Noch lag die Altstadt von Damaskus unter dem grauen Mantel der Dämmerung, als ein unglaubliches Gerücht an den Tischen der kleinen Garküchen und unter den ersten Kunden der Bäckereien seine Kreise zog: Nura, die schöne Frau des angesehenen und wohlhabenden Kalligraphen Hamid Farsi, sei geflüchtet.

Der April des Jahres 1957 bescherte Damaskus sommerliche Hitze. Zu dieser frühen Stunde füllte die Nachtluft noch die Gassen, und die Altstadt roch nach den Jasminblüten der Höfe, nach Gewürzen und nach feuchtem Holz. Die Gerade Straße lag im Dunkeln. Nur Bäckereien und Garküchen hatten Licht.

Bald drangen die Rufe der Muezzins in die Gassen und Schlafzimmer. Sie setzten kurz nacheinander ein und bildeten ein vielfaches Echo.

Als die Sonne hinter dem Osttor am Anfang der Geraden Straße aufging und das letzte Grau vom blauen Himmel wegfegte, wussten die Metzger, Gemüse- und Lebensmittelhändler bereits von Nuras Flucht. Es roch nach Öl, verbranntem Holz und Pferdeäpfeln.

Gegen acht Uhr begann sich in der Geraden Straße der Geruch nach Waschpulver, nach Kumin und hier und da nach Falafel breitzumachen. Friseure, Konditoren und Tischler hatten nun geöffnet und die Fläche auf dem Bürgersteig vor ihren Läden mit Wasser bespritzt. Inzwischen war durchgesickert, dass Nura die Tochter des bekannten Gelehrten Rami Arabi war.

Und als die Apotheker, Uhrmacher und Antiquitätenhändler gemächlich ihre Läden aufschlossen, ohne besondere Geschäfte zu erwarten, hatte das Gerücht das Osttor erreicht, und weil es bis dahin zu einem gewaltigen Gebilde angewachsen war, passte es nicht durch das Tor. Es prallte auf den steinernen Bogen und zerplatzte in tausendundeinen Fetzen, die lichtscheu wie Ratten durch die Gassen huschten und die Häuser aufsuchten.

Böse Zungen erzählten, dass Nura geflüchtet sei, weil ihr Ehemann ihr feurige Liebesbriefe geschrieben habe, und die geübten Damaszener Gerüchteverbreiter hielten inne, wohl wissend, dass sie damit ihre Zuhörer endgültig in die Falle gelockt hatten.

»Wie?«, fragten diese empört. »Eine Frau verlässt ihren Mann, weil er ihr vom Feuer seiner Liebe schrieb?«

»Nicht von seiner, nicht von seiner«, erwiderten die bösen Zungen mit der Ruhe der Sieger, »er schrieb im Auftrag des Schürzenjägers Nassri Abbani, der die schöne Frau mit den Briefen verführen wollte. Dieser Gockel hat Geld wie Heu, aber außer seinem Namen kann er nichts Gescheites schreiben.«

Nassri Abbani war ein stadtbekannter Frauenheld. Er hatte von seinem Vater mehr als zehn Häuser und in der Nähe der Stadt große Obstgärten geerbt. Im Gegensatz zu seinen zwei Brüdern, Salah und Muhammad, die fromm und fleißig den geerbten Reichtum vermehrten und brave Ehemänner waren, hurte Nassri, wo immer er konnte. Er hatte vier Frauen in vier Häusern, zeugte pro Jahr vier Kinder und ernährte dazu drei Huren der Stadt.

Als es Mittag wurde, die sengende Hitze alle Gerüche aus der Geraden Straße vertrieben und der Schatten der wenigen Passanten nur noch Fußlänge hatte, wussten die Bewohner sowohl des christlichen als auch des jüdischen und muslimischen Viertels von der Flucht. Das prächtige Haus des Kalligraphen lag nahe dem römischen Bogen und der orthodoxen Kirche der heiligen Maria, dort, wo die Viertel aufeinanderstießen.

 

»Manche Männer erkranken an Arrak oder Haschisch, andere sterben an ihrem unersättlichen Magen. Nassri ist an den Frauen erkrankt. Das ist wie Schnupfen und Tuberkulose, es trifft einen oder es trifft einen nicht«, sagte die Hebamme Huda, die allen seinen Kindern auf die Welt verhalf und Geheimnisträgerin seiner vier Frauen war. Sie stellte betont langsam das zierliche Mokkatässchen auf den Tisch, als litte sie selbst unter dieser schweren Diagnose. Die fünf Nachbarinnen nickten ohne zu atmen.

»Und ist diese Krankheit ansteckend?«, fragte eine beleibte Frau mit gespieltem Ernst. Die Hebamme schüttelte den Kopf und die anderen lachten verhalten, als wäre ihnen diese Frage peinlich.

Getrieben von seiner Sucht machte Nassri jeder Frau den Hof. Er unterschied nicht zwischen Frauen aus der Oberschicht und Bäuerinnen, zwischen alten Huren und jungen Mädchen. Seine jüngste Frau, die sechzehnjährige Almas, soll einmal gesagt haben: »Nassri kann kein Loch sehen, ohne sein Ding hineinzustecken. Mich würde es nicht wundern, wenn er eines Tages nach Hause kommt und an seinem Stock ein Bienenvolk hängt.«

 

Und wie das bei solchen Männern üblich ist, ging Nassris Herz erst richtig in Flammen auf, wenn sich ihm eine Frau verweigerte. Nura wollte von ihm nichts wissen und so wurde er fast verrückt nach ihr. Er soll monatelang keine Hure mehr angefasst haben. »Er war besessen von ihr«, vertraute seine junge Frau Almas der Hebamme Huda an. »Er schlief nur noch selten mit mir, und wenn er auch bei mir lag, wusste ich, er war mit seiner Seele bei der Fremden. Aber bis zu ihrer Flucht wusste ich nicht, wer sie war.«

Dann habe ihm der Kalligraph die Liebesbriefe geschrieben, die jeden Stein gefügig machen konnten, aber das war für die stolze Nura der Gipfel der Unverschämtheit. Sie übergab ihrem Vater die Briefe. Der Sufigelehrte, dessen Charakter ein Vorbild der Ruhe war, wollte es erst nicht glauben. Er vermutete, irgendein böser Geist wolle die Ehe des Kalligraphen zerstören. Doch die Beweise waren erdrückend. »Es war nicht nur die unverwechselbare Schrift des Kalligraphen«, erzählte die Hebamme, die in den Briefen besungene Schönheit Nuras sei zudem so genau beschrieben, dass außer ihr selbst und ihrer Mutter nur der Ehemann und sonst niemand genau Bescheid darüber wissen könne. Und nun senkte die Hebamme ihre Stimme so weit, dass die anderen Frauen kaum noch atmeten. »Nur sie konnten wissen, wie Nuras Brüste, ihr Bauch und ihre Beine aussahen und wo sie welches Muttermal trug«, fügte sie hinzu, als hätte sie die Briefe gelesen. »Der Kalligraph wusste dann nichts anderes zu sagen«, ergänzte eine andere Nachbarin, »als dass er nicht gewusst habe, für wen der Gockel die Briefe brauche, und dass Dichter, wenn sie eine fremde, ihnen unbekannte Schönheit besingen, immer nur das, was sie kennen, beschreiben würden.«

»Welch ein charakterloser Mann«, dieser Seufzer wanderte in den nächsten Tagen von Mund zu Mund, als hätte ganz Damaskus nur dieses Thema. Manch einer fügte hinzu, wenn keine Kinder in seiner Nähe standen: »Dann soll er in der Schande leben, während seine Frau unter dem Gockel liegt.«

»Aber sie liegt nicht unter dem Gockel. Sie flüchtete und ließ beide zurück. Das ist ja das Wundersame«, korrigierten die bösen Zungen geheimnisvoll.

Gerüchte mit bekanntem Anfang und Ende leben in Damaskus nur kurz, aber das Gerücht von der Flucht der schönen Frau hatte einen kuriosen Anfang und kein Ende. Es schlenderte unter den Männern von Café zu Café und in den Innenhöfen von Frauenrunde zu Frauenrunde, und immer wenn es von einer Zunge zur nächsten Zunge sprang, veränderte es sich.

Von den Ausschweifungen des Kalligraphen wurde erzählt, zu denen ihn Nassri Abbani verführt habe, um so an dessen Frau zu kommen. Von den Geldsummen, die der Kalligraph für die Briefe bekam. Nassri soll das Briefgewicht in Gold bezahlt haben. »Deshalb schrieb der gierige Kalligraph die Liebesbriefe mit großen Buchstaben und breitem Rand. Aus einer Seite machte er fünf«, wussten die bösen Zungen zu berichten.

Das alles mag dazu beigetragen haben, der jungen Frau die Entscheidung zu erleichtern. Ein Kern der Wahrheit blieb allen verborgen. Dieser Kern hieß Liebe.

Ein Jahr zuvor, im April 1956, hatte eine stürmische Liebesgeschichte ihren Anfang genommen. Damals stand Nura am Ende einer Sackgasse, als plötzlich die Liebe die sich vor ihr auftürmende Mauer sprengte und ihr eine Kreuzung der Möglichkeiten zeigte. Und Nura musste handeln.

Da die Wahrheit aber keine simple Aprikose ist, hat sie einen zweiten Kern, von dem nicht einmal Nura etwas wusste. Der zweite Kern dieser Geschichte war das Geheimnis des Kalligraphen.