AIDA
oder
WENN MÄNNER EINE
STARKE HAND BRAUCHEN
Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Söhne. Als der ältere neunzehn wurde, suchte sie ihn zu verheiraten. Nach langer Suche fand sie auch eine junge Frau aus einer armen und kinderreichen Familie. Der Brautvater freute sich darüber, ein hungriges Maul weniger ernähren zu müssen.
Doch das Glück mancher Eltern ist für ihre Kinder eine Geißel.
Schon in der ersten Nacht wunderte sich die junge Braut über das große Loch in der Wand ihres Schlafzimmers. Es war so groß wie ihre Handfläche.
»Was soll das Loch in der Wand?« fragte sie ihren Gemahl erstaunt.
»Meine Mutter will immer dabeisein. Sie kann nicht schlafen, bevor sie sich nicht überzeugt hat, daß ich gesund und vergnügt eingeschlafen bin.«
Die Neuvermählten hatten sich noch nicht hingelegt, als die Mutter durch das Loch sprach: »Mein Herzchen, erledige deine Pflicht schnell. Ich will bald schlafen. Deine Hochzeit hat mich ermüdet.« Der gehorsame Sohn wollte dem Rat seiner Mutter folgen, doch seine Braut wollte mit ihm ihr Verlangen stillen. Sie verführte ihn, aber mitten in ihrem Vergnügen wurden sie durch die Stimme der Mutter erschreckt. »Mein armes Herzchen. Die Frau wird dir noch die letzte Kraft aussaugen. Jetzt ist es genug, sonst komme ich und lege mich zwischen euch.« Durch diese Worte verging beiden jede Lust. Die Braut lag verärgert im Bett und konnte nicht schlafen. Ihr Mann hingegen schnarchte nach einer kurzen Weile. Alsbald hörte sie auch das Schnarchen der Mutter.
Am nächsten Morgen wachte die Schwiegertochter früh auf, bereitete ein Frühstück und weckte ihren Ehemann, die Schwiegermutter und ihren achtzehnjährigen Schwager. Als sie sich aber zu ihnen setzen wollte, rief ihre Schwiegermutter: »Nein, hier frühstücken nur ich und meine Kinder.«
»Und ich?« fragte die Schwiegertochter und blickte ihren Mann hilfesuchend an.
»Schwiegertochter! Was gebrochen ist, darfst du nicht essen und was ganz ist, darfst du nicht brechen; aber iß nur, bis du satt bist«, antwortete die Witwe. Die Schwiegertochter rannte zurück in ihr Zimmer und heulte, bis ihr Mann zu ihr kam. »Sei doch nicht so empfindlich. Sie ist nun mal die Herrin des Hauses.«
»Und wovon soll ich leben?« schrie sie ihn an.
»Es gibt Wichtigeres als Essen und Trinken«, erwiderte der Mann und kehrte zu seiner Mutter zurück.
So mußte die arme Schwiegertochter heimlich von den Resten essen, denn die Witwe zählte die Tomaten, Eier und Zwiebeln, und wenn etwas fehlte, schlug sie erbarmungslos auf ihre Schwiegertochter ein. Das Brot schloß sie in einem großen Kasten ein, und den Schlüssel dazu trug sie an einer Kette um ihren Hals, nicht einmal die Söhne durften ihn anfassen. In den Vorratskeller und in den Obstgarten durfte die junge Frau nicht gehen. Als ihre Eltern sie besuchten, weinte sie bitter über ihr Elend und wollte mit ihnen fort, doch die trösteten ihre Tochter. »Sei doch froh, daß du diesen Kaufmann heiraten durftest«, sagte ihr Vater beim Abschied. Doch die Tochter war weit entfernt von jeder Freude, sie ertrug ein Jahr lang demütig ihr hartes Los. Die Schwiegermutter ermahnte sie ständig, nicht verschwenderisch zu sein. Der Sohn brachte sein Geld Tag für Tag der Mutter, seiner Frau aber gab er nur tröstende Worte.
Im nächsten Jahr wünschte die Mutter, daß der zweite Sohn eine noch sparsamere Frau heiraten solle. »Ihre Eltern kommen jeden Monat einmal. Das ist Verschwendung«, beschwerte sie sich über die erste Schwiegertochter und suchte so lange, bis sie eine junge Frau fand, deren Eltern bereits gestorben waren.
Die Braut hieß Aida. Die Witwe wies den beiden Neuvermählten ein Zimmer in ihrem Haus zu, so, daß ihr Gemach nun zwischen den Kammern ihrer Söhne lag. Als Aida das Zimmer betrat und das Loch sah, warf sie ihr Hochzeitskleid ab und tanzte vor den Augen der Mutter. »Herzchen, erfülle schnell deine Pflicht!« rief die Mutter verärgert. »Deine Hochzeit hat mich ermüdet.« Doch Aida erwiderte: »Erst wenn ich müde werde, darf er mich nehmen«, und sie tanzte so lange, bis der Ehemann im Bett und seine Mutter hinter dem Loch eingeschlafen waren. Nun schlich Aida hinaus, mischte einen Haufen Erde mit Wasser, setzte dem Mörtel Gips und Asche hinzu und kehrte im Dunkeln zurück. Sie vergipste das Loch und stürzte sich auf den schlafenden Sohn, und sie liebten sich bis zur Morgendämmerung.
Als die Mutter aufstand, fluchte sie über Aida und klopfte die frisch vergipste Öffnung mit einem Stock wieder frei. »Das Loch bleibt offen, ich muß den Geruch meiner Söhne riechen, sonst bekomme ich Alpträume«, sagte sie und ging in die Küche, wo die andere Schwiegertochter das Frühstück schon vorbereitet und sich in eine ferne Ecke gesetzt hatte.
Aida kam etwas verspätet und wollte sich zu Tisch setzen, da rief die Witwe: »Meine süße Schwiegertochter, was ganz ist, darfst du nicht brechen und was gebrochen ist, darfst du nicht essen; aber iß nur, bis du satt bist.« Sie wandte sich zur anderen Schwiegertochter. »Du bist bei uns immer satt geworden, nicht wahr, meine Taube?« Die blasse Schwiegertochter nickte mutlos.
»Gesagt, getan!« rief Aida, nahm ein großes Stück Frischkäse und verschlang es restlos.
»Was machst du, du ungezogenes Ding?« entsetzte sich die Schwiegermutter.
»Wie du befohlen hast. Ich habe den Käse ganz verschlungen und kein Krümmelchen davon übriggelassen«, antwortete Aida. Die Söhne lächelten verlegen. »Hinaus mit dir. Ich will dich beim Frühstück nicht sehen«, schrie die Witwe. Und als sich Aida weigerte hinauszugehen, befahl die Mutter ihrem jüngeren Sohn, seine Frau zu verprügeln. Aida heulte, doch sie klammerte sich mit letzter Kraft an den Tisch, bis sie ihn fast umkippte. Da stand der zweite Bruder auf und trat kräftig gegen ihre Hände, bis sie den Tisch losließ.
Am nächsten Morgen rief die Witwe: »Süße Schwiegertochter, du sollst nichts brechen und Zerbrochenes nicht essen, auch nichts verschlingen, aber du wirst wie eine Taube, die alles aufpickt, bei uns gut ernährt.«
»Gesagt, getan!« rief Aida, nahm den kleinen Honigtopf und schleckte ihn aus.
»Was machst du, unverschämtes Ding?« schrie die Mutter.
»Ich habe nur deine edlen Worte befolgt«, antwortete Aida. »Ich habe nichts gebrochen und nichts verschlungen. Ich habe den Honig ganz ausgeschleckt.« Als die andere Schwiegertochter das hörte, stand sie auf, nahm zwei Tomaten und einen Apfel und verschlang sie so schnell, daß sie sich beinahe daran verschluckt hätte.
»Aber Täubchen!« entsetzte sich die Schwiegermutter.
»Heute verschlinge ich die Früchte, und morgen lecke ich die Töpfe aus«, lachte diese frech. Da ließ die Schwiegermutter ihren jüngeren Sohn auf Aida einhauen. Das tat er so kräftig, daß Aida in Ohnmacht fiel. Nun stand der andere Bruder auf und ohrfeigte seine Frau.
In den nächsten Wochen wurde die Mutter immer blasser, denn die Schwiegertöchter genossen, verzehrten, tafelten, schmausten, verdrückten, naschten, fraßen, nagten und schlugen sich den Bauch voll mit allem, was in ihre Hände fiel. Ihnen schienen die Schläge ihrer Männer leichter ertragbar als der Hunger. Tag für Tag klopfte die Schwiegermutter die vergipsten Löcher zu den Zimmern ihrer Söhne frei.
»Paß auf, Schwiegermutter. Deine Nase wird dich noch ins Grab bringen«, zürnte Aida.
»Ach was, dummes Zeug. Aber sei sicher, meine Süße, deine Gier wird dir noch übel bekommen«, erwiderte die Alte und lachte.
Sieben Wochen lang stopften die Schwiegertöchter die Löcher in der Nacht zu, und die Witwe klopfte sie am nächsten Morgen frei.
Eines Nachts freute sich die Schwiegermutter, als sie sah, daß die Nachteule Aida sehr früh ins Bett ging. Sie setzte sich an das andere Loch und ermahnte ihren Sohn, endlich zu schlafen, doch der Sohn schien an diesem Abend ein besonderes Vergnügen zu haben. Lange dauerte es, bis es endlich ruhig wurde. Müde wollte sie sich ins Bett legen, doch plötzlich hörte sie ein Flüstern vom anderen Loch. Sie stand auf und näherte sich auf Zehenspitzen der Öffnung. »Geh zurück«, zischte eine Stimme leise, »ich bin die Schlange der langen Nasen. Geh schlafen.« Ein kalter Schauer lief der Schwiegermutter über den Rücken. »Eine Schlange bei meinem Herzchen!« rief sie entsetzt und wollte ihren Kopf durch das Loch stecken, doch plötzlich spürte sie einen Biß in die Spitze ihrer Nase. Sie schrie auf und machte das Licht an, da sah sie eine Schlange in ihrem Zimmer. »Weh mir, eine Schlange hat mich gebissen«, kreischte sie laut. Ihre Söhne sprangen erschrocken aus ihren Betten und eilten zu ihr. Die Schlange war immer noch im Zimmer. Der ältere Sohn nahm einen Stock und erschlug das Reptil, gerade als die zwei Schwiegertöchter ins Zimmer kamen.
»Ich sauge ihr das Gift aus!« rief Aida. Statt aber zu saugen, biß sie die Schwiegermutter so kräftig in die Nase, daß diese ohnmächtig wurde.
»Wir müssen sie schnell ausziehen, damit sie wieder atmen kann. Die Kleider sind sehr eng«, sprach Aida und wandte sich zu den Söhnen: »Geht hinaus, das ist Frauensache!«
Wie benommen schleiften die Ehemänner ihre schweren Füße hinaus. Die Schwiegertöchter zogen die Witwe aus. Was sie sahen, verschlug ihnen die Sprache. Sie entdeckten nicht nur die Schlüssel zum Vorratskeller und zur Brottruhe, sondern Hunderte von Goldmünzen, die einzeln in kleinen Täschchen im Unterrock eingenäht waren. Aida teilte die Goldmünzen mit der anderen Schwiegertochter, zerriß den Unterrock und rief laut: »Gebt uns Essig, Knoblauch und einen frischen Unterrock!« Ihr Mann brachte schnell die gewünschten Dinge und steckte sie durch den Türspalt. Er war beruhigt, als er seine Mutter leise stöhnen hörte. »Sie bringen sie wieder auf die Beine«, sagte er erleichtert zu seinem Bruder.
Es dauerte bis zur Morgendämmerung. Aida kam erschöpft heraus. »Sie schläft. Es ist vorbei!« flüsterte sie. Beide Brüder eilten ins Zimmer ihrer Mutter und waren beruhigt, als sie sahen, wie die Mutter ruhig atmend schlief.
Am nächsten Tag staunten die Brüder, als sie von der Arbeit kommend die Mutter schreien hörten.
»Was ist mit dir, Mutter?« fragte der Ältere.
»Mein Gold«, sprach die Mutter bitter. »Sie haben mich ausgeraubt«, schnaubte sie.
»Gold? Von welchem Gold redest du?« fragte der Sohn und setzte sich auf die Bettkante. Er schaute seine Mutter voller Sorge an. »Wir haben doch nie welches besessen.«
»Doch, das ganze Vermögen deines seligen Vaters trug ich mit mir herum, und diese Hexen haben es an sich gerissen. Sie tanzten den ganzen Tag hier nackt mit zwei Schlangen.«
»Beruhige dich, Mutter. Es ist gut. Wir werden das Gold aus ihnen herausprügeln, und sie werden ab morgen nicht mehr tanzen«, beschwichtigte der jüngere Sohn seine Mutter und schaute seinen Bruder besorgt an.
»Sie ist durch das Gift verrückt geworden«, flüsterte der ältere Bruder mit trockener Kehle.
Am nächsten Tag erzählte die Mutter, daß beide Schwiegertöchter zu ihr gekommen seien und vor ihren Augen Fleisch und Käse gegessen und den teuren alten Wein getrunken hätten.
»Welchen Wein, Mutter? Wir haben noch nie einen Tropfen im Hause gesehen«, antwortete der ältere Sohn ungeduldig und ging hinaus. Der jüngere aber rief Aida zu sich. »Hauch mich an!« befahl er, doch als sie es tat, rief er entsetzt: »Mein Gott, du stinkst nach Knoblauch. Hast du den ganzen Tag Knoblauch gegessen?«
»Ja«, erwiderte Aida, »ich mußte nach dem Rat einer guten Hexe eine Handvoll Knoblauch kauen und den Brei deiner Mutter auf die Nase tun, damit die Wunde entgiftet wird, aber nachdem ich meinen Mund fast verdorben hatte, wollte deine liebe Mutter es nicht haben. Sie sagte, das sei Gift.«
Der Sohn nahm den faustgroßen Knoblauchteig und wollte ihn der Mutter auf die Nase legen, doch diese beschimpfte ihn und behauptete, er und seine Frau wollten sie vergiften.
»Sie ist wirklich verrückt«, sagte der Sohn und genoß mit den anderen einen deftigen Braten.
»So gut habe ich noch nie gegessen«, rief der ältere Bruder begeistert. Er achtete genausowenig wie sein Bruder darauf, daß von nun an wilde Blumen zum Trocknen dort an der Wand hingen, wo die Löcher vergipst waren. Es ist kaum zu glauben, aber es gibt Männer, die nicht einmal merken, ob ihre Frauen ihnen eine Blumenvase, eine verschrumpelte Rübe oder gar einen Besen auf den Frühstückstisch stellen.
So vergingen zwei Tage, und am dritten Tag starb die Schwiegermutter an ihrem Wahn. Und von nun an folgten die beiden Brüder Aidas Anweisungen und lebten zufrieden mit ihren Frauen.