feldes war, und Sie drehen mir immer noch den Rücken zu.«

Das entsprach der Wahrheit. Herr Rivers war beim Klang dieser melodischen Stimme zusammengefahren wie vom Donner gerührt, aber er war wie versteinert in derselben Pose stehengeblieben. Er hatte die Arme auf den Zaun verschränkt und das Gesicht nach Westen gerichtet. Nun wandte er sich gemessen um, und mir war, als sei eine himmlische Erscheinung vor ihm aufgetreten, so anmutig war diese ganz in Weiß gekleidete, jugendliche Gestalt; und als sie sich, nachdem sie Carlo gestreichelt hatte, aufrichtete und ihren langen Schleier vom Gesicht nahm, erstrahlte ihr Gesicht in vollkommener Schönheit. »Vollkommene Schönheit« ist ein starker Ausdruck, aber in diesem Falle muß er angewendet werden. Denn sie hatte die zartesten Gesichtszüge, den reinsten Teint, den das Klima unserer Inseln hervorbringen kann. Alle Reize schienen in ihr vereint, und kein einziger Makel war sichtbar. Das junge Mädchen hatte regelmäßige Gesichtszüge; ihre Augen hatten die Form und die Farbe, wie man sie nur auf schönen Gemälden findet: sie waren groß, dunkel und voll; die Wimpern waren lang und zart, die Brauen klar abgezeichnet. Die Stirn war blaß und schön geformt, die Wangen waren oval, frisch und glatt, die Lippen gesund, rot und wohlgeformt, die Zähne makellos. Sie hatte ein Grübchen am Kinn, ihr Haar war in große, schöne Zöpfe geflochten — kurz: sie vereinte alle Eigenschaften, die das Ideal der vollkommenen Schönheit ausmachen. Ich blickte Sie bewundernd an. Ja: Ich bewunderte sie aus vollem Herzen. Die Natur hatte sie reich beschenkt, war endlich einmal großzügig gewesen und hatte ihre Gaben nicht wie gewöhnlich so stiefmütterlich verteilt.

Was dachte wohl St. John von diesem Engel auf Erden? Diese Frage stellte ich mir natürlich, als ich sah, wie er Sie anblickte; und natürlich suchte ich die Antwort in seiner Haltung. Aber er hatte schon seinen Blick von diesem himmlischen Wesen abgewendet und starrte auf einige Gänseblümchen, die am Zaun auf der Wiese sprossen. Schließlich sagte er:

»Ein schöner Abend, aber es ist spät für Sie, allein draußen zu sein.« Und bei diesen Worten zertrat er die weißen Blümchen mit seinem schweren Fuß.

»Ach, ich bin erst heute nachmittag aus der Stadt zurückgekommen. Papa erzählte mir, Sie hätten Ihre neue Schule eröffnet und die neue Lehrerin sei gekommen, und so habe ich mich nach dem Tee aufgemacht und bin hierhergekommen, um sie zu begrüßen. Ist sie das?« fragte sie und zeigte auf mich.

»Ja, das ist sie«, sagte St. John.

»Glauben Sie, daß Ihnen Morton gefallen wird?« fragte sie mich in kindlicher Einfachheit und sehr freundlich.

»Ich hoffe es. Ich habe jedenfalls viel Anlaß dazu.«

»Finden Sie Ihre Schülerinnen so aufmerksam, wie Sie es erwarteten?«

»Ja,«

»Gefällt Ihnen Ihr Haus?«

»Sehr.«

»Habe ich es nett eingerichtet?«

»Sehr nett, wirklich.«

»Und habe ich eine gute Wahl getroffen, als ich Ihnen Alice Wood als kleine Haushelferin schickte?«

»Das haben Sie. Sie ist gelehrig und geschickt.«

(Das mußte also das junge Fräulein Oliver sein, die Tochter des Fabrikbesitzers. Sie war mit irdischen Gütern ebenso reich gesegnet wie mit Schönheit und Charme. Über ihrer Geburt mußte ein glücklicher Stern gestanden haben.)

»Ich werde von Zeit zu Zeit heraufkommen und Ihnen helfen«, sagte sie. »Das wird mir ein wenig Abwechslung verschaffen, und ich liebe die Abwechslung. Ach, Herr Rivers, ich war so vergnügt während meines Aufenthaltes in der Stadt. Ich habe mich glänzend amüsiert und bis um zwei Uhr morgens getanzt. Seit den Unruhen ist ein Regiment dort stationiert, und die Offiziere sind die nettesten Menschen der Welt. Die stellen alle Ihre jungen Scherenschleifer und Messerschmiede hier in den Schatten.«

Es schien mir, daß St. John die Lippen zusammenbiß, denn sein Mund sah hart aus und sein Kinn versteifte sich, als das lachende Mädchen zu ihm sprach. Er blickte von den zertretenen Gänseblümchen auf und sah sie an. Aber was für ein forschender, ernster und fragender Blick das war! Sie lachte wieder, und ihr Lachen stand ihr ausgezeichnet. So stand er stumm und versonnen da, und sie beugte sich nieder und streichelte Carlo.

»Der arme Carlo, wenigstens er liebt mich. Er ist wenigstens nicht so streng und abweisend zu seinen Freunden, und wenn er reden könnte, würde er jetzt nicht schweigen.«

Bei diesen Worten sah ich St. John erröten, und seine Augen flammten plötzlich auf. Die Erregung verschönte ihn so, daß er als Mann fast ebenso anziehend aussah wie sie als Frau. Er atmete tief auf, als wenn sein großes Herz, des Zwanges müde, sich befreien wolle, aber bald hatte er sich wieder in der Gewalt. Er ging mit keinem Wort und keiner Geste auf ihre Anspielungen ein.

»Papa beklagt sich, daß Sie uns nie besuchen kommen«, fuhr Fräulein Oliver fort. »Sie sind bei uns wie ein Fremder. Er ist heute ganz allein und fühlt sich nicht wohl. Wollen Sie nicht mit mir heimkommen und ihn besuchen?«

»Die Stunde ist nicht geeignet, Herrn Oliver mit einem Besuch zu belästigen«, erwiderte St. John.

»Die Stunde ist nicht geeignet! Ich finde sie gerade sehr geeignet. Es ist die Stunde, in der Papa sich am meisten nach Gesellschaft sehnt, wenn er seine Arbeit getan hat und nicht beschäftigt ist. Kommen Sie doch, Herr Rivers. Warum sind Sie nur so finster und zurückhaltend?« Er schwieg, und sie gab ihm selbst die Antwort:

»Ach, das habe ich ganz vergessen!« rief sie und schüttelte ihren schönen Lockenkopf, als sei sie über sich selbst entsetzt. »Ich bin ja zerstreut und gedankenlos! Bitte verzeihen Sie mir. Ich vergaß, daß Sie ja allen Grund haben, still und traurig zu sein und nicht in mein fröhliches Geplapper einzufallen. Diana und Mary haben Sie verlassen, das Haus im Moor ist geschlossen, und Sie sind gewiß jetzt sehr einsam. Ich bedaure Sie wirklich. Bitte, kommen Sie Papa besuchen.«

»Nicht heute abend, Fräulein Rosamond, nicht heute abend.«

St. John sprach fast wie ein Automat. Nur er mochte wissen, welche Mühe es ihn kostete, die Einladung auszuschlagen.

»Nun, wenn Sie so starrköpfig sind, werde ich gehen. Auf jeden Fall kann ich nicht länger bleiben, denn es wird schon dunkel. Guten Abend.«

Sie gab ihm die Hand, und er berührte sie kaum. »Guten Abend«, sagte er mit leiser Stimme, die wie ein Echo klang. Sie wandte sich zum Gehen, kehrte jedoch noch einmal zurück.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte sie. Sie hatte guten Grund dazu, denn sein Gesicht war so weiß wie ihr Kleid.

»Mir geht es sehr gut«, sagte er, verbeugte sich und verließ das Gartentor. Sie ging in eine Richtung, er in die andere. Zweimal wandte sie sich nach ihm um und hielt in ihrem leichten feenhaften Gang inne, aber er schritt unbeirrbar seines Wegs.

Der Anblick dieses Leidens und Sichaufopferns anderer Menschen brachte mich von meinen eigenen Kummergedanken ab. Diana Rivers hatte einmal von ihrem Bruder gesagt, er sei »unerbittlich wie der Tod«. Sie hatte nicht übertrieben.

32

Ich fuhr mit meiner Arbeit in der Dorfschule so gewissenhaft und fleißig fort wie möglich. Und zu Beginn war die Arbeit wirklich hart. Es verging einige Zeit, ehe ich meine Schülerinnen und ihre Eigenarten kennenlernte, obgleich ich mich sehr bemühte. Ich hatte die Mädchen, die alle völlig unwissend waren, für hoffnungslos dumm gehalten, aber bald merkte ich, daß ich mich getäuscht hatte. Sie waren voneinander so verschieden, wie wohlerzogene Kinder es sind, und als wir uns gegenseitig besser verstanden, traten die Verschiedenheiten noch stärker hervor. Nachdem ihre Verwunderung über mich, meine Sprechweise, meine Erziehungsmethoden und Regeln einmal gewichen waren, fand ich, daß einige dieser schwerfällig aussehenden und mich mit offenen Mündern anstarrenden Bauernmädchen Geist und Witz entwickelten. Manche erwiesen sich als hilfsbereit und sogar liebenswert; und ich entdeckte unter ihnen eine ganze Anzahl, die mit natürlicher Höflichkeit, angeborenem Selbstbewußtsein und ausgezeichneten Fähigkeiten begabt waren. Und diesen brachte ich all meine Zuneigung entgegen. Sie zeigten Gefallen an wohlgetaner Arbeit, hielten sich sauber, lernten fleißig ihre Schulaufgaben und nahmen ordentliche Manieren an. In manchen Fällen war es wahrhaft erstaunlich, wie schnell sie lernten. Und das erfüllte mich mit einigem Stolz. Außerdem begann ich mich mit einigen der besten Mädchen anzufreunden, und auch sie hatten mich gern. Ich hatte unter meinen Schülerinnen einige Bauerntöchter, die schon fast erwachsene Frauen waren. Die konnten bereits lesen, schreiben und nähen, und so konnte ich ihnen jetzt die Grundlagen der Grammatik, Erdkunde und Geschichte und die feineren Arten der Näharbeit beibringen. Unter ihnen fand ich schätzenswerte Menschen — Menschen, die nach Bildung hungerten und sich zu verbessern suchten —, und mit ihnen ver brachte ich manche gemütliche Abendstunde in ihren Häusern. Die Eltern (der Bauer und seine Frau) überhäuften mich mit Aufmerksamkeiten. Es war mir eine Freude, ihre einfache, aber herzliche Gastfreundschaft entgegenzunehmen und es ihnen mit Achtung und Respekt für ihre Gefühle zu lohnen, und daran waren die meisten nicht gewöhnt.

So gewann ich bald das Gefühl, beliebt zu sein. Jedenfalls, wenn ich aus meinem Hause ging, wurde ich von allen Seiten freundlich gegrüßt, und man lächelte mir liebenswürdig entgegen. Und wer inmitten allgemeiner Anerkennung lebt, mag sie auch von armen Arbeitern kommen, sitzt sozusagen »in seines Ruhmes Sonne«. In dieser Periode meines Lebens fühlte ich öfter Dankbarkeit in meinem Herzen als Enttäuschung. Und doch, lieber Leser, muß ich gestehen, daß selbst diese nutzbringende Existenz mir nicht die ersehnte Ruhe brachte. Oft wurde ich von seltsamen, wirren und stürmischen Träumen heimgesucht, in denen es immer abenteuerlich und romantisch zuging, in denen ich immer wieder Herrn Rochester in einer aufregenden Krise begegnete; und dann fühlte ich, wie er mich in seine Arme nahm, hörte seine Stimme, sah ihm in die Augen, berührte seine Hand und seine Wangen, liebte ihn, wurde von ihm geliebt — und sah die Hoffnung, mein Leben an seiner Seite zu verbringen, in mir immer neu aufflammen. Und dann erwachte ich und sah, wo ich war und in welcher Lage. Da stieg ich aus meinem schlichten Bett, zitterte und bebte; und dann war die stille, dunkle Nacht allein Zeuge meiner Verzweiflung und meiner leidenschaftlichen Ausbrüche. Um neun Uhr morgens öffnete ich pünktlich meine Schule, erschien wieder ruhig, gesetzt und für die Pflichten des Tages wohlvorbereitet.

Rosamond Oliver hielt ihr Versprechen und kam mich besuchen. In die Schule kam sie meist im Laufe ihres Morgenritts, dann trabte sie auf ihrem Pony bis an die Tür, und ein berittener Diener folgte ihr. Etwas Angenehmeres als ihre Erscheinung, wenn sie in ihrem roten Reitkleid mit ihrer schwarzen Amazonenmütze auf dem langen blonden Haar eintrat, ist schwer vorstellbar. Und dann kam sie ins Klassenzimmer und schritt durch die Reihen der verblüfften Dorfkinder. Sie kam meist zu einer Stunde, in der Herr Rivers seinen täglichen Unterricht im Katechismus gab. Und die Besucherin verstand sich darauf, dem Pastor tief ins Herz zu schauen. Er schien irgendwie instinktiv zu wissen, wann sie kam, selbst wenn er sie nicht sah; und dann blickte er krampfhaft von der Tür fort. Wenn sie eintrat, glühten seine Wangen. Er bemühte sich, den wie versteinerten Ausdruck seines Antlitzes nicht zu verändern; doch gerade dann — ungewollt und vielleicht daher intensiver — strahlte er eine Inbrunst aus, die er vergeblich zu beherrschen versuchte.

Natürlich kannte sie die Macht, die sie über ihn hatte, denn er konnte es ja nicht vor ihr verbergen. Trotz all seiner christlichen Standhaftigkeit zitterten ihm die Hände, wenn sie auf ihn zutrat und ihn freundlich und ermutigend anlächelte. Obgleich er ein trauriges, trotziges und entschlossenes Gesicht machte, schien alles in ihm zu sagen: »Ich liebe dich, und ich weiß, daß du mich liebst! Ich bin nicht stumm, weil ich fürchte, abgewiesen zu werden; und böte ich dir mein Herz, so würdest du es bestimmt annehmen. Aber dieses Herz habe ich bereits auf einen heiligen Altar gelegt, und das Feuer ist angefacht. Bald wird es nur noch die Asche eines Opfers sein.«

Dann schmollte sie wie ein enttäuschtes Kind, eine grüblerische Wolke überschattete ihre strahlende Lebhaftigkeit; sie zog eilig ihre Hand von der seinen zurück und wandte sich vom Anblick dieses heldenhaften Märtyrers ab. St. John wäre ihr sicher gern um die Welt gefolgt, hätte sie zurückgerufen oder zurückgehalten, wenn sie ihn so verließ. Aber diesem Himmel gab er keine Chance, dem Elysium ihrer Liebe zog er die Hoffnung auf das wahre Paradies vor. Außerdem vermochte er nicht, all seine natürlichen Eigenschaften — die des Abenteurers, Liebhabers, Dichters, Priesters — in die Grenzen einer einzigen Leidenschaft zu zwingen. Er konnte und wollte nicht auf das weite Feld seines missionarischen Kampfes verzichten und sich dafür mit dem Frieden von Vale Hall begnügen. Das hatte ich von ihm erfahren, als ich es einmal wagte, ihn trotz seiner Zurückhaltung ins Vertrauen zu ziehen.

Fräulein Oliver hatte mich häufig in meinem Häuschen besucht. Ich hatte sie bald gut kennengelernt, denn sie war unkompliziert und offen. Sie war zwar kokett, aber nicht herzlos; anspruchsvoll, aber nicht egoistisch. Sie war von Geburt an verwöhnt, aber sie war nicht verdorben. Sie war ungeduldig, aber stets gut gelaunt; eitel (wie konnte es auch anders sein, da sie so hübsch war), aber nicht affektiert; freigiebig und durchaus nicht stolz auf ihren Reichtum; einfallsreich, recht intelligent, fröhlich, lebhaft und manchmal etwas gedankenvoll. Sie wirkte bezaubernd selbst auf eine kühle Beobachterin wie mich, die ich dazu noch von ihrem Geschlecht war. Aber sie wirkte weder besonders tief noch besonders eindrucksvoll. Ihr Geist unterschied sich sehr von dem der Schwestern St. Johns, und doch hatte ich sie fast so gern wie meine kleine Schülerin Adèle. Nur kann man einem Kind, mit dem man stets zusammen ist, mehr Zärtlichkeit entgegenbringen als einer Erwachsenen.

Und sie hatte auch Gefallen an mir gefunden. Sie fand, ich gleiche Herrn Rivers, obgleich ich »nicht ein Zehntel so hübsch wie er sei«. Ich sei zwar eine nette, liebe Seele, aber er sei ein Engel. Ich sei jedoch wie er, gütig, klug, beherrscht und fest. Ich sei bestimmt nicht zur Dorfschullehrerin geboren. Und dann meinte sie, die Geschichte meiner Vergangenheit sollte, falls sie einmal bekannt würde, einen herrlichen Roman ergeben.

Eines Abends, als sie in ihrer gewohnten kindlichen Ungezwungenheit in meinen Schubladen herumkramte, entdeckte sie zwei französische Bücher, einen Band Schiller, eine deutsche Grammatik, ein Wörterbuch und schließlich auch mein Zeichenmaterial und einige meiner Skizzen — es waren Porträtstudien einer hübschen kleinen Schülerin und Landschaftsbilder aus dem Tal von Morton und der Heide. Zuerst war sie vor Überraschung starr, und dann brach sie in helles Entzücken aus.

»Haben Sie diese Bilder gemalt? Lesen Sie Französisch und Deutsch? Sie sind ja ein wahres Wunder! Sie zeichnen besser als mein Zeichenlehrer in der Stadt. Würden Sie ein Porträt von mir machen, so daß ich es Papa zeigen kann?«

»Mit Vergnügen«, antwortete ich, und es beglückte mich, ein so bezauberndes und vollkommenes Modell vor mir zu haben. Sie trug ein dunkelblaues Seidenkleid, Arm und Hals waren nackt, und ihr einziger Schmuck war ihr volles Haar, das ihr anmutig wild über die Schultern hing. Ich nahm einen Bogen starken Zeichenpapiers und machte eine Strichzeichnung. Die Farben mußte ich mir für einen anderen Tag aufsparen. So verabredeten wir uns für eine nächste Sitzung.

Sie hatte ihrem Vater so viel von mir erzählt, daß Herr Oliver sie am nächsten Abend selbst zu mir begleitete. Er war ein großer, starker, grauhaariger Mann mittleren Alters, und neben ihm sah seine liebliche Tochter wie eine schöne Blume am Rande einer Burgruine aus. Er war sehr wortkarg und vielleicht auch stolz, aber er war freundlich zu mir. Die Skizze zu Rosamonds Porträt gefiel ihm ungemein, und er meinte, ich müsse unbedingt das Bild malen. Er lade mich für den nächsten Abend nach Vale Hall ein.

Ich ging. Es war ein großes, schönes Haus, und es zeugte vom Wohlstand seines Besitzers. Rosamond war den ganzen Abend in heiterster Laune. Ihr Vater war liebenswürdig, und als er sich nach dem Tee in ein Gespräch mit mir einließ, drückte er mir in starken Worten seine Zustimmung und Bewunderung für meine Arbeit in der Schule von Morton aus und meinte, er fürchte nur, nachdem, was er gesehen und gehört habe, daß ich zu gut für diese Schule sei und sie wohl bald für eine bessere verlassen würde.

»Das stimmt«, rief Rosamond. »Sie ist intelligent genug, um Erzieherin in einer Adelsfamilie zu sein, Papa.«

Ich zog es vor, hier zu sein und nicht in irgendeiner Adelsfamilie im Land. Herr Oliver sprach von Herrn Rivers und der Familie Rivers mit großem Respekt. Er sagte, sie sei eine alte und sehr angesehene Familie in dieser Gegend; die Vorfahren seien einst sehr wohlhabend gewesen, und ganz Morton hätte ihnen gehört. Aber selbst jetzt fand er, daß der Sohn des Hauses, wenn er es wünschte, ihm als Schwiegersohn herzlich willkommen sei. Er fand es schade, daß ein so feiner und begabter junger Mann sich mit dem Vorhaben trug, Missionar zu werden, denn das sei wirklich die Verschwendung eines wertvollen Lebens. So schien es also, daß der Vater nichts gegen eine Ehe seiner Tochter mit St. John einzuwenden hatte. Offenbar betrachtete Herr Oliver die gute Herkunft, den alten Namen und den heiligen Beruf des jungen Geistlichen als einen ausreichenden Ausgleich für den Mangel an irdischen Gütern.

Es war der fünfte November und ein Ferientag. Meine kleine Haushälterin hatte mir beim Saubermachen geholfen und war zufrieden mit ihrem Penny als Lohn nach Hause gegangen.

Alles im Haus war blitzblank, der Boden war gescheuert, der Kamin ausgefegt und die Stühle waren abgewaschen. Auch ich selbst fühlte mich frisch und sauber und hatte einen freien Nachmittag vor mir.

Ich verbrachte über eine Stunde mit der Übersetzung einiger Seiten eines deutschen Textes, dann nahm ich Palette und Pinsel vor und machte mich an die leichtere und beruhigendere Arbeit an Rosamond Olivers Porträt. Der Kopf war bereits gemalt, aber der Hintergrund fehlte noch und einige Schattierungen auf dem Kleid, vielleicht ein wenig Karminrot, um die Reife der Lippen hervorzuheben, vielleicht noch eine weiche Locke an den Zöpfen, ein etwas tieferer Schatten bei den Augenlidern.

All diese kleinen Einzelheiten beschäftigten mich, als die Tür nach einem raschen Klopfen geöffnet wurde und Herr St. John Rivers ins Zimmer trat.

»Ich komme, um zu sehen, wie Sie Ihren freien Nachmittag verbringen«, sagte er. »Hoffentlich nicht mit Grübeleien? Nein? Das ist gut. Beim Zeichnen fühlt man sich nicht einsam. Sehen Sie, ich mißtraue Ihnen immer noch, obgleich Sie sich bis jetzt wunderbar gehalten haben. Ich habe Ihnen auch ein Buch für den Abend mitgebracht«, sagte er und legte es auf den Tisch. ES war ein Gedicht, eine jener literarischen Modeschöpfungen, die das Publikum jener Tage besonders schätzte. Leider sind die Leser unserer Zeit weniger verwöhnt. Aber nur Mut! Ich will mich darüber nicht weiter auslassen; es sei nur gesagt, daß die Poesie keinesfalls tot ist, daß es immer noch Genies gibt, daß der schnöde Mammon sie noch lange nicht definitiv unter seine Macht gebracht und versklavt hat. Fürwahr: Poesie und Einfallsreichtum sind machtvolle Engel, die über den Wolken thronen! Sie lächeln nur über den Triumph der Krämerseelen und die Tränen der Schwachen, die nicht mehr an sie glauben wollen. Ist die Poesie gestorben? Nein! Gibt es nur noch mittelmäßige? Nein! Man läßt sich nicht durch Neid zu solchen Gedanken verführen, denn die Poesie lebt, sie herrscht und erneuert sich stets, und ohne ihren göttlichen Einfluß, der sich überall bemerkbar macht, wären wir schon längst in der Hölle — der Hölle unserer eigenen Kleinlichkeit.

So las ich gierig Sir Walter Scotts Marmion, als St. John sich über meine Zeichnung beugte. Was er sah, ließ ihn leicht zusammenzucken, doch sagte er nichts. Ich schaute ihn an, und er vermied meinen Blick. Es war mir nur zu leicht, in seinen Gedanken und in seinem Herzen zu lesen, und im Augenblick fühlte ich mich ruhiger und kühler als er, war ihm gegenüber einmal im Vorteil und wollte diese Gelegenheit nützen, um ihm etwas Gutes anzutun.

Ich dachte mir: »Mit all dieser Strenge und Selbstbeherrschung überfordert er sich. Er verbirgt jede Gefühlsregung — drückt sie nicht aus und will mit niemandem darüber sprechen. Ich bin sicher, daß es gut für ihn wäre, ein wenig über seine geliebte Rosamond zu sprechen, die er glaubt, nicht heiraten zu dürfen. Ich werde ihn schon zum Reden bringen.«

So sagte ich zuerst: »Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Rivers.« Aber er erwiderte wie gewöhnlich, er könne nicht bleiben. Ich dachte mir: Nun gut, dann stehen Sie eben; aber fortgehen werden Sie noch nicht, das habe ich beschlossen. Die Einsamkeit tut Ihnen ebensowenig gut wie mir. Ich werde versuchen, die geheime Quelle Ihres Vertrauens zu entdecken; ich will herausbringen, ob es in diesem Marmorpanzer nicht eine kleine Lücke gibt.

»Ist dieses Porträt ähnlich?« fragte ich unvermittelt.

»Ähnlich? Wem ähnlich? Ich habe es mir nicht genau angesehen.«

»Doch, das haben Sie, Herr Rivers.«

Er sah mich erstaunt an, denn diese ungewohnte Schroffheit verblüffte ihn. Zu mir selbst sagte ich: Das ist noch gar nichts. So leicht kommen Sie mir nicht davon. Ich werde Sie mir noch gehörig vornehmen!

»Sie haben sich das Bild genau angeschaut, und ich habe nichts dagegen, wenn Sie es wieder tun wollen«, sagte ich und erhob mich und reichte ihm das Blatt.

»Ein sehr gut ausgeführtes Bild«, sagte er. »Die Farben sind sehr weich und doch klar, und die Zeichnung ist sehr genau und hat viel Grazie.«

»Ja, ja, das weiß ich alles. Aber wie steht es mit der Ähnlichkeit? Wen stellt es dar?«

Er zögerte ein wenig und sagte dann: »Ich nehme an, Fräulein Oliver.«

»Natürlich. Und um Sie dafür zu belohnen, daß Sie es so gut erraten haben, verspreche ich Ihnen eine naturgetreue Kopie dieses Bildes, sofern Ihnen ein solches Geschenk willkommen ist. Ich möchte meine Zeit nämlich nicht an etwas vergeuden, das Ihnen vielleicht wertlos erscheint.«

Er fuhr fort, auf das Bild zu starren, und je länger er es ansah, desto fester hielt er es in der Hand, als wolle er vollends davon Besitz ergreifen. Dann murmelte er: »Es ist ähnlich. Das Auge ist gut getroffen. Farbe, Licht und Ausdruck sind vollkommen. Es lächelt!«

»Wäre es tröstlich oder schmerzlich für Sie, ein ähnliches Bild zu besitzen? Sagen Sie mir das. Wenn Sie dann in Madagaskar oder am Kap oder in Indien sind, wäre es Ihnen ein Trost, diese Erinnerung bei sich zu haben, oder würde der Anblick nur schmerzliche Gefühle in Ihnen erwecken?«

Er warf mir einen flüchtigen Blick zu; er schien etwas verstört zu sein und vertiefte sich wieder in die Betrachtung des Bildes.

»Daß ich es gerne besitzen würde, ist gewiß. Aber ob es weise wäre, das ist eine andere Frage.«

Da ich wußte, daß Rosamond ihn wirklich liebte und daß ihr Vater nichts gegen eine Ehe einzuwenden hatte, hatte ich den Wunsch, alles dazu beizutragen, daß diese Verbindung zustande kam — und ich war ja nicht so überspannt wie St. John. Es schien mir, daß er, falls er einmal das große Vermögen Herrn Olivers erben sollte, genausoviel Gutes tun könnte, als wenn er seinen Geist und seine Kraft in der Tropensonne verdorren ließ.

Mit dieser Überzeugung sprach ich zu ihm:

»Soweit ich es beurteilen kann, wäre es tatsächlich ein weiserer Entschluß, wenn Sie das Original an sich nähmen.«

St. John hatte sich inzwischen hingesetzt. Nun legte er das Bild auf den Tisch, stützte seine Stirn in beide Hände und betrachtete es liebevoll. Ich bemerkte, daß er durch meine Kühnheit weder gekränkt noch deswegen böse war. Ich sah sogar, daß es ihn fast zu erleichtern schien, so offen über ein Thema sprechen zu können, das er bisher für unerwähnbar hielt, ja, daß ihm das sogar wie ein neues Vergnügen erschien. Verschlossenen Menschen tut ein offenes Gespräch über ihre Gefühle und Empfindungen oft besonders gut. Auch der ernsthafte Stoiker ist schließlich Mensch, und man erweist solchen Menschen nur einen großen Gefallen, wenn man sie sozusagen ins Wasser stößt, damit sie schwimmen müssen.

»Sie haben sie gern, davon bin ich überzeugt«, sagte ich, hinter seinem Stuhl stehend; »und ihr Vater schätzt Sie sehr. Außerdem ist sie ein liebes Mädchen — vielleicht etwas gedankenlos, aber dafür haben Sie ja Vernunft für zwei. Sie sollten sie wirklich heiraten.«

»Hat sie mich wirklich gern?«

»Bestimmt. Mehr als irgend jemanden sonst. Sie spricht ständig von Ihnen, und es gibt kein Thema, das ihr lieber ist.«

»Das ist sehr angenehm zu hören«, sagte er, »Wirklich sehr angenehm. Fahren Sie noch eine Viertelstunde damit fort.« Er nahm seine Uhr heraus, legte sie auf den Tisch, um die Zeit zu nehmen.

»Aber warum soll ich denn weiterreden, wenn Sie wahrscheinlich schon irgendein schlagendes Gegenargument bereithalten und damit nur Ihrem Herzen neue Ketten anschmieden wollen?«

»Denken Sie nicht so hart von mir. Stellen Sie sich einmal vor, ich öffnete mein Herz und ließe die menschliche Liebe wie eine erfrischende Quelle über mich kommen, ließe sie dann in meinem Geiste das in harter Arbeit bestellte Feld überfluten und die Saat meiner guten Vorsätze verkommen. Ich sehe mich schon im Salon von Vale Hall bequem auf einer Ottomane zu Rosamonds Füßen liegen. Sie flüstert mir Zärtlichkeiten mit ihrer süßen Stimme zu, blickt mir mit diesem herrlichen Ausdruck, den Sie so gut getroffen haben, in die Augen, lächelt mich mit ihren korallenfarbenen Lippen an. Sie ist mein, ich gehöre ihr, und dieses irdische und vergängliche Leben genügt mir vollauf. Still, unterbrechen Sie mich nicht — mein Herz erfreut sich. Mein Sinn ist beglückt — lassen Sie mich diese Zeitspanne voll auskosten.«

Ich mußte über ihn lächeln. Die Uhr tickte, er atmete tief und schwer, und ich verharrte schweigend. So verging die Viertelstunde. Er nahm seine Uhr, legte das Bild zurück auf den Tisch, erhob sich und trat an den Kamin.

»So«, sagte er. »Jetzt habe ich mich in dieser kleinen Zeitspanne meiner Illusion hingegeben; ich habe die Versuchung voll ausgekostet, mich ihrem verführerischen Duft hingegeben und ihren süßen Nektar getrunken. Aber jetzt weht mir wieder Kälte entgegen, der Wein schmeckt bitter, und alles ist Lug und Trug. Das weiß ich, und das sehe ich nur zu gut.«

Ich starrte ihn verblüfft an.

»Es ist seltsam«, fuhr er fort, »daß ich Rosamond so inbrünstig und leidenschaftlich lieben kann, in ihr all die Schönheit, Anmut und Zauberhaftigkeit sehe — und mir gleichzeitig ganz kühl bewußt bin, daß sie als Ehefrau für mich nichts taugt, daß sie gar nicht zu mir paßt; und ich bin überzeugt, daß eine Ehe mit ihr mir zwölf Monate Glück und darauf ein Leben voller Reue einbringen würde. Auch das weiß ich.«

»Das ist in der Tat seltsam«, konnte ich mich nicht enthalten auszurufen.

