DER MÄUSEVERTILGER
oder
VON DER OHNMACHT
DER UNWISSENDEN
Es war einmal ein Ölverkäufer. Er zog von Dorf zu Dorf und bot sein Olivenöl dort zu einem guten Preis feil, wo die Bauern keine Olivenbäume pflanzten und selten in die ferne Stadt fuhren.
Damals, als sich diese Geschichte abspielte, war es nicht selten, daß Bauern ihr ganzes Leben im Dorf blieben.
Eines Tages kam der Ölverkäufer in eine entlegene Gegend.
Er verkaufte sein Öl bis zum späten Abend und beschloß, in diesem Dorf zu übernachten.
So erkundigte er sich nach dem Haus des Dorfältesten. Fremde waren zu jener Zeit gerngesehene Gäste, doch der erfahrene Händler lehnte die Einladungen von drei Bauern freundlich ab, weil er sich ein üppigeres Mahl beim Dorfältesten erhoffte, und er irrte sich nicht.
Der Dorfälteste lud einige Nachbarn zum Abendessen ein, damit sein Gast sich gut unterhielte und bald wieder ins Dorf kommen würde.
Die Hausherrin tischte ihrem Gast ein deftiges Gericht aus Lammfleisch, Reis und Joghurt auf. Als sie das frische Roggenbrot hereintrug, konnte der Ölhändler seine Gier nur schwer im Zaum halten.
Doch kaum saßen die Gäste um das Essen herum, da huschten alsbald viele Mäuse herein, machten sich über das Essen her und fraßen alles in Windeseile auf. Nur mit Mühe konnten der Dorfälteste und seine Nachbarn ein paar Brote und kleine Fleischstücke vor den gefräßigen Mäusen retten.
Der Ölhändler aber ekelte sich derartig, daß er nichts anfaßte. Als die Mäuse alles kahlgefressen hatten, verschwanden sie so plötzlich, wie sie hereingestürmt waren.
»Was war das?« fragte der Ölhändler verärgert.
»So ist unser Leben mit diesen Ungeheuern«, antwortete der Dorfälteste etwas beschämt. »Sie kommen, fressen und verschwinden«, fügte er leise hinzu und winkte hilflos mit der Hand ab.
»Das gibt es doch nicht«, staunte der Ölhändler. »Habe ich richtig gehört, ihr nennt diese winzigen Mäuse Ungeheuer?«
»Sie sind Ungeheuer. Sie haben uns besiegt. Nichts haben wir unversucht gelassen, sie zu vertilgen. Aber sie werden immer zahlreicher, und wenn sie wütend werden, so können sie einen Menschen überfallen und sogar töten«, erklärte der Dorfälteste.
»Und ihr habt wirklich Angst vor diesen Tieren? Seid ihr tatsächlich so feige in diesem Dorf?« höhnte der Ölhändler.
»Das sind wir nicht. Bären und Wölfe haben wir gejagt, unsere Männer töten mit ihrem Blick einen Adler, doch diese Ungeheuer sind stärker. Sie schleichen auf samtenen Pfoten. Sie brüllen nicht, und sie fletschen nicht ihre Zähne, doch in der Masse sind sie gefährlicher als ein verletzter Wolf«, antwortete der Lehrer.
»Und was gebt ihr mir, wenn ich euch von diesen Ungeheuern befreie?« fragte der Ölhändler, und seine Augen glänzten erwartungsvoll.
»Wir geben dir, was du verlangst!« rief der Dorfälteste.
»Ich verlange zweitausend Piaster«, erwiderte der Ölhändler. »Ich bringe euch ein Tier, das diese Ungeheuer frißt.«
»Dieses Tier gibt es nicht. Willst du dich über uns lustig machen?« unterbrach ihn ein Bauer.
»Nein, ich habe ein solches Tier. Ihr sollt erst zahlen, wenn es die ersten zehn Ungeheuer gefressen hat«, sagte der Ölhändler nachdrücklich.
»Und was zahlst du, wenn dein Tier, das wir noch nicht kennen, von diesen Ungeheuern gefressen wird?« fragte der Lehrer mißtrauisch.
»Ich zahle euch das Doppelte«, erwiderte der Ölhändler.
»Das ist ein anständiges Angebot«, entschied der Dorfälteste.
Am nächsten Morgen stieg der Ölhändler auf sein Maultier und ritt davon.
Einige Bauern lachten aber hinter dem Händler her. »Er hielt uns für dumm? Nun wird er für sein großes Maul zahlen oder sich nie wieder blicken lassen«, machte sich ein junger Bauer lustig.
»Ja, ja«, bestätigte der Dorfälteste und sah in die Ferne. »Händler versprechen oft das Blaue vom Himmel, und einfältig ist der, der erwartungsvoll hinaufschaut, denn diese Gauner ziehen ihm den Boden unter den Füßen weg, und er fällt auf die Nase.«
Sieben Tage lang heiterten sich die Bauern mit Geschichten über die Dummheit der Händler auf. Am siebten Tag kam der Ölhändler auf seinem Maultier ins Dorf geritten. Als er den Dorfplatz erreichte, traf er den Lehrer.
»Hast du uns das Wundertier mitgebracht?« fragte dieser und lachte laut.
»Ja«, erwiderte der Ölhändler, »ich habe es hier in diesem Sack. Bereite mir ein Mittagessen und lade den Dorfältesten und so viele Gäste ein, wie dein Haus aufnehmen kann, damit ich euch zeige, wie mein Wundertier eure Ungeheuer in die Flucht schlägt.«
Der Lehrer eilte mit seinem Gast nach Hause. Er schickte nach dem Dorfältesten und einigen Oberhäuptern der reichsten Familien im Dorf. Kurz darauf waren alle versammelt.
Als seine Frau dem Ölhändler das Essen auftischte, sprangen die Mäuse aus allen Ecken des Hauses hervor; doch als der Ölhändler sein Tier aus dem Sack ließ, stürzte es sich auf die Mäuse, fraß eine Menge und biß noch mehr von ihnen zu Tode. Die Leute staunten, wie schnell die kleinen Ungeheuer das Weite suchten. Keine einzige Maus blieb auf dem Tisch sitzen.
Der Händler genoß als einziger das Essen und lachte sich krumm über die Bauern, die ängstlich die Jagd verfolgten.
»Nun, habe ich übertrieben?« fragte er gelassen.
Die Bauern bedankten sich bei ihm und sammelten noch in derselben Nacht die versprochene Geldsumme, da der Ölhändler es eilig hatte, seine Reise fortzusetzen.
»Und wie heißt das Tier, das die Ungeheuer frißt?« fragte der Lehrer.
»Mäusevertilger«, antwortete der Ölhändler.
Am nächsten Morgen bereiteten die Dorfbewohner ihm einen würdigen Abschied, und der Dorfälteste rief ihm nach: »Gehe in Frieden, Retter unserer Vorräte!«
Der Mäusevertilger streifte Tag für Tag im Dorf herum, um die Mäuse zu fressen. Als er alle Nagetiere vertilgt hatte, war er bereits so groß und stark wie ein Hund.
Wenn er nun ein Huhn sah, so fraß er das, und wenn er ein Kaninchen erblickte, so hetzte er es zu Tode. Tauben und Gänsen ging es nicht besser.
Der Mäusevertilger war unersättlich und wurde immer größer und stärker.
Da gingen die Bauern zum Lehrer und sagten: »O Lehrer, gegen den Mäusevertilger muß Rat geschaffen werden.«
»Warum?« fragte er.
»Er hat erst die Mäuse gefressen, dann die Hühner, und danach jagte er nach Kaninchen und Gänsen. Seit Wochen legen die übriggebliebenen Hühner keine Eier mehr. Sie zittern den ganzen Tag um ihr Leben. Vor drei Tagen griff er kurz nach Mitternacht eine Bauernfamilie an. Sie konnte sich zwar selber retten, aber ihren Hammel nicht mehr. Heute mittag sprang er eine Bäuerin an, warf sie zu Boden und biß sie in den Hals. Die Frau wäre verblutet, wenn die Nachbarn nicht herbeigeeilt wären. Niemand ist seines Lebens mehr sicher. Bald wird er uns alle fressen.«
»Gut, laßt uns auf das freie Feld ziehen und ihn hier allein lassen; wenn er im Dorf niemanden mehr findet, so geht er vielleicht an einen anderen Ort.«
Der Dorfälteste fand den Vorschlag weise, und er gab seinen Befehl zum Umzug.
Einer der Männer stieg auf das Dach und rief: »O ihr Dorfleute, ladet eure Vorräte auf, nehmt eure Kinder an die Hand und laßt euch auf dem freien Felde nieder, damit euch der Mäusevertilger nicht frißt.«
Da holten die Leute ihr Vieh heraus, luden ihre Vorräte und ihre Kinder auf die Karren und zogen aufs Feld.
Einen Monat lang wohnten sie dort. Da sagte der Dorfälteste eines Morgens: »Es sollen zwei tapfere Männer ins Dorf gehen, um auszukundschaften, ob das Tier noch da ist.«
Zwei mutige Männer begaben sich in das Dorf.
Nach kurzer Zeit kamen sie mit aschfahlem Gesicht angerannt und riefen atemlos: »O unser Dorfältester, der Mäusevertilger ist noch größer geworden.«
»Habt ihr ihn gesehen?« fragte der Lehrer.
»Wir haben nur seinen Schatten an der Wand gesehen. Er war so groß wie ein Maultier.«
»Dann bleibt uns nur eines«, sagte der Lehrer nach einer Weile, »wir müssen das Dorf verbrennen, dann wird er uns mit Sicherheit verlassen oder im Feuer verbrennen. Einer von euch soll dortbleiben und uns berichten.«
Drei Männer gingen ins Dorf und steckten es an mehreren Stellen gleichzeitig an.
Nach einer Weile loderte eine gewaltige Flamme empor. Bis zur Morgendämmerung fraß sich das Feuer durch die Häuser und hinterließ nur Asche und rauchende Balken.
Doch der Mäusevertilger verließ das Dorf nicht, sondern kletterte auf einen der vier Bäume, die auf dem Dorfplatz standen und vom Feuer verschont blieben.
Der Späher eilte zu den wartenden Leuten und erzählte:
»Nicht einmal das Feuer kann ihm etwas anhaben. Die Flammen waren wie eine dichte Mauer, doch der Mäusevertilger sprang hindurch und setzte sich auf die große Trauerweide. Er rief mir zu: ›Geh, du Unglücklicher, sage deinem Dorfältesten, ich werde ihn fressen. Weder Feuer noch Wasser können mich hier vertreiben.‹«
»Geht hin und fällt die Bäume, wir werden sehen, ob er es dann immer noch aushält«, sagte der Dorfälteste.
Acht kräftige Männer schlugen daraufhin die vier Bäume ab.
Als sie erschöpft ihre Arbeit beendet hatten, sahen sie den Mäusevertilger auf einem fernen Gemäuer sitzen. Er legte seine Pfoten an sein Maul und wischte sich über das Gesicht.
»Was mag er wohl sagen?« fragte einer von ihnen, doch niemand konnte hören, ob das Tier etwas sagte. Sie schickten den Jüngsten los mit dem Auftrag, zu lauschen, was der Mäusevertilger flüsterte.
Der Junge schlich sich sehr ängstlich an das Gemäuer heran, blieb eine Weile versteckt stehen und kehrte mit eiligen Schritten zurück. »Er flüsterte«, sagte er außer Atem: »›Habt nur Geduld, ihr Häuserverbrenner und Bäumefäller. Ich werde euch alle vertilgen.‹«
Eilig liefen sie zu ihrem Dorfältesten und berichteten ihm und der besorgten Versammlung von der furchtbaren Drohung. Die ganze Nacht sprachen die Leute aufgeregt darüber, und manche packten schon ihre Sachen, da sie diesen Ort des Grauens verlassen wollten.
Am nächsten Morgen kam der Ölhändler wieder einmal in die Gegend, er fand das Dorf zerstört und die alten hohen Bäume abgeholzt. Er wunderte sich darüber und wanderte weiter, bis er zu dem Ort gelangte, wo die Leute lagerten.
»Was ist passiert?« fragte er. Der Lehrer erzählte ihm vom fürchterlichen Ungeheuer, zu dem der Mäusevertilger geworden war, und berichtete von den Leuten, die auswandern wollten.
»Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich befreie euch von diesem Ungeheuer.«
»Gott segne dich. Du hast unsere Vorräte gerettet, und nun willst du dein Leben aufs Spiel setzen, um das unsrige zu schonen. Wie können wir uns nur erkenntlich zeigen?«
»Ich bekomme dafür zweitausend Piaster, und ihr kauft nie bei einem anderen Händler Öl. Ich setze ja mein Leben aufs Spiel«, antwortete der Ölhändler und erntete die dankbare Zustimmung seiner Zuhörer.
Alsdann ließ er eine junge Ziege schlachten, holte eine bräunliche Flasche aus seiner Satteltasche hervor und goß ihren Inhalt über den Kadaver. Es roch nach bitteren Mandeln. Nun nahm der Händler die Ziege auf die Schulter und ging ins Dorf.
Voller Sorge warteten die Bauern, und die Stunden krochen so langsam dahin, als wären sie Schildkröten. Nach einem halben Tag kehrte der Ölhändler zurück.
»Was ist geschehen?« wollte der Dorfälteste wissen.
»Die Bestie ist tot«, antwortete der Ölhändler und wusch sich seelenruhig die Hände.
»Tot … Unglaublich … Das kann nicht sein …«, raunten die Versammelten.
»Ihre Leiche liegt auf dem Dorfplatz. Geht hin und seht sie euch an. Ich habe es eilig.«
Lange zögerten die Bauern, bis zwei mutige Kundschafter mit der erlösenden Nachricht zurückkamen. »Das Ungeheuer ist tot!« riefen sie.
Die Leute jubelten, zahlten dem Händler die versprochene Summe und wünschten ihm Glück und Gesundheit auf seiner Reise. Am selben Tag kehrten die Bauern ins Dorf zurück, und nach ein paar Monaten vergaßen sie den Mäusevertilger und die Qualen der Angst.
Auch die gefräßigen Mäuse kehrten wieder, und wären die Baumstümpfe am Dorfplatz nicht gewesen, hätten die Leute die Geschichte längst vergessen.
Der Ölhändler aber zog von Dorf zu Dorf und bot seine jungen Löwen an.