Leben für Leben
Der Sturmwind fegte vom Südwesten heran und zauste das Wasser. Die Newa hatte sich in einen kochenden See verwandelt. Lastkähne hatten sich losgerissen und trudelten umher. Irgendwo auf der anderen Seite der Newa stand der Zar in seinem hölzernen Domik sicher bis zu den Knien im Wasser. Und er ahnte nicht, dass die Newa nur darauf wartete, ihn endgültig zu verschlingen. Sie wartete auf den letzten Befehl von Karpakow. Angespannt hielt Johannes Ausschau. Treibendes Holz stieß gegen seine Kniekehlen und riss ihn beinahe um. Niemand kümmerte sich um den übel zugerichteten jungen Mann. Schreiende Menschen stürzten an ihm vorbei und stießen sich gegenseitig weg, um die rettenden Dächer zu erreichen.
Aber es gab auch Menschen, die nicht in Panik waren. Mit einem Schaudern wurde Johannes klar, dass sie auf diesen Tag gewartet hatten. Hier sah er es – das Wasser der Newa teilte die Menge in Verräter und Ahnungslose. Fassungslos beobachtete er, wie Soldaten ihre Pferde wendeten und durch hoch aufspritzende Wellen zur Newa galoppierten. Aufseher, Grenadiere und Dragoner suchten grimmig ihren Weg. Er würde mit den Verrätern laufen – selbst auf die Gefahr hin, erkannt zu werden. Das war allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Vermutlich hätte er sich im Moment selbst nicht wiedererkannt. So vorsichtig wie möglich entledigte er sich seines verkrusteten Hemds und watete gegen den Strom derer, die kopflos vor dem Wasser flohen, weg vom Fluss, in Richtung der Wälder, die ihnen Schutz bieten würden. Nach einer halben Meile bekam er vor Anstrengung kaum noch Luft, aber er wusste nun, wohin der Weg ihn führte: Nicht zu der Weide weit östlich außerhalb der Stadt, nein, er führte an das Südufer – gegenüber der Haseninsel. Regen schlug ihm ins Gesicht und sein linkes Ohr war taub vom stürmischen Wind, der den Fluss beinahe zum Stillstand brachte. Die Newa war ein bedrohlicher, beinahe schwarzer grundloser Schlund, der danach gierte, die Stadt zu verschlingen. Nur an den Hausdächern konnte man noch erahnen, wo Land und wo Fluss war.
Schon von weitem erkannte Johannes Karpakow. Sein langer Mantel berührte die Fluten nicht, der Bojar stand auf einem hölzernen Podest, das in den vergangenen Tagen errichtet worden sein musste. Es war ein Lastkran mit mehreren Flaschenzügen, die üblicherweise von den Schauerleuten bedient wurden. Wie hölzerne Inseln lagen mehrere Kähne um das Podest herum vertäut. Fluchtinseln, wurde Johannes klar. Die kleinen Archen für die Erwählten, die die Zerstörung der Stadt überleben wollten. Er kämpfte sich immer weiter durch das Wasser, bis er stolperte und mit einem Mal beinahe in die Fluten gerissen wurde. Angestrengt hielt er Ausschau, aber es zeigte sich keine Russalka. Dafür erblickte er Derejew. Angst presste mit ihrer kalten Hand seine Kehle zusammen. Jelena – da war sie, an die Kette gelegt wie ein Tier. Karpakow hat die Perle tatsächlich, wurde Johannes klar. Der Wind drehte sich und trug die Fetzen der Worte zu ihm herüber.
»Rufe sie!«, schrie Derejew Jelena an. Johannes konnte sehen, wie Jelena die Zähne zusammenbiss und trotzig den Kopf schüttelte. Sie war bleich wie die Russalka, aber Johannes konnte die Wut in ihren Augen sehen. In diesem Augenblick war er unendlich stolz auf sie. Karpakow hatte sich die Falsche ausgesucht. Derejew holte aus und schlug Jelena ins Gesicht.
»Lass sie!«, brüllte Johannes. Ein Soldat wandte sich um, entdeckte ihn und hob sein Gewehr und legte an. Der Schuss peitschte durch die Luft. Johannes warf sich ins Wasser, tauchte unter und fühlte, wie die Strömung ihn fortzog. Als er wieder auftauchte, beobachtete er, wie der Soldat sich suchend umsah und dann wohl beschloss, dass er sein Opfer getroffen hatte. Johannes schnappte nach Luft und versuchte sich wieder einen Überblick zu verschaffen. Was auch geschah, er musste Jelena befreien. Etwas lief nicht so, wie Derejew und Karpakow es geplant hatten. Keine Russalka ließ sich blicken. Noch ein Stück ließ Johannes sich mitziehen, dann war er mitten in einer Menschenmenge, die sich um das Podest scharte. Als er hochblickte, sah er, wie Derejew Jelena zu Karpakow stieß. Ein Messer blitzte auf, und ehe Johannes das Podest erreicht hatte, zuckte es herab. Jelena schrie.
»Ruf sie«, rief Karpakow. Seine Stimme war heiser und laut wie ein Donnergrollen, er zwang Jelena in die Knie und hielt ihre Hände über das Wasser. Nun sah Johannes die Stichwunde in ihrem Arm. Im ersten Augenblick war da nur Erleichterung und er verdoppelte seine Anstrengungen, näher zum Podest zu kommen. Der Wind trug Jelenas Blut auf das Wasser hinaus. Johannes glaubte einen klingenden Ton zu hören, als die roten Tropfen auf dem Wasser auftrafen. Die Menge verstummte. Der Himmel erstarrte zu einem bedrohlichen Ölbild, selbst der Wind hielt den Atem an. Jetzt begann von einem Augenblick auf den anderen das Wasser zu schäumen. Erst vereinzelt, dann an immer mehr Stellen brodelte es, ein Zischen und Fauchen erklang, Aalschwänze peitschten das Wasser. Die Newa schien sich von unten nach oben zu kehren. Wie alle anderen duckte sich Johannes vor dem Sprühregen, der auf ihn niederging.
Sie erblühten wie Seeblumen. Unter Wasser waren sie erst helle Flecken, kaum sichtbar im schwarzen Spiegel, dann wurden sie deutlicher. Augen und Kiemen, uralte strenge Gesichter, wie schlafend unter einer Decke aus flüssigem, dunklem Glas. Eines nach dem anderen durchbrachen die Gesichter die Wasseroberfläche. Die Menschen, die bis zu den Oberschenkeln im Wasser standen, stöhnten auf und wichen zurück. Einige Soldaten schlossen ihre Fäuste um die Griffe ihrer Hellebarden. Andere begannen sich zu bekreuzigen.
Manche der Wassergeschöpfe waren so alt wie die ältesten Mooreichen auf dem Grund der Sümpfe. Schuppen und knöchrige Höcker glänzten im fahlen Schein des Sturmhimmels. Verletzt und wütend waren sie, aber doch hoffnungsvoll – einen Schritt von der Ewigkeit entfernt, schwebend zwischen Tod und Leben, eine Armee von Wesen, so unberechenbar und gefährlich wie das Meer. Angst bemächtigte sich Johannes’ – die uralte Angst, gejagt und verschlungen zu werden. Krampfhaft versuchte er seine Russalka zu entdecken. Dort war sie – menschlicher als ihre Gefährten, aber alles Weiche, Liebliche war aus ihrem Gesicht verschwunden. Pferde scheuten, klagend wichen Karpakows Verbündete zurück.
»Flieht!«, schrie Jelena den Russalkas zu. »Flieht! Er hat die Perle nicht! Er hat sie ni …!« Ihr Schrei riss ab, stattdessen ertönte ein dumpfer Schlag. Karpakows Faust war Eisen, das Jelena niederschlug. Das Mädchen stöhnte und sackte auf die Knie. Johannes stürzte sich in die Fluten. Karpakow setzte den Fuß auf Jelenas Hüfte und stieß sie ins Wasser. Unendlich erschien Johannes der Augenblick. Er sah, wie sie sich in der Luft überschlug, glaubte jeden einzelnen Wassertropfen zu erkennen, bis das gierige Maul der Newa sie verschlang. »Russalka!«, brüllte er, aber der Wind schlug ihm seine eigenen Worte ins Gesicht. Wellen schwappten ihm in Nase und Mund. Er pflügte durch das Wasser, verschluckte sich und schwamm weiter, besessen davon, die Stelle, an der Jelena versunken war, nicht aus den Augen zu verlieren. Etwas Schnelles, Heißes zischte an seinem Ohr vorbei. »Russalka!«, schrie er verzweifelt. Das Gesicht seiner Nixe wandte sich ihm zu. Sie schien aus einem Traum zu erwachen. »Jelena!«, rief er. »Hol sie an die Luft!«
Die Nixe sah ihn an, zu seiner Erleichterung schien sie ihn zu verstehen. Sie fauchte ihn an und tauchte ab. Wenige Augenblicke später sah Johannes, wie sie ein Stück stromabwärts wieder auftauchte – Jelena in den Armen. Bleich lag das Gesicht der Bewusstlosen an ihrer weißen Schulter. Mühsam suchte Johannes Grund mit den Füßen. »Bring sie zu mir«, rief er. Aber die Nixe hörte nicht – sie blickte an ihm vorbei, trauriges Erstaunen in ihrem Gesicht, das plötzlich wieder so menschlich und schön war wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Jähes Erschrecken ließ Johannes herumfahren. Japsend beobachtete er, wie Karpakow sich dem Ufer zuwandte. Dort stand Derejew -und neben ihm eine hagere Gestalt in einem flatternden Grenadiersrock. Mitja hatte die Hand erhoben und sah aus, als wollte er der Russalka zuwinken. Johannes konnte die Verwirrung in seinen Augen nur zu gut ablesen.
Der Gottesnarr entdeckte seine geliebte Nixe und begann zu strahlen. »Russalka!«, rief er. »Heute holt die Flut die Heuschrecken!« Mit einem Schaudern erkannte Johannes einen zerschlissenen Beutel in Mitjas Hand. Der Narr und die Nixe, summte es in seinem Kopf wie ein Lied. Vielleicht ist es eine Lösung.
»Sie wird dich nicht mitnehmen«, rief Karpakow dem Narren zu. »Du kannst es ihr nicht befehlen. Ich aber – ich kann es ihr sagen. Ich bin der Hüter des Schatzes!«
Mitjas sah aus wie ein ernsthafter, wenn auch verwirrter junger Mann. »Hüter des Schatzes«, wiederholte er.
»Der Gottesnarr weiß die Antwort!«, rief Karpakow den Menschen am Ufer zu. »Gott selbst wird mir die Macht geben über den Zaren. Ich bin euer Erlöser vom Zarenjoch. Verrecken wird dieser Knechter und mit ihm diese Stadt! Ersaufen werden alle, die mir nicht folgen.« Die Soldaten am Ufer, die bisher stumm vor Staunen gewesen waren, wurden unruhig. Panik breitete sich aus. Aber Karpakow glaubte seinen eigenen Worten, es war ihm bitterernst. »Gib mir die Perle!«, sagte er sanft.
Endlich hatte Johannes es geschafft, an Land zu kommen. »Er lügt!«, schrie er Mitja zu. »Du bist der Hüter der Perle – du hast sie in der Hand. Gib sie der Russalka! Jetzt!« Mitja zögerte. Gesichter wandten sich Johannes zu. Nun entdeckte ihn auch Derejew. Mitja warf einen Blick auf ihn, sah zu Johannes’ zerschundenem Gesicht, sah die Russalka in den Fluten. Das Wiedererkennen glitt wie ein Sonnenstrahl über seine Züge.
Im nächsten Augenblick sprang Derejew vor und packte den Gottesnarren. »Gib sie mir!«, keuchte er und griff nach der Perle. Aber Mitja wehrte sich. Derejew hob seine Pistole. Im nächsten Augenblick peitschte ein Schuss. Feuer fraß sich in Johannes’ Schulter, der Schlag warf ihn zurück ins Wasser. Das Letzte, was er sah, waren Derejews vor Hass verzerrtes Gesicht und Mitja, der ihn wie ein Bär umklammerte. Der klagende Ruf der Russalka durchschnitt das Wasser. Verzweifelt kämpfte sich Johannes wieder an die Oberfläche. Kein Blut färbte das Wasser um ihn herum, und als er einen flüchtigen Blick auf seine Schulter warf, erblickte er zu seiner Überraschung keine tiefe Wunde, sondern nur verbrannte Haut und eine seltsam gerade Spur im Fleisch. Dafür blutete Mitja. Ein roter Fleck breitete sich auf seiner Uniform aus. Langsam ging der Gottesnarr in die Knie. Seine Hand fiel von Derejews Faust, die die Perle der Russalka umklammert hielt.
»Er hat den Gottesnarren getötet«, wisperte es in der Menge. »Den Gottesnarren!« Paradoxerweise fühlte Johannes sich an die Szene erinnert, als er am Newaufer stand, wo ein ertrunkenes Mädchen geborgen worden war – vor Ewigkeiten, wie ihm schien. Derejew sah sich um, ein Schuss peitschte über ihn hinweg. »Mörder!«, gellte es aus den Reihen. Mit wenigen Sätzen erreichte der Oberst das Gerüst und schwang sich auf die Plattform. Von dort aus sprang er mit Karpakow auf einen der Lastkähne und löste das Seil. Karpakow lächelte, als er das Säckchen mit der Perle in Empfang nahm. Er schien zu wachsen wie ein Schatten. Seine dunklen Augen fanden Johannes, der im Wasser stand, fassungslos, in der Brust das brennende Feuer der Enttäuschung.
»Holt die Wasser!«, befahl der alte Bojar den Russalkas. »Verschont uns und ertränkt den Zaren, zerschmettert die Stadt!« Seine Stimme donnerte über das Wasser. Die Wälle der gegenüberhegenden Festung waren schwarz von Menschen, die auf die Newa starrten.
Erschießt ihn!, bettelte Johannes in Gedanken. So viele Kanonen für Kreuzfeuer – und niemand sieht, was hier geschieht!
Karpakow holte die Perle aus dem Beutel und warf sie in die Luft. Sie drehte sich, ein vollkommener Blutstropfen. Ein Fauchen ging durch die Reihen der Russalkas, Wellentäler bildeten sich, es war ein gewaltiges Atemholen. Johannes konnte spüren, wie die Fessel von Karpakows Befehl sich um den Willen der Nixe schlang. Immer noch hielt sie Jelena in den Armen. Für kurze Zeit war sie noch die Russalka – seine Russalka, deren Blick auf Mitjas totem Körper ruhte. Der Narr lag im Wasser wie ein Kind auf einer Sommerwiese, seine Hand trieb offen und dem Himmel zugewandt auf den Wellen.
»Lass Jelena nicht los!«, flehte Johannes gegen den Sturm. »Bitte, lass sie nicht los!« Aber die Russalka gehorchte nun dem Fluss, wurde eins mit dem Befehl, auf den sie viele Jahrhunderte gewartet hatte. Ein letztes Mal trafen sich ihre Blicke und Johannes sah in das Gesicht des Todes. Schwarz