»Während ein Teil von mir ihren Reizen gegenüber nur allzu empfindlich ist«, fuhr er fort, »sieht ein anderer Teil ihre Fehler und Schwächen nur zu deutlich. Und diese sind derart, daß sie kein Verständnis für mein Streben und kein Mitgefühl für meine Arbeit und Aufgabe aufzubringen vermag. Rosamond eine Leidende, eine Kämpferin, ein weiblicher Apostel? Rosamond als die Frau eines Missionars? Niemals!«

»Aber Sie brauchen doch nicht Missionar zu sein. Sie könnten diesen Plan doch aufgeben.«

»Aufgeben? Meine Berufung? Mein großes Werk? Mein irdischer Grundstein zu meinem himmlischen Haus? Meine Hoffnung, zu jenen gezählt zu werden, die sich bemühen, der Menschheit zum Fortschritt zu verhelfen, etwas Wissen in die Wüstenei der Ignoranz zu bringen, den Krieg durch den Frieden zu ersetzen, die Sklaverei durch Freiheit, den Aberglauben durch Religion und die Höllenangst durch die himmlische Hoffnung? Das alles soll ich aufgeben? Diese Dinge sind mir mehr wert als das Blut in meinen Adern. Was hätte ich denn dann noch für ein Lebensziel?«

Ich schwieg eine Weile und sagte dann: »Und Fräulein Oliver? Bedeutet Ihnen ihre Enttäuschung und ihr Kummer überhaupt nichts?«

»Fräulein Oliver ist stets von Bewunderern, Freiern und Schmeichlern umgeben. In weniger als einem Monat wird Sie sich kaum noch an mich erinnern. Sie wird mich vergessen, und sie wird wahrscheinlich jemanden heiraten, der sie glücklicher zu machen vermag, als ich es je könnte.«

»Sie reden sehr kühl darüber, aber im Grunde leiden Sie an diesem Kampf. Sie reiben sich auf.«

»Nein. Wenn ich etwas besorgt oder mager aussehe, so ist das nur meinen noch etwas ungewissen Plänen zuzuschreiben und besonders meiner immer wieder aufgeschobenen Abreise. Erst heute früh erhielt ich die Nachricht, daß der Nachfolger, dessen Ankunft ich seit langem erwartete, mich erst in drei Monaten ablösen kann, und vielleicht werden aus diesen drei Monaten am Ende sechs.«

»Sie zittern und erröten, sobald Fräulein Oliver in Ihrem Klassenzimmer auftaucht.«

Wieder sah er mich überrascht an. Er konnte sich nicht vorstellen, daß eine Frau es wagte, so zu einem Mann zu sprechen. Mir allerdings schien solche Rede gar zu angemessen. Nie konnte ich mit einem starken, gebildeten und feinen Geist verkehren — sei er männlich oder weiblich —, ohne die Schranken konventioneller Zurückhaltung zu durchbrechen, in sein Vertrauen einzudringen und mir ein Plätzchen am Kamin seines Herzens zu suchen.

»Sie sind wirklich originell«, sagte er, »und durchaus nicht schüchtern; Sie haben etwas Tapferes an sich, und Sie sehen die Dinge sehr scharf. Dennoch gestatten Sie mir, daß ich Ihnen versichere, daß Sie meine Gefühle mißdeuten. Sie halten sie für viel tiefer und mächtiger, als sie es wirklich sind. Und Sie bringen mir ein Mitgefühl entgegen, auf das ich kaum Anspruch habe. Wenn ich vor Fräulein Oliver zittere und erröte, so bin ich nicht zu bedauern, sondern eigentlich nur ein Schwächling, und das beschämt mich. Ich weiß sehr wohl, daß es unwürdig ist — ein bloßes Fieber des Fleisches, aber eine Seelenwallung ist es durchaus nicht. Denn meine Seele ist stark wie der Fels im woenden Meer. Sehen Sie in mir, was ich bin — einen kalten, harten Mann.«

Ich lächelte ungläubig.

»Sie haben sich im Sturm mein Vertrauen erobert«, fuhr er fort; »und nun will ich es Ihnen auch weiterhin schenken. Ich bin wirklich von Natur aus ein kalter, harter, egoistischer Mann — wenn ich auch diese Fehler unter dem blutbefleckten Gewand des Christentums verberge. Einzig und allein natürliche Zuneigung hat eine Macht über mich, sonst lasse ich mich nur vom Verstand und nicht von meinen Gefühlen leiten. Mein Ehrgeiz kennt keine Grenzen. Ich habe den unersättlichen Wunsch, höher zu gelangen und mehr zu tun als andere. Ich ehre Ausdauer, Fleiß, Intelligenz und Begabung, denn sie sind die Mittel, mit denen man hohe Ziele erreicht und zu hohen Würden gelangt. Ich verfolge mit Interesse Ihre Entwicklung, denn ich betrachte Sie als eine fleißige, strebsame und energische Frau, und nicht weil ich Sie um Ihrer vergangenen oder zukünftigen Leiden willen bemitleide.«

»Damit entsprechen Sie etwa einem heidnischen Philosophen«, sagte ich.

»Nein. Zwischen mir und den heidnischen Philosophen besteht ein Unterschied. Ich glaube, und ich glaube an das Evangelium. Sie haben eine falsche Bezeichnung gewählt. Ich bin kein heidnischer, sondern ein christlicher Philosoph — ein Jünger Jesus; und als sein Jünger befolge ich seine reine, gnadenreiche Heilslehre. Ihr bin ich ergeben, und ich habe mir gelobt, sie zu verbreiten. Von Jugend an hat die Religion mich geleitet, meine natürlichen Fähigkeiten entwickelt und sie hat aus dem winzigen Keim des natürlichen Zuneigungsgefühls den großen, schattenspendenden Baum der Menschenliebe sprießen lassen. Sie hat aus den wilden Wurzeln menschlichen Rechtsempfindens wahren Sinn für göttliche Gerechtigkeit entwickelt. Aus meiner ursprünglichen Ruhm- und Machtsucht für mich selbst hat sie mir den Ehrgeiz eingegeben, für das Königreich meines Herrn zu kämpfen und Siege für das Kreuz zu erfechten. Das hat die Religion für mich getan. Sie hat das Beste aus meinem Rohstoff gemacht und meine Natur veredelt.«

Mit diesen Worten nahm er seinen Hut, der auf dem Tisch neben meinem Malkasten lag, und dabei schaute er noch einmal auf das Porträt.

»Sie ist lieblich«, murmelte er. »Sie verdient ihren Namen; Rose der Welt.«

»Und soll ich für Sie kein Bild davon malen?«

»Cui bono? Nein.«

Er zog das dünne Blatt Papier, das ich beim Malen als Unterlage benützte, über das Bild. Was er erblickte, konnte ich nicht ergründen, aber irgend etwas war ihm aufgefallen. Er riß es an sich, sah auf den Rand, warf einen seltsamen und mir ganz unverständlichen Blick auf mich, einen Blick, der von jeder Einzelheit meiner Gestalt, meines Gesichtes und meiner Kleidung blitzartig Bestand aufzunehmen schien. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich aber anders.

»Was haben Sie?« fragte ich.

»Nichts, gar nichts«, antwortete er; und während er das Papier zurücklegte, sah ich ihn einen schmalen Streifen vom Rand abreißen und in seinen Handschuh schieben. Er rief mir noch ein kurzes »Guten Abend!« zu und verschwand.

»Nun, da soll mich doch …«, rief ich aus.

Ich untersuchte nun meinerseits das Papier, konnte aber außer ein paar Farbflecken nichts finden. Ich grübelte noch ein paar Minuten lang über dieses Rätsel, aber da mir seine Lösung dunkel blieb und da die ganze Sache mir auch nicht sehr wichtig schien, gab ich es auf, und bald hatte ich es vergessen.

33

Als St. John fortging, begann es zu schneien, und die ganze Nacht hindurch wirbelte der Schneesturm. Am nächsten Tag schneite es immer noch, und um die Dämmerstunde war das ganze Tal schneeverweht und fast unpassierbar. Ich hatte meine Fensterläden geschlossen, eine Matte vor die Tür gelegt, damit der Schnee nicht hereinwehte, schürte mein Feuer, und nachdem ich fast eine Stunde am Kamin gesessen und dem tobenden Wind gelauscht hatte, zündete ich eine Kerze an und nahm mir den Gedichtband »Marmion« vor. Bald hatte ich über der Musik der Verse den Sturm vergessen.

Da hörte ich ein Geräusch. Ich dachte mir, es sei der Wind, der an der Türe rüttelte. Aber es war St. John Rivers, der den Riegel zurückschob und aus Nacht und Kälte hereinkam. Seine hohe schneebedeckte Gestalt war so weiß wie ein Gletscher. Ich erschrak, denn in solch einer Nacht hatte ich keinen Gast erwartet. »Ist irgend etwas geschehen?« fragte ich.

»Nein. Wie leicht Sie beunruhigt sind!« antwortete er, nahm seinen Mantel ab und hängte ihn an die Tür und schob auch die Matte, die er beim Hereinkommen verschoben hatte, an ihren alten Platz zurück. Dann stampfte er sich den Schnee von den Stiefeln.

»Ich mache Ihnen Ihren sauberen Fußboden schmutzig«, sagte er; »aber für diesmal müssen Sie mich entschuldigen.« Dann trat er vor das Feuer. »Es war gewiß nicht leicht, bis zu Ihnen zu kommen«, bemerkte er, als er sich die Hand über den Flammen erwärmte. »Einmal bin ich bis über die Hüften in den Schnee versunken, aber glücklicherweise ist der Schnee noch pulverig.«

»Aber warum sind Sie gekommen?« konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.

»Das ist nicht gerade eine gastfreundliche Frage; aber da Sie es genau wissen wollen, will ich es Ihnen sagen: Ich wollte mit Ihnen ein wenig plaudern. Ich war meiner Bücher und meiner Lehrstudien überdrüssig. Und außerdem fühle ich mich seit gestern wie jemand, dem man eine Geschichte zur Hälfte erzählt hat und der nun gespannt auf die Fortsetzung wartet.«

Er setzte sich. Ich dachte an sein seltsames Benehmen am gestrigen Tag und begann mich ernsthaft zu fragen, ob er noch bei klarem Verstand sei. Falls er wahnsinnig sein sollte, so mußte sein Wahn von außerordentlich ruhiger und klarer Art sein. Noch nie hatte ich ihn so hübsch aussehend gefunden wie da, als er sich das vom Schnee nasse Haar aus der Stirn strich und das Feuer des Kamins sein blasses Gesicht beleuchtete, das von Kummer und Sorge geprägt war. Ich wartete, hoffte, daß er wenigstens etwas mir Verständliches sagen würde; aber er hatte das Kinn in die Hände gestützt und war in Gedanken versunken. Es fiel mir auf, daß seine Hand ebenso abgezehrt wie sein Gesicht aussah. Vielleicht empfand ich ein plötzliches Mitleid, denn ich sagte:

»Ich wollte, Diana und Mary könnten bei Ihnen wohnen. Es ist nicht gut für Sie, immer allein zu sein, und Sie achten auch gar nicht auf Ihre Gesundheit.«

»Das ist es nicht«, sagte er. »Ich sorge schon für mich, wenn es nötig ist. Ich fühle mich augenblicklich sehr wohl. Was soll mir denn Ihrer Meinung nach fehlen?«

Er sagte das mit solcher Gleichgültigkeit, um mich fühlen zu lassen, daß meine Besorgnis, zumindest in seinen Augen, völlig überflüssig war. Ich schwieg.

Er saß immer noch da und fuhr sich mit dem Finger über die Lippen, und seine Augen blickten gedankenverloren in das Feuer. Nur um irgend etwas zu sagen, fragte ich ihn, ob es ihm nicht zugig sei, denn die Tür war hinter ihm.

»Nein, nein«, antwortete er kurz und fast ungeduldig.

Aha, dachte ich mir; wenn du nicht sprechen willst, bleibe nur bei deinen Gedanken. Ich werde mich wieder in mein Buch vertiefen.

So nahm ich die Kerze und machte mich wieder an meinen »Marmion«. Bald spürte ich, daß er sich bewegte, und als ich aufblickte, sah ich, wie er seine lederne Brieftasche aus seiner Jacke zog, ihr einen Brief entnahm, den er schweigend las, dann zusammenfaltete, wieder in die Brieftasche tat, um sich weiter seinen Grübeleien hinzugeben. Wie sollte ich da noch weiterlesen, bei all diesem unverständlichen, geheimnisvollen Getu! Und ich konnte auch nicht lange schweigen. Sollte er mir nur eine schroffe Antwort geben, aber reden mußte ich auf jeden Fall.

»Haben Sie in letzter Zeit von Diana und Mary gehört?«

»Nicht seit dem Brief, den ich Ihnen vorige Woche zeigte.«

»Dann hat sich in Ihren Dispositionen also nichts geändert? Oder hat man sie aufgefordert, England früher als geplant zu verlassen?«

»Ich fürchte, nein. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.«

So kam ich nicht weiter; dafür wechselte ich das Thema. Ich sprach zunächst über die Schule und über meine Schülerinnen.

»Mary Garretts Mutter geht es besser, und Mary kam heute früh zur Schule zurück und in der nächsten Woche werde ich vier neue Schülerinnen haben. Es sind die Töchter von Arbeitern aus der Gießerei. Sie wären schon heute gekommen, wenn es nicht so geschneit hätte.«

»So, so.«

»Herr Oliver bezahlt für zwei von ihnen.«

»Wirklich?«

»Er will für die ganze Schule zu Weihnachten ein Fest veranstalten.«

»Ich weiß.«

»War das Ihre Idee?«

»Nein.«

»Wessen Idee war es wohl?«

»Die seiner Tochter, glaube ich.«

»Es sieht ihr ähnlich: Sie ist so lieb.«

»Ja.«

Und wieder herrschte Schweigen. Die Uhr schlug acht. Das erweckte ihn aus seinen Träumereien. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und wandte sich an mich.

»Legen Sie Ihr Buch für einen Augenblick beiseite und kommen Sie näher ans Feuer«, sagte er.

Ich gehorchte. Meine Verwunderung kannte keine Grenzen.

Er fuhr fort:

»Vor einer halben Stunde sprach ich von meiner Ungeduld, die Fortsetzung einer Geschichte zu hören. Nachdem ich es mir überlegt habe, glaube ich der Sache besser zu dienen, wenn ich zunächst einmal weitererzähle und Sie meine Zuhörerin sind. Aber bevor ich beginne, muß ich Sie warnen, daß diese Geschichte Ihnen abgeschmackt vorkommen mag. Doch oft scheinen abgedroschene Einzelheiten sich neu zu beleben, wenn man sie neu erzählt. Im übrigen ist meine Geschichte kurz.

Vor zwanzig Jahren verliebte sich ein armer Landpfarrer — sein Name tut im Augenblick nichts zur Sache — in die Tochter eines reichen Mannes. Sie liebte ihn auch, und sie heirateten gegen den Willen aller ihrer Verwandten, was zur Folge hatte, daß sie sofort nach der Hochzeit enterbt wurde. Bevor kaum zwei Jahre vergangen waren, lag das unbesonnene Paar unter dem gleichen Grabstein in der Erde. (Ich habe ihr Grab gesehen, es liegt auf dem großen Friedhof einer häßlichen Fabrikstadt.) Sie hinterließen eine Tochter, die von Geburt an auf Wohltätigkeit angewiesen war, jene Wohltätigkeit, die kälter ist als der Schnee, in dem ich heute abend fast versank. Dieses freundlose Wesen wurde nun in das Haus reicher, mütterlicher Verwandten gesteckt, und dort wurde sie von einer Tante erzogen, die — jetzt muß ich Namen nennen — Frau Reed hieß und in Gateshead lebte. Sie sehen so erschreckt aus — haben Sie ein Geräusch gehört? Es ist nur eine Katze, die im Schulzimmer herumläuft. Bevor die Scheune repariert wurde, gab es dort viele Ratten und folglich auch viele Katzen. Aber fahren wir fort. Frau Reed behielt das Waisenkind zehn Jahre lang bei sich. Ob es dort glücklich war oder nicht, kann ich nicht sagen, denn man hat es mir nie erzählt; ich weiß nur, daß sie nach dieser Zeit in eine Schule geschickt wurde, die Sie wohl kennen — die Schule von Lowood, wo ja auch Sie sehr lange lebten. Sie scheint sich dort sehr gut gehalten zu haben, denn sie war zuerst Schülerin und wurde dann Lehrerin, ganz wie Sie — es ist doch merkwürdig, Wie die Geschichte dieses Waisenkindes der Ihren ähnlich ist. Sie verließ die Schule, um eine Stelle als Erzieherin anzunehmen, und zog in das Haus eines gewissen Herrn Rochester.«

»Herr Rivers!« unterbrach ich ihn.

»Ich kann Ihre Gefühle erraten«, sagte er; »aber gedulden Sie sich noch ein wenig, ich bin fast zu Ende; hören Sie mir bis zum Ende zu. Über Herrn Rochester weiß ich nichts außer der einen Tatsache, daß er diesem jungen Mädchen in aller Form seine Hand anbot und es sich plötzlich am Altar herausstellte, daß er bereits verheiratet war. Seine Frau lebte noch, aber sie war wahnsinnig. Was sich daraufhin zutrug, ist recht ungewiß; man weiß nur, daß die junge Erzieherin, als man wegen einer anderen Angelegenheit Nachforschung über sie anstellte, spurlos verschwunden war — niemand wußte zu sagen, wann, wohin oder wie. Sie hatte Thornfield Hall in jener Nacht verlassen. Alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Man hat das Land weit und breit durchsucht, fand aber weder eine Spur noch irgendeinen Hinweis über ihr Verbleiben. Und doch ist es nun dringend notwendig, daß sie gefunden wird. In allen Zeitungen sind Aufrufe erschienen, und ich selbst habe einen Brief von einem gewissen Herrn Briggs, einem Anwalt, erhalten, der mir das, was ich Ihnen eben sagte, in allen Einzelheiten mitteilte. Nun, ist das nicht eine seltsame Geschichte?«

»Sagen Sie mir nur eines«, sagte ich, »und da Sie schon soviel wissen, können Sie mir das bestimmt auch sagen: Was ist mit Herrn Rochester geschehen? Wie geht es ihm, und wo ist er? Was tut er? Ist er bei guter Gesundheit?«

»Ich weiß überhaupt nichts, was Herrn Rochester betrifft. In dem Brief wird er nur im Zusammenhang mit dem betrügerischen Heiratsversuch erwähnt, von dem ich Ihnen erzählt habe. Sie sollten sich lieber nach dem Namen der Erzieherin erkundigen — und nach dem Grund, weshalb sie so eifrig gesucht wird.«

»Dann ist also niemand nach Thornfield Hall gegangen? Und niemand hat Herrn Rochester gesehen?«

»Vermutlich nicht.«

»Aber man hat ihm geschrieben?« — »Natürlich.«

»Und was sagte er? Wer hat seine Briefe?«

»Herr Briggs erwähnt, daß die Antwort auf seine Briefe nicht von Herrn Rochester, sondern von einer Dame namens Alice Fairfax unterschrieben sind.«

Ein kalter Schauer überlief mich. Sollten sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet haben? Wahrscheinlich hatte er England verlassen und irrte verzweifelt durch irgendein europäisches Land. Und welche Droge hatte er dort für seinen Schmerz und seine Leidenschaft gesucht? Diese Frage wagte ich mir nicht zu beantworten. Ach, mein armer Herr — einst war er fast mein Mann — und wie oft hatte ich ihn »meinen lieben Edward« genannt!

»Er muß ein schlechter Mensch gewesen sein«, bemerkte Herr Rivers.

»Sie kennen ihn nicht — beurteilen Sie ihn nicht voreilig«, sagte ich, und meine Stimme verriet die Wärme meines Gefühls.

»Nun gut«, erwiderte er ruhig; »und ich habe ja auch andere Sorgen als ihn. Lassen Sie mich die Geschichte zu Ende erzählen. Da Sie mich nicht nach dem Namen der Erzieherin fragen, muß ich es Ihnen sagen. Bleiben Sie! Hier ist es — es ist immer besser, wichtige Dinge schriftlich zu geben. Da steht es schwarz auf weiß.«

Und wieder zog er die Brieftasche heraus, öffnete sie und entnahm ihr einen kleinen Fetzen Papier, den ich als den Rand meiner Porträtstudie erkannte. Er stand auf und hielt es mir vor die Augen, und ich las es in meiner eigenen Schrift — da standen die Worte JANE EYRE. Ich mußte sie in einem Augenblick der Geistesabwesenheit hingeschrieben haben.

»Herr Briggs schrieb mir von einer Jane Eyre«, sagte er. »Die Anzeigen in den Zeitungen bezogen sich auf eine Jane Eyre. Ich kannte Jane Elliott, und ich muß gestehen, daß ich meine Zweifel hatte; aber erst gestern nachmittag wurden sie zur Gewißheit. Sind Sie nun Jane Eyre, und wollen Sie in Zukunft auf Ihren falschen Namen verzichten?«

»Ja — ja. Aber wo ist Herr Briggs? Vielleicht weiß er mehr über Herrn Rochester als Sie.«

»Briggs ist in London. Ich bezweifle, daß er irgend etwas über Herrn Rochester weiß, und er interessiert sich auch nicht für Herrn Rochester. Und Sie scheinen das Wichtigste dieser Angelegenheit zu vergessen und fragen nur nach Nebensächlichkeiten. Wollen Sie denn gar nicht wissen, warum Herr Briggs nach Ihnen geforscht hat und was er Ihnen zu sagen hat?«

»Nun gut. Was wollte er?«

»Er wollte Ihnen mitteilen, daß Ihr Onkel, Herr Eyre in Madeira, gestorben ist. Daß er Ihnen sein ganzes Vermögen hinterlassen hat. Daß Sie nun reich sind — nur das — sonst nichts.«

»Ich, reich?«

»Ja, Sie sind reich — sie sind eine reiche Erbin.«

Es folgte Schweigen.

»Sie werden natürlich Ihre Identität nachweisen müssen«, nahm St. John das Gespräch wieder auf. »Das sollte keine Schwierigkeiten machen. Und dann können Sie die Erbschaft sofort antreten. Ihr Vermögen ist in englischen Staatspapieren angelegt. Briggs hat das Testament und die nötigen Dokumente.«

Das war eine Wendung! Es ist ein schönes Gefühl, lieber Leser, in einem Augenblick reich zu werden — es ist ein schönes Gefühl, aber es ist etwas, das unser Verständnis übersteigt— und schon deshalb genießt man es nicht sofort. Und dann gibt es schließlich im Leben andere Glücksfälle, die viel erregender sind. Hier ging es um irdischen Besitz, um etwas rein Materielles, um nichts, das den Geist oder die Seele in Jubel versetzen könnte. Und deshalb war es kein Anlaß, fröhlich herumzuspringen und Hurra zu schreien. Wenn man erfährt, daß man plötzlich ein Vermögen besitzt, beginnt man zuerst, über seine neue Verantwortung und über gesellschaftliche Dinge nachzudenken. Und das sind nun einmal Dinge, die man nur mit nüchterner Ernsthaftigkeit erledigen kann.

Außerdem sind die Worte Erbschaft, Hinterlassenschaft eng mit den Worten Tod und Begräbnis verbunden. Mein Onkel war also gestorben — und er war mein einziger Verwandter. Seit dem Tage, als ich erfuhr, daß er existierte, hatte ich gehofft, ihn einmal zu sehen. Das konnte ich nun nicht mehr. Und da kam dieses Geld nun zu mir. Nicht zu mir und einer erfreuten Familie, sondern einzig und allein zu mir, einem einsamen Wesen. Gewiß, es war ein großes Glück, nun würde ich endlich unabhängig sein — ja, das war besonders wichtig — und bei diesem Gedanken schwoll mir das Herz.

»Endlich weichen die Falten von Ihrer Stirn«, sagte Herr Rivers. »Ich glaubte schon, die Medusa hätte Sie angesehen und Sie zu Stein verwandelt. Vielleicht möchten Sie mich jetzt fragen, wieviel Sie wert sind?«

»Wieviel bin ich denn wert?«

»Oh, eine Kleinigkeit. Nicht der Rede wert — etwas zwanzigtausnd Pfund, heißt es, aber was ist das schon?«

»Zwanzigtausend Pfund?«

Das war eine neue Überraschung. Ich hatte mit vier- oder fünftausend gerechnet. Diese Nachricht verschlug mir den Atem. St. John, den ich noch nie hatte lachen hören, brach nun in schallendes Gelächter aus.

»Also«, sagte er, »Wenn Sie einen Mord begangen hätten und ich Ihnen jetzt mitteilte, daß Ihre Tat entdeckt worden ist, hätten Sie auch nicht entgeisterter dreinschauen können.«

»Es ist eine hohe Summe — glauben Sie nicht, daß es ein Irrtum ist?«

»Ein Irrtum ist ausgeschlossen.«

»Vielleicht haben Sie die Zahlen falsch gelesen — vielleicht sind es zweitausend.«

»Es ist in Buchstaben geschrieben und nicht in Zahlen — Zwanzigtausend.«

Ich kam mir vor wie ein Tischgast mit durchschnittlichem Appetit, der ganz allein an einer Tafel, die für hundert gedeckt ist, essen soll.

»Wenn es nicht eine so stürmische Nacht wäre«, sagte er, »Würde ich Ihnen Hannah zur Gesellschaft schicken. Sie sehen wirklich zu elend aus, um allein zu bleiben. Aber die arme, alte Hannah würde es bis hierher nicht schaffen. Ihre Beine sind nicht lang genug für den tiefen Schnee. So muß ich Sie allein Ihrem Kummer überlassen. Gute Nacht.«

Er öffnete schon die Tür, und da kam mir ein plötzlicher Gedanke. »Warten Sie einen Augenblick!« rief ich.

»Nun?«

»Ich möchte gerne wissen, warum Herr Briggs ausgerechnet Ihnen schrieb. Kannte er Sie? Wie kam er darauf, sich vorzustellen, daß gerade Sie in dieser öden, abgelegenen Gegend ihm helfen könnten, mich ausfindig zu machen.«

»Ach, ich bin doch Pfarrer«, sagte er. »Und an Pfarrer wendet man sich oft in den ausgefallensten Angelegenheiten.«

Wieder schob er den Riegel zurück.

»Nein, das überzeugt mich nicht!« rief ich aus; und wirklich war in der Art, in der er mir so hastig geantwortet hatte, etwas Ausweichendes, und das erregte meine Neugierde noch mehr.

»Es ist tatsächlich eine sehr seltsame Angelegenheit«, sagte ich. »Ich muß unbedingt mehr darüber wissen.«

»Ein anderes Mal.«

»Nein, heute abend! Heute abend!« Ich stellte mich zwischen ihn und die Tür. Er schaute ziemlich verlegen drein.

»Ich lasse Sie nicht gehen, ehe Sie mir nicht alles gesagt haben.«

»Lieber nicht jetzt.«

»Doch! Sie müssen!«

»Mir wäre es lieber, Diana und Mary würden es Ihnen sagen.«

Natürlich trieb diese Bemerkung meine Neugierde auf die Spitze. Jetzt mußte ich alles und sofort wissen! Und sagte es ihm unverhohlen.

»Aber ich warnte Sie doch schon. Ich bin ein harter Mann und schwer zu überreden.«

»Und ich bin eine harte Frau — ich lasse mich nicht abschüteln.«

»Und außerdem«, fuhr er fort, »bin ich kühl; keine Leidenschaft vermag mir etwas anzuhaben.«

»Dafür bin ich glühend, und Feuer schmilzt das Eis. Hat das Kaminfeuer nicht all den Schnee von Ihrem Mantel aufgetaut, so daß mein Fußboden wie eine überschwemmte Straße aussieht? Herr Rivers, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen je die Verschmutzung meines Küchenbodens verzeihen soll, dann müssen Sie mir jetzt sofort sagen, was ich wissen will.«

»Nun gut«, sagte er, »ich gebe nach; aber nicht etwa, weil Sie mich überzeugt hätten: Steter Tropfen höhlt den Stein. Außerdem werden Sie es ja eine Tages sowieso erfahren — warum also nicht jetzt. Ihr Name ist also Jane Eyre?«

»Natürlich. Das ist ja nun geklärt.«

»Aber vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, daß ich St. John Eyre-Rivers getauft wurde?«

»Nein, das ahnte ich nicht. Ich sah zwar in den Büchern, die Sie mir gelegentlich lieben, ein ›E‹ bei Ihrem Namen, habe mich aber nie gefragt, was das bedeutete. Aber dann — dann —«

Ich hielt inne. Sollte es wirklich wahr sein? Ein plötzlicher Gedanke war in mir aufgestiegen, hatte Form angenommen und war nun zu einer Wahrscheinlichkeit geworden. Umstände reihten sich aneinander, und die Kette, die bisher eine formlose Masse von Ringen darstellte, fügte sich nun zu einem herrlichen Ganzen zusammen. Ich wußte in meinem Innersten Bescheid, ehe St. John weitersprach, aber ich kann von dem Leser nicht die gleiche Reaktion erwarten, und so fahre ich mit seiner Erklärung fort:

»Meine Mutter hieß Eyre. Sie hatte zwei Brüder, einer war Pfarrer und heiratete Jane Reed von Gateshead; der andere John Eyre war Kaufmann in Funchal in Madeira, wo er kürzlich starb. Herr Briggs, der meines Onkels Anwalt ist, teilte uns im letzten August den Todesfall mit und schrieb uns, daß er sein ganzes Vermögen der Tochter des Pfarrers überlassen und uns, infolge eines nie beigelegten Streites zwischen ihm und meinem Vater, übergangen habe. Vor ein paar Wochen schrieb er uns wieder, die Erbin sei unauffindbar und ob wir etwas von ihr wüßten. Ein Fetzchen Papier ermöglichte es mir, sie zu finden. Den Rest wissen Sie.« Wieder wandte er sich zum Gehen, und wieder verstellte ich ihm den Weg.

»Lassen Sie mich reden«, sagte ich.

»Aber geben Sie mir einen Augenblick Zeit, Atem zu holen und nachzudenken.« Nach einer Weile fuhr ich fort:

»Ihre Mutter war also die Schwester meines Vaters?«

»Ja.«

»Folglich also meine Tante?«

Er nickte.

»Mein Onkel John war Ihr Onkel John? Sie und Diana und Mary sind die Kinder seiner Schwester — so wie ich das Kind seines Bruders bin?«

»Unzweifelhaft.«

»Dann seid ihr drei also meine Verwandten? Wir haben zur Hälfte das gleiche Blut in den Adern?«

»Wir sind Geschwisterkinder, ja.«

Ich sah ihn an. So hatte ich also einen Bruder gefunden, einen Bruder, auf den ich stolz sein konnte, und zwei Schwestern, deren gute Eigenschaften ich schon bewundert hatte, als sie noch Fremde für mich waren. Die beiden Mädchen, die ich damals, auf dem nassen Boden kniend, durch das Küchenfenster mit einem Gefühl der Bitternis, der Neugierde und Verzweiflung beobachtet hatte, waren meine Verwandten; und der junge stattliche Herr, der mich halb tot vor seiner Haustür auf gelesen hatte, war mein Vetter. Welch herrliche Entdeckung war das für mich einsames Wesen! Das war wahrer Reichtum! Reichtum des Herzens — ein unerschöpflicher Schatz lieber Gefühle. Dieser Segen leuchtete viel heller, war viel kostbarer als alles Gold, das zwar auch willkommen war, mir aber längst nicht soviel bedeutete. Von plötzlicher Freude überwältigt, klatschte ich in die Hände — mein Herz pochte, und Wärme durchströmte mich. »Ach, ich bin ja so froh! Ich bin ja so glücklich!« rief ich aus.

St. John lächelte: »Sagte ich nicht, daß Sie das Wichtigste vergessen und sich mit Kleinigkeiten aufhalten?« fragte er. »Als ich Ihnen sagte, daß Sie ein Vermögen geerbt haben, wurden sie ganz ernsthaft, und nun geraten Sie wegen einer Unwichtigkeit in Verzückung.«

»Wie können Sie das nur sagen? Für Sie mag es etwas Unwichtiges sein. Sie haben ja Schwestern — und brauchen eine Kusine nicht. Aber ich hatte niemanden auf der Welt, und nun habe ich drei Verwandte — oder wenigstens zwei, falls Sie nicht mitgerechnet werden wollen —, und sie wurden mir ganz plötzlich geschenkt. Und so sage ich mit Recht, daß ich froh und glücklich bin.«

Ich ging im Zimmer auf und ab. Dann blieb ich stehen. Ich erstickte fast in der Flut meiner Gedanken, die mich rasch überfielen und deren ich nicht ganz Herr werden konnte, Gedanken an das, was geschehen mochte, konnte, sollte oder würde. Pläne überstürzten sich in meinem Kopf. Ich blickte auf die leere Wand vor mir, und sie erschien mir wie ein Himmel voller Sterne. Die Menschen, die mir das Leben gerettet hatten und denen ich bisher nur fruchtlose Dankbarkeit bezeugen konnte — diesen Menschen konnte ich jetzt helfen. Sie lebten unter einem schweren Joch —, ich konnte sie davon befreien. Das Schicksal hatte sie in alle Winde verstreut; ich konnte sie wieder zusammenbringen. Die Unabhängigkeit und der Wohlstand, die mir in den Schoß gefallen waren, sollten auch ihnen zugute kommen. Waren wir nicht vier? Zwanzigtausend Pfund durch vier geteilt, das gab fünftausend für jeden das war übergenug. Der Gerechtigkeit war Genüge getan und unser aller Glück sichergestellt. Jetzt lastete der Reichtum nicht mehr auf mir, sondern er wurde mir zur Quelle neuen Lebens, zu Hoffnung und Freude.

Ich weiß nicht, wie ich aussah, als mich diese Gedanken bestürmten, aber ich sah, daß Herr Rivers mir einen Stuhl zuschob und sanft versuchte, mich zum Hinsetzen zu bringen.

Er ermahnte mich auch, mich zusammenzunehmen; ich aber erhob mich und nahm meine Wanderung wieder auf.

»Schreiben Sie morgen früh an Diana und Mary«, sagte ich, »und bitten Sie sie, sofort heimzukommen. Diana sagte, sie würden sich mit tausend Pfund reich schätzen; dann werden sie also mit fünftausend Pfund mehr als genug haben.«

»Sagen Sie mir, wo ich Ihnen ein Glas Wasser holen kann«, sagte St. John. »Sie sollten sich jetzt wirklich zu beruhigen versuchen.«

»Zu beruhigen! Sagen Sie mir lieber, was diese Erbschaft für Sie bedeutet. Werden Sie jetzt in England bleiben und Fräulein Oliver heiraten und sich hier niederlassen wie ein gewöhnlicher Sterblicher?«

»Sie reden irre. Sie sind ganz durcheinander; die Nachricht hat Ihnen eine Schock versetzt und Sie viel zu sehr erregt.«

»Herr Rivers! Jetzt verliere ich aber die Geduld. Ich rede ganz vernünftig, aber Sie mißverstehen mich oder wollen mich mißverstehen.«

»Vielleicht könnte ich es besser verstehen, wenn Sie mir die Sache ein wenig erklärten!«

»Erklären! Was gibt es da zu erklären? Sie müssen doch einsehen, daß zwanzigtausend Pfund, unter einem Neffen und drei Nichten unseres Onkels verteilt, fünftausend für jeden ergeben. Und deshalb bitte ich Sie, an Ihre Schwestern zu schreiben und Ihnen mitzuteilen, was sie geerbt haben.«

»Sie meinen, was Sie geerbt haben.«

»Ich habe Ihnen bereits meinen Standpunkt klargemacht und ich werde ihn nicht ändern. Ich bin weder hart und selbsüchtig, noch ungerecht oder undankbar. Außerdem will ich ein Heim und eine Familie haben. Ich liebe Moor House, und dort will ich leben. Ich liebe Diana und Mary, und ich möchte mit ihnen zusammen sein. Mit fünftausend Pfund wäre ich reich und glücklich, aber zwanzigtausend Pfund würden mich nur bedrücken, und außerdem kommen sie mir vielleicht dem Gesetz nach zu, aber einen gerechten Anspruch auf sie habe ich nicht. Also bitte keine Widerrede und keine langen Diskussionen! Einigen wir uns untereinander und machen wir die Sache jetzt gleich ab.«

»Sie handeln jetzt in der Hitze des Augenblicks. Ein solcher Schritt will überlegt sein, und Sie sollten sich ein paar Tage Zeit dazu nehmen, denn sonst könnte Ihr Wort nicht für voll genommen werden.«

»Ach, Sie bezweifeln also, daß ich es wirklich ernst meine? Nun gut: Finden Sie nicht, daß mein Entschluß gerecht ist?«

»Eine gewisse Gerechtigkeit mag schon dran sein; aber ein solcher Entschluß widerspricht allen Gepflogenheiten. Außerdem steht Ihnen das ganze Vermögen dem Gesetz nach zu. Mein Onkel hat es sich durch seine Arbeit verdient, und es stand ihm frei, es wem er wollte zu hinterlassen. Und er hat es Ihnen hinterlassen. Schließlich und endlich sind Sie berechtigt, es ganz für sich zu behalten, und Sie können es mit völlig reinem Gewissen als Ihren Besitz betrachten.«

»Aber für mich«, sagte ich, »ist es ebensosehr eine Sache des Gefühls wie des Gewissens, und meinen Gefühlen muß ich gehorchen. Ich hatte so selten Gelegenheit, es zu tun. Und wenn Sie ein ganzes Jahr lang darüber streiten, mir widersprechen und mich daran hindern wollen, so werde ich mich nicht des köstlichen Vergnügens enthalten, jener wahren Freude, die jetzt in meinen Möglichkeiten steht: Wenigstens zum Teil eine große Schuld zu bezahlen und mir Freunde fürs Leben zu gewinnen.«

»Das glauben Sie jetzt«, sagte St. John, »obwohl Sie noch gar nicht wissen, was Besitz und die Freude am Besitz bedeuten. Sie können ja gar nicht ermessen, was Sie alles mit zwanzigtausend Pfund anfangen können. Mit diesem Geld können Sie sich leicht einen Platz in der Gesellschaft erobern; und denken Sie an die Möglichkeiten, die Ihnen da offenstehen. Sie können einfach nicht —«

»Und Sie«, unterbrach ich ihn, »und Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie ich mich nach geschwisterlicher Liebe gesehnt habe. Ich hatte nie ein Heim, nie einen Bruder oder Schwestern. Und jetzt kann und will ich sie haben. Oder widerstrebt es Ihnen, mich als Ihre Schwester zu betrachten?«

»Jane, ich will Ihr Bruder sein — meine Schwestern werden Ihre Schwestern sein — aber deshalb brauchen Sie nicht dieses Opfer zu bringen und Ihr verbrieftes Recht preisgeben.«

»Bruder? Ja, tausend Meilen fern von mir. Schwestern? Ja. Aber die müssen bei fremden Leuten dienen, während ich hier im Wohlstand sitze, im Gold ersticke, das ich mir nicht selbst verdient habe. Und ihr solltet arm bleiben? Was wäre das für eine Brüderlichkeit? Fürwahr, eine schöne Gemeinschaft! Eine innige Verbindung!«

»Aber Jane, Ihre Sehnsucht nach einer Familie und nach einem Heim kann auf andere Weise erfüllt werden. Sie könnten doch heiraten.«

»Unsinn! Heiraten? Ich will nicht heiraten, und ich werde nie heiraten.«

»Wie können Sie das sagen? Derartige Behauptungen beweisen nur, daß Sie übermäßig erregt sind.«

»Wie ich das sagen kann? Ich weiß genau, was ich fühle und wie mir der bloße Gedanke an eine Heirat widerstrebt. Niemand würde mich aus Liebe heiraten, und als ein Spekulationsobjekt bin ich mir zu schade. Und einen Fremden will ich nicht. Ich will meine Artgenossen um mich haben, Menschen, die so fühlen wie ich. Sagen Sie mir noch einmal, daß Sie mein Bruder sein wollen. Als Sie es zuerst sagten, fühlte ich mich glücklich und zufrieden. Wiederholen Sie diese Worte, und sagen Sie mir es noch einmal in aller Aufrichtigkeit.«

»Das kann ich tun. Ich habe meine Schwestern immer geliebt, und ich weiß, worauf meine Zuneigung begründet ist — ich achte Ihren Wert und schätze Ihre Begabung. Auch Sie haben Grundsätze und guten Verstand. Ihr Geschmack und Ihre Gewohnheiten ähneln denen Dianas und Marys. Ihre Gegenwart ist mir stets angenehm, und ich habe oft heilsamen Trost im Gespräch mit Ihnen gefunden. Ich habe das Gefühl, daß ich Ihnen leicht und natürlich einen Platz in meinem Herzen als meine dritte und jüngste Schwester einräumen kann.«

»Ich danke Ihnen. Das genügt mir vorläufig. Aber jetzt sollten Sie lieber gehen; denn wenn Sie blieben, würden Sie mich wahrscheinlich gleich wieder mit einem Ihrer argwöhnischen Einwände verärgern.«

»Und die Schule, Fräulein Eyre? Die müssen wir wohl nun schließen?«

»Nein, ich bleibe auf meinem Posten, bis Sie eine Nachfolgerin gefunden haben.«

Er lächelte zustimmend, drückte mir die Hand und verabschiedete sich.

Ich möchte hier nicht auf alle Einzelheiten eingehen und von all den kleinen Kämpfen erzählen, die ich durchzustehen hatte, um die Erbschaftsangelegenheit nach meinen Wünschen zu regeln. Es war keine leichte Aufgabe, aber da ich absolut entschlossen war — und da meine Vettern schließlich einsahen, daß mein Entschluß, das Vermögen gerecht unter uns aufzuteilen, unwiderruflich war, da sie die Gerechtigkeit und Ehrlichkeit meiner Absichten schließlich einsehen mußten und sich wahrscheinlich sagten, daß sie an meiner Stelle ebenso gehandelt hätten, gaben sie schließlich nach, und die Sache wurde einem Schiedsgericht unterbreitet. Als Schiedsrichter wurden Herr Oliver und ein erfahrener Anwalt gewählt. Beide stimmten meinem Standpunkt zu, und so wurde meinem Begehren nachgegeben. Die notwendigen Dokumente wurden unterschrieben, und St. John, Diana und Mary kamen jeder in den Besitz eines auskömmlichen Vermögens.

34

Bis zur Weihnachtszeit war die Angelegenheit erledigt. Die Ferien sollten beginnen, ich schloß die Schule in Morton und sorgte dafür, daß der Abschied herzlich war. Dem Glücklichen öffnet sich sowohl die Hand als das Herz, und das wunderbare Gefühl zu geben, wenn man reich beschenkt worden ist, gestattet es, die überlaufenden Empfindungen in eine Bahn zu bringen. Seit langem hatte ich mit Freude festgestellt, daß viele meiner bäuerischen Schülerinnen mich mochten, und als wir voneinander Abschied nahmen, wurde es mir noch einmal bestätigt, denn sie bezeugten mir ganz offen und heftig ihre Zuneigung. Ich war dankbar, in ihren unschuldigen Herzen einen Platz gefunden zu haben, und ich versprach ihnen, daß ich sie in Zukunft mindestens einmal in der Woche besuchen und ihnen eine Stunde Unterricht in ihrer Schule erteilen würde.

Herr Rivers trat auf mich zu, als ich meine sechzig Mädchen an mir vorüberziehen ließ, danach die Tür schloß und mit dem Schlüssel in der Hand einigen meiner besten Schülerinnen meine Glückwünsche auf den Weg gab — sie waren so anständige, ehrbare, bescheidene und wohlerzogene junge Mädchen, wie man sie nur in den Reihen der englischen Landbevölkerung finden konnte. Und das will viel sagen, denn schließlich gehören die englischen Bauern zu den wohlerzogensten, manierlichsten und selbstbewußtesten in Europa. Ich habe seitdem deutsche und französische Bäuerinnen kennengelernt, und im Vergleich zu meinen Mädchen aus Morton schienen sie mir unwissend, rauh und dumm.

»Haben Sie den Eindruck, für Ihre Mühe während der Schulzeit belohnt worden zu sein?« fragte Herr Rivers, als sie gegangen waren. »Ist Ihnen die Gewißheit, in Ihrer Zeit und in Ihrer Generation Gutes getan zu haben, nicht eine große Freude?«

»Zweifellos.«

»Und dabei haben Sie hier nur wenige Monate gewirkt! Wäre es nicht noch lohnender, ein ganzes Leben in den Dienst der Menschheit zu stellen?«

»Ja«, sagte ich. »Aber ich könnte so nicht ewig weitermachen. Ich möchte ja auch meine eigenen Fähigkeiten weiterentwickeln, wenn ich denen der anderen weiterhelfen will. Und das muß ich jetzt tun, und ich freue mich darauf. Reden Sie mir also nicht weiter von der Schule. Die Schule ist aus, und ich will meine Ferien ganz genießen.«

Er sah sehr ernsthaft aus. »Was nun? Woher dieser plötzliche Eifer? Was haben Sie vor?« — »Arbeiten. Arbeiten, soviel ich kann. Aber zuerst muß ich Sie bitten, Hannah freizugeben und jemand anderen zu suchen, der Ihren Haushalt betreut.«

»Brauchen Sie sie?«

»Ja, sie soll mit mir nach Moor House kommen. Diana und Mary werden in einer Woche zurückgekehrt sein, und ich möchte, daß alles zu ihrem Empfang bereit ist.«

»Ich verstehe. Ich dachte schon, Sie wollten sich davonmachen und auf irgendeine Reise gehen. Es ist besser so. Hannah wird Sie begleiten.«

»Dann sagen Sie ihr bitte, sie möchte morgen bereit sein. Und hier ist der Schlüssel zum Schulzimmer. Morgen früh gebe ich Ihnen den Schlüssel zu meinem Haus.«

Er nahm ihn. »Sie geben ihn sehr leichtfertig her«, sagte er. »Ich verstehe nicht recht ihre Unbesorgtheit, denn ich sehe nicht, welche Beschäftigung Sie sich als Ersatz für ihre bisherige ausgedacht haben. Welches Ziel, welche Pläne haben Sie sich für Ihr weiteres Leben gesetzt?«

»Mein erstes Ziel ist ein gründliches Reinemachen (und verstehen Sie bitte den Ausdruck in seinem ganzen Sinne); und ich werde im Moor House damit beginnen und es vom Giebel bis in den Keller putzen, die Fußböden mit Bienenwachs, Öl und einer großen Anzahl von Stofflumpen reiben, bis sie wieder glänzen. Darauf werde ich Stühle, Tische, Betten, Teppiche mit mathematischer Genauigkeit an ihre Plätze stellen, und dann werde ich Sie fast ruinieren und in jedem Zimmer ein gutes Feuer brennen lassen, und schließlich werde ich die beiden Tage Vor der Ankunft Ihrer Schwestern mit Hannah verbringen und mit ihr gemeinsam Eier schlagen, Gewürze und Beeren sortieren, Weihnachtskuchen backen, die Zutaten für die Pasteten hacken und alle möglichen köstlichen Dinge, von denen Ihr diesbezüglich ungeschulter Verstand keine Ahnung hat, zubereiten. Kurz, ich habe vor, vor nächstem Donnerstag alles für die Ankunft von Diana und Mary zu ordnen und ihnen ein ideales Willkommensfest zu bereiten.«

St. John lächelte leicht, sah aber noch unzufrieden aus.

»Für den Augenblick ist das alles ganz gut und schön«, sagte er; »aber allen Ernstes hoffe ich doch, daß Sie, nachdem die erste Welle der Begeisterung vorüber ist, wieder höheren Zielen zustreben werden als denen der häuslichen und haushälterischen Freuden.«

»Das Schönste, das es auf der Welt gibt!« unterbrach ich ihn.

»Nein, Jane, nein. Auf dieser Welt gibt es nichts ›Schönstes‹. Versuchen Sie nicht, es sich vorzutäuschen. Versinken Sie nicht in Trägheit und Genüßlichkeit.«

»Ich nehme ja das Gegenteil. Ich werde sehr emsig sein.«

»Jane, für den Augenblick will ich Sie entschuldigen. Ich gebe Ihnen zwei Monate, um Ihre neue Stellung und die Freuden der Häuslichkeit und Ihrer neu gefundenen Familie voll und ganz zu genießen. Aber dann, hoffe ich, werden Sie über Moor House und Morton und die schwesterliche Gesellschaft und die selbstgefällige Ruhe und Behaglichkeit der zivilisierten Welt hinausstreben. Ich hoffe, daß die Kräfte in Ihrem Innern Sie zu neuen Aufgaben und Taten antreiben werden.«

Ich blickte ihn überrascht an, und dann sagte ich: »St. John, ich finde, daß es häßlich ist, so zu mir zu sprechen. Ich gedenke, so still und zufrieden wie eine Königin zu leben, und Sie versuchen, mich zur Unrast zu treiben. Wozu denn?«

»Weil Sie die Gaben, die Gott Ihnen anvertraut hat und über die er gewiß eines Tages genaue Rechenschaft verlangen wird, besser nützen müssen. Versuchen Sie doch, Ihre maßlose Begeisterung an wohlfeilen häuslichen Vergnügungen zu zügeln, Jane. Klammern Sie sich nicht so heftig an die Bande des Fleisches. Richten Sie Ihre Standhaftigkeit und Ihren Tatendrang lieber auf ein lohnenderes Objekt. Verschwenden Sie sie nicht an vergänglichen Tand. Hören Sie mich, Jane?«

»Ja. Etwa so, als wenn Sie Griechisch sprechen würden. Ich finde, daß ich Grund habe, glücklich zu sein; und ich werde glücklich sein. Leben Sie wohl!«

Und ich war glücklich im Moor House! Ich arbeitete hart, und Hannah stand mir fleißig bei. Es gefiel ihr, daß ich in einem Haus, wo jetzt alles drunter und drüber ging, in so guter Stimmung war. Wir bürsteten, putzten, wischten Staub, säuberten und kochten. Und es war wirklich wundervoll, wie nach zwei Tagen des Chaos allmählich wieder neue Ordnung entstand. Ich war vorher in die Stadt gefahren, um einige neue Möbel zu kaufen, und meine Kusinen hatten mir freie Hand gegeben und mich gebeten, alles nach meinem Geschmack auszusuchen, und wir hatten für diesen Zweck eine bestimmte Summe Geldes beiseite gelegt. Ich ließ das Wohnzimmer und die Schlafzimmer fast so, wie sie waren, denn ich wußte, daß es Diana und Mary mehr Freude machen würde, die altgewohnten Tische, Stühle und Betten wiederzufinden, als in neu eingerichtete Prunkgemächer zu treten. Doch waren einige Erneuerungen notwendig, um den beiden bei ihrer Heimkehr eine kleine angenehme Überraschung zu bereiten. Hübsche, dunkle Teppiche und Vorhänge, einige sorgfältig ausgewählte antike Porzellan- und Bronzenippes, neue Tischdecken, Spiegel und Kästchen für die Toilettentische waren gerade das Richtige. Sie verschönerten den Raum, ohne protzig zu wirken. Einen kleinen Salon und ein Schlafzimmer richtete ich ganz neu mit alten Mahagoni-Möbeln und roten Bezügen ein. Ich legte den Flur und die Treppen mit Teppichen aus. Als alles beendet war, erschien mir Moor House als ein wahres Muster an Sauberkeit, Bequemlichkeit und Gemütlichkeit, dessen wohltuende Wärme sich besonders von der draußen herrschenden trostlosen Kälte in der öden Moorlandschaft abhob.

Endlich kam der langersehnte Donnerstag. Wir erwarteten die Mädchen gegen Abend, hatten oben und unten im Hause helle Feuer angemacht, die Küche strahlte im Glanz der Sauberkeit, Hannah und ich waren angezogen, und alles stand bereit.

St. John kam als erster. Ich hatte ihn gebeten, dem Hause fernzubleiben, bis alles in Ordnung sei, und der bloße Gedanke an die Unruhe des Hausputzes hatte ihn auch genügend verschreckt. Er traf mich in der Küche an, während ich backte und Kekse für den Tee zubereitete. Er trat vor den Kamin und fragte, ob ich jetzt nicht endlich von den häuslichen Arbeiten genug hätte. Als Antwort forderte ich ihn auf, mich auf einem Gang durch das Haus zu begleiten, wo er sich von den Früchten meiner Arbeit überzeugen könne. Er folgte mir, wenn auch mit einigem Widerstreben, schaute nur flüchtig in die Zimmer, deren Türen ich öffnete, und nachdem wir durch das ganze Haus gegangen waren, meinte er, es müsse mich doch sehr ermüdet haben, in so kurzer Zeit all diese Arbeiten zu bewältigen. Aber mit keiner Silbe äußerte er irgendwelche Freude an Verbesserungen in seinem Haus. Dieses Schweigen bedrückte mich. Ich glaubte schon, ich hätte mit meinen Veränderungen vielleicht liebe alte Andenken gestört, und ich fragte ihn, ob das der Fall sei.

»Nicht im geringsten.« Im Gegenteil, er habe bemerkt, daß ich mich ganz der Tradition des Hauses angepaßt habe. Er fürchte nur, daß ich mehr Gedanken an diese Dinge verschwendet habe, als sie wert waren. Wie viele Minuten hätte ich zum Beispiel bei der Planung der Einrichtung dieses Zimmers hier verbracht? Und könne ich ihm auch sagen, wo er dieses oder jenes Buch fände?

Ich zeigte ihm das gewünschte Buch auf dem Gestell, er nahm es, zog sich an seinen gewohnten Fensterplatz zurück und begann zu lesen.

Das gefiel mir nun gar nicht, lieber Leser. St. John war ein guter Mann, aber ich begann, ihm darin zuzustimmen, daß er im Grunde hart und kalt sei. Die menschlichen und angenehmen Seiten des Lebens, und sei es nur der Friede und der Zauber des eigenen Hauses, hatten überhaupt keinen Sinn für ihn. Er lebte buchstäblich nur seinem Streben nach — all jenen Dingen, die gewiß gut und groß waren, aber er konnte keine Ruhe ertragen und duldete das auch bei anderen nicht. Als ich ihn mir betrachtete — seine hohe, bleiche, wie versteinerte Stirn und die äußerst feinen Gesichtszüge — begriff ich mit einemmal, daß er nie ein guter Ehemann sein und daß seine Frau es sehr schwer mit ihm haben würde. Jetzt verstand ich die Art der Gefühle, die er für Fräulein Oliver hegte, und ich mußte ihm zustimmen, daß er sie nur mit seinen Sinnen liebte. Ich begriff, wie er sich ob des fieberhaften Einflusses verabscheute, den diese Leidenschaft auf ihn ausübte, und wie er diesem Gefühl nicht traute, daß es ihm oder ihr je ein wahres Glück verhieß. Er war aus jenem Holz geschnitzt, aus dem die Natur ihre Helden — seien sie Christen oder Heiden — ihre Gesetzesgeber, Staatsmänner und Eroberer geschaffen hat: ein standhaftes Bollwerk großer Interessen, aber am häuslichen Kamin ein kaltes, lästiges, düsteres und unpassendes Wesen.

Dieser Salon, dachte ich mir, ist nicht seine Welt. Viel eher paßt er in das Felsland des Himalaya, den afrikanischen Busch oder sogar die verpestete, sumpfige Küste Guineas. Er braucht die Ruhe des häuslichen Lebens nicht; sie ist nicht sein Element, denn hier kann er seine Gaben nicht entfalten oder entwickeln. In Zonen des Kampfes und der Gefahr, wo man Mut beweisen, energisch und tapfer sein muß, und wo er befehlen konnte: dort gehörte er hin. Aber an diesem Kamin wäre ihm jedes fröhliche Kind überlegen gewesen. Er hatte ganz recht, sich für den Weg des Missionars zu entscheiden — das sah ich jetzt.

»Sie kommen! Sie kommen!« rief Hannah und stieß die Salontür auf. Gleichzeitig begann der alte Carlo fröhlich zu bellen. Ich rannte hinaus. Es war schon dunkel, aber ich hörte das Rattern von Wagenrädern. Hannah zündete eine Laterne an, und jetzt hielt das Gefährt an der Pforte. Der Kutscher öffnete den Schlag, und dann stiegen die beiden Schwestern nacheinander aus. Im Nu hatte ich sie umarmt, spürte zuerst Marys zarte Wange und darauf Dianas welliges Lockenhaar. Wir lachten und küßten uns, dann wurde Hannah begrüßt und der vor Freude halb tolle Carlo gestreichelt. Sie fragten, ob alles in Ordnung sei, und dann liefen sie ins Haus.

Sie waren von der langen und ratternden Fahrt aus Whitcross halb erfroren, doch in der heimeligen Wärme des Kaminfeuers wurden sie bald wieder munter. Der Kutscher und Hannah brachten das Gepäck herein, und nun fragten die Mädchen nach St. John, der im gleichen Augenblick ins Zimmer trat. Sie fielen ihm um den Hals, er gab jeder von ihnen einen Kuß, murmelte ihnen ein paar Begrüßungsworte zu, stand noch eine Weile plaudernd mit ihnen da und zog sich dann in den Schutz des kleinen Salons zurück und sagte nur noch, er hoffe, sie würden sich dort bald zu ihm gesellen.

Ich hatte Kerzen angezündet, um sie die Treppe hinaufzugeleiten, aber zuerst hatte Diana dem Kutscher noch freundlich einige Anweisungen erteilt. Danach folgten mir beide Schwestern. Sie waren über die Veränderungen und die neue Ausschmückung ihrer Zimmer, die neuen Vorhänge, Teppiche und die farbigen Porzellanvasen hell entzückt und bezeugten mir ganz offen ihre Dankbarkeit. Ich freute mich, in allem genau ihren Geschmack getroffen zu haben, und ich sah, daß meine Arbeit ihrer Heimkehr noch einen zusätzlichen Zauber verliehen hatte.

Es war ein heiterer, wohliger Abend. Meine Kusinen waren so freudig erregt, daß sie unentwegt plauderten und St. Johns Schweigsamkeit kaum bemerkten. Er freute sich gewiß auch, seine Schwestern wiederzusehen, vermochte aber nicht an der lebhaften und sprudelnden Unterhaltung teilzunehmen. Das Ereignis des Tages — die Heimkehr Dianas und Marys — gefiel ihm wohl, aber die Begleiterscheinungen, das fröhliche Durcheinander und die überschwengliche Willkommensfreude verdrossen ihn. Ich sah, daß er sich für morgen mehr Ruhe wünschte. Mitten in unserem fröhlichen Geplauder, etwa eine Stunde nach dem Tee, klopfte es an die Tür. Hannah trat ein und verkündete, ein armer Bursche sei zu dieser ungeeigneten Zeit erschienen, um Herrn Rivers an das Lager seiner sterbenden Mutter zu holen.

»Wo wohnt sie denn, Hannah?«

»Draußen in Whitcross Brow, fast vier Meilen weit von hier, und der Weg führt durch Heide und Moor.«

»Sag ihm, ich werde kommen.«

»Sie sollten lieber nicht gehen, Herr Rivers. Nachts ist der Weg sehr gefährlich, man kann sich leicht verlaufen, denn es führt kein Steg über den Sumpf. Und außerdem ist es eine bitterkalte Nacht, es weht ein eisiger Wind. Lassen Sie ihm lieber ausrichten, sie kämen morgen früh.«

Aber er war bereits im Flur, hatte sich den Mantel umgehangen und ging ohne ein Wort hinaus. Es war neun Uhr abends, und er kam erst nach Mitternacht zurück. Er war zwar müde und hungrig, sah aber glücklicher aus als beim Fortgehen. Er hatte seine Pflicht getan, sich seine Kraft und seinen Opfergeist bewiesen und war nun mit sich selbst zufriedener.

Allerdings stellte die folgende Woche seine Geduld auf eine harte Probe. Es war die Weihnachtswoche, und wir verbrachten sie in fröhlichem, unbeschwertem Nichtstun. Die gute Luft des Moorlandes, die Freiheit des Zuhauseseins und der beginnende Wohlstand wirkten auf Diana und Mary wie ein Lebenselixier. Sie waren fröhlich von morgens bis mittags und von mittags bis abends. Sie plauderten ständig, und ihre Rede war witzig, lebhaft und originell und bezauberte mich so, daß ich zufrieden war, ihnen zuzuhören, und an nichts anderes mehr dachte. St. John tadelte uns nicht wegen dieser Lebhaftigkeit, zog sich jedoch zurück. Er war selten zu Hause, sein Kirchensprengel war groß, die Gemeinde verstreut, und er ging tägliCh die Kranken und Armen besuchen.

Eines Morgens fragte Diana ihn, nachdem sie eine Weile nachdenklich vor sich hin geschaut hatte, ob seine Pläne noch unverändert seien.

»Unverändert und unveränderlich«, war die Antwort. Und dann verkündete er uns, daß seine Abreise endgültig auf das nächste Jahr festgelegt sei.

»Und Rosamond Oliver?« fragte Mary. Die Worte schienen ihr unbewußt entschlüpft zu sein, denn kaum hatte sie sie ausgesprochen, da machte sie eine Handbewegung, als wolle sie sie rückgängig machen. St. John hielt ein Buch in der Hand — es war seine ungesellige Angewohnheit, während der Mahlzeiten zu lesen —, er klappte es zu und blickte auf.

»Rosamond Oliver«, sagte er, »steht im Begriff, Mr. Granby, einen der angesehensten und schätzenswertesten Einwohner der Stadt, den Enkel und Erben Sir Frederic Granbys, zu heiraten. Ich hörte es gestern von ihrem Vater.«

Wir blickten einander und dann ihn an. Sein Gesicht zeigte klare Gelassenheit.

»Das ist aber schnell gegangen«, meinte Diana. »Sie können sich noch nicht lange gekannt haben.«

»Zwei Monate. Sie begegneten sich im Oktober auf einem Ball. Aber wo es keine Hindernisse für eine Ehe gibt — und das trifft im vorliegenden Falle zu —, wo eine solche Verbindung in jeder Beziehung erwünscht ist, braucht man nichts zu verschieben. Sie werden heiraten, sobald das Herrenhaus, das Sir Frederic ihnen schenkt, für den Hochzeitsempfang hergerichtet ist.«

Das erste Mal, da ich St. John nach dieser Mitteilung alleine sah, war ich versucht ihn zu fragen, ob das Ereignis ihn schmerze. Aber er schien so wenig der Sympathie zu bedürfen, daß ich mich eher über die Keckheit meiner diesbezüglichen Vermutungen schämte. Außerdem war es mir ungewohnt, ein Gespräch mit ihm zu führen, denn seine Zurückhaltung war so frostig, daß all meine Offenheit darüber einfror. Auch hatte er sein Versprechen, mich wie seine eigene Schwester zu betrachten, nicht gehalten. Er machte stets kleine Unterschiede spürbar, die unsere gegenseitigen Beziehungen nur noch mehr abkühlten und kein herzliches Verhältnis aufkommen ließen. Kurz: Ich hatte das Gefühl, gerade jetzt, da ich als anerkannte Verwandte mit ihm unter demselben Dach lebte, als ob die Distanz zwischen uns nur noch größer geworden war als in den Tagen meiner Lehrerinnentätigkeit im Dorf. Und wenn ich mich jetzt des Vertrauens entsann, das er mir einst entgegengebracht hatte, verstand ich seine jetzige Kälte überhaupt nicht.

Das waren meine Gedanken, als er plötzlich den Kopf von seinem Pult hob und mich anredete — was mich nicht wenig in Erstaunen. versetzte:

»Sehen Sie, Jane, die Schlacht ist geschlagen und der Sieg errungen.«

Ich war so überrascht, daß ich nicht sofort antwortete; erst nach einem Augenblick des Zögerns sagte ich:

»Sind Sie auch sicher, nicht einer jener Eroberer zu sein, denen ihre Siege zu teuer zu stehen kamen? Würde ein weiterer Sieg Sie nicht vollends zugrunde richten?«

»Ich glaube nicht. Und wenn dem so wäre, so hätte es keine Bedeutung. Einen weiteren Sieg dieser Art werde ich künftig auch nicht zu erkämpfen haben. Es kommt nicht auf den Sieg, sondern auf die Sache an, für die man kämpft. Mein Weg liegt nun klar vor mir, und ich danke Gott dafür!« Mit diesen Worten kehrte er zu seinen Papieren und seinem Schweigen zurück.

Nachdem sich unsere laute Fröhlichkeit etwas beruhigt hatte und wir Mädchen wieder unseren gewohnten Beschäftigungen und Studien nachgingen, weilte er immer öfter im Haus. Manchmal saß er stundenlang mit uns im selben Zimmer zusammen. Mary zeichnete, Diana ging (zu meiner Verblüffung) gründlicher, fast enzyklopädischer Lektüre nach, ich quälte mich mit der deutschen Sprache, und er vertiefte sich derweilen in das Studium irgendeiner östlichen Sprache, deren Kenntnis er für seine Pläne erforderlich hielt.

So beschäftigt schien er in seiner Zurückgezogenheit ruhig und gelassen zu sein, aber der Blick seiner blauen Augen wandte sich hie und da von seiner schwierigen Grammatik ab und wanderte prüfend, uns Mädchen betrachtend, durch das Zimmer. Begegnete man seinem Blick, so kehrte er sofort zu seinen Büchern zurück; und doch schien er irgend etwas an oder in uns zu suchen, und ich fragte mich, was das zu bedeuten habe. Ich fragte mich auch, warum er sich bei einer mir wirklich nicht sehr wichtig scheinenden Begebenheit, nämlich meinem wöchentlichen Besuch der Schule in Morton, so außergewöhnlich zufrieden zeigte, und es erstaunte mich noch mehr, wenn er an besonders stürmischen Tagen bei Schnee, Regen und starkem Wind seinen Schwestern, die mich lieber im Hause zurückbehalten wollten, widersprach und mich zur Erfüllung meiner Pflicht ermahnte, ohne Rücksicht auf die mir zusetzende Natur. Dann pflegte er zu sagen:

»Jane ist nicht der Schwächling, den ihr aus ihr machen wollt. Sie kann einen Gebirgswind, einen Regenschauer oder einen Schneesturm ebensogut ertragen wie irgendeiner von uns. Sie ist von gesunder elastischer Konstitution, und Klimaunterschiede machen ihr weniger aus als manchem robusten, starken Kerl.«

Und wenn ich manchmal ziemlich müde zurückkehrte, wagte ich es nie, mich zu beklagen, denn damit hätte ich nur sein Mißfallen erregt. Er schätzte und liebte vor allem Tapferkeit in allen Lebenslagen, und ihr Fehlen war ihm ein Ärgernis. Eines Nachmittags jedoch blieb ich zu Hause, denn ich litt wirklich an einer Erkältung. Seine Schwestern waren an meiner Stelle nach Morton gegangen, und ich saß ruhig im Zimmer, las ein Buch von Schiller, während er über seinen orientalischen Hieroglyphen brütete. Während ich beim Übersetzen war und aufschaute, begegnete ich seinem Blick. Ich fühlte, wie seine wachsamen blauen Augen mich forschend beobachteten. Ich weiß nicht, wie lange er mich so angeschaut hatte, aber ich empfand seinen Blick als neugierig und gleichzeitig von eisiger Kälte. Es verursachte in mir ein abergläubisches Gefühl — als befände sich etwas Unheimliches im Zimmer.

»Jane, was tun Sie?«

»Ich lerne Deutsch.«

»Sie müssen Ihr Deutsch aufgeben und Hindustanisch lernen.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Es ist mir so ernst, daß ich darauf bestehen muß. Und ich will Ihnen auch sagen, warum.«

Nun erklärte er mir, daß Hindustanisch die Sprache sei, die er selbst jetzt gerade studierte; daß er befürchte, beim fortschreitenden Studium die Anfangsgründe wieder zu vergessen, und daß es ihm sehr helfen würde, eine Schülerin zu haben, mit der er alles noch einmal durchnehmen könne, um sich die Elemente der Sprache besser einzuprägen; daß er einige Zeit gezögert habe, ob er mich oder seine Schwestern dafür wählen solle, sich aber für mich entschlossen habe, da er mich für die ausdauernste hielt. Würde ich ihm den Gefallen erweisen? Es brauche ja nicht für lange zu sein, denn in drei Monaten werde er wahrscheinlich England verlassen.

St. John war nicht jemand, dem man leicht etwas abschlagen konnte. Er war in allem so intensiv, Freude und Enttäuschung prägten sich ihm so dauerhaft ein, daß ich einwilligte. Als Diana und Mary nach Hause zurückkehrten, sahen sie ihn bereits bei der Arbeit mit mir, für die er zuerst sie in Betracht gezogen hatte. Sie lachten und meinten, St. John hätte sie nie zu diesem Schritt überreden können. Er antwortete sehr ruhig:

»Ich weiß es.«

Ich fand, er war ein sehr geduldiger, nachsichtiger, jedoch auch anspruchsvoller Lehrer. Er verlangte viel von mir, und wenn meine Arbeit seinen Erwartungen entsprach, bezeugte er mir auf seine Art seine Zufriedenheit. Allmählich gewann er so viel Einfluß über mich, daß ich mich in meiner Freiheit gehemmt fühlte, und ich empfand sein Lob fast noch bedrückender als seine Gleichgültigkeit. Ich konnte in seiner Gegenwart nicht frei reden oder lachen, weil mir eine unwillkommene innere Stimme immer wieder zuraunte, daß er Lebhaftigkeit (wenigstens bei mir) verabscheute. Ich war mir so stark bewußt, daß ihm nur ernsthaftes Verhalten und ernsthafte Beschäftigungen lieb waren, daß ich mich bald wie unter einem erstarrenden Bann fühlte. Sagte er: »Gehen Sie«, so ging ich, sagte er: »Kommen Sie«, so kam ich, und ich tat gehorsam, was er von mir verlangte. Doch liebte ich diese Ergebenheit nicht, und oft wünschte ich mir, er hätte mich weiterhin unbeachtet gelassen.

Eines Abends zur Schlafenszeit stand ich mit seinen Schwestern bei ihm, und er sagte uns gute Nacht, küßte Diana und Mary und reichte mir, wie gewohnt, die Hand. Diana, die nicht unter seinem quälenden Druck zu leiden hatte, denn sie war stark genug, sich ihm zu widersetzen, und die an jenem Abend in besonders ausgelassener Laune war, rief plötzlich:

»St. John! Du sagst zwar, Jane sei deine dritte Schwester, aber du behandelst sie nicht danach. Du mußt ihr auch einen Gutenachtkuß geben.«

Sie schob mich ihm zu. Ich fand das von Diana sehr herausfordernd und fühlte mich beschämt und verwirrt, aber schon beugte sich St. John über mich. Sein klassisch-griechisches Gesicht war auf der gleichen Höhe wie meines, er sah mir durchdringend und fragend in die Augen — und küßte mich. Es gibt ja keine Marmorküsse oder Eisküsse, und gäbe es sie, so müßte ich den Gutenachtkuß meines geistlichen Vetters in diese Kategorie einreihen. Aber Ausprobierküsse gibt es, und dieser war unzweifelhaft ein Ausprobierkuß. Nachdem er ihn mir gegeben hatte, blickte er mich an, um das Ergebnis zu prüfen. Es war nicht überwältigend, und ich bin sicher, daß ich nicht einmal errötete. Vielleicht war ich ein wenig bleich geworden, denn ich hatte das Gefühl, als besiegele dieser Kuß meine Fesseln. Von jenem Abend an unterließ er es nie, mich zu küssen, und die ernsthafte Unterwürfigkeit, mit der ich seine Zärtlichkeit hinnahm, schien für ihn einen gewissen Reiz zu haben. Was mich betrifft, so wünschte ich täglich, ihm mehr und mehr zu gefallen. Aber um das zu erreichen, mußte ich mehr und mehr meine wahre Natur verleugnen, meine Fähigkeiten unterdrücken, meinem Geschmack eine Richtung geben, die mir widerstrebte, und mich zu Zielen zwingen, zu denen ich mich gar nicht berufen fühlte. Er wollte mich in Höhen versetzen, die mir unerreichbar waren, und von Stunde zu Stunde quälte es mich mehr, mich auf dem von ihm geforderten Niveau zu bewegen. Es war ein unmögliches Unterfangen, so unmöglich, als hätte ich mich bemüht, mein unregelmäßiges Gesicht den klassischen Zügen seines Antlitzes anzupassen und meinen wechselnd grünen Augen die feierliche meerblaue Farbe der seinen zu geben.

Aber nicht nur seine geistige Überlegenheit bedrückte mich so quälend. Seit einiger Zeit war es mir sehr leichtgefallen, traurig auszusehen, aber nun lebte ein zehrender Schmerz in meinem Herzen und ließ alle Glückseligkeit an der Quelle versiegen — und dieses Übel war spannende Ungewißheit. Vielleicht glaubt der Leser, ich hätte inmitten all der mannigfachen Geschehnisse und dem kürzlichen Glückswechsel Herrn Rochester vergessen. Nein. Nicht einen Augenblick. Der Gedanke an ihn war stets bei mir, er ließ sich weder wie Nebel in der Sonne zerstreuen noch wie Sand im Sturm verwehen. Er war unauslöschlich in Marmor gemeißelt und mußte alle Zeiten überdauern. Die quälende Ungewißheit über sein Wohlergehen verfolgte mich überall. Als ich in Morton war, zog ich mich jeden Abend in mein Häuschen zurück, um darüber nachzudenken, und auch jetzt in Moor House grübelte ich des Nachts in meinem Schlafzimmer darüber nach.

Im Laufe meiner Korrespondenz bezüglich des Testamentes mit dem Rechtsanwalt Briggs hatte ich mich natürlich auch nach Herrn Rochester erkundigt und gefragt, wo er jetzt wohne und ob er wohlauf sei, jedoch, wie St. John richtig vermutete, wußte Briggs überhaupt nichts von ihm. Dann hatte ich an Frau Fairfax geschrieben und fest damit gerechnet, eine Antwort zu erhalten. Aber Wochen vergingen, und zu meinem Erstaunen hörte ich nichts, und als nach zwei Monaten immer noch keine Nachricht mit der Post eingetroffen war, verfiel ich in entsetzliche Unruhe.

Ich schrieb noch einmal, denn ich hoffte, mein erster Brief sei verlorengegangen. Ich hoffte einige Wochen lang, aber dann erstarb auch diese letzte Hoffnung. Keine Zeile, kein Wort kam. Und als ein Jahr vergangen war, fühlte ich mich innerlich leer und dunkel.

Um mich blühte der Frühling, aber ich genoß ihn nicht. Dann kam der Sommer. Diana bemühte sich, mich aufzuheitern. Sie sagte, ich sähe krank aus, und wollte mit mir ans Meer fahren. Aber dem widersetzte sich St. John. Er meinte, nicht Zerstreuung, sondern Beschäftigung täte mir not, mein gegenwärtiges Leben sei zu leer und ziellos, ich brauchte ein Ziel, und — wohl um diesem Übel abzuhelfen — verlängerte er meine Umterichtsstunden in der hindustanischen Sprache und stellte immer höhere Ansprüche. Und ich war töricht genug, mich ihm nicht zu widersetzen — ich konnte mich ihm einfach nicht widersetzen.

Eines Morgens machte ich mich in besonders niedergeschlagenem Zustand an mein Studium. Eine neuerliche Enttäuschung war der Grund. Hannah hatte mir einen Brief übergeben, und als ich ihn öffnete und fast gewiß war, endlich die so lange ersehnte Nachricht vorzufinden, sah ich, daß es nur eine unwichtige Mitteilung von Herrn Briggs war. Die bittere Entmutigung hatte mich zum Weinen gebracht, und so saß ich mit Tränen in den Augen über die gewundenen und seltsam blumenhaften indischen Schriftzüge gebeugt.

St. John rief mich zu sich, um ihm vorzulesen, aber mir versagte die Stimme. Die Worte verloren sich in Schluchzen. Wir waren allein im kleinen Salon. Diana saß im Wohnzimmer am Klavier und Mary war im Garten beschäftigt. Es war ein herrlicher Maitag, der Himmel war klar und sonnig, und eine leichte Brise wehte. Mein Lehrer zeigte sich in keiner Weise von meinem Gefühlsausbruch überrascht und fragte auch nicht nach dessen Grund. Er sagte nur: »Wir wollen ein Weilchen warten; Jane, bis Sie wieder ruhiger sind.«

Während ich mich bemühte, eiligst meine Fassung wiederzuerlangen, saß er ruhig und geduldig über sein Pult gebeugt wie ein Arzt, der mit wissenschaftlicher Gelassenheit die erwartete und voll verständliche Krise bei einem kranken Patienten betrachtet. Als ich mich wieder in der Gewalt hatte, wischte ich mir die Tränen von den Augen und murmelte eine Entschuldigung, daß ich mich an diesem Morgen nicht sehr wohl fühlte, und darauf nahm ich meine Arbeit wieder auf und las ihm den gewünschten Text vor. St. John nahm meine Bücher und seine, verschloß sie in seinem Pult und sagte: »Nun, Jane, werden Sie einen Spaziergang machen, und zwar mit mir.«

»Ich werde Diane und Mary rufen.«

»Nein. Heute morgen wünsche ich nur eine Begleiterin, und das müssen Sie sein. Ziehen Sie sich Ihre Sachen an, gehen Sie durch die Küchentür hinaus und nehmen Sie den Weg, der nach Marsh Glen führt. Ich komme nach.«

Ich kenne keinen Mittelweg. Nie in meinem Leben habe ich einen Mittelweg gefunden, wenn ich es mit harten, mir widerstrebenden Persönlichkeiten zu tun hatte, und nie fand ich einen Mittelweg zwischen absoluter Unterwerfung und entschlossener Auflehnung. Stets bin ich dem eingeschlagenen Weg gefolgt, und oft bin ich mit Heftigkeit ganz unvermittelt in den anderen umgeschlagen, und da im Augenblick mich weder die Umstände noch meine innere Stimmung zur Auflehnung trieben, folgte ich St. Johns Anweisungen gehorsam und gewissenhaft. Innerhalb der nächsten zehn Minuten schritt ich an seiner Seite auf dem wilden, felsigen Pfad.

Eine Brise wehte von Westen, sie kam von den Hügeln her und duftete süß nach Heidekraut und Ginster. Der Himmel war klarblau, und der Bach plätscherte in der Sonne glitzernd durch das Tal. Bald mündete der Fußweg in eine Mulde, wo smaragdgrünes Moos, mit tausend Blumensternchen gesprenkelt, von Hügeln umschlossen lag.

»Hier wollen wir rasten«, sagte St. John, als wir an einigen Felsen ankamen, die eine Art von Paß bildeten, von dem der Bach in einem Wasserfall zu Tal rauschte. Ein wenig weiter war der bislang mit Blumen und Moos bewachsene Hang nur noch mit Heidekraut und Steinen geschmückt — die Landschaft wurde wilder und Öder — und es war ein idealer Platz, an dem ein einsamer Wanderer tröstliche Rast und Ruhe schöpfen konnte.

Ich setzte mich; St. John stand neben mir. Er schaute auf die Paßhöhe und dann hinunter in die Mulde. Sein Blick folgte der Strömung des Bachs, erhob sich dann in den wolkenlosen Himmel und schweifte über dem Heideland. Er nahm seinen Hut ab und ließ die Brise sein Haar umwehen. Er schien ganz im Einklang mit dieser Landschaft zu stehen, er schien irgendwie mit ihr verwachsen zu sein, doch seine Augen waren traurig, als wenn sie ihr Lebewohl sagen wollten.

»Ich werde es wiedersehen«, sagte er laut. »In meinen Träumen, wenn ich an den Ufern des Ganges schlafe, und auch später noch — wenn eine andere Art von Schlaf mich an den Gestaden eines noch dunkleren Stromes umfangen wird!«

Seltsame Worte einer seltsamen Heimatliebe! Eher die Leidenschaft eines strengen Patrioten für sein Vaterland. Er setzte sich. Eine halbe Stunde lang sprach keiner von uns, und nach dieser langen Stille begann er:

»Jane, in sechs Wochen gehe ich. Ich habe meinen Platz auf dem Schiff nach Ostindien, das am 20. Juni abfährt, belegt.«

»Gott wird Sie beschützen, denn Sie haben sein Werk unternommen«, antwortete ich.

»Ja«, sagte er, »das ist mein Ruhm und meine Freude. Ich bin der Diener eines unfehlbaren Herrn. Ich begebe mich nicht unter menschlicher Führung mit all ihren Schwächen und Fehlurteilen in die Fremde — nicht wie irgendeiner meiner schwachen, wurmgleichen Artgenossen. Mein König, mein Gesetzgeber, mein Anführer ist vollkommen. Es erscheint mir für wahr seltsam, daß nicht jeder um mich sich demselben Banner anschließt — und dem Rufe folgt.«

»Nicht alle haben Ihre Kraft, und es wäre ein Wahnsinn, wenn die Schwachen mit den Starken wetteiferten.«

»Ich rede nicht von den Schwachen. An sie denke ich nicht. Ich richte mich nur an jene, die dieser Arbeit würdig sind und fähig, sie zu verrichten.«

»Derer gibt es wenige, und sie sind schwer zu finden.«

»Es ist wahr, was Sie sagen. Doch wenn man sie entdeckt hat, tut man recht daran, sie zu ermuntern — sie zu der Mühe zu ermahnen — ihnen zu zeigen, wo ihre wahre Begabung liegt und warum ihnen die Begabung geschenkt wurde — ihnen die Botschaft des Himmels zu überbringen — ihnen direkt von Gott ihren Platz unter Seinen Erwählten zuzuweisen.«

»Aber wenn sie wirklich für diese Aufgabe geeignet sind, wird dann nicht die Stimme ihres Herzens sie zuallererst dazu auffordern?«

Es kam mir vor, als ob ein furchtbarer Bann mich umschlösse und mich immer mehr einengte. Ich zitterte in der Erwartung, ein verhängnisvolles Wort zu vernehmen, das mich einem unabwendbaren Schicksal auslieferte.

»Und was sagt Ihr Herz, Jane?« fragte St. John.

»Mein Herz ist stumm — mein Herz ist stumm«, antwortete ich erregt und erschreckt.

»Dann muß ich für dieses Herz sprechen«, fuhr die tiefe, unerbittliche Stimme fort. »Jane, kommen Sie mit mir nach Indien. Kommen Sie als meine Gehilfin und Mitarbeiterin.«

Die Schlucht und der Himmel drehten sich vor mir im Kreise. Die Hügel erbebten. Es war mir, als hätte ich einen Befehl des Himmels vernommen — als ob ein himmlischer Bote, wie der aus Mazedonien, mir zugerufen hätte: »Komm, und hilf uns!« Aber ich war kein Apostel — wie sollte ich den Boten erkennen und die himmlische Botschaft vernehmen?

»Oh, St. John!« rief ich; »haben Sie doch Erbarmen!«

Aber ich rief einen an, der in der Ausübung dessen, was er für seine Pflicht hielt, weder Erbarmen noch Reue empfand. Er fuhr fort: »Gott und die Natur haben Sie dazu bestimmt, die Frau eines Missionars zu sein. Sie haben Ihnen nicht die Gaben der Schönheit, sondern die des Geistes geschenkt. Sie sind für die Arbeit und nicht für die Liebe geschaffen. Sie sollen — und werden die Frau eines Missionars sein. Meine Frau, die Frau, die ich benötige — und nicht zu meinem Vergnügen, sondern im Dienste meines Herrn.«

»Ich bin nicht dazu geeignet. Ich fühle keine Berufung«, sagte ich.

Mit diesen ersten Einwanden hatte er gerechnet, und Sie störten ihn nicht. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an den Felsen hinter ihm, blickte mir gefaßt entgegen, und ich sah, daß er sich mit Geduld gewappnet hatte, aber fest entschlossen war, sein Ziel zu erreichen.

»Jane«, sagte er, »Demut ist die Grundlage der christlichen Tugenden. Sie sagen die Wahrheit, wenn Sie meinen, nicht für diese Arbeit geeignet zu sein. Wer ist schon dafür geeignet? Oder wer, der berufen worden ist, kann sich dieser Aufgabe wirklich würdig fühlen? Auch ich bin ja nur Staub und Asche. Ich bekenne mich mit Paulus als einen erbärmlichen Sünder, aber ich werde es nicht zulassen, daß meine persönliche Nichtigkeit mich vom Wege abbringt. Ich kenne meinen Meister. Ich weiß, daß er allmächtig ist; und wenn er ein schwaches Werkzeug wählt, um eine große Aufgabe auszuführen, so hat er damit in seiner weisen Vorsehung nur ein Mittel zum Zweck ausgesucht. Denken Sie wie ich, Jane — vertrauen Sie wie ich. Stützen Sie sich auf den Fels des Glaubens und zweifeln Sie nicht, denn nur so wird Er die Last Ihrer menschlichen Schwächen tragen helfen.«

»Ich verstehe nichts vom Leben eines Missionars. Ich habe mich nie mit den missionarischen Aufgaben befaßt.«

»Da kann ich Ihnen, unwürdig wie ich bin, alle Hilfe geben, die Sie brauchen. Ich kann Ihnen von Stunde zu Stunde Ihre Arbeit zuweisen, Ihnen stets zur Seite stehen und Ihnen in jedem Augenblick behilflich sein. Das könnte ich am Anfang tun, aber bald — denn ich kenne Ihre Kräfte — werden Sie so stark und fähig sein wie ich und keiner Hilfe mehr bedürfen«

»Aber meine Kräfte — wo sind denn meine Kräfte für ein solches Unternehmen? Ich spüre sie nicht. Nichts spricht in mir und nichts ermuntert mich, während Sie zu mir reden. Ich sehe kein Licht aufleuchten, ich spüre keine Kraft in mir lebendig werden, ich höre keine ermunternde Stimme. Ach, könnte ich Sie nur sehen lassen, wie finster es in mir ist! Mein Geist ist wie ein düsterer Kerker, in dessen Tiefen die Furcht zittert — die Furcht, von Ihnen zu einem Traum überredet zu werden, den ich unmöglich meistern kann!«

»Darauf habe ich eine Antwort — hören Sie sie. Ich habe Sie seit unserer ersten Begegnung beobachtet. Ich habe Sie zehn Monate lang geprüft. Bei all Ihren Beschäftigungen habe ich Ihnen aufmerksam zugesehen. Und was habe ich dabei herausgefunden? In der Schule leisteten Sie eine hervorragende Arbeit, die jedoch weder Ihren Gewohnheiten noch Ihren Neigungen entsprach. Aber Sie leisteten sie mit Fähigkeit und Takt. Sie verstehen es, sich zu beherrschen. Und als Sie die Nachricht Ihres plötzlichen Reichtums mit solcher Ruhe hinnahmen, war es mir klar, daß der schnöde Mammon keine Macht über Sie hat. In Ihrer entschlossenen Bereitschaft, Ihr Vermögen in vier gleiche Teile aufzuteilen und nur einen davon für sich zu behalten, die drei anderen im Namen einer abstrakten Gerechtigkeit fortzugeben, erkannte ich eine Seele, die zur Aufopferung bereit ist. In der Bereitschaft, mit der Sie ein Studium aufgaben, das Sie interessierte, und ein anderes aufnahmen, weil es mich interessierte, im Fleiß, mit dem Sie ihm nachgegangen sind, in der Energie und dem Arbeitseifer, mit dem Sie all seinen Schwierigkeiten begegneten, erkannte ich sofort die Tugenden und Eigenschaften, die ich suchte. Jane, Sie sind gelehrig, fleißig, selbstlos, treu, ausdauernd und tapfer; sehr sanft und heldenhaft zugleich. Hören Sie auf, sich selbst zu mißtrauen — ich kann Ihnen restlos vertrauen. Als Leiterin indischer Schulen und als Helferin bei indischen Frauen wird Ihre Mitarbeit für mich von unschätzbarem Wert sein.«

Wie ein eisernes Leichentuch schloß sich der Ring um mich. Langsam und sicher begann er, mich zu überzeugen. Diese letzten Worte drangen in mich ein, und meine Arbeit, die mir bisher so verschwommen schien, begann sich klar abzuzeichnen. Er erwartete eine Antwort. Ich erbat mir eine Viertelstunde zur Überlegung, bevor ich ihm antworten könne.

»Das sei Ihnen gern gewährt«, sagte er, erhob sich und ging ein paar Schritte dem Bergpaß zu, warf sich dann auf den Heideboden nieder und lag dort still.

Ich überlegte: Ich kann tun, was er von mir verlangt. Das muß ich gezwungenermaßen einsehen — vorausgesetzt allerdings, daß ich es überlebe. Aber ich glaubte nicht, daß ich es lange unter der indischen Sonne aushalten würde; und was dann? Es würde ihn nicht kümmern. Wenn die Zeit käme, da ich sterben müßte, würde er mich in aller Gelassenheit und Eiligkeit dem Gott anvertrauen, der mich erschaffen hat. Der Fall lag sehr klar vor mir. Wenn ich England verließ, verließe ich ein geliebtes, aber verödetes Land — denn Herr Rochester war nicht mehr da. Und wäre er da, was könnte es mir nützen? Ich mußte mich damit abfinden, ohne ihn zu leben. Denn gab es etwas Absurderes und Schwachsinnigeres, als sich von Tag zu Tag in der Erwartung eines unmöglichen Schicksalswechsels, der mich mit ihm wieder vereinigen könnte, hinzuschleppen? Natürlich mußte ich (wie St. John mir einst sagte) mir ein anderes Lebensinteresse suchen, um das Verlorene zu ersetzen. Und war die Beschäftigung, die er mir nun anbot, nicht die rühmlichste, die ein Mann ergreifen oder Gott ihm bestimmen kann? War sie in ihrem edlen Bemühen und in ihren hohen Zielen nicht die geeignetste, um die von zerstörter Liebe und verschwundener Hoffnung aufgerissene Leere auszufüllen? Ich glaubte, daß ich ja sagen müsse, und doch erzitterte ich bei dem Gedanken. Ach! Wenn ich St. John folgte, gab ich die Hälfte meiner selbst auf. Wenn ich nach Indien ging, begab ich mich in einen vorzeitigen Tod. Und wie würde ich die Zeitspanne zwischen meinem Abschied von England und meiner Ankunft in Indien, meinem Abschied von Indien und meiner Ankunft im Grabe ausfüllen? Ach, ich wußte das nur zu gut! Auch das stand ganz klar vor meinem Blick. Ich würde mich bemühen, St. John zu gehorchen, bis mir alle Glieder schmerzten, und ich würde ihn zufriedenstellen — ich würde ihn sogar über seine Erwartungen hinaus zufriedenstellen. Falls ich mit ihm ging —falls ich ihm die verlangten Opfer brachte. Dann täte ich es ganz vorbehaltlos, dann brachte ich alles auf den Opferaltar — mein Herz, mein Leben, mein Selbst. Er würde mich nie lieben, aber er würde mich billigen. Ich würde ihm Energien zeigen, die er nie gesehen, Fähigkeiten, die er nie vermutet hat. Ja, ich konnte so hart arbeiten wie er, und ohne mich zu beklagen.

Ich kann also getrost einwilligen? Doch gibt es da noch eins — ein Hindernis, das besonders schrecklich ist. Er bittet mich, seine Frau zu sein, und hat nicht mehr Herz — wird mir nie mehr eheliche Zuneigung entgegenbringen, als jener Fels dort oben, von dem der Bach zu Tal stürzt. Er schätzt mich, so wie ein Soldat eine gute Waffe schätzt, und das ist alles. Sollte ich nicht seine Frau sein, so würde mich das nicht kümmern; aber wie soll ich mich in seine kalte Rechnung fügen — und mit diesem Wissen vor den Traualtar treten? Kann ich von ihm den Brautring entgegennehmen, mich ihm gegenüber all den Pflichten der Liebe unterwerfen (von denen ich nicht annehme, daß sie ihm viel bedeuten) und dabei wissen, daß er mir im Geiste wie im Gefühl fremd bleibt? Werde ich das Bewußtsein ertragen, daß jede seiner Zuneigungsbezeugungen ein Opfer ist, das er mir nur im Namen eines Prinzips entgegenbringt? Nein. Das zu erdulden, wäre entsetzlich. Nie werde ich mich dem unterwerfen. Als seine Schwester könnte ich ihn begleiten — aber nicht als seine Frau. Das werde ich ihm sagen!

Ich schaute zu ihm hin. Er lag still da wie eine gefällte Säule. Sein Gesicht war mir zugewandt, sein Auge strahlte wachsam und forschend. Er erhob sich und trat auf mich zu.

»Ich bin bereit, nach Indien zu gehen, wenn ich frei sein kann.«

»Ihre Antwort bedarf einer Erklärung«, sagte er. »Sie ist nicht klar.«

»Sie waren bisher mein Adoptivbruder — und ich Ihre Adoptivschwester. Lassen wir es dabei bewenden. Es wäre besser, wenn wir nicht heirateten.«

Er schüttelte den Kopf. »Adoptivbrüderschaft ist in diesem Fall nicht genug. Wären Sie meine wirkliche Schwester, so ginge es vielleicht noch. Dann würde ich Sie einfach mitnehmen und keine Ehefrau suchen. So, wie es jedoch steht, muß unsere Verbindung durch eine Ehe geheiligt und besiegelt werden, oder aber sie kann nicht bestehen. Aus praktischen Gründen wäre jeder andere Plan nicht ausführbar. Sehen Sie das nicht ein, Jane? Überlegen Sie doch nur einen Augenblick — Ihre Vernunft wird es Ihnen sagen.«

Ich überlegte es mir. Meine Vernunft verwies mich nur auf die Tatsache, daß wir uns nicht liebten, wie Eheleute es tun sollen, und daß wir deshalb nicht heiraten konnten. Ich erklärte es ihm. »St. John«, sagte ich, »ich betrachte Sie als Bruder, und für Sie bin ich eine Schwester. Lassen wir es dabei.«

»Das können wir nicht — das können wir nicht«, antwortete er mit scharfer Entschlossenheit. »Es ginge einfach nicht. Sie haben gesagt, Sie würden mit mir nach Indien gehen. Bitte erinnem Sie sich daran. Sie haben es gesagt.«

»Bedingt.«

»Gut — sei es drum. Aber kommen wir zum entscheidenden Punkt. — Die Abreise mit mir aus England, die Zusammenarbeit mit mir bei meiner zukünftigen Aufgabe — dem widersetzen Sie sich nicht. Sie haben bereits die Hand so gut wie an den Pflug gelegt. Sie sind zu standhaft, um sie zurückzuziehen. Sie müssen nur ein einziges Ziel im Auge behalten — wie die Arbeit am besten bewältigt werden kann. Bestehen Sie doch nicht übermäßig auf Ihren komplizierten persönlichen Interessen, Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Hoffnungen. Stellen Sie all diese Betrachtungen in den Dienst des einen Vorhabens: der wirkungsvollen und machtvollen Erfüllung der Mission, die der große Meister Ihnen aufgetragen hat. Um das zu erreichen, brauchen Sie einen Helfer. Nicht einen Bruder — das ist eine zu lockere Verbindung —, sondern einen Ehemann. Denn auch ich will keine Schwester haben. Eine Schwester kann mir jederzeit fortgenommen werden. Ich brauche eine Ehefrau, die einzige Helferin, die ich wirklich im Leben beeinflussen und bis an den Tod an mich fesseln kann.«

Ich schauderte bei diesen Worten. Ich spürte, wie sein Einfluß mich bis ins Mark durchdrang und mir die G1ieder lähmte.

»Suchen Sie sich eine andere Frau, St. John. Suchen Sie sich eine, die zu Ihnen paßt.«

»Eine, die zu meinem Vorhaben paßt, wollen Sie sagen — eine, die zu meiner Berufung paßt. Ich wiederhole es Ihnen. Nicht für den unbedeutenden Mann, der ich bin, nicht für den Mann schlechthin, für den selbstsüchtigen Bedarf der Sinne suche ich eine Gefährtin. Für den Missionar suche ich sie.«

»Und dem Missionar will ich all meine Kraft schenken — denn sie allein braucht er — aber nicht mich selbst. Den Kern ja, aber nicht die Hülse und Schale, für die er keine Verwendung hat. Sie behalte ich für mich.«

»Da können Sie nicht — das sollten Sie nicht! Glauben Sie etwa, Gott wird sich mit einem halben Opfer begnügen? Glauben Sie, Er wird sich mit Kompromissen zufriedengeben? Und es ist im Namen Gottes, daß ich zu Ihnen spreche. Für sein Werk werbe ich Sie an, unter Seinem Banner werden wir kämpfen. Und in Seinem Namen kann ich kein bedingtes Treuegelöbnis hinnehmen. Es muß ganz und vollkommen sein.«

»Oh! Ich will gerne Gott mein ganzes Herz schenken«, sagte ich. »Aber Sie brauchen es nicht.«

Ich kann es nicht beschwören, lieber Leser, daß nicht etwas Sarkasmus im Ton dieses Satzes und in dem Gefühl, mit dem ich ihn aussprach, mitschwang. Bisher hatte ich St. John gefürchtet, weil ich ihn nicht verstand. Er hatte mir eine gewisse Ehrfurcht eingeflößt, weil ich nicht wußte, was in ihm heilig und was in ihm sterblich war. Aber im Verlaufe dieses Gesprächs gelangte ich zu einigen Erkenntnissen. Jetzt sah ich seine wahre Natur ganz deutlich vor meinen Augen. Ich sah seine Schwächen, und ich hatte Verständnis für sie. Ich erkannte, daß ich, im Heidekraut sitzend, einen schönen Mann vor mir hatte, der genauso irrte wie ich. Ein Schleier fiel und enthüllte seine Härte und Herrschsucht. Und da ich mir plötzlich dieser Eigenschaften in ihm gewahr wurde, spürte ich seine Unvollkommenheit, und das gab mir Mut. Ich stand vor meinesgleichen — vor jemandem, mit dem ich streiten und, falls es mir gefiel, dem ich mich widersetzen konnte.

Er schwieg nach meinen letzten Worten, und ich beobachtete den Ausdruck seines Gesichtes. Sein auf mich gerichteter Blick drückte Überraschung und Ungewißheit aus, als wolle er fragen: »Spottet sie? Das sagt sie mir? Was hat das zu bedeuten?«

Schließlich sagte er: »Vergessen wir nicht den Ernst der Sache; jedes leichtfertig gesprochene Wort darüber wäre eine Sünde. Ich will glauben, daß Sie wirklich die Wahrheit sagen und Ihr Herz Gott schenken möchten. Mehr verlange ich nicht. Wenden Sie Ihr Herz von den Menschen ab und richten Sie es auf Ihren Schöpfer. Und stellen Sie all Ihr Mühen und Ihre Begeisterung in den Dienst Seines kommenden Reiches auf Erden; und dann werden Sie auch bereit sein, alles zu tun, was Sie diesem Ziele nahebringt. Dann werden Sie sehen, welcher Antrieb Ihr und mein Streben und unsere körperliche und geistige Verbindung in der Ehe erhält. Denn eine solche Verbindung ist die einzige, die dem Schicksal und den Plänen der Menschen dauerhaften Bestand verleiht. Und dann setzen Sie sich über alle kleinen Launen hinweg, über all jene unbedeutenden Schwierigkeiten und Empfindsamkeiten der Gefühle; über all die Schwelgereien und Zärtlichkeiten einer rein persönlichen Zuneigung — und Sie werden sofort und willig diese Verbindung mit mir eingehen.«

»Werde ich das?« erwiderte ich schroff und blickte ihn an. Seine Gesichtszüge waren schön in ihrer Harmonie, aber von erschreckender Strenge, seine Stirn war gebieterisch und sein Blick forschend, aber ohne jede Sanftheit. Er war von hoher Statur, und nun versuchte ich mir vorzustellen, seine Frau zu sein. Nein, das war niemals möglich! Seine Arbeitsgefährtin oder Kameradin — das ginge vielleicht noch an. Und als solche war ich bereit, mit ihm in die Fremde zu ziehen, unter der heißen Sonne Asiens zu schmachten und ihm bei seiner Arbeit in der Wüstenei beizustehen. Ich war bereit, es ihm an Mut, Hingabe und Kraft gleichzutun und mich seinem Befehl stets zu unterwerfen, seinen maßlosen Ehrgeiz zu belächeln, in ihm den Christen von dem Manne zu unterscheiden, ersterem Ehrfurcht und letzterem Verständnis entgegenzubringen. Gewiß würde ich in einer solchen Lage oft leiden müssen, aber mein Herz und mein Geist wären frei. Ich hätte immer noch die Möglichkeit, in mir selbst in meinen ungebundenen Gefühlen in der Einsamkeit Trost zu finden. In meinen Gedanken, die mir, und mir allein, gehörten, fände ich stets einen Schlupfwinkel, in den er nicht eindringen konnte. Aber als seine Frau — immer an seiner Seite, immer gezwungen, immer unter Beobachtung, immer unter seiner Kontrolle — müßte ich ja die Flamme meiner Natur ersticken, sie in das Innerste meines Wesens verbannen, nie klagen, mich immer beherrschen — nein, das schien mir unerträglich!

Als ich mit meinen Gedanken so weit gekommen war, rief ich: »St. John!«

»Nun?« erwiderte er eisig.

»Ich wiederhole: Ich will Sie freiwillig als Missionshelferin begleiten, aber nicht als Ihre Frau. Ich kann Sie nicht heiraten und ein Teil von Ihnen werden.«

»Sie müssen aber ein Teil von mir werden«, gab er hartnäckig zurück, »sonst ist die ganze Sache umsonst. Wie kann ich, ein Mann von nicht dreißig Jahren, ein neunzehnjähriges Mädchen mit mir nach Indien nehmen, wenn ich nicht mir ihr verheiratet bin? Wie könnten wir auf immer zusammen leben — sei es in der Einsamkeit, sei es unter den wilden Stämmen Asiens —, ohne verheiratet zu sein?«

»Sehr gut«, sagte ich kurz. »Unter den gegebenen Umständen könnten wir es genausogut, als wenn ich Ihre wahre Schwester oder ein Mann und Geistlicher wie Sie wäre.«

»Es ist aber bekannt, daß Sie nicht meine Schwester sind. Ich kann Sie als solche nirgendwo vorstellen, und wenn ich es versuchte, so würde ich damit nur schimpflichen Verdacht auf uns beide lenken. Und im übrigen haben Sie zwar den scharfen Verstand eines Mannes, aber auch das Herz einer Frau. Nein, es geht einfach nicht anders.«

»Es ginge anders«, bemerkte ich etwas geringschätzig. »Sehr gut sogar. Ja, ich habe das Herz einer Frau, aber es schlägt nicht für Sie. Für Sie habe ich nur die standhafte Treue eines Kameraden, die Offenheit, Anhänglichkeit und Brüderlichkeit eines Mitkämpfers, wenn Sie es so nennen wollen — die Achtung eines Jüngers für seinen Meister, mehr nicht — Sie haben nichts zu befürchten.«

»Das ist es ja gerade, was ich brauche«, sagte er wie zu sich selbst. »Genau das, was ich brauche. Und wenn es da Hindernisse gibt, so müssen sie einfach überwältigt werden. Jane, Sie würden es nicht bereuen, meine Frau zu werden. Seien Sie dessen gewiß. Wir müssen heiraten — ich wiederhole es. Es gibt keinen anderen Weg. Und zweifellos wird später genug Liebe entstehen, um die Verbindung auch in Ihren Augen zu rechtfertigen.«

»Ich verabscheue diese Auffassung von Liebe«, rief ich unbeherrscht aus, erhob mich, stellte mich vor ihn und lehnte mich mit dem Rücken an den Felsen. »Ich verabscheue die gefälschten Gefühle, die Sie mir anbieten. Ja, St. John, und ich verabscheue auch Sie, wenn Sie so etwas tun.«

Er starrte mich mit zusammengepreßten Lippen an. Es war schwer zu sagen, ob meine Worte ihn verärgert oder überrascht hatten. Jedenfalls beherrschte er sich vollkommen.

»Solche Worte hätte ich von Ihnen nicht erwartet«, sagte er. »Ich glaube nicht, etwas Verabscheuungswürdiges gesagt oder getan zu haben.«

Sein sanfter Ton und seine ruhige, überlegene Haltung beeindruckten mich.

»Verzeihen Sie die Worte, St. John, aber es ist auch Ihre Schuld, daß ich mich in eine solche Empörung verstieg. Sie haben ein Thema berührt, über das wir uns nie einigen werden — ein Thema, über das wir nicht reden sollten. Das Wort Liebe allein ist ein Zankapfel zwischen uns. Und wenn es nun wirklich darauf ankäme, was würden wir dann tun? Was würden wir dann fühlen? Mein lieber Vetter, geben Sie Ihren Heiratsplan auf. Vergessen Sie ihn.«

»Nein«, sagte er. »Es ist ein langgehegter Plan, und er ist der einzige, der mir zu meinem großen Ziel verhelfen kann. Aber ich will Sie jetzt nicht weiter drängen. Morgen fahre ich nach Cambridge, wo ich mich von vielen Freunden verabschieden möchte. Ich werde etwa vierzehn Tage abwesend sein — nehmen Sie diese Zeit wahr, um sich mein Angebot zu überlegen, und vergessen Sie nicht, daß Sie im Falle einer Ablehnung nicht mich, sondern Gott zurückstoßen. Durch mich eröffnet Er Ihnen eine ruhmvolle Laufbahn, und nur als meine Frau können Sie sie antreten. Weigern Sie sich, so schließen Sie sich auf immer in Selbstsucht und öder Finsternis ein. Vergessen Sie nicht, daß Sie in einem solchen Falle zu jenen gezählt werden, die dem Glauben abgesagt haben und schlimmer sind als die Ungläubigen!«

Das waren seine Worte. Er wandte sich von mir ab, und sein Blick schweifte wieder einmal über den Fluß und in das Tal. Aber dieses Mal behielt er seine Gefühle für sich und in seinem Herzen beschlossen, denn ich war es offensichtlich nicht wert, von ihnen unterrichtet zu werden. Als ich neben ihm heimwärts ging, las ich in seinem eisernen Schweigen alles, was er mir gegenüber empfand: Es war die Enttäuschung eines strengen und despotischen Menschen, der auf Widerstand gestoßen war, wo er Unterwerfung erwartet hatte — die Mißbilligung eines kalten, unbeugsamen Urteils, weil er in meinen Gefühlen und Ansichten Dinge entdeckt hatte, die ihm fremd waren. Kurz: Als Mann hätte er mich nur allzugern zum Gehorsam gezwungen, und nur weil er ein Christ war, brachte er meinem unnatürlichen Widerstand soviel Geduld entgegen und ließ mir so lange Zeit zu Überlegung, Einkehr und Reue.

An jenem Abend küßte er wie gewöhnlich seine Schwestern, fand es aber angemessen, mir nicht einmal die Hand zu geben und verließ wortlos das Zimmer. Obgleich ich ihn nicht liebte, empfand ich viel Freundschaft für ihn; und so verletzte mich diese absichtliche Gleichgültigkeit. Sie verletzte mich so sehr, daß mir die Tränen in die Augen stiegen.

»Wie ich sehe, hast du dich mit St. John gezankt, Jane«, sagte Diana. »Das war wohl während eures Spazierganges im Moor. Aber geh ihm nur nach. Er wartet sicher draußen im Flur auf dich — er wird sich sicher mit dir aussöhnen.«

In solchen Dingen hatte ich nicht sehr viel Stolz: Es ist mir stets wichtiger, glücklich zu sein, als Würde zu bewahren. Ich lief ihm nach. Er stand unten an der Treppe.

»Gute Nacht, St. John«, sagte ich.

»Gute Nacht, Jane«, erwiderte er ruhig.

»Dann geben Sie mir doch die Hand«, sagte ich.

Welch ein kalter, lockerer Händedruck das wurde! Er war zutiefst verärgert über das, was an diesem Tage geschehen war, und keine Herzlichkeit vermochte ihn zu erwärmen, keine Träne ihn zu rühren. Mit ihm gab es keine fröhliche Versöhnung — kein tröstliches Lächeln, kein wohltuendes Wort. Ja, der Christenmensch war zwar immer noch friedlich und geduldig, und als ich ihn fragte, ob er mir verzeihe, antwortete er, daß es nicht seine Gewohnheit sei, sich an Böses zu erinnern, und daß er demnach nichts zu verzeihen habe, da er ja nicht beleidigt worden sei.

Und damit ging er. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte mich niedergeschlagen.

35

Er fuhr am nächsten Tag nicht nach Cambridge, wie er es gesagt hatte. Er verschob seine Abreise um eine volle Woche, und während dieser Tage ließ er mich fühlen, wie hart ein zwar guter, aber gestrenger, ein gewissenhafter, jedoch auch unerbittlicher Mensch jemanden zu strafen vermag, der ihn beleidigt hat. Ohne eine offen feindliche Gebärde oder ein unfreundliches Wort gab er mir mit aller Deutlichkeit zu verstehen, daß ich mir seine Gunst verwirkt hatte.

Und St. John hätte nie irgendwelchen unchristlichen Rachegefühlen nachgegeben, und er hätte mir nie das leiseste Leid zugefügt, wenn es in seiner Macht gestanden hätte. Seiner Natur und seinen Grundsätzen nach war er über solche Dinge erhaben. Er hatte mir meine Worte verziehen — als ich ihm sagte, ich verabscheue ihn und seine Liebe — aber er hatte diese Worte nicht vergessen, und er würde sie auch Zeit seines Lebens nie vergessen. Ich sah es in seinem Blick, jedesmal, wenn er sich mir zuwandte; und diese Worte standen jetzt immer wie eine Wand zwischen uns. Bei jedem Laut meiner Stimme klangen sie in seinem Ohr, und ihr Echo hallte zu mir zurück, wenn er mir antwortete.

Er vermied keineswegs Gespräche mit mir, rief mich sogar wie gewöhnlich jeden Morgen zur Arbeit an seinen Schreibtisch. Aber ich fürchte, daß der Sünder in ihm ein gewisses Vergnügen dabei empfand — ein Vergnügen, das der Christ in ihm natürlich nicht teilte —, in all seinen Worten und Taten auf äußerst geschickte Weise stets jenes Interesse und jene Zustimmung vermissen zu lassen, die früher der Arbeit einen gewissen strengen Reiz verliehen hatte. Für mich war er kein Mensch aus Fleisch und Blut mehr, sondern eine Marmorstatue; seine Augen waren kalte, helle Edelsteine, und seine Zunge war ein bloßes Sprechinstrument und sonst nichts.

All das war eine Folterqual für mich — eine raffinierte, anhaltende Folterqual, und unter ihr verspürte ich sowohl verhalten Empörung als nagenden Kummer, und ich fühlte mich wie erdrückt. Jetzt wußte ich, wie dieser gute, reine und lautere Mann mich — wäre ich seine Frau — leicht töten könnte, ohne meine Adern eines einzigen Tropfen Blutes zu berauben oder sein kristallklares Gewissen mit dem leisesten Makel des Verbrechens zu behaften. Das wurde mir besonders klar, wenn ich den Versuch machte, ihn günstig zu stimmen. Aber da kannte er kein Erbarmen. Er litt ja nicht unter dieser Entfremdung — er lechzte ja nicht nach Versöhnung, und wenn zuweilen meine Tränen auf die Buchseite fielen, über die wir gemeinsam gebeugt saßen, so bewegten sie ihn nicht im geringsten, und man hätte meinen können, sein Herz sei aus Stein oder Metall. Seinen Schwestern gegenüber benahm er sich indessen herzlicher als gewöhnlich, als ob er befürchte, daß die mir dargebrachte Kälte nicht genüge, um mich davon zu überzeugen, wie voll und ganz er mich ausgestoßen hatte; deshalb fügte er diesen Gegensatz hinzu, und ich bin sicher, daß er es nicht aus Bosheit, sondern nur aus Prinzip tat.

Am Vorabend seiner Abreise sah ich ihn zufällig gegen Sonnenuntergang im Garten auf und ab gehen, und dabei erinnerte ich mich, daß dieser Mensch, so entfremdet er mir jetzt auch war, mir einst das Leben gerettet hatte und daß wir schließlich nahe Verwandte waren. So machte ich noch einen letzten Versuch, seine Freundschaft wiederzugewinnen. Ich ging zu ihm hinaus, als er sich gerade an die kleine Pforte lehnte, und begann ohne Umschweife:

»St. John, ich bin unglücklich, weil Sie mir noch böse sind. Wollen wir nicht wieder Freunde sein?«

»Ich hoffe, wir sind Freunde«, erwiderte er kühl, ohne sich abzuwenden. Er beobachtete den Mond, der gerade aufgegangen war.

»Nein, St. John, wir sind nicht mehr die Freunde, die wir früher waren. Das wissen Sie sehr gut.«

»Sind wir es nicht mehr? Das ist nicht recht. Von mir aus wünsche ich Ihnen nichts Böses und nur alles Gute.«

»Das glaube ich Ihnen, St. John, denn ich bin sicher, daß Sie nie jemandem Böses wünschen würden. Aber als Ihre nahe Verwandte verdiene ich doch etwas mehr Zuneigung als jene allgemeine Barmherzigkeit, die Sie allen Fremden entgegenbringen.«

»Natürlich«, sagte er. »Ihr Wunsch ist verständlich, und ich betrachte sie auch keinesfalls als eine Fremde.«

Diese Worte und der kühle ruhige Ton, mit dem er sie sprach, waren kränkend und verletzend. Wäre ich den Eingebungen meines Stolzes und meines Zorns gefolgt, so hätte ich mich auf der Stelle umgedreht und ihn verlassen. Aber andere Gefühle als diese regten sich stärker in mir. Ich verehrte zutiefst die Begabungen und Grundsätze meines Vetters. Seine Freundschaft war mir viel wert, und es schmerzte mich, sie zu verlieren. Und deshalb wollte ich meine Bemühungen nicht so leicht aufgeben.

»Müssen wir so voneinander scheiden, St. John? Und wenn Sie nach Indien gehen, wollen Sie mich einfach ohne ein freundliches Wort zurücklassen?«

Er wandte sich vom Monde ab und schaute mir in die Augen.

»Wenn ich nach Indien gehe und Sie hier zurücklasse? Jane, was soll das heißen? Kommen Sie denn nicht mit?«

»Sie sagten doch selbst, es ginge nicht, außer wenn wir heirateten.«

»Und Sie wollen mich nicht heiraten? Bestehen Sie immer noch auf diesem Entschluß?«

Lieber Leser, weißt du eigentlich, wieviel lähmenden Schrecken jene kalten Menschen in ihre eisigen Fragen legen können? Wie erdrückend lawinenhaft ihr Zorn wirkt? Und mit welcher Frostigkeit, die dem des Eismeers gleicht, sie ihr Mißfallen ausdrücken?

»Nein, St. John. Ich werde Sie nicht heiraten. Ich bleibe bei meinem Entschluß.«

Die Lawine war ein wenig hervorgerückt, aber noch nicht donnernd zu Tal gestürzt.

»Ich frage Sie noch einmal. Warum weigern Sie sich?« fragte er.

»Zuerst tat ich es deshalb, weil Sie mich nicht lieben«, sagte ich; »aber jetzt, weil Sie mich fast hassen. Heiratete ich Sie, so würden Sie mich umbringen. Schon jetzt bringen Sie mich um.«

Seine Lippen und Wangen wurden blutleer und weiß.

»Ich würde Sie umbringen — ich bringe Sie jetzt schon um? Ihre Worte sind unziemlich: Sie sind heftig, unweiblich und unwahr. Sie verraten einen bedenklichen Gemütszustand, und sie verdienen strengen Tadel. Sie sind eigentlich unentschuldbar, aber es ist nun einmal die Menschenpflicht, seinem Nächsten zu vergeben, und wären es siebenzigmal sieben Male.«

Jetzt hatte ich alles verdorben. Ich wollte ganz ernstlich die Spuren einer früheren Beleidigung aus seinem Geiste tilgen, und nun hatte ich ihm eine weit schlimmere und bösere eingebrannt.

»Jetzt werden Sie mich wirklich hassen«, sagte ich. »Es hat keinen Sinn, eine Versöhnung herbeiführen zu wollen. Ich sehe, daß ich Sie mir auf ewig zum Feind gemacht habe.«

Diese Worte verwundeten ihn aufs neue, und das schlimmste war, daß sie der Wahrheit entsprachen. Ich sah es an seinen blutleeren Lippen, spürte den Zorn, den ich auf mich geladen hatte, und war trostlos.

»Sie haben meine Worte ganz falsch verstanden«, sagte ich, seine Hände ergreifend. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu kränken — wirklich nicht.«

Er lächelte bitter und zog entschlossen die Hand aus der meinen zurück. Er schwieg eine Weile, und dann sagte er:

»Und jetzt erinnern Sie sich an Ihr Versprechen und wollen, wie ich annehme, mir nicht nach Indien folgen?«

»Ja. Ich will mit Ihnen gehen, aber als Ihre Gehilfin,« antwortete ich.

Es trat eine Stille ein. Ich vermag nicht zu sagen, welcher Kampf zwischen Natur und Gnade sich in ihm abspielte, aber ein seltsames Leuchten schimmerte in seinem Blick, und dunkle Schatten umspielten seine Stirn.

Schließlich redete er: »Ich habe es Ihnen schon einmal erklärt, daß ein alleinstehendes Mädchen wie Sie unmöglich mit einem Mann meines Alters in die Fremde reisen kann. Das ist ganz ausgeschlossen. Ich habe es Ihnen so unzweideutig erklärt, daß es sich erübrigt, noch einmal darauf zurückzukommen. Und daß Sie jetzt wieder damit anfangen, finde ich höchst bedauerlich.«

Ich unterbrach ihn. Sein Vorwurf gab mir Mut. »St. John, seien Sie doch vernünftig. Was Sie sagen, grenzt an Unsinn. Sie geben vor, über meine Worte bestürtzt zu sein. Aber Sie sind gar nicht bestürzt, denn Sie sind viel zu klug und erhaben und können gar nicht so dumm und eingebildet sein, um den Sinn meiner Worte mißzuverstehen. Und so wiederhole ich: Ich will gern Ihre Mitarbeiterin sein, wenn Sie es wünschen, aber niemals Ihre Frau.«

Wieder wurde er aschfahl, aber wie zuvor beherrschte er seine Erregung vollkommen. Er antwortete nachdrücklich, aber ruhig: »Eine Mitarbeiterin, die nicht meine Ehefrau ist, brauche ich nicht. So können Sie also allem Anschein nach nicht mit mir gehen. Sollte jedoch Ihr Angebot wirklich ehrlich sein, so werde ich in der Stadt mit einem verheirateten Missionar reden, dessen Frau eine Hilfe braucht. Ihr Vermögen gestattet Ihnen, unabhängig von der Missionsgesellschaft zu leben, und so bliebe Ihnen vielleicht doch die Schande erspart, Ihr Versprechen gebrochen und das Banner, dem Sie sich verpflichteten, verlassen zu haben.«

Nun hatte ich, wie der Leser weiß, niemals ein solches formelles Versprechen gegeben, war auch keine Verpflichtungen eingegangen, und der Ton seiner Worte traf mich hart, und ich fand ihn ungerecht, despotisch und den Umständen nicht angemessen.

Ich antwortete: »Von Schmach, gebrochenem Versprechen oder Pflichtverweigerung kann keine Rede sein. Ich bin nicht im geringsten dazu verpflichtet, nach Indien zu gehen, und besonders nicht mit Fremden. Mit Ihnen hätte ich viel gewagt, denn ich bewundere Sie, habe Vertrauen und liebe Sie wie eine Schwester. Aber ich bin überzeugt, daß ich, mit wem und wann ich auch dort hingehen würde, nicht lange in diesem Klima leben könnte.«

»Aha, Sie fürchten also um Ihr Leben«, sagte er spöttisch.

»Jawohl. Gott hat mir dieses Leben nicht geschenkt, damit ich es wegwerfe. Und wenn ich das täte, was Sie von mir wünschen, so wäre das, wie ich zu glauben beginne, reiner Selbstmord. Und außerdem muß ich mich, bevor ich mich zum endgültigen Verlassen Englands entschließe, zuerst einmal überzeugen, ob ich im Lande nicht nützlicher sein kann, als wenn ich es verlasse.«

»Was soll das heißen?«

»Es wäre nutzlos, Ihnen das erklären zu wollen. Aber es gibt da etwas, worüber ich schon lange von quälenden Zweifeln geplagt war, und ich kann nirgendwo hingehen, bevor ich mir nicht Klarheit verschafft habe.«

»Ich weiß, wonach Ihr Herz sich sehnt und woran es hängt. Aber Ihr Wunsch ist gesetzlos und sündhaft. Seit langem sollten Sie jeden Gedanken daran unterdrückt haben. Und jetzt sollten Sie sich schämen, auch nur darüber zu sprechen. Sie denken doch an Herrn Rochester?«

Er sprach die Wahrheit. Ich gestand es mit meinem Schweigen ein.

»Werden Sie Herrn Rochester suchen?«

»Ich muß erfahren, was aus ihm geworden ist.«

»Dann bleibt mir nur noch, für Sie zu beten«, sagte er, »und Gott allen Ernstes anzuflehen, daß Sie nicht ganz der Verderbnis anheimfallen. Ich hatte geglaubt, in Ihnen eine der Erwählten zu sehen. Aber Gott sieht nicht mit menschlichen Augen: Sein Wille geschehe.«

Er öffnete die Pforte und ging die Schlucht hinunter. Bald war er außer Sicht.

Als ich in den Salon zurückging, fand ich Diana in Gedanken versunken vor dem Fenster stehen. Diana war größer als ich. Sie legte mir die Hand auf die Schulter, neigte sich zu mir und blickte mich forschend an.

»Jane«, sagte sie, »du bist in letzter Zeit immer sehr erregt und bleich. Ich bin sicher, daß dich etwas bedrückt. Sage mir, was zwischen dir und St. John geschehen ist. Ich habe euch eine halbe Stunde lang vom Fenster aus beobachtet. Du mußt mir verzeihen, daß ich euch nachspioniere, aber ich habe mir seit langem Gedanken gemacht. St. John ist ein merkwürdiges Wesen —«

Sie hielt inne, und ich schwieg.

Bald darauf fuhr sie fort:

»Mein Bruder hat irgendwelche besonderen Pläne für dich. Dessen bin ich sicher. Er hat für dich mehr Aufmerksamkeit und Interesse gezeigt als jemals für einen Menschen. Ich frage mich nur, aus welchem Grunde? Ich wollte, er liebte dich — ist es das, Jane?«

Ich legte ihre kühle Hand auf meine heiße Stirn. »Nein, Diana, nicht ein bißchen.«

»Warum folgt er dir dann immer mit seinen Blicken und will dich immer um sich haben, und warum ist er so oft mit dir alleine? Mary und ich schlossen daraus, daß er dich heiraten wolle.«

»Das will er auch — er bat mich, seine Frau zu werden.«

Diana klatschte in die Hände. »Das gerade haben wir gehofft! Und du wirst ihn doch heiraten, Jane, nicht wahr? Und dann wird er in England bleiben.«

»Weit gefehlt, Diana. Sein einziger Gedanke ist, sich eine passende Mitarbeiterin für seine Aufgaben in Indien zu sichern.«

»Was? Er will, daß du mit ihm nach Indien gehst?«

»Ja«

»Wahnsinn! Du würdest es nicht drei Monate dort aushalten. Dessen bin ich sicher. Du darfst auf keinen Fall mit ihm gehen. Du hast doch nicht etwa zugesagt, Jane?«

»Ich habe mich geweigert, ihn zu heiraten.«

»Und damit hast du ihn wahrscheinlich gekränkt?«

»Zutiefst. Ich fürchte, er wird mir nie verzeihen. Und ich habe ihm sogar angeboten, ihn als seine Schwester zu begleiten.«

»Jane, das war heller Wahnsinn. Denke doch nur daran, was das bedeutet — die furchtbaren Anstrengungen, die Ermüdung, die selbst die Stärksten umbringt, und du bist schwach. St. John — du kennst ihn ja — würde Unmögliches von dir verlangen. Er würde dir nicht einmal gestatten, dich in den heißesten Stunden auszuruhen. Und ich habe leider bemerkt, daß du dich stets zwingst, alles zu tun, was er von dir verlangt. Es erstaunt mich, daß du den Mut fandest, ihm deine Hand zu verweigern. Du liebst ihn also nicht, Jane?«

»Nicht als Ehemann.«

»Er ist doch ein hübscher Kerl.«

»Und ich bin häßlich und unscheinbar. Siehst du, Diana, wir würden nie zueinander passen.«

»Häßlich? Du? Nicht im geringsten. Du bist viel zu hübsch und viel zu gut, um in Kalkutta bei lebendigem Leibe zu rösten.« Und noch einmal ermahnte sie mich inständig, jeden Gedanken an die Reise nach Indien mit ihrem Bruder aufzugeben.

»Das muß ich wohl«, sagte ich, »denn als ich ihm eben vorschlug, ihn als Gehilfin zu begleiten, war er über meine Schamlosigkeit entsetzt. Es schien ihm ganz ungehörig, daß ich mit ihm auf diese Reise ginge, ohne mit ihm verheiratet zu sein — als ob ich ihm nicht von Anfang an klargemacht hätte, daß ich ihn als meinen Bruder betrachte.«

»Und warum sagst du, er liebe dich nicht, Jane?«

»Da solltest du ihn nur hören. Immer wieder betonte und erklärte er mir, er wünsche diese Ehe nicht für sich selbst, sondern für sein Amt. Und er sagte mir, ich sei zur Arbeit geschaffen — und nicht für die Liebe. Vielleicht hat er sogar recht damit. Aber meiner Meinung nach wäre ich in diesem Fall auch nicht für die Ehe geschaffen. Wäre es nicht seltsam, Diana, ein Leben lang an einen Mann gefesselt zu sein, der einen nur als nützliches Werkzeug betrachtet?«

»Unerträglich! Unnatürlich! Das käme gar nicht in Frage.«

»Und dann könnte es geschehen«, fuhr ich fort, »daß ich ihn trotz meiner jetzigen, rein schwesterlichen Zuneigung einmal wirklich lieben könnte, falls ich seine Frau wäre, und das wäre eine gewiß quälende Liebe. Schließlich ist er so begabt, und oft ist sein Blick von heroischer Größe. Und ach, wie schlimm stünde es dann mit mir! Er würde meine Liebe nicht wollen, und wenn ich ihm meine Gefühle offenbarte, würde er mir nur zu verstehen geben, daß er sie als überflüssig und unerwünscht betrachte. Das weiß ich.«

»Und doch ist St. John im Grunde ein guter Mensch«, sagte Diana.

»Er ist ein guter und großer Mensch. Aber er verfolgt seine hohen Ziele und verachtet dabei erbarmungslos die Gefühle und Wünsche der kleinen Menschen. Daher ist es für Unbedeutende besser, ihm aus dem Wege zu gehen, denn sonst würde er sie niedertreten. Da kommt er! Ich gehe jetzt, Diana.« Und als ich ihn eintreten sah, eilte ich die Treppe hinauf.

Aber beim Abendessen mußte ich ihm wieder begegnen. Bei Tisch schien er so ruhig und gefaßt wie gewöhnlich zu sein. Ich hatte geglaubt, er würde kaum das Wort an mich richten, und ich war sicher, daß er seine Heiratspläne endlich aufgegeben hatte. Aber in der Folge sah ich, daß ich mich in beiden Punkten getäuscht hatte. Er sprach mit mir wie gewöhnlich — oder vielmehr so, wie er es seit einiger Zeit gewöhnlich tat — er war von gewissenhaftester Höflichkeit. Zweifellos hatte er den Heiligen Geist um Hilfe angefleht, damit er ihn aus dem von mir verursachten Zorn befreite, und jetzt glaubte er sicher, daß er mir verziehen habe.

Als Bibellektüre vor dem Abendessen wählte er das einundzwanzigste Kapitel der Offenbarung Johannis. Es war jederzeit angenehm, ihm zuzuhören, wenn er die Bibel las. Dann nahm seine feine Stimme einen süßen Ton an, und dann offenbarte er in seiner Haltung eine edle und einfache Vornehmheit. Heute abend aber klang seine Stimme noch feierlicher, und seine Haltung war noch eindrucksvoller. Da saß er im Kreise der Seinen (der Maimond schien durch das vorhanglose Fenster, und es war so hell, daß das Kerzenlicht auf dem Tisch unnütz erschien). Er saß über die große, alte Bibel gebeugt und las uns aus den ehrwürdigen Seiten von der Vision des neuen Himmels und der neuen Erde vor — erzählte uns, wie Gott zu den Menschen kommen, ihre Tränen trocknen und sie trösten würde, und wie alle Leiden und Qualen der Vergangenheit verschwanden.

Die Worte beeindruckten mich tief, und besonders deshalb, weil ich einem fast unmerklichen Wechsel des Tones entnahm, daß er mich ansprach.

»Wer überwindet, der wird alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein.« Aber dann fuhr er langsam und betont fort:

»Der feigen Verleugner aber und Ungläubigen und Frevler und Totschläger und Unzüchtigen und Zauberer und Götzendiener und aller Lügner, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod.« Nun wußte ich, welches Schicksal St. John für mich fürchtete.

Ein ruhiger, leichtgedämpfter und mit großem Ernst verbundener Triumph kennzeichnete den Ausdruck, mit dem er diesen letzten Bibelvers vorlas. Der Vorlesende glaubte offenbar, daß sein Name bereits in das Buch des Lebens eingetragen sei, und sehnte sich nach der Stunde, an der er endlich in die Stadt eingelassen würde, in die die Könige der Erde all ihren Ruhm und ihre Ehre brachten, in der weder Sonne noch Mond zu leuchten brauchten, weil Gott und das Lamm sie mit ihren Glanz erhellten.

In dem darauffolgenden Gebet sammelte sich seine ganze Kraft, und all sein Eifer erwachte. Es war, als ringe er mit Gott und sei entschlossen, den Sieg davonzutragen. Er bat um Kraft für die Schwachherzigen, Führung und Geleit für den verirrten Wanderer, Rückkehr, und sei es auch erst in der elften Stunde, derer, die den Versuchungen der Welt und des Fleisches erlegen und vorn schmalen Pfad der Tugend abgeirrt sind, erflehte, bat und forderte Errettung der Verbrennenden. Er sprach mit tiefem feierlichem Ernst, und als ich ihm zuhörte, war ich zuerst erstaunt, dann gerührt und schließlich von Ehrfurcht ergriffen. Er war so aufrichtig von der Größe und Güte seines Vorhabens überzeugt, daß jeder, der ihm zuhörte, es fühlen mußte.

Nach dem Gebet verabschiedeten wir uns von ihm. Er wollte am nächsten Morgen zu sehr früher Stunde aufbrechen. Diana und Mary küßten ihn und gingen aus dem Zimmer — ich nehme an, daß er sie flüsternd dazu aufgefordert hatte. Ich gab ihm die Hand und wünschte ihm eine angenehme Reise.

»Ich danke Ihnen, Jane. Wie gesagt, werde ich in vierzehn Tagen aus Cambridge zurückkehren. Inzwischen haben Sie Zeit, sich zu besinnen. Wollte ich nur menschlichem Stolz gehorchen, so würde ich kein weiteres Wort an Sie über eine Heirat mit mir verschwenden. Aber ich höre auf den Ruf der Pflicht und verfolge in allem mein allererstes Ziel: Alles zur Ehre Gottes zu tun. Mein Meister hat lange gelitten, und so will ich es auch tun. Ich will und kann Sie nicht einfach dem Schiffbruch preisgeben. Noch ist es Zeit zu Reue und Einkehr. Bedenken Sie, daß wir wirken müssen, solange es Tag ist, und daß wir jene Nacht besonders fürchten müssen, da niemand mehr am Werke ist. Gott hat Ihnen die Kraft gegeben, das bessere Teil zu wählen, das niemand von Ihnen nehmen kann.«

Bei diesen Worten legte er mir die Hand auf das Haupt. Er hatte ernst und doch sanft gesprochen. Sein Blick war nicht der eines Liebenden, der seine Geliebte betrachtet, sondern der des Hirten, der sein Schaf hütet — oder eher wohl noch wie der eines Schutzengels, der über die ihm anbefohlene Seele wacht. Begabte Menschen, seien sie mitfühlend oder nicht, seien sie Eiferer, Streiter oder Tyrannen, haben — wenn sie ehrlich sind — erhabene Augenblicke, in denen sie überzeugen und herrschen. Ich bewunderte St. John, bewunderte und verehrte ihn so sehr, daß die Kraft seiner Worte mich schier überwältigte. Ich war versucht, den Kampf mit ihm aufzugeben, mich im Strom seines Willens hintreiben zu lassen und dabei meinen eigenen zu verlieren. Ich fühlte mich fast genauso stark ergriffen von ihm, wie ich es schon einmal von jemand anderem gewesen war. Aber beide Male war ich töricht gewesen. Beim erstenmal wäre ein Nachgeben meinen Grundsätzen zuwider gewesen, und dieses Mal meinem Urteilsvermögen. Wenigstens denke ich jetzt so, wenn ich an diese Stunde zurückdenke; aber in jenem Augenblick war ich mir dessen nicht bewußt.

Ich stand unbeweglich unter der Berührung meines Meisters. Mein Widerstand war vergessen, meine Furcht überwunden und meine Kampfkraft gelähmt. Das Unmögliche — meine Heirat mit St. John — erschien immer möglicher. Alles verwandelte sich plötzlich. Der Glaube rief — die Engel winkten — Gott befahl — das Leben rollte sich zusammen wie ein Blatt Papier — die Tore des Todes öffneten sich auf die Ewigkeit, und es war, als müsse man augenblicklich alles Irdische jener ewigen Seligkeit opfern. Das dunkle Zimmer belebte sich mit einer himmlischen Erscheinung.

»Könnten Sie sich jetzt entscheiden?« fragte der Missionar.

Die Stimme war sanft, und er zog mich sanft zu sich hin. Oh, diese Sanftheit! Wieviel mächtiger war sie als jede Kraft! St. Johns Zorn konnte ich die Stirne bieten, aber seine Sanftmut machte mich biegsam wie ein Schilfrohr. Und doch wußte ich die ganze Zeit hindurch, daß ich eines Tages meine frühere Auflehnung bitter zu bereuen haben würde, falls ich ihm jetzt nachgab. Seine wahre Natur hatte sich in der Stunde des Gebetes nicht verändert. Sie hatte sich nur erhoben.

»Ich könnte mich entscheiden, wenn ich nur Gewißheit hätte«, antwortete ich; »und wäre ich nur überzeugt, daß es Gottes Wille ist, so würde ich Sie auf der Stelle heiraten komme nachher, was kommen mag.«

»Meine Gebete sind erhört!« rief St. John aus. Er drückte die Hände stärker auf mein Haupt, als wolle er von mir Besitz ergreifen, er legte seine Arme um mich, fast als liebte er mich (und ich sage fast, denn ich kannte den Unterschied, ich wußte, wie sich wirkliche Liebe anfühlt; aber wie er verwarf ich jeden Gedanken an Liebe und dachte nur an meine Pflicht). Ich kämpfte mit der Nebelhaftigkeit, die in meinem Inneren herrschte. Ich wünschte mir zutiefst, inbrünstig und aufrichtig, das Rechte und nur das Rechte zu tun. Und ich flehte den Himmel an: »Zeige mir den Weg! Zeige mir den Weg!« Ich war erregter als je zuvor, und was jetzt folgte, war, wie der Leser es selbst beurteilen kann, gewiß dieser Erregung zuzuschreiben.

Alles im Hause war still. Alle, außer St. John und mir, hatten sich zur Ruhe zurückgezogen. Die einzige Kerze auf dem Tisch war am Verlöschen, und Mondlicht erfüllte das Zimmer. Mein Herz schlug schnell und dumpf. Ich konnte sein Pochen hören. Doch plötzlich setzte es aus, und ein unaussprechliches Gefühl überflutete mich und nahm von meinem ganzen Wesen Besitz. Es war fast so scharf und verwirrend wie ein elektrischer Schlag, und es wirkte auf all meine Sinne, als seien sie bisher betäubt gewesen und würden nun gewaltsam zum Leben erweckt. Und sie erwachten mit solcher Kraft, daß ich am ganzen Körper zitterte.

»Was haben Sie gehört? Was sehen Sie?« fragte St. John. Ich sah nichts, aber ich hörte eine Stimme, die mich aus der Ferne rief:

»Jane! Jane! Jane!« Weiter nichts.

»O Gott! Was ist das?« stieß ich hervor.

Ich hätte ebensogut fragen können: »Wo ist es?« Denn es schien nicht im Zimmer, im Haus oder im Garten zu sein.

Es kam weder aus der Luft noch aus der Erde, noch aus dem Himmel. Ich hatte es gehört — aber es war mir unmöglich zu sagen, woher. Und es war die Stimme eines geliebten Wesens, es war eine mir bekannte liebe Stimme, die ich nicht hätte vergessen können. Es war die Stimme Edward Fairfax Rochesters, und sie rief mich dringlich und Wild, und sie war in Angst und Not.

»Ich komme!« rief ich. »Warte, ich komme!« Ich lief zur Tür und schaute in den Gang. Es war dunkel. Ich lief in den Garten. Er war leer.

»Wo bist du?« rief ich laut.

Von den Hügeln hinter der Schlucht kam die Antwort leise im Echo zurück: »Wo bist du?« Ich horchte. Der Wind seufzte in den Baumkronen. Einsam lag das Moorland zur mitternächtlichen Stunde.

Das ist kein Aberglauben, das ist nicht Spuk oder Hexerei. Das ist die Stimme der Natur, und es ist kein Wunder, daß sie sich jetzt in letzter Minute Gehör verschaffte.

Ich riß mich von St. John los, der mir gefolgt war und mich zurückhalten wollte. Aber jetzt war meine Stunde gekommen. Jetzt waren meine Kräfte im Spiel und brachen sich ihren Weg. Ich gebot ihm, sich aller Fragen und Bemerkungen zu enthalten und mich augenblicklich zu verlassen, da ich jetzt allein sein müsse. Er gehorchte sofort. Wo der Wille zum Befehl stark genug ist, ist auch der Gehorsam gewiß. Ich eilte in mein Zimmer, schloß mich ein, fiel auf die Knie und betete auf meine Art — anders als St. John, aber jedoch vielleicht ebenso wirkungsvoll. Es schien mir, daß ich Gott sehr nahe war, und meine Seele sank dankbar zu seinen Füßen nieder. Dann erhob ich mich — faßte meinen Entschluß, legte mich furchtlos und in ruhiger Gewißheit nieder und wartete auf das Morgengrauen.

36

Der Morgen kam. Ich erhob mich beim ersten Tageslicht. Dann war ich etwa eine Stunde mit dem Ordnen meiner Sachen beschäftigt, um mein Zimmer, meine Schubladen und meinen Kleiderschrank so zu hinterlassen, wie ich sie nach einer kurzen Abwesenheit wieder vorzufinden wünschte. Inzwischen hörte ich St. John sein Zimmer verlassen. Er blieb vor meiner Tür stehen, und ich fürchtete, er würde anklopfen — aber er schob nur einen kleinen Zettel unter der Tür durch. Ich nahm ihn auf und las: »Sie haben mich gestern zu plötzlich verlassen. Wären Sie nur ein wenig länger geblieben, so hätten Sie das Kreuz Christi und die Krone des Engels ergriffen. Geben Sie acht inzwischen, und beten Sie, daß Sie nicht in Versuchung geführt werden. Der Geist ist sicher willig, aber das Fleisch ist schwach, wie ich sehe. Ich werde stündlich für Sie beten. — Ihr St. John.«

Ich antwortete ihm in Gedanken:

»Mein Gott ist willig, das Rechte zu tun, und mein Fleisch wird hoffentlich stark genug sein, Gottes Willen zu erfüllen, wenn er mir erst deutlich vor Augen tritt. Es wird jedenfalls; stark genug sein, um einen Ausweg aus dieser Wolke des Zweifels zu suchen, zu erforschen und notfalls zu erkämpfen, so daß ich endlich das klare Licht der Gewißheit erblicke.«

Es war der erste Juni. Und doch war der Morgen kalt und bewölkt, und der Regen prasselte auf das Dach nieder.

Ich hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und St. John hinausging. Ich blickte ihm durchs Fenster nach, als er den Garten durchquerte. Er schlug den Weg über das neblige Moor ein, der nach Whitcross führte, und dort würde er die Kutsche nehmen.

In wenigen Stunden folge ich deinen Spuren, lieber Vetter, dachte ich. Auch ich werde in Whitcross eine Kutsche nehmen. Auch ich muß in England jemanden suchen, bevor ich für immer fortgehe.

Es waren noch zwei Stunden bis zur Frühstückszeit. Ich wanderte in meinem Zimmer leise auf und ab und dachte über die seltsame Erscheinung nach, die meinen Plänen die Wendung gegeben hatte. Ich entsann mich jenes inneren Gefühls, das sich meiner bemächtigt hatte, und ich konnte mich ganz genau daran erinnern. Da war die Stimme, die ich gehört hatte, und wieder fragte ich mich, von woher sie gekommen war, und ich fragte mich vergebens, denn sie schien eher aus mir als aus der äußeren Welt zu mir gedrungen zu sein. War das eine Reaktion meiner Nerven — eine Illusion? Es war nichts, das ich glauben oder begreifen konnte. Es war eher eine Art von Eingebung. Dieses wundersame Gefühl hatte mich so plötzlich überfallen wie das Erdbeben, das den Kerker von Silas, in dem Paulus schmachtete, erschütterte; es hatte die Türen des Verlieses der Seele aufgesprengt und die Fesseln gelöst — es hatte die Seele aus tiefem Schlaf geweckt und sie erzitternd aufhorchen lassen. Jener Schrei hatte mein Ohr, mein Herz und meinen Geist durchdrungen, aber keine Furcht hervorgerufen, denn freudig hatte er über alle lästige Körperlichkeit hinaus zu meinem Innersten gesprochen.

Als ich meine Überlegungen beendigte, sagte ich mir, daß ich in wenigen Tagen etwas von dem erfahren würde, dessen Stimme gestern abend zu sich zu rufen schien. Briefe hatten sich als zwecklos erwiesen — jetzt würde ich mich selbst nach ihm auf die Suche machen.

Beim Frühstück teilte ich Diana und Mary mit, daß ich auf die Reise gehen und ein paar Tage abwesend sein würde.

»Allein, Jane?« fragten sie.

»Ja, ich will mich nach einem Freund erkundigen, über dessen Verbleiben ich schon seit einiger Zeit beunruhigt bin.«

Sie hätten einwenden können — und zweifellos dachten sie es auch —, daß sie mich außer ihnen ohne Freunde glaubten, denn das hatte ich ihnen ja gesagt. Aber ihr natürliches Zartgefühl gebot ihnen, keine Fragen zu stellen, und Diana erkundigte sich nur, ob ich mich auch wohl genug für eine Reise fühle, denn ich sähe sehr blaß aus. Ich erwiderte, daß mir nichts fehlte und daß mich nur die Unruhe quäle und daß ich mir bald Gewißheit zu verschaffen hoffte.

Es war leicht, meine Vorbereitungen zu treffen, denn niemand belästigte mich mit Fragen oder Vermutungen. Ich hatte ihnen einmal erklärt, daß ich ihnen meine Pläne nicht näher erklären könne, und sie hatten sich gütig und weise damit abgefunden und räumten mir das Vorrecht ein, so wie ich es ihnen unter ähnlichen Bedingungen eingeräumt hätte.

Ich verließ Moor House um drei Uhr nachmittags, und kurz nach vier stand ich zu Füßen des Wegweisers in Whitcross und wartete auf die Kutsche, die mich in das weit entfernte Thornfield bringen sollte. In der Stille der einsamen Straßen und des öden Hügellandes hörte ich sie schon von weitem ankommen. Es war dieselbe Kutsche, mit der ich vor einem Jahr an einem Sommerabend bis an diesen selben Ort gelangt war; und wie verzweifelt, hoffnungslos und verloren ich damals war! Sie hielt an, als ich winkte. Ich stieg ein — dieses Mal brauchte ich nicht meinen ganzen Besitz für die Reise herzugeben. Als wir auf der Straße nach Thornfield waren, fühlte ich mich wie eine Brieftaube, die heimwärts fliegt.

Es war eine Fahrt von sechsunddreißig Stunden. Ich hatte Whitcross am Dienstag nachmittag verlassen, und die Kutsche hielt am Donnerstagmorgen vor einem Wirtshaus am Wege, um die Pferde zu tränken. Die liebliche Landschaft mit den grünen Hecken, den großen Feldern und den sanften Hügeln, auf denen die Schafe weideten (wie milde, zart und saftig grün war sie, verglichen mit der strengen Moorlandschaft von Morton!), bot sich meinem Blick wie die Züge eines altbekannten Gesichtes. Ja, ich erkannte dieses Land wieder, und ich war sicher, daß ich nah an mein Ziel gelangt war.

»Wie weit ist es von hier nach Thornfield Hall?« fragte ich den Gastwirt.

»Zwei Meilen querfeldein.«

So wäre ich am Ziel meiner Reise! Ich stieg aus, übergab dem Wirt meinen Koffer zur Aufbewahrung, bezahlte die Fahrt, belohnte den Kutscher, und schon war ich auf dem Weg. Der leuchtende Tag ließ das Wirtshausschild erglänzen, und ich las in vergoldeten Buchstaben »The Rochester Arms«. Mein Herz setzte aus. So war ich also schon auf meines Herrn Grund und Boden! Aber dann kamen mir wieder trübe Gedanken!

Dein Herr mag irgendwo in Europa, jenseits des Kanals sein. Du weißt es ja nicht. Und wenn er in Thornfield Hall ist, wo du jetzt so fröhlich hineilst, weißt du denn, wer an seiner Seite lebt? Seine wahnsinnige Frau, und in dem Fall hast du nichts mit ihm zu schaffen. Dann darfst du nicht einmal mit ihm reden oder seine Nähe suchen. All dein Bemühen ist zwecklos. Gib es auf und kehre zurück, warnte mich eine Stimme. Frage zuerst die Leute im Wirtshaus. Sie können dir alles sagen und deine Zweifel im Nu zerstreuen. Geh zum Gastwirt und frage ihn, ob Rochester daheim ist.

Der Gedanke war vernünftig, und doch konnte ich mich noch nicht dazu entschließen. Ich fürchtete mich zu sehr vor einer Antwort, die mich in Verzweiflung versetzen könnte. Je länger ich zweifelte, desto länger konnte ich hoffen. Vielleicht würde ich Thornfield Hall noch einmal im Glanze seines Sternes wiedersehen. Jetzt war ich schon am Zaunsitz angelangt, und vor mir lagen die Felder, durch die ich an jenem Morgen meiner Flucht aus Thornfield. blind, taub und wild verzweifelt gerannt war. Jetzt lief ich wieder über die gleichen Felder. Und wie schnell ich lief! Wie ich rannte! Wie ich mich auf die Begegnung mit jedem Baum und Strauch im voraus freute! Wie ich jeden altbekannten Winkel freudig und begeistert begrüßte! Endlich gelangte ich in den Wald. Dunkle Krähennester hingen in den Zweigen; lautes Gekrächze unterbrach die Morgenstille. Begeistert eilte ich weiter. Ich überquerte noch ein Feld, ging in den Pfad hinein — und da lagen schon die Hofmauern und das Hinterhaus vor mir. Das Hauptgebäude war meinem Blick noch verborgen. »Ich will es zuerst von vorne sehen«, beschloß ich, »wo es mir mit der ganzen Wucht seiner Schönheit entgegenstrahlt. Und von dort kann ich auch das Fenster meines Herrn sehen! Vielleicht schaut er gerade hinaus — er steht früh auf. Vielleicht geht er auch im Obstgarten spazieren oder auf dem Kiesweg vor dem Haus. Ach, könnte ich ihn sehen! Aber wäre es denn nicht töricht von mir, ihm direkt in die Arme zu laufen? Würde ich mich beherrschen können? Ich weiß es nicht — ich bin mir gar nicht sicher. Und wenn ich es täte — was dann? O mein Gott! Was dann? Wen würde ich berauben, wenn ich nur noch einmal das ganze Lebensglück kostete, das allein sein Blick mir schenken kann? Aber ich bin wahnsinnig! Vielleicht schaut er sich in diesem Augenblick den Sonnenaufgang in den Pyrenäen oder in der tropischen Südsee an.«

Ich war an der niederen Mauer am Obstgarten entlanggegangen und bog um die Ecke. Da war das Gartentor zwischen zwei mit Steinkugeln geschmückten Säulen, das auf die Wiesen hinausging. Ich stellte mich hinter eine der Säulen, von wo aus ich unbehindert und ungesehen einen Blick auf das Herrenhaus werfen konnte. Ich lugte behutsam aus meinem Versteck heraus, denn zuerst wollte ich sicher sein, daß die Fensterläden der Schlafzimmer noch geschlossen waren. Von hier aus konnte ich alles überwachen.

Vielleicht beobachteten mich die Krähen, die laut krächzend über meinen Kopf flogen. Was dachten sie wohl von mir? Sie müssen mich zuerst für sehr zaghaft gehalten und sich dann über meine wachsende Kühnheit verwundert haben. Ein kurzer Blick, und darauf ein langes Starren, und dann sprang ich mit einem Satz auf die Wiese vor mir, stellte mich noch einmal vor das Herrenhaus und schaute es ungläubig und an meinem eigenen Verstand zweifelnd an. So mögen die Krähen sich gefragt haben, warum ich zuerst so geheimnisvoll tat und gleich darauf keinerlei Rücksicht mehr nahm.

Lieber Leser, ich werde es dir erklären!

Stell dir vor, ein junger Mann findet seine Geliebte auf einem Moosbett schlafend vor. Er möchte einen Blick auf das liebliche Gesicht werfen, ohne sie aufzuwecken. So schleicht er sich leise auf dem Gras heran, achtet darauf, kein Geräusch zu machen, hält inne — weil er glaubt, sie habe sich bewegt. Und er zieht sich zurück, denn um nichts in der Welt möchte er gesehen werden. Alles ist still. Er wagt sich noch einmal hervor. Er neigt sich über sie. Ein leichter Schleier bedeckt ihr Gesicht. Er hebt diesen Schleier in freudiger Erwartung des Anblicks ihrer anmutig blühenden Schönheit. Er kann es kaum erwarten, ihr in das schlafende Antlitz zu schauen. Aber plötzlich ergreift er mit beiden Händen jene Form, die er noch vor einem Augenblick nicht mit den Fingerspitzen hätte berühren wollen! Plötzlich ruft er laut ihren Namen, schreit, und starrt sie verzweifelt an! Und er schreit und packt sie an, denn jetzt ist keine Vorsicht mehr geboten, jetzt ist keine Rücksichtnahme nötig: Er hatte geglaubt, seine Geliebte schlafe friedlich — und dabei war sie tot und wie zu Stein erstarrt!

So hatte auch ich mit zaghafter Freude nach einem stattlichen Haus geschaut — und eine verkohlte Ruine gefunden.

Ach! Da war es nicht mehr nötig, sich hinter einem Pfeiler zu verstecken. Zu den Fenstern hinaufzuschauen, hinter denen ich Leben vermuten konnte. Nicht nötig, auf das Geräusch sich öffnender Türen zu lauschen, sich einzubilden, man höre Schritte auf den Fliesen oder auf dem Kiesweg. Der Rasen und die Beete waren zertrampelt und zerstört. Das Portal gähnte weit offen. Die Vordermauer sah genauso aus, wie sie mir einst im Traum erschienen war. Die Mauer war eine leere Schale. Sie ragte in die Höhe, sah zerbrechlich aus, und hinter den leeren Fenstern war alles eingestürzt.

Und über allem lastete die Stille des Todes, die Einsamkeit und Öde der Wildnis. Kein Wunder, daß all meine Briefe hierher nie beantwortet wurden. Die Schwärze der zerbröckelnden Mauern bezeugte klar, welchem Schicksal Thornfield Hall zum Opfer gefallen war. Aber wie war der Brand entstanden? Welche Geschichte lag hinter diesem Unheil? Welche Verluste, außer denen des Stein- und Holzwerkes, waren zu beklagen? Sind auch Menschenleben vernichtet worden? Und wenn ja, welche? Entsetzliche Frage, die mir hier niemand beantworten konnte — nicht einmal die stumme, als Zeuge zurückgelassene Materie.

Ich wanderte ziellos inmitten der Zerstörung herum und stellte zunächst einmal fest, daß das Unglück schon vor geraumer Zeit stattgefunden haben mußte. Der Schnee des Winters war in das Innere des Hauses gedrungen, und die schweren Winterregen hatten sich in den Grundfesten angesammelt, denn inmitten der Trümmerhaufen hatte der Frühling bereits neues Leben entstehen lassen. Zwischen den Steinen und den eingestürzten Tragbalken sprossen Gras und Unkraut. Aber ach! Wo war der unglückliche Besitzer dieser Ruine geblieben? In welchem Land weilte er? Wie erging es ihm? Ohne es zu wollen, blickte ich auf den grauen Kirchturm in der Nähe des Portals und fragte mich, ob er vielleicht schon bei den Rochesters in der engen Marmorgruft läge.

Irgendwie mußte ich mir Antwort auf diese Fragen verschaffen, und da ich nur im Gasthaus Auskunft erwarten konnte, kehrte ich dahin zurück. Der Wirt brachte mir persönlich das Frühstück in das Gastzimmer. Ich bat ihn, die Tür zu schließen und sich zu setzen, da ich einige Fragen an ihn zu stellen hätte. Als er mir jedoch gehorchte, wußte ich kaum, wie ich beginnen sollte, denn ich fürchtete mich so sehr vor der möglichen Antwort. Allerdings hatte mich das Bild des Grauens, dem ich eben begegnet war, auf eine traurige Geschichte vorbereitet. Der Wirt war ein anständig aussehender Mann mittleren Alters.

»Sie kennen natürlich Thornfield Hall?« gelang es mir schließlich hervorzubringen.

»O ja, Fräulein. Ich habe dort einmal gelebt.«

»Wirklich?« Das war aber nicht zu meiner Zeit, dachte ich mir, denn mir ist er fremd. Er fügte hinzu: »Ich war Kellermeister beim verstorbenen Herrn Rochester.«

Der Verstorbene! Es schien mir, als habe er mir mit aller Kraft jenen Schlag versetzt, vor dem ich mich so gefürchtet hatte.

»Der Verstorbene!« stieß ich hervor. »Er ist tot?«

»Ich meine den Vater des jetzigen Herrn Edward Rochester«, erklärte er. Ich atmete auf. Diese Worte gaben mir wenigstens die Gewißheit, daß Herr Edward — mein Herr Rochester (und Gott segne ihn, wo er auch immer sei) — wenigstens am Leben und auf jeden Fall der »jetzige Herr Rochester« war. Beglückende Worte! Jetzt konnte ich allem weiteren — so schlimm es auch sein mochte — verhältnismäßig gefaßt zuhören. Solange er nicht im Grabe war, würde ich es ertragen, Wenn man mir sagte, er sei am anderen Ende der Welt.

»Und lebt Herr Rochester jetzt in Thornfield Hall?« fragte ich, obgleich ich die Antwort kannte; aber ich wollte die Frage nach dem Ort seines Aufenthaltes noch etwas hinausschieben.

»O nein, mein Fräulein — O nein! Da lebt keiner mehr. Ich nehme an, Sie sind hier fremd, denn sonst wüßten Sie gewiß, was im letzten Herbst geschehen ist. Thornfield Hall ist ein großer Trümmerhaufen. Gerade zur Erntezeit ist es niedergebrannt. Ein furchtbares Unglück! Soviel wertvoller Besitz ist zerstört. Man konnte kaum ein Möbelstück retten. Das Feuer ist mitten in der Nacht ausgebrochen, und bevor die Löschwagen aus Millcote eintrafen, stand das ganze Gebäude in Flammen. Ein furchtbarer Anblick. Ich habe es selbst gesehen.«

»Mitten in der Nacht!« stammelte ich. Ja, das war die Schicksalsstunde in Thornfield. »Ist die Brandursache bekannt?« fragte ich.

»Vermutungen, mein Fräulein, Vermutungen. Aber ich würde sagen, daß die Ursache ohne jeden Zweifel feststeht.«

Er schob seinen Stuhl näher an den Tisch, sprach mit leiser Stimme und fuhr fort: »Vielleicht ist es Ihnen bekannt, daß da eine Dame wohnte — eine — Irrsinnige?«

»Ich habe etwas davon gehört.«

»Sie wurde sehr streng bewacht, und jahrelang wußten viele Leute nicht einmal, ob es sie wirklich gab. Niemand hat sie je gesehen. Es gingen nur Gerüchte um, daß eine solche Person im Herrenhaus lebte, aber es war sehr schwierig, sich vorzustellen, wer oder was sie war. Man erzählte, Herr Edward habe sie aus dem Ausland mitgebracht, und manche glauben, sie sei einmal seine Geliebte gewesen. Aber dann ist vor einem Jahr etwas Seltsames geschehen — etwas sehr Seltsames.«

Ich fürchtete, er würde nun meine eigene Geschichte erzählen, und bemühte mich daher, ihn nicht vom Hauptthema abkommen zu lassen. »Und diese Dame?«

»Diese Dame war, wie sich herausstellte, Herrn Rochesters Frau! Die Sache wurde auf höchst seltsame Weise entdeckt. Es lebte damals eine junge Dame als Kindererzieherin in Thornfield Hall, und in die hat Herr Rochester sich —«

»Aber das Feuer?« unterbrach ich ihn.

»Darauf komme ich noch, mein Fräulein. Wie gesagt, die junge Dame, in die Herr Rochester sich verliebte. Die Dienerschaft erzählt, sie hätten noch nie jemanden so verliebt gesehen. Er stellte ihr ständig nach. Man hat ihn beobachtet — Sie wissen ja, wie das mit der Dienerschaft ist —, und er war bereit, alles für sie zu tun. Allerdings hielt niemand außer ihm sie für besonders hübsch. Sie war ein kleines schmales Ding, und man sagt, sie habe fast wie ein Kind ausgesehen. Ich selbst habe sie nicht kennengelernt, aber Leah, das Zimmermädchen, hat mir viel von ihr erzählt. Leah hatte sie recht gern. Herr Rochester war etwa vierzig Jahre alt und diese junge Erzieherin nicht einmal zwanzig. Und wissen Sie, wenn Männer in dem Alter sich in junge Mädchen verlieben, dann sind sie oft wie behext. So wollte er sie also heiraten.«

»Diesen Teil der Geschichte erzählen Sie mir lieber ein andermal«, sagte ich; »im Augenblick möchte ich aus ganz besonderen Gründen alles über den Brand erfahren. Nahm man an, daß diese wahnsinnige Frau Rochester etwas damit zu tun hatte?«

»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Daß sie es war, ist völlig klar, und sie allein hat das Haus in Brand gesetzt. Sie hatte eine Pflegerin, eine gewisse Frau Poole — an sich eine tüchtige Frau und sehr vertrauenswürdig, bis auf einen Fehler, der vielen Pflegerinnen und Haushälterinnen eigen ist — sie hatte nämlich immer eine Flasche Gin bei sich, und hie und da trank sie einen Tropfen über den Durst. Man kann es ja verstehen, denn sie hatte ein hartes Leben. Aber es war gefährlich. Denn wenn Frau Poole nach ihrem Gin fast eingeschlafen war, nahm ihr die Irrsinnige, die schlau wie eine Hexe war, die Schlüssel aus der Tasche, stahl sich aus dem Zimmer, lief überall im Haus herum und richtete manches Unheil an, wenn es ihr gerade einfiel. Man erzählt, sie habe fast ihren Mann in seinem Bett verbrannt, aber ich weiß nichts Näheres darüber. In dieser Nacht jedoch zündete sie zuerst die Vorhänge im Zimmer neben ihrem an, dann ging sie in das untere Stockwerk und legte das Zimmer der früheren Erzieherin in Brand — (irgendwie mußte sie gemerkt haben, was im Hause vorging, und hatte deshalb einen besonderen Haß auf sie) —, dort zündete sie das Bett an, aber glücklicherweise schlief niemand darin. Die Erzieherin war zwei Monate zuvor davongelaufen, und obgleich Herr Rochester nach ihr suchte, als sei sie der kostbarste Schatz auf Erden, vernahm er kein Lebenszeichen von ihr, und dann verfiel er in Raserei. Es war wohl die Enttäuschung. Er war zwar auch vorher nie ein sanfter Mensch gewesen, aber nachdem er sie verlor, wurde er gefährlich. Er wollte keinen Menschen sehen. Er schickte Frau Fairfax, die Haushälterin, zu Freunden, die weitab lebten. Eigentlich versorgte er sie großzügig, denn er zahlte ihr eine Lebensrente, die sie auch verdient hatte, denn sie war eine herzensgute Frau. Dann hatte er noch ein Mündel, die kleine Adèle, und sie steckte er in eine Schule. Und er brach jeden Verkehr mit den Herrschaften der Nachbarschaft ab und schloß sich wie ein Einsiedler in Thornfield Hall ein.«

»Was? Hat er England nicht verlassen?«

»England verlassen? Gott behüte! Er hat ja nicht einmal das Haus verlassen, außer des Nachts, wenn er wie ein Gespenst im Park und Obstgarten umherirrte, so daß man meinen sollte, er habe den Verstand verloren — und meiner Meinung nach hatte er das, denn bevor er dieser kleinen Erzieherin begegnete, war er der lebhafteste, tapferste und gescheiteste Herr, den man sich denken kann. Ja, Fräulein, er war weder dem Trunk noch dem Kartenspiel oder der Wettsucht beim Pferderennen ergeben wie so viele Herren hier, und eigentlich war er nicht besonders schön, aber dafür hatte er Mut: und Willenskraft wie nur wenige. Wissen Sie, ich kannte ihn nämlich schon, als er noch ein Junge war, und was mich anbetrifft, so habe ich mir oft gewünscht, dieses Fräulein Eyre wäre besser im Meere versunken, statt daß sie nach Thornfield Hall kam.«

»Dann war also Herr Rochester zu Hause, als das Feuer ausbrach?«

»Jawohl, er war zu Hause; und er stieg bis in den Kammerboden herauf, als schon alles brannte, holte die Dienerschaft aus den Betten, half ihnen herunter und ging dann wieder hinauf, um seine irrsinnige Frau aus ihrer Zelle zu holen. Aber dann rief man ihm zu, daß sie aufs Dach gestiegen sei, und da stand sie und fuchtelte wild mit den Armen und schrie, daß man es meilenweit hörte. Ich war da und habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie war eine große Frau mit langem, schwarzem Haar, das man nun in den Flammen wehen sah. Und dann sah ich — und ich war nicht der einzige, der es sah — wie Herr Rochester durch die Luke auf das Dach stieg und sie ›Bertha‹ rief.

Wir sahen, wie er sich ihr näherte, und dann stieß sie einen Schrei aus, sprang, und schon lag sie zerschmettert auf dem Pflaster.«

»Tot?«

»Tot! So tot wie die Steine, auf denen sie lag. Die Hirnmasse und das Blut bildeten eine große Lache.«

»Großer Gott!«

»Das kann man wohl sagen, mein Fräulein. Es war grauenhaft!« Er schauderte.

»Und danach?« drang ich weiter.

»Nun, danach brannte das Haus bis auf den Grund nieder, nur ein paar Mauerreste sind stehengeblieben.«

»Sind noch andere Menschen umgekommen?«

»Nein; aber es wäre vielleicht besser gewesen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ach, der arme Herr Edward!« rief er aus. »Wer hätte das gedacht? Manche sagen, es sei die gerechte Strafe dafür, daß er seine erste Ehe geheimgehalten und sich eine neue Frau genommen hatte, als die erste noch lebte. Ich aber habe nur Mitleid mit ihm.«

»Sie sagten aber, er lebe noch?« rief ich angsterfüllt.

»Ja, ja. Er lebt schon; aber viele meinen, er wäre besser tot.«

»Aber warum denn?« Mich schauderte. »Wo ist er? Ist er in England?«

»Ach ja. Natürlich ist er in England. Wie sollte er auch reisen in seinem Zustand.«

Meine Qual steigerte sich ins Unerträgliche. Und dieser Mensch schien sie noch verlängern zu wollen. Schließlich sagte er: »Er ist stockblind. Ja, der arme Herr Edward ist stockblind.«

Ich hatte Schlimmeres befürchtet. Ich hatte befürchtet, er sei wahnsinnig geworden. Ich nahm alle meine Kraft zusammen, um ihn nach der Ursache der Erblindung zu fragen.

»Die Ursache war sein Mut, und man könnte fast sagen seine Güte. Er wollte das Haus nicht verlassen, bis nicht jeder gerettet war. Als er schließlich die Treppe herunterkam, nachdem Frau Rochester vom Dach gesprungen war, ertönte plötzlich ein donnerndes Krachen, und alles stürzte ein. Es gelang, ihn noch lebend aus den Trümmern zu retten, aber er war schwer verletzt. Ein Balken war so gestürzt, daß er Herrn Rochester zum Teil schützte, aber ein Auge hatte er verloren, und die eine Hand war so schwer verletzt, daß Herr Carter, unser Wundarzt, sie amputieren mußte. Das andere Auge war entzündet, und bald konnte er überhaupt nichts mehr sehen. Und nun ist er ein hilfloser, blinder Krüppel.«

»Wo ist er? Wo lebt er jetzt?«

»In Ferndean. Es ist ein Gutshaus auf seinem Besitz und liegt etwa dreißig Meilen von hier entfernt. Es ist ein sehr einsamer Ort.«

»Und wer ist bei ihm?«

»Der alte John und seine Frau. Er will sonst niemanden um sich haben. Er soll sehr niedergeschlagen sein.«

»Haben Sie irgendein Gefährt?«

»Wir haben eine Kutsche, mein Fräulein. Eine sehr hübsche Kutsche.«

»Lassen Sie sofort anspannen; und wenn Ihr Kutscher mich noch heute vor Dunkelheit nach Ferndean bringt, zahle ich Ihnen und ihm das Doppelte vom üblichen Preis.«

37

Das Gutshaus von Ferndean war ein recht altes, nicht besonders großes und architektonisch sehr bescheidenes Gebäude tief im Wald. Ich hatte schon vorher davon gehört. Herr Rochester sprach oft von dem Haus und ritt manchmal hin. Sein Vater hatte das Land wegen seines Wildbestandes erworben. Er hätte das Haus gern vermietet, fand aber niemanden, der sich in einer so öden und klimatisch ungesunden Gegend niederlassen wollte. So blieb Ferndean unbewohnt und unmöbliert mit Ausnahme von zwei oder drei Zimmern, die während der Jagd als Unterkunft benutzt wurden.

Dieses Haus erreichte ich kurz vor Dunkelheit, und der Abend war kalt, windig und regnerisch. Die letzte Meile legte ich zu Fuß zurück, nachdem ich den Kutscher mit dem versprochenen doppelten Fahrpreis entlohnt hatte. Auch aus nächster Nähe war das Gutshaus nicht sichtbar, denn hier war alles so dicht bewaldet, daß kein Licht durch die Bäume schien. Ein eisernes Tor zwischen zwei Granitpfeilern zeigte mir den Eingang, und kaum war ich eingetreten, da befand ich mich wieder in einem Dickicht. Ein grasbewachsener Pfad wand sich durch weißgraues und knotiges Unterholz. Ich folgte ihm in der Erwartung, bald das Haus zu erreichen, aber es zog sich immer länger hin, und nirgends waren Spuren eines Wohnhauses oder bebauten Landes zu entdecken.

Ich glaubte schon, eine falsche Richtung eingeschlagen und mich verirrt zu haben. Die nächtliche Dunkelheit und die des Waldes breiteten sich über mich aus. Ich schaute mich nach einem anderen Pfad um. Aber es gab keinen. Ringsum gab es nur Dickicht, Wurzeln, Baumstämme und dichtbelaubtes Holz. Nirgends sah ich eine Öffnung.

So ging ich weiter, und endlich wurde der Weg breiter, der Wald lichtete sich; dann sah ich einen Zaun und dahinter das Haus — ich sah es kaum in dieser Dunkelheit, denn es schien in den Bäumen wie verschwommen, und seine brüchigen Mauern waren von Moos und Efeu überwachsen. Ich öffnete die Zaunpforte, die nur eingehakt war, und stand inmitten eines flachen Platzes, den der Wald in einem Halbkreis einschloß. Hier gab es keine Blumen und keine Beete. Ein breiter Kiesweg führte über die Wiese und von dort in den Wald. An der Vorderfront des Hauses waren zwei spitze Giebel zu sehen, die Fenster waren schmal und zum Teil mit Brettern verschlagen, die Eingangstür war ebenfalls eng, und eine Stufe führte zu ihr hinauf. Der Ort entsprach ganz der Beschreibung des Wirtes der »Rochester Arms«; es war »ein einsamer, abgelegener Ort«. Es war so still wie in einer Kirche am Wochentag. Das Rauschen des Regens im dichten Waldlaub war das einzige vernehmbare Geräusch.

Kann es hier überhaupt Leben geben? fragte ich mich.

Ja. Irgendeine Form von Leben gab es schon, denn ich hörte eine Bewegung — die enge Eingangstür wurde geöffnet, und ein Schatten trat hervor.

Die Tür öffnete sich leise, und eine Gestalt trat ins Zwielicht und blieb auf der Stufe stehen. Er trug keinen Hut. Er streckte die Hand hervor, als wolle er sich vergewissern, ob es regne. Trotz der Dunkelheit hatte ich ihn sofort erkannt. Es war mein Herr, es war Edward Fairfax Rochester und kein anderer.

Ich blieb regungslos stehen und hielt den Atem an. Ich beobachtete ihn aus meinem Versteck und vergaß dabei fast, daß er mich ja ohnehin nicht sehen konnte. Es war eine plötzliche Begegnung, die bei aller Wiedersehensfreude durch den Schmerz gedämpft war. So fiel es mir nicht schwer, mich zurückzuhalten und ihm nicht mit einem freudigen Ausruf entgegenzueilen.

Seine Körperumrisse ließen immer noch Kraft und Geschmeidigkeit erkennen, seine Haltung war immer noch aufrecht, sein Haar war pechschwarz, und seine Gesichtszüge hatten sich nicht verändert, waren nicht gealtert oder eingesunken. O nein, innerhalb eines Jahres konnten eine solche Kraft und eine so blühende Frische nicht einfach vom Kummer vernichtet worden sein. Doch sein Ausdruck hatte sich verändert. Er sah verzweifelt und mürrisch aus — er gemahnte mich an ein verletztes Wildes Tier, das man in einem Käfig eingesperrt hatte. Dieser gefesselte Adler, dem ein grausames Schicksal das Augenlicht geraubt hatte — so mußte Samson, der blinde Samson ausgesehen haben.

Lieber Leser, glaubst du etwa, ich hätte mich vor ihm gefürchtet, da er so Wild und zornig aussah? Dann kennst du mich schlecht! Ich fühlte nur die sanfte Hoffnung, diese felsig gefurchte Stirn und diese so grimmig zusammengepreßten Lippen bald zu küssen. Aber noch nicht; noch wollte ich ihn nicht ansprechen.

Er schritt die Stufe hinab und tastete sich langsam bis auf die Wiese vor. Wo war der sichere Gang von einst? Unentschlossen blieb er stehen, hob die Hand und wandte das Gesicht angestrengt dem Himmel und dem Halbkreis von Bäumen zu. Aber ich sah nur zu deutlich, daß alles ringsum für ihn Finsternis war. Er streckte die rechte Hand aus (den linken verstümmelten Arm hielt er an seinem Busen verborgen), und er schien irgend etwas berühren zu wollen, um festzustellen, was ihn umgab. Aber er griff ins Leere, denn die Bäume waren noch einige Meter von ihm entfernt. Dann stand er eine Weile still und stumm im Regen, der ihm über den unbedeckten Kopf rann. In diesem Augenblick kam John von irgendwo aus dem Haus auf ihn zu.

»Wenn der Herr mir den Arm geben will«, sagte er. »Wir haben einen starken Regenschauer. Sollten Sie nicht lieber ins Haus kommen?«

»Laß mich in Ruhe«, war die Antwort.

John zog sich zurück, ohne mich bemerkt zu haben. Herr Rochester versuchte weiterzugehen, aber vergebens — es war alles zu ungewiß. So tastete er sich bis zum Haus zurück, trat ein und schloß die Tür hinter sich.

Jetzt trat ich an die Tür und klopfte. Johns Frau öffnete mir.

»Mary«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«

Sie fuhr zusammen, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Ich beruhigte sie. Als sie mich ganz aufgeregt fragte: »Sind Sie es wirklich, Fräulein Eyre, und wie kommen Sie zu so später Stunde an diesen verlassenen Ort?«, nahm ich sie bei der Hand und folgte ihr in die Küche, wo John vor einem prasselnden Kaminfeuer saß. Ich erklärte ihnen in wenigen Worten, wie ich von den tragischen Ereignissen in Thornfield Hall gehört hatte und daß ich nun gekommen sei, um Herrn Rochester zu besuchen. Dann bat ich John, zum Schlagbaum auf der Landstraße zurückzugeben, wo ich die Kutsche zurückgeschickt hatte, um meinen Koffer zu holen. Darauf nahm ich Hut und Schal ab und fragte Mary, ob sie mich über Nacht im Gutshaus unterbringen könne. Sie erwiderte mir, es sei schwierig, aber nicht unmöglich; und dann sagte ich ihr, ich beabsichtigte zu bleiben. Im selben Augenblick schrillte die Hausglocke.

»Wenn Sie zu ihm hineingehen«, sagte ich, »so sagen Sie ihm bitte, jemand möchte ihn sprechen. Aber sagen Sie ihm nicht meinen Namen.«

»Ich glaube nicht, daß er Sie empfangen wird«, erwiderte sie. »Er will überhaupt niemanden sehen.«

Als sie zurückkehrte, fragte ich sie, was er gesagt habe.

»Sie sollen Ihren Namen angeben und die Art Ihres Anliegens.« Dann füllte sie ein Glas Wasser und stellte es mit einer Kerze auf ein Tablett.

»Hat er danach geläutet?« fragte ich.

»Ja. Er möchte im Dunkeln immer Kerzen um sich haben, obgleich er blind ist.«

»Geben Sie mir das Tablett. Ich werde es hineinbringen.«

Ich nahm es ihr aus der Hand, und sie zeigte mir, wo das Wohnzimmer lag.

Das Tablett zitterte in meinen Händen, und das Wasser schwappte aus dem Glas. Das Herz pochte rasch und laut gegen meine Rippen. Mary öffnete die Tür für mich und schloß sie hinter mir.

Dieses Wohnzimmer sah wirklich trostlos aus. Ein kleines Feuer brannte im Kamin, über das sich der Blinde, die Stirne auf den altmodischen Sims gestützt, beugte. Sein alter Hund Pilot hatte sich in eine Ecke des Zimmers gelegt und zusammengekauert, als fürchte er, getreten zu werden. Aber als ich eintrat, spitzte er die Ohren und sprang mir bellend und winselnd entgegen. Fast hätte ich dabei das Tablett fallen lassen. Ich stellte es rasch auf den Tisch, streichelte ihn und flüsterte ihm »Platz« zu. Herr Rochester wandte sich automatisch um, als wolle er sehen, was hier vorging. Aber da er nichts sah, seufzte er nur und blieb vor dem Kamin sitzen.

»Geben Sie mir das Wasser, Mary«, sagte er.

Ich reichte ihm das jetzt nur noch halbgefüllte Glas. Pilot folgte mir und war immer noch ganz aufgeregt.

»Was ist hier los?« fragte er.

»Platz, Pilot!« sagte ich noch einmal. Er führte das Glas an die Lippen und schien auf etwas zu lauschen. Er nahm ein paar Schluck und stellte das Glas ab. »Mary, Sie sind es doch, nicht wahr?«

»Mary ist in der Küche«, erwiderte ich.

Er streckte rasch seine Hand aus, aber da er nicht sah, wo ich stand, berührte er mich nicht. »Wer ist es? Wer ist es?« fragte er; und es schien, als wolle er mit seinen erloschenen Augen das Dunkel um ihn durchbrechen.

Der Anblick schmerzte mich. »Antworten Sie mir — sprechen Sie noch einmal!« befahl er herrisch und laut.

»Möchten Sie noch ein wenig mehr Wasser? Ich habe die Hälfte verschüttet«, sagte ich.

»Wer ist das? Was ist das? Wer redet da?«

»Pilot kennt mich, und John und Mary wissen, daß ich hier bin. Ich kam erst heute abend an«, antwortete ich.

»Großer Gott! Ist das eine Täuschung? Welch süßer Wahn hält mich umfangen?«

»Es ist kein Trug und auch kein Wahn. Ein Trug kann Ihren starken Geist nicht täuschen, und für einen Wahn sind Sie viel zu gesund.«

»Und wo ist die Sprecherin? Ist nur ihre Stimme da? Ach! Jetzt, da ich nicht sehen kann, muß ich fühlen, oder das Herz steht mir still und mein Kopf muß zerbersten. Was du auch seist, und wer du auch seist, laß mich dich fühlen, oder ich muß sterben!«

Er tastete, doch ich ergriff seine suchende Hand und preßte sie in meinen Händen.

»Das sind ihre Finger!« rief er aus. »Ihre kleinen, zarten Finger! Wenn das so ist, muß noch mehr von ihr vorhanden sein.«

Er entzog mir die kräftige Hand, ergriff mich beim Arm, bei den Schultern, dem Nacken, der Taille — er hielt mich fest umschlungen.

»Ist es Jane? Was ist es nur? Es sind ihre Formen, es ist ihre Größe —«

»Und es ist ihre Stimme«, fiel ich ein. »Sie ist ganz und gar hier — und auch ihr Herz! Gott segne Sie, mein Herr! Ich bin so froh, wieder bei Ihnen zu sein.«

»Jane Eyre! Jane Eyre!« Das war alles, was er hervorbrachte.

»Ja, lieber Herr«, sagte ich, »ich bin Jane Eyre. Ich habe Sie gefunden — und ich bin zu Ihnen zurückgekehrt.«

»Ist es wirklich wahr? Bist du es wirklich? Meine Jane? Lebendig vor mir?«

»Fassen Sie mich an — halten Sie mich fest in Ihren Armen. Fühle ich mich etwa kalt wie eine Leiche an?«

»Mein Liebling! Ja, das ist ihr Körper, und das ist ihr Gesicht, ich fühle es. Aber wie sollte ich plötzlich, nach all dem Unheil, so reich beschenkt sein? Es ist sicher ein Traum. Wie oft habe ich geträumt, ich drückte dich an mein Herz, so wie ich es jetzt tue, und küßte dich, wie ich dich jetzt küsse — und fühlte, daß du mich liebtest und mich nie mehr verlassen würdest.«

»Und ich werde Sie auch nie mehr verlassen.«

»Mich niemals verlassen, sagt mir dieses Traumbild? Bisher bin ich allerdings jedesmal enttäuscht und einsam aus diesem Traum erwacht — und ich empfand mein Leben als hoffnungslos und leer — meine Seele dürstete und durfte nie trinken — mein Herz verhungerte, aber jede Speise war ihm verweigert. Du zarter, sanfter Traum, der jetzt in meinen Armen liegt; auch du wirst verfliegen, wie deine Schwestern vor dir, aber küsse mich noch einmal, bevor du verschwindest — küsse mich, Jane.«

»Ich küsse Sie.« Ich berührte seine einst so lebhaften, nun erloschenen Augen mit meinen Lippen, strich ihm das Haar aus der Stirne und küßte sie auch, so daß er sich der Wirklichkeit meines Daseins voll bewußt wurde.

»Bist du es wirklich, Jane? Bist du wirklich zu mir gekommen?«

»Ja.«

»Und du liegst nicht tot in irgendeinem Straßengraben oder auf dem Grunde eines Flusses? Und du lebst nicht als eine Ausgestoßene unter fremden Menschen?«

»Nein, ich bin sogar ganz unabhängig.«

»Unabhängig! Was soll das heißen, Jane?«

»Mein Onkel in Madeira ist gestorben, und er hat mir fünftausend Pfund hinterlassen.«

»Aha! Das hat Hand und Fuß«, rief er aus. »So etwas träumt man nicht. Und außerdem höre ich ihre Stimme, diese lebhafte und anregende Stimme. Sie ermuntert mein müdes Herz und haucht ihm neues Leben ein. Also, Janet, so bist du jetzt unabhängig? Und reich?«

»Ziemlich reich sogar. Und falls Sie nicht wünschen, daß ich mit Ihnen lebe, kann ich mir ganz in Ihrer Nähe ein Haus bauen lassen, so daß ich Sie oft besuchen und mit Ihnen im Wohnzimmer sitzen kann, wenn es Ihnen zu einsam ist.«

»Wenn du nun aber reich bist, Jane, so hast du sicher Freunde, die für dich sorgen werden und die es sicher nicht gerne zulassen, daß du bei einem blinden Krüppel lebst.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht nur reich, sondern auch unabhängig bin. Ich kann tun und lassen, was mir beliebt.«

»Und du willst bei mir bleiben?«

»Gewiß — falls Sie nichts dagegen haben. Ich werde Ihre Nachbarin, Pflegerin und Haushälterin sein. Sie sind hier zu einsam. Ich werde Ihnen Gesellschaft leisten, Ihnen vorlesen, mit Ihnen spazierengehen, mit Ihnen im Wohnzimmer sitzen, ich werde Sie bedienen, für Sie sorgen und Ihnen Augen und Hand ersetzen. Ach, bitte, lieber Herr, schauen Sie doch nicht so traurig drein! Sie werden niemals mehr einsam sein, solange ich lebe.«

Er antwortete nicht. Er schien in ernsten Gedanken versunken zu sein. Er seufzte, öffnete die Lippen, als wolle er sprechen, und schloß sie gleich wieder. Jetzt war ich ein wenig verlegen. Vielleicht war ich zu hastig vorgegangen und hatte mich unschicklich benommen, und vielleicht betrachtete er — wie St. John — meine Offenheit als rücksichtslos. Denn bei meinem Vorschlag war ich von der Annahme ausgegangen, er wünsche mich immer noch zur Frau, und ich hatte erwartet, daß er mich sogleich wieder als seine Braut betrachten werde, und das hatte mich ermutigt. Da er jedoch nichts Derartiges äußerte und plötzlich so ernst und besorgt aussah, meinte ich, daß ich mich vielleicht geirrt hatte und mich jetzt wie eine Närrin aufführte Ich versuchte, mich sanft aus seinen Armen zu lösen — aber er hielt mich nur noch fester. ’

»Nein, nein, Jane; du darfst jetzt nicht gehen! Nein — ich habe dich berührt, gehört, den Zauber deiner Nähe gespürt, von dir Trost empfangen; und diese Freuden kann ich nicht aufgeben! Es bleibt mir nicht mehr viel im Leben — ich brauche dich. Laß die Welt darüber lachen — laß die Leute nur sagen, ich sei ein selbstsüchtiger Narr — mir macht es nichts aus. Meine Seele verlangt nach dir, und entweder wird ihr Wunsch erfüllt, oder sie wird sich an ihrem fleischlichen Kerker tödlich rächen.«

»Ich will ja bei Ihnen bleiben, lieber Herr. Ich habe es Ihnen doch gesagt.«

»Ja, das hast du. Aber darunter verstehst du etwas anderes als ich. Du könntest dich vielleicht dazu entschließen, mir stets zur Hand zu sein, wie eine liebe kleine Pflegerin für mich zu sorgen (denn du hast ein warmes Herz und du bist großzügig genug, um denen, die du bemitleidest, Opfer zu bringen); und damit sollte ich mich dann wohl abfinden. Ich nehme an, daß du von mir nur noch väterliche Gefühle erwartest. Ist es nicht so? So sag es mir doch.«

»Ganz, wie Sie wollen. Ich werde mich mit der Rolle der Pflegerin begnügen, falls Sie das für besser halten.«

»Aber du kannst nicht immer meine Pflegerin bleiben, Janet. Du bist jung — du wirst eines Tages heiraten wollen.«

»Am Heiraten liegt mir nichts.«

»Es sollte dir etwas daran liegen, Janet. Und wäre ich noch der Mann, der ich einst war, so würde ich dich schon dazu bringen — aber jetzt, da ich ein blinder Krüppel bin —.«

Er verfiel wieder in trostlose Grübelei. Ich aber freute mich um so mehr und schöpfte frischen Mut, denn diese letzten Worte hatten mich erkennen lassen, wo die Schwierigkeit lag. Und ich fühlte mich sehr erleichtert, weil ich sah, daß meine Befürchtungen umsonst gewesen waren. So nahm ich das Gespräch mit mehr Lebhaftigkeit wieder auf.

»Es ist höchste Zeit, daß sich jemand um Sie kümmert und Sie wieder zu einem zivilisiert aussehenden Menschen macht«, sagte ich und ließ meine Hände durch sein langes, wirres, lockiges Haar gleiten; »denn wie ich sehe, haben Sie sich in einen wilden Löwen oder etwas Ähnliches verwandelt. Irgendwie erinnern Sie mich an Nebukadnezar auf dem Schlachtfeld. Ihr Haar gleicht dem Gefieder des Adlers; ob Ihnen an den Händen und Füßen Adlerklauen gewachsen sind, habe ich bisher noch nicht feststellen können.«

»Hier aber habe ich weder eine Hand noch Fingernägel«, sagte er, zog den verstümmelten Arm hervor und hielt ihn mir vor das Gesicht. »Es ist nur noch ein Stummel. Ein gräßlicher Anblick — findest du nicht, Jane?«

»Ein schmerzlicher Anblick. Und auch Ihre Augen sind es — und das schlimmste dabei ist, daß man Sie nun um dieser Dinge willen zu sehr liebt und sich zuviel aus Ihnen macht.«

»Ich glaubte, mein Anblick würde dir Entsetzen einflößen, Jane. Graut es dir nicht vor meinem Arm und meinem vernarbten Gesicht?«

»Das haben Sie geglaubt? Erzählen Sie mir nicht solche Dinge, denn ich habe Ihnen keinen Anlaß dazu gegeben. Aber jetzt lassen Sie mich ein wenig los, damit ich das Feuer besser schüren und die Asche wegfegen kann. Können Sie feststellen, ob ein Feuer gut brennt?«

»Ja. Mit dem rechten Auge kann ich gerade einen Schimmer wahrnehmen.«

»Und die Kerzen sehen Sie auch?«

»Sehr verschwommen — sie sind wie leuchtende Wolken.«

»Können Sie mich sehen?«

»Nein, meine Fee; aber ich bin schon dankbar genug, daß ich dich hören und fühlen kann.«

»Um welche Zeit essen Sie zu Abend?«

»Ich esse nie zu Abend.«

»Aber heute werden Sie es tun. Ich bin hungrig, und Sie sind es sicher auch und haben es nur vergessen.«

Ich rief Mary, und bald sah das Zimmer viel freundlicher und ordentlicher aus. Dann bereitete ich ihm ein schmackhaftes Essen. Ich war freudig erregt, plauderte vergnügt und ungehemmt während der Mahlzeit und noch lange danach.

Mit ihm fühlte ich mich ganz frei und ungezwungen, wußte, daß er an meinem Übermut keinen Anstoß nahm, und ich hatte den Eindruck, daß alles, was ich sagte oder tat, ihm Tröstung und neue Lebensgeister zuführte. Welch ein herrliches Bewußtsein! Mein ganzes Inneres war in seiner Gegenwart zu Leben erwacht. Und er lächelte wieder — trotz seiner Blindheit —, und seine Stirne glättete sich, und sein Gesicht nahm einen freundlichen und friedlichen Ausdruck an.

Nach dem Essen stellte er mir viele Fragen — wo ich gewesen sei, womit ich mich beschäftigt habe, wie ich ihn gefunden habe — aber ich gab ihm nur kurze Antworten, denn es war zu spät am Abend, um auf alle Einzelheiten einzugehen. Außerdem war ich bedacht darauf, seine Gefühle nicht wieder zu sehr in Wallung zu bringen, frische Wunden wieder aufzureißen oder schmerzliche Themen zu berühren. Mein einziger Wunsch war, ihn fröhlich zu stimmen. Und das war mir, wenn auch mit einigen Unterbrechungen, gelungen. Wenn das Gespräch plötzlich abbrach und wir schwiegen, wurde er unruhig, faßte mich an und sagte: »Jane, bist du ein wirkliches Wesen? Bist du dir dessen sicher?«

»Ich glaube es ganz bestimmt, Herr Rochester.«

»Und wie konntest du an diesem trüben, trostlosen Abend so plötzlich in meinem einsamen Haus erscheinen? Ich streckte die Hand nach einem Glas Wasser aus, das mir die Dienstmagd bringen sollte, und du reichtest es mir. Ich fragte etwas und erwartete, daß Mary mir antworten würde, aber da vernahm ich deine Stimme.«

»Ich war an Marys Statt mit dem Tablett hereingekommen.«

»Und der Zauber, der in dieser mit dir verbrachten Stunde liegt! Ach, wie finster, trostlos und hoffnungslos mein Leben in den letzten Monaten war! Ich tat nichts und erwartete nichts; die Nacht verschmolz mit dem Tage, und das einzige Gefühl, das mir blieb, war das der Kälte, wenn der Kamin erlosch, das des Hungers, wenn ich zu essen vergaß, endloser Kummer und zuweilen eine wild aufbegehrende Sehnsucht nach meiner Jane. Ja, nach dir sehnte ich mich mehr als nach meinem Augenlicht. Und jetzt ist die Jane bei mir und sagt mir, sie liebe mich! Wie ist das nur möglich? Wird sie nicht ebenso plötzlich wieder verschwinden, wie sie erschien? Ich fürchte, morgen werde ich sie nicht mehr hier haben.«

Um ihn aus seinen selbstquälerischen Gedanken zu reißen, war es jetzt wohl das beste, das Gespräch auf einfache und praktische Dinge zu lenken. Ich strich ihm mit dem Finger über die Augenbrauen, bemerkte, daß sie versengt waren und daß sie gepflegt werden sollten, um wieder so schwarz und buschig wie früher zu werden.

»Was nützt es mir, wenn du mich jetzt mit Wohltaten umgibst, um dann wieder fortzugehen — wie ein Schatten, der an mir vorüberhuscht und den ich nicht zu ergreifen vermag?«

»Haben Sie einen Kamm bei sich, Herr Rochester?«

»Wozu, Jane?«

»Um Ihnen Ihre wirre schwarze Mähne auszukämmen. Wenn ich Sie näher betrachte, sehen Sie wirklich wild und verwahrlost aus. Sie halten mich für eine Fee, aber Sie sehen mit eher wie ein Waldschrat aus.«

»Bin ich häßlich, Jane?«

»Sehr sogar. Das waren Sie übrigens schon immer.«

»So! Deine Boshaftigkeit hast du wenigstens nicht eingebüßt, wo du auch gewesen sein magst.«

»Und dabei war ich bei sehr guten Menschen, viel besseren, als Sie es sind. Hundertmal besseren Menschen mit Idealen, die Sie nie im Leben verfolgt haben. Viel edleren und kultivierteren Menschen.«

»Mit wem, zum Teufel, hast du dich herumgetrieben?«

»Wenn Sie nicht still sitzen, reiße ich Ihnen die Haare vom Kopf, und dann werden Sie wohl nicht mehr an meiner Wirklichkeit zweifeln.«

»Bei wem warst du, Jane?«

»Das werden Sie heute abend nicht von mir erfahren. Damit müssen Sie bis morgen warten. Mit meiner halberzählten Geschichte biete ich Ihnen eine Art von Sicherheit dafür, daß ich Ihnen den Rest beim Frühstück erzählen werde. Und übrigens möchte ich nicht, daß Sie sich mit einem Glas Wasser begnügen. Sie müssen wenigstens ein Ei und gebratenen Schinken essen.«

»Du spöttisches, wechselhaftes Wesen — Fee und Mensch zugleich! In den letzten zwölf Monaten habe ich mich noch nie so wohl gefühlt. Wärst du der David des Königs Saul gewesen, so hätte es keiner Harfe bedurft, um den bösen Geist auszutreiben.«

»So. Jetzt sind Sie schön und ordentlich gekämmt, und nun werde ich Sie verlassen und schlafen gehen, denn ich bin drei Tage lang gereist und ziemlich müde. Gute Nacht.«

»Nur noch eine Frage, Jane. Wohnten nur Damen in dem Haus, wo du so lange warst?«

Ich lachte auf, lief davon und lachte noch, als ich die Treppe hinaufstieg. »Ein guter Gedanke«, dachte ich mir. »Jetzt habe ich ein Mittel in der Hand, ihn aus seiner Trübsal zu reißen.«

Früh am nächsten Morgen hörte ich ihn ruhelos von einem Zimmer ins andere gehen. Und sowie Mary erschien, überfiel er sie mit Fragen: »Ist Fräulein Eyre da? Welches Zimmer haben Sie ihr angewiesen? Ist es trocken genug? Ist sie schon auf? Fragen Sie sie, ob sie etwas wünscht und wann sie zum Frühstück herunterkommt.«

Ich kam herunter, als das Frühstück aufgetragen wurde. Leise betrat ich das Zimmer und sah ihn, ehe er meine Anwesenheit bemerkt hatte. Es war wirklich traurig, die Veränderung in diesem einst so lebhaften und kräftigen Menschen zu sehen. Er saß still auf seinem Stuhl, aber man spürte die innere Unruhe. Offensichtlich wartete er auf mich. Die Furchen seiner nun gewohnten Trauer hatten sich tief in seinem Gesicht eingeprägt. Er erinnerte mich an eine ausgelöschte Lampe, die darauf wartete, wieder angezündet zu werden. Aber ach! Nicht er allein war mehr in der Lage, dieses Licht aufleuchten zu lassen. Dazu war er auf die Hilfe eines anderen angewiesen. Ich hatte mir vorgenommen, fröhlich und vergnügt zu sein, aber die Machtlosigkeit dieses starken Menschen traf mich tief ins Herz. Ich sprach ihn mit aller Lebhaftigkeit an, die ich aufbringen konnte.

»Es ist ein schöner, klarer, sonniger Morgen. Der Regen hat sich verzogen, und die Luft ist frisch und rein. Gerade das richtige Wetter für einen Spaziergang.«

Das erloschene Licht flammte auf, sein Gesicht belebte sich.

»Bist du da, meine Lerche? Komm zu mir. So bist du also nicht ausgeflogen? Vor einer Stunde hörte ich eine deiner Schwestern, die über dem Wald sang. Aber ihr Lied sagte mir ebensowenig wie die Strahlen der aufgehenden Sonne. Denn nur ein Lied will ich hören, und das ist die Stimme meiner Jane (und ich bin froh, daß sie vernehmbar ist); all mein Sonnenschein ist einzig ihre Gegenwart.«

Die Tränen traten mir in die Augen, als er mir so seine Abhängigkeit gestand. Es war, als sei ein gefesselter Adler plötzlich auf die Pflege eines Sperlings angewiesen. Aber ich wollte nicht wehleidig sein, wischte rasch die Tränen fort und bereitete ihm das Frühstück.

Wir verbrachten fast den ganzen Vormittag im Freien. Ich führte ihn aus dem nassen, ungastlichen Wald ins offene Land durch Felder und Wiesen, beschrieb ihm ihr saftiges Grün und die Frische der Blumen am Wegrand und das strahlende Blau des Himmels. Wir kamen an einen anmutigen verborgenen Ort, und ich wies ihm einen Baumstumpf als Sitz an. Ich weigerte mich auch nicht, als er mich bat, auf seinem Schoß Platz zu nehmen. Warum sollte ich es auch, da wir beide glücklicher waren, wenn wir unsere Nähe fühlten? Pilot lag neben uns. Alles war still. Und plötzlich drückte er mich in seine Arme und rief aus: »Grausame, grausame Ausreißerin! Ach, Jane, wie habe ich gelitten, als ich deine Flucht aus Thornfield entdeckte und dich nirgends finden konnte! Ich sah in deinem Zimmer nach und fand, daß du weder Geld noch irgendwelche Wertsachen mitgenommen hattest. Eine Perlenkette, die ich dir geschenkt hatte, lag unberührt im kleinen Schmuckkästchen, deine Koffer standen noch verschnürt und verschlossen da, so wie du sie für unsere Hochzeitsreise gepackt hattest. Und so fragte ich mich angsterfüllt, wo mein Liebstes so ganz ohne Geld und Habe herumirren mochte. Und was tat sie? Sag es mir jetzt.«

Auf sein Drängen hin begann ich, ihm meine Erlebnisse des letzten Jahres zu erzählen. Allerdings schwächte ich die Beschreibung meiner anfänglichen Not und meines dreitägigen Herumirrens beträchtlich ab, weil ich ihn nicht unnötig betrüben wollte; aber das wenige, was ich sagte, schmerzte sein treues Herz mehr, als ich gewünscht hatte.

Er warf mir vor, ich hätte ihn nie auf diese Weise und ohne Geldmittel verlassen sollen, und ich hätte ihm doch wenigstens meinen Entschluß mitteilen können, denn nie wäre es ihm eingefallen, mich zu zwingen, seine Geliebte zu werden. So heftig und aufbrausend er in seiner Verzweiflung war: er liebte mich viel zu sehr, um mir gegenüber den Tyrannen zu spielen. Lieber hätte er mir sein halbes Vermögen geschenkt und sich mit einem Kuß als Belohnung begnügt, als mich einsam und verlassen in der weiten Welt zu wissen. Und außerdem sei er gewiß, daß ich mehr gelitten habe, als ich ihm jetzt gestand.

»Nun, welcher Art auch meine Leiden waren, so dauerten sie nicht lange«, antwortete ich und erzählte ihm dann, wie ich im Moor House empfangen wurde, wie ich als Lehrerin die Schule von Morton übernahm. Dann berichtete ich von meiner Erbschaft, der Entdeckung meiner neuen Verwandten, und natürlich wurde der Name St. John Rivers im Laufe meiner Erzählungen oft erwähnt. Als ich geendet hatte, wollte Herr Rochester sogleich mehr über ihn erfahren.

»Dieser St. John ist also dein Vetter?«

»Ja.«

»Du erzählst soviel von ihm. Hast du ihn gern?«

»Er war ein guter Mensch, da mußte man ihn einfach gern haben.«

»Ein guter Mensch. Was soll das heißen? Ein würdiger, älterer Herr von höflichem Betragen?«

»St. John war erst neunundzwanzig Jahre alt, Herr Rochester.«

»Jeune encore, wie der Franzose sagt. Und wie sieht er aus? Ist er klein und häßlich und phlegmatisch? Gehört er zu denen, die man eher ihrer Einfaltslosigkeit wegen, und weil ihnen die Phantasie zum Laster fehlt, als gütig bezeichnet?«

»Er ist unermüdlich tätig. Und er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, edle und erhabene Ziele zu verfolgen.«

»Und sein Verstand? Der ist wohl ziemlich schwach? Er ist voller guter Absichten, aber langweilig anzuhören?«

»Er spricht wenig, aber was er sagt, trifft immer ins Schwarze. Er ist recht intelligent, zwar nicht sehr beeinflußbar, dafür aber überzeugend.«

»Also ein begabter Mann?«

»Sehr begabt.«

»Ein hochgebildeter Mensch?«

»St. John ist sogar hochgelehrt.«

»Sagtest du nicht, sein Benehmen habe dir mißfallen? Er sei kleinlich und frömmlerisch?«

»Ich habe mich nicht über sein Benehmen geäußert, aber man müßte schon einen sehr schlechten Geschmack haben, keinen Gefallen daran zu finden, denn er ist wohlerzogen und der geborene Gentleman.«

»Und sein Äußeres? Wie beschriebst du es noch? Ein plumper Landpfarrer, mit einer zu engen Halsbinde und klobigen Stiefeln?«

»St. John ist stets sehr gut gekleidet. Er ist ein schöner Mann: groß, blond, blaue Augen und ein griechisches Profil.«

Er (beiseite): »Der Teufel soll ihn holen!« — (Zu mir gewandt): »Hattest du ihn gern, Jane?«

»Ja, Herr Rochester, ich hatte ihn gern; aber das haben Sie mich schon einmal gefragt.«

Natürlich hatte ich bemerkt, was in ihm vorging. Er war eifersüchtig. Aber der Stachel der Eifersucht war heilsam für ihn, denn nun erwachte er aus seiner Melancholie und vergaß für eine Weile seine Klagen. Deshalb setzte ich das Spiel fort.

»Vielleicht möchten Sie lieber doch nicht länger auf meinem Schoß sitzen, Fräulein Eyre?« fragte er plötzlich.

»Warum denn nicht, Herr Rochester?«

»Das Bild, das du eben zeichnetest, bietet einen zu krassen Gegensatz. Du hast mir sehr nett einen anmutigen Apollo beschrieben, und die Erinnerung ist sehr lebendig — groß, blaue Augen und ein griechisches Profil. Und was du jetzt vor dir hast, gleicht eher dem Vulcanus — der wahre Grobschmied; schwarz, breitschultrig — und dazu noch blind und lahm.«

»Ich hatte es vorher nicht bemerkt, aber Sie gleichen wirklich dem Vulcanus.«

»Sie können zu jeder Zeit gehen, meine Dame; aber ehe Sie das tun« (und damit umfaßte er mich fester als zuvor), »Werden Sie mir noch einige Fragen beantworten.«

»Welche Fragen, Herr Rochester?«

Jetzt folgte ein Kreuzverhör.

»St. John hat dich zur Lehrerin in Morton ernannt, bevor er von eurer Verwandtschaft wußte?«

»Ja.«

»Du sahst ihn oft? Kam er dich in der Schule besuchen?«

»Täglich.«

»Er war mit deiner Arbeit zufrieden, Jane? Das mußte er wohl, denn du bist ein begabtes Mädchen.«

»Er war durchaus zufrieden — ja.«

»Und hat er vieles an dir entdeckt, was er bei dir nicht vermutet hätte? In manchen Dingen bist du ja außergewöhnlich.«

»Das weiß ich nicht.«

»Du hattest ein kleines Häuschen in der Nähe der Schule, Wie du sagst. Kam er dich auch dort besuchen?«

»Hie und da.«

»Auch am Abend?«

»Zuweilen.«

Es entstand eine Pause.

»Wie lange lebtest du noch bei ihm und seinen Schwestern, nachdem sich die Verwandtschaft herausgestellt hatte?«

»Fünf Monate.«

»Verbrachte Rivers viel Zeit mit den jungen Damen?«

»Ja. Der hintere Salon war sowohl sein als unser Studierzimmer. Er saß am Fenster und wir waren am Tisch.«

»Studierte er viel?«

»Sehr viil.«

»Was?«

»Hindustanisch.«

»Und was tatest du?«

»Zuerst lernte ich Deutsch.«

»Unterrichtete er dich?«

»Er verstand kein Deutsch.«

»Gab er dir denn keinen Unterricht?«

»Ein wenig Hindustanisch.«

»Rivers lehrte dich Hindustanisch?«

»Ja.«

»Auch seine Schwestern?«

»Nein.«

»Nur dich?«

»Nur mich.«

»Batest du ihn darum?«

»Nein.«

»Es war also sein Wunsch?«

»Ja.«

Eine zweite Pause.

»Warum wünschte er das? Welchen Nutzen soll Hindustanisch für dich haben?«

»Er wollte, ich solle ihn nach Indien begleiten.«

»Aha. Da liegt der Hund begraben. Wollte er dich heiraten?«

»Ja. Er wollte mich heiraten.«

»Das ist eine Lüge — eine unverschämte Lüge, die du mir da erzählst, um mich zu quälen.«

»Ich bitte um Verzeihung, aber es ist die buchstäbliche Wahrheit. Er machte mir mehr als einen Antrag und war dabei so hartnäckig wie irgend jemand — Sie inbegriffen.«

»Fräulein Eyre, ich wiederhole es, Sie können jetzt gehen. Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Warum bleiben Sie einfach auf meinem Schoß sitzen, nachdem ich Sie zum Weggehen aufgefordert habe?«

»Weil ich mich hier sehr wohl fühle.«

»Nein, Jane, du fühlst dich hier gar nicht wohl, denn dein Herz ist nicht dabei. Dein Herz ist bei diesem Vetter — diesem St. John. Ach! Bis jetzt habe ich geglaubt, meine kleine Jane gehöre wieder mir. Ich glaubte sogar, sie liebe mich noch, als sie mich verließ. Das war der einzige Tropfen süßen Trostes in meiner bitteren Verzweiflung. Nie hätte ich gedacht, daß sie, während ich über unsere Trennung heiße Tränen weinte und ihr nachtrauerte, einen anderen liebte. Aber was sollen die Klagen? Jane, verlasse mich, geh und heirate Rivers.«

»Dann müssen Sie mich mit Gewalt abschütteln, mich von sich stoßen, denn freiwillig verlasse ich Sie nicht.«

»Jane, wenn ich den Klang deiner Stimme höre und das, was du sagst, schöpfe ich neue Hoffnung, denn es klingt so aufrichtig. Es bringt mich ein Jahr zurück, und ich vergesse, daß du eine neue Verbindung eingegangen bist. Aber ich bin kein Narr — geh —.«

»Wo soll ich denn hingehen, Herr Rochester?«

»Deines Weges — zu dem Mann deiner Wahl.«

»Und wer soll das sein?«

»Das weißt du sehr wohl — dieser St. John Rivers natürlich.«

»Er ist nicht der Mann meiner Wahl und wird es auch nie sein. Er liebt mich nicht, und ich liebe ihn auch nicht. Er liebt (soweit er überhaupt lieben kann, worin er sich sehr von Ihnen unterscheidet) eine sehr schöne junge Dame namens Rosamond. Mich wollte er nur heiraten, weil er fand, ich eigne mich gut als Missionars-Frau, was man von Rosamond nicht sagen konnte. Er ist gut und großartig, aber von furchtbarer Strenge; und soweit es mich anbetrifft, ist er ein wahrer Eisberg. Er ist gar nicht wie Sie, Herr Rochester, und ich kann mit ihm nie glücklich sein. Er hat keine Nachsicht für mich, und an Zärtlichkeit fehlt es ihm ganz. Er sieht in mir nichts Anziehendes, weiß nicht einmal meine Jugend zu schätzen — er hält mich nur für einigermaßen nützlich. So. soll ich Sie also verlassen und zu ihm gehen?«

Ich zitterte unwillkürlich und preßte mich fester an meinen geliebten blinden Herrn. Er lächelte.

»Jane, ist das wahr? Steht es wirklich so um dich und Rivers?«

»Ja. Genau so. Es besteht kein Grund zur Eifersucht. Ich wollte Sie nur ein wenig necken, um Sie aufzumuntern, denn Zorn ist immer noch besser als Traurigkeit. Wenn Sie jedoch wünschen, daß ich Sie liebe, so sollten Sie sehen, wie sehr ich Sie wirklich liebe, und dann wären Sie stolz und zufrieden. Mein ganzes Herz gehört Ihnen, Ihnen allein, und es wird auch immer bei Ihnen bleiben, selbst wenn das Schicksal mich noch einmal für immer von Ihrer Seite risse.«

Er küßte mich zärtlich, doch schmerzliche Gedanken überschatteten erneut sein Gesicht.

»Ach, ich blinder armer Krüppel«, seufzte er vor sich hin.

Ich schmiegte mich an ihn, um ihn zu trösten. Ich wußte, was ihn bedrückte, und wollte für ihn reden, aber ich traute mich nicht. Als er für einen Augenblick das Gesicht abwandte, sah ich, wie sich eine Träne aus dem geschlossenen Augenlid stahl und ihm die Wange hinablief. Das Herz wurde mir schwer.

»Ich bin nicht mehr wert als der vom Blitz erschlagene alte Kastanienbaum in Thornfield« , bemerkte er, »und mit welchem Recht sollte eine solche Ruine von einem blühenden Geißblatt erwarten, daß er seine Fäulnis mit Frische überdeckt?«

»Sie sind keine Ruine, Herr Rochester, Sie sind kein gefällter Baum. Um ihre Wurzeln werden Pflanzen wachsen, ob Sie es wünschen oder nicht, denn Sie werden sich wohlfühlen in Ihrem Schatten, und während sie wachsen, werden Sie sich an sie lehnen, Sie umwinden und umranken, denn Ihre Kraft wird sie stützen.«

Er lächelte wieder. Ich hatte ihn getröstet.

»Du sprichst von Freundschaft, Jane?« fragte er.

»Ja, von Freundschaft«, antwortete ich zögernd, denn ich hatte mehr als Freundschaft im Sinn, fand aber kein Wort für mein Gefühl. Er kam mir zu Hilfe.

»Ach, Jane. Ich brauche aber eine Frau.«

»Wirklich?«

»Ja. Ist das dir neu?«

»Natürlich. Bisher erwähnten Sie dergleichen nicht.«

»Ist dir diese Neuigkeit willkommen?«

»Das kommt auf die Umstände an — auf die Wahl, die Sie treffen.«

»Wähle du für mich, Jane. Ich verlasse mich ganz auf deine Entscheidung.«

»Dann wählen Sie die, die Sie am meisten liebt.«

»Ich will wenigstens die wählen, die ich am meisten liebe, Jane, willst du mich heiraten?«

»Ja.«

»Einen Blinden, den du führen mußt?«

»Ja.«

»Einen Krüppel, der zwanzig Jahre älter ist als du und der auf deine Pflege angewiesen ist?«

»Ja.«

»Wirklich, Jane?«

»Wirklich und von ganzem Herzen.«

»Oh, mein Liebling! Gott segne dich und belohne dich dafür.«

»Herr Rochester, sollte ich je in meinem Leben eine gute Tat vollbracht haben — einen guten Gedanken gedacht — ein ehrliches und makelloses Gebet gesprochen — je einen gerechten Wunsch geäußert haben —, so bin ich jetzt belohnt. Ihre Frau zu werden, ist Lohn und Glück für mich.«

»Weil du opferfreudig bist.«

»Opferfreudig!? Was opfere ich denn? Den Hunger der Nahrung, die Erwartung der Zufriedenheit? Ist es ein Opfer, wenn ich den umarme, der mir am meisten bedeutet, wenn ich den küsse, den ich liebe, wenn ich bei dem Geborgenheit finde, dem ich vertraue? Soll das ein Opfer sein? Ja: In einem solchen Falle wäre ich wirklich opferfreudig.«

»Aber dich mit meinen Gebrechen abzufinden, Jane, und meine Schwächen zu ertragen?«

»Es gibt keine Schwächen, Herr Rochester, wenigstens nicht für mich. Ich liebe Sie um so mehr, wenn ich mich Ihnen gegenüber als wirklich nützlich erweisen kann — mehr als ich es zu tun vermochte, da Sie in stolzer Unabhängigkeit lebten und jede andere Rolle als die des Gebers und Beschützers verachteten.«

»Bisher war es mir verhaßt, Hilfe anzunehmen und mich führen zu lassen, aber von nun an will ich es gerne hinnehmen. Es paßte mir nicht, irgendeinem Dienstboten die Hand zu geben, aber wenn es James kleine Finger sind, so wird es mir eine Wohltat sein. Ich zog die Einsamkeit der Pflege durch die Dienerschaft vor, aber Janes Gesellschaft wird mir eine ständige Freude sein. Jane, ich bin dir voll und ganz verbunden. Fühlst auch du dich mir verbunden?«

»Mit jeder Faser meines Wesens.«

»Wenn es so ist, dann brauchen wir nicht länger zu warten. Wir wollen unverzüglich heiraten.«

Er sprach erregt und eifrig. Der alte Tatendrang war neu erwacht.

»Jane, wir müssen ohne jeden Aufschub eins werden im Fleische. Es ist nur noch die Ehebewilligung einzuholen — dann findet die Hochzeit statt.«

»Herr Rochester, ich sehe gerade, daß die Sonne bereits im Westen steht, und Pilot ist schon zum Essen gegangen. Zeigen Sie mir bitte Ihre Uhr, damit ich sehe, wie spät es ist.«

»Nimm sie und behalte sie, Janet. Hänge sie an deinen Gürtel. Ich brauche sie nicht mehr.«

»Es ist fast vier Uhr nachmittags. Sind Sie denn gar nicht hungrig?«

»In vier Tagen müssen wir heiraten, Jane; und dazu brauchen wir keinen Schmuck und keinen Hochzeitsstaat. Das ist jetzt alles keinen Pfifferling wert.«

»Die Sonne hat bereits alle Pfützen ausgetrocknet. Es weht kein Wind, und es ist ziemlich heiß.«

»Weißt du, Jane, daß ich deine Perlenkette unter meiner Halsbinde trage? Das habe ich getan, seit mein einziger Schatz mich verlassen hatte, um ein Andenken an ihn zu bewahren.«

»Wir werden durch den Wald nach Hause gehen. Dort ist es schattiger.«

Er ging seinen Gedanken nach und hörte mir gar nicht zu.

»Jane! Du hältst mich vielleicht für einen ungläubigen Hund. Und doch ist mein Herz voller Dankbarkeit für Gott, den gütigen Schöpfer dieser Erde. Er sieht die Dinge nicht mit den Augen der Menschen, aber er sieht sie klarer. Er urteilt nicht wie ein Mensch, aber sein Urteil ist weiser. Ich habe Unrecht getan: Ich hätte diese unschuldige Blume befleckt und ihre Reinheit mit Schuld und Sünde verdorben. Da hat der Allmächtige sie von mir genommen. Und diesen Raub muß ich in meiner hartnäckigen Rebellion verflucht haben. Anstatt mich dem Urteil zu beugen, lehnte ich mich auf. Aber die göttliche Gerechtigkeit folgte ihrem Lauf; und ein Unglück übers andere fiel über mich her. Wahrhaftig, ich habe das Tal der Schatten des Todes durchquert. Seine Geißel ist mächtig, und sein Schlag hat mich auf ewig gedemütigt. Du weißt, wie stolz ich auf meine Kraft war; aber was ist sie jetzt, da ich mich wie ein schwaches Kind der Hilfe anderer anvertrauen muß? Erst spät, Jane — erst sehr spät, begann ich die Hand Gottes in meinem Schicksal zu erkennen. Und dann habe ich begonnen, mich reuevoll mit meinem Schöpfer auszusöhnen. Ich betete sogar. Es waren sehr kurze Gebete, aber sie waren aufrichtig.

Einige Tage darauf — ich erinnere mich sogar, daß es vier waren — überkam mich eine seltsame Stimmung; die Verzweiflung wich dem Kummer, dem Gram und der Verdrießlichkeit.

Ich hatte seit langem gefürchtet, du seist tot, denn ich konnte dich ja nirgendwo finden. Spät an jenem Abend — es mochte elf oder zwölf Uhr gewesen sein —, als ich mich zu meiner trostlosen Ruhe zurückzog, betete ich zu Gott, daß er mich bald zu sich nehme und mich in jene Welt einlasse, in der mir wenigstens die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit dir verblieb.

Ich saß in meinem Zimmer am offenen Fenster. Die duftige Nachtluft erfrischte mich und war mir tröstlich, obgleich ich keine Sterne erblickte und nur aus einem matten Schimmer erkannte, daß der Mond aufgegangen war. Ich sehnte mich nach dir, Jane! Noch einmal wandte ich mich angstvoll und demütig an Gott und fragte ihn, ob es nicht endlich des Kummers, der Leiden und Qualen genug sei und ob ich nicht wenigstens noch einmal Glück und Frieden genießen könne. Gerne gestand ich, daß alles, was ich bisher durchmachen mußte, voll verdient hatte; aber ich hielt ihm vor, daß ich weiteres Leiden kaum noch ertragen könne — und dann überwältigte mich der innigste Wunsch meines Herzens derart, daß ich laut die Worte ›Jane, Jane, Jane‹ ausrief.«

»Haben Sie die Worte laut gerufen?«

»Ja, Jane. Wenn jemand mich gehört hat, muß er mich für wahnsinnig gehalten haben, denn ich rief sie mit einer solchen Inbrunst.«

»Und es war Montag nacht, irgendwann um die mitternächtliche Stunde?«

»Ja; aber die Zeit spielt keine Rolle, das Seltsamste daran war, was nun folgte. Du wirst mich für abergläubisch halten, und vielleicht stimmt das sogar; aber was ich dir jetzt sage, ist die reine Wahrheit. So habe ich es wenigstens vernommen.

Als ich ›Jane, Jane, Jane‹ rief, vernahm ich von irgendwo eine Stimme, ich weiß nicht, woher sie kam, aber sehr wohl, wem sie gehörte, die mir antwortete: Warte, ich komme — und dann, einen Augenblick später, flüsterte der Wind mir noch zu: Wo bist du?

Wie soll ich dir die Gedanken und den Eindruck beschreiben, den diese Worte bei mir zurückließen? Ich will es versuchen. Wie du weißt, liegt Ferndean tief im Walde versteckt, wo alle Geräusche schnell verstummen und kein Echo zurücksenden. Die Worte ›Wo bist du‹ schienen aus einer bergigen Gegend zu kommen, denn ich hörte ein deutliches Echo, das sie wiederholte. Ein Luftzug kühlte meine heiße Stirne, und ich hätte schwören können, daß ich soeben Jane in irgendeiner wilden verlassenen Landschaft begegnet war. Und im Geiste sind wir uns sicher auch begegnet. Vielleicht warst du um diese Stunde in tiefem Schlaf, und vielleicht hat deine Seele für ein paar Augenblicke ihren Kerker verlassen, um meine zu trösten, denn es war deine Stimme — dessen bin ich sicher, wie ich lebe — es war deine Stimme!«

Lieber Leser, es war am Montagabend, kurz vor Mitternacht, daß auch ich den geheimnisvollen Ruf vernahm, und ich hatte genau mit den gleichen Worten darauf geantwortet. Ich hörte Herrn Rochesters Erzählung zu, erwähnte jedoch nichts von meinem Erlebnis. Das Zusammentreffen erschien mir zu wunderbar und unerklärlich, als daß ich darüber hätte reden wollen.

Und wenn ich es erzählt hätte, so mußte mein Bericht einen sehr tiefen Eindruck auf ihn hinterlassen, und sein äußerst strapaziertes, von Kummer und Leiden gezeichnetes Gemüt brauchte gerade jetzt keine übernatürliche Offenbarung. So behielt ich diese Dinge für mich und bewahrte sie in meinem Herzen.

»Du solltest dich daher nicht wundern«, fuhr er fort, »daß ich dich gestern, als du so plötzlich vor mir auftauchtest, für eine Stimme und ein Traumbild hielt, für etwas, das ebenso rasch vergehen würde, wie das mitternächtliche Flüstern und sein Echo in jener Montagsnacht. Aber jetzt will ich Gott danken! Jetzt weiß ich, daß es Wirklichkeit ist! Ja, dafür will ich Gott danken!«

Er ließ mich von seinem Schoß gleiten, erhob sich, entblößte sein Haupt und stand, die blinden Augen zur Erde gesenkt, einige Minuten lang schweigend da. Nur die letzten Worte seines Dankgebetes waren vernehmbar:

»Ich danke meinem Schöpfer, daß Er in Seinem gerechten Urteil die Gnade nicht vergaß. Und ich bitte in aller Demut meinen Erlöser um die Kraft, von nun an ein reineres Leben zu führen als bisher!«

Dann streckte er die Hand aus, um geführt zu werden. Ich ergriff die geliebte Hand, berührte sie zärtlich mit meinen Lippen und legte sie ihm auf meine Schultern; da ich soviel kleiner war als er, konnte ich ihm gleichzeitig als Stütze und als Führerin dienen. Wir traten in den Wald und kehrten heim.

38

Lieber Leser, wir haben geheiratet. Es war eine stille Trauung und außer uns waren nur der Pfarrer und sein Ministrant in der Kirche zugegen. Nachdem wir heimgekehrt waren, ging ich in die Küche, wo Mary das Abendessen zubereitete und John das Besteck putzte, und ich sagte:

»Mary, ich wurde heute früh mit Herrn Rochester getraut.«

Die Haushälterin und ihr Mann gehörten zu jenen anständigen, schweigsamen und diskreten Leuten, denen man eine wichtige Neuigkeit mitteilen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß sie in überschwengliche, lautstarke Begeisterung ausbrechen würden. Mary schaute auf und starrte mich an. Die Kelle, mit der sie die beiden Brathühner in der Pfanne begoß, blieb ein paar Augenblicke in der Luft hängen, und auch John hielt beim Messerputzen inne. Dann beugte sich Mary wieder über ihre Bratpfanne und sagte nur:

»Getraut? Na, so was!«

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Ich hab’ Sie mit dem Herrn rausgehen sehen, aber ich wußte nicht, daß es zur Hochzeit war«; und dann begoß sie wieder die Hühner. John strahlte übers ganze Gesicht, als ich mich ihm zuwandte.

»Ich hab’s der Mary gesagt, wie’s kommen würde«, sagte er. »Ich kenne Herrn Edward« (John war ein alter Diener, der Herrn Rochester von Kindheit an kannte und ihn deshalb oft beim Vornamen nannte); »ich wußte genau, was er tun würde, und daß es für ihn kein langes Zögern gab. Und recht hat er! Das sollte ich wohl wissen. Meinen herzlichsten Glückwunsch!« Und er strich sich respektvoll das Haar von der Stirne.

»Danke, John. Herr Rochester gab mir dies für Sie und Mary.«

Ich gab ihm eine Fünfpfundnote und ging, ohne seinen Dank abzuwarten, hinaus. Bald darauf hörte ich im Vorbeigehen, wie er zu seiner Frau sagte:

»Sie wird besser zu ihm passen als eine von den großen Damen da.« Und dann: »Sie ist zwar nicht die Schönste, aber sie ist lieb und nett, und in seinen Augen ist sie sicher auch die Schönste. Das kann jeder sehen.«

Ich schrieb nach Moor House und nach Cambridge, um mitzuteilen, was sich inzwischen ereignet hatte und um meinen Entschluß zu erklären. Diana und Mary billigten rückhaltlos meinen Schritt. Diana kündigte mir ihren Besuch nach den Flitterwochen an.

»Sie sollte lieber nicht so lange warten, Jane«, sagte er, als ich ihm ihren Brief vorlas. »Das kann nämlich noch lange dauern; denn unser Honigmond wird unser ganzes Leben lang über uns leuchten, und seine Strahlen werden erst über meinem oder deinem Grabe verlöschen.«

Ich weiß nicht, wie St. John die Nachricht aufnahm. Er beantwortete meinen Brief nicht, schrieb mir erst sechs Monate später, ohne Herrn Rochester oder meine Heirat mit einem Wort zu erwähnen. Sein Brief drückte Ruhe aus und war sehr freundlich, wenn auch so ernsthaft und streng wie gewöhnlich. Er hat seitdem einen regelmäßigen, wenn auch nicht sehr regen Briefwechsel mit mir aufrechterhalten. Er hofft, daß ich glück— lich sei, auf Gott vertraue und nicht nur mein Vergnügen in irdischen Dingen suche.

Und die kleine Adèle, an die der Leser sich vielleicht noch erinnern wird? Ich habe sie nicht vergessen, und bat bald nach meiner Hochzeit Herrn Rochester um Erlaubnis, sie in ihrer Schule besuchen zu dürfen. Ich war tief gerührt von der stürmisch freudigen Begeisterung, mit der sie mich begrüßte. Aber sie sah bleich und abgezehrt aus und sagte mir, sie fühle sich nicht glücklich. Ich fand, daß die Methoden der Schule für sie zu streng waren und das Arbeitsprogramm zu anspruchsvoll und nahm sie mit mir nach Hause. Ich hatte mir vorgenommen, wieder ihre Erzieherin zu sein, fand aber bald heraus, daß das eine unmögliche Aufgabe für mich war, denn mein Mann nahm all meine Zeit und Pflege in Anspruch. So suchte ich eine andere Schule, wo es weniger streng zuging und wo ich sie oft besuchen konnte. In den Ferien brachte ich sie zu uns nach Hause. Ich sorgte dafür, daß sie nichts entbehrte, und bald lebte sie sich in ihrer neuen Umgebung ein, war glücklich und machte gute Fortschritte in ihrer Erziehung. Als sie größer wurde, glich die gute englische Erziehung einigermaßen ihre französischen schlechten Eigenschaften aus, und als sie die Schule verließ, entwickelte sie sich zu einem liebenswürdigen und hilfreichen Menschen mit angenehmem Temperament und festen Grundsätzen. Mit ihrer Gutherzigkeit und Anhänglichkeit hat sie mich mehr als genug für all meine Mühen belohnt.

Meine Geschichte geht ihrem Ende zu. Nur noch ein Wort über meine ehelichen Erfahrungen und über das Schicksal jener, deren Namen im Laufe der Erzählung oft erwähnt wurden, und dann kann ich schließen.

Ich bin nun zehn Jahre verheiratet und weiß, was es bedeutet, ganz und gar für und mit dem Wesen zu leben, das man mehr als alles andere auf der Welt liebt. Ich schätze mich vollkommen glücklich — glücklicher, als Worte es ausdrücken können, denn ich bin für meinen Mann genau das, was er für mich ist. Keine Frau war je ihrem Gefährten näher, war mehr Fleisch seines Fleisches und Herz seines Herzens. Nie bin ich der Gesellschaft meines Edward müde, und ihm geht es ebenso. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes ein Herz und eine Seele, und so sind wir immer beisammen. In unserem Beisammensein sind wir so frei, wie wenn wir allein wären, und so fröhlich, wie man nur in bester Gesellschaft sein kann. Wir reden miteinander den ganzen Tag lang, und unsere Gespräche sind wie ein bewegtes und hörbares Denken. All mein Vertrauen gehört ihm, und er verläßt sich ganz auf mich. Wir sind ganz aufeinander abgestimmt — und deshalb leben wir in vollkommener Harmonie.

Während der ersten zweiJahre unserer Ehe war Herr Rochester noch ganz blind. Vielleicht ist unser enges Zusammengehörigkeitsgefühl gerade diesem Umstand zuzuschreiben, denn ich war sein Auge, und ich bin auch jetzt noch seine rechte Hand. Ich war buchstäblich sein Augapfel (wie er mich oft nannte). Durch mich sah er die Natur oder las auch Bücher, und ich war es nie müde, mich für ihn umzuschauen und das Gesehene — Felder, Bäume, Städte, Flüsse, Wolken, Sonnenstrahlen, die Landschaft vor uns — in Worte zu fassen und ihm mit dem Ton meiner Stimme all jene Eindrücke zu vermitteln, die sein Blick nicht mehr aufnehmen konnte. Nie wurde ich müde, ihm vorzulesen, ihn zu führen, wo immer er hinwollte, und alles zu tun, was er von mir verlangte. Und ich fand Freude an seinen Dienstleistungen; volle, herrliche, wenn auch traurige Freude, denn er verlangte sie ohne schmerzliche Scham oder bedrückte Demut. Er liebte mich so sehr, daß er sich im Besitzergreifen meiner pflegerischen Aufmerksamkeit keine Zurückhaltung auferlegte. Und er war sich so sehr meiner Liebe bewußt, daß er mir mit seinen Forderungen nur meine innigsten Wünsche erfüllte.

Eines Morgens, als er mir einen Brief diktierte, neigte er sich über mich und sagte:

»Jane, hast du etwas Glänzendes um deinen Hals?«

Ich trug eine goldene Uhrkette und antwortete: »Ja.«

»Und trägst du ein hellblaues Kleid?«

Das stimmte. Und dann teilte er mir mit, daß er schon seit einiger Zeit den Eindruck habe, als beginne der dunkle Schleier über seinem Auge sich zu lichten, und daß er neuerdings dessen sicher sei. Wir fuhren nach London und suchten einen berühmten Spezialisten auf, unter dessen Behandlung er mit dem einen Auge wieder zu sehen begann. Er kann zwar nichts sehr scharf erkennen, kann auch nicht viel lesen oder schreiben, aber er kann jetzt gehen, ohne geführt werden zu müssen. Der Himmel ist ihm keine öde Leere mehr und die Erde keine wilde Wüstenei. Als ihm sein Erstgeborener in die Arme gelegt wurde, konnte er feststellen, daß der Junge des Vaters große, leuchtende und schwarze Augen geerbt hatte. Und bei dieser Gelegenheit dankte er wieder Gott aus vollem Herzen, der ihm soviel Gnade bezeugt hatte.

Ja, ich bin glücklich mit meinem Edward und um so glücklicher, als auch die, die wir lieben, glücklich sind. Diana und Mary sind beide verheiratet und sie kommen abwechselnd jedes Jahr auf Besuch zu uns oder wir fahren zu ihnen. Dianas Mann ist Kapitän zur See, ein tapferer Offizier und ein guter, edler Mensch. Mary heiratete einen Pfarrer, einen Studienkollegen ihres Bruders, der in seinen Leistungen und Grundsätzen genau ihren Erwartungen entspricht. Kapitän Fitzjames und Herr Wharton lieben ihre Frauen und werden von ihnen wiedergeliebt.

Was St. John anbetrifft, so verließ er England und ging nach Indien. Er hat den selbstgewählten Weg beschritten und ist ihm seither gefolgt. Einen entschlosseneren und unermüdlicheren Pionier inmitten einer gefahrvollen und felsenzerklüfteten Welt kann man sich nicht vorstellen. Zielbewußt, gläubig und ergeben, voller Eifer und Energie und wahrheitsbesessen wirkt er an der Verbesserung der Menschheit. Wie ein Riese schlägt er alle Vorurteile des Glaubens und der Kaste nieder, die das Land solange vom Fortschritt ferngehalten haben. Er mag streng und anspruchsvoll, sogar ehrgeizig sein, aber seine Strenge ist die jenes Kriegers, der seine Pilgerschar gegen die Überfälle Apollyons schützte. Er ist die Verkörperung des Apostels, der im Namen Jesu Christi spricht, wenn er sagt: »Wer es mir gleichtun will und seiner selbst entsagt, der nehme sein Kreuz und folge mir.« Sein Ehrgeiz ist, sich seinen Platz bei denen zu erobern, die vom irdischen Tand erlöst, ohne Makel vor den Thron Gottes treten und die mächtigen Siege des Lammes feiern und die man die Auserwählten nennt.

St. John ist ledig geblieben, und er wird sich auch nie verheiraten. Er hat sich ganz und gar seiner Arbeit hingegeben, und diese Arbeit geht ihrem Ende zu. Als ich seinen letzten Brief erhielt, vergoß ich menschliche Tränen, und doch war mein Herz mit göttlicher Freude erfüllt, denn er erwartet seine sichere Belohnung, die Krone der Unbestechlichkeit. Ich weiß, daß der nächste Brief von fremder Hand geschrieben sein wird, um mir mitzuteilen, daß der gute und treue Diener endlich in die Gefilde seines Herrn zurückgerufen ward. Und warum sollte ich ihn beweinen? St. Johns letzte Stunde wird durch keine Angst getrübt sein. Sein Geist wird klar, sein Herz unverzagt, seine Hoffnung gewiß und sein Glaube unerschütterlich sein. Seine eigenen Worte bezeugen es:

»Mein Herr hat mich vorgewarnt«, schrieb er; »täglich verkündet er mir immer deutlicher: ›Wahrlich, bald werde ich bei Dir sein!‹, und stündlich antworte ich mit wachsendem Eifer: ›So soll es sein, liebster Herr Jesus, komm zu mir! Amen!‹«

1Aus dem Englischen von Helmut Kossodo (1986)

2Bride = Braut, Well = Brunnen. Bridewell war der Name eines berüchtigten Londoner Gefängnisses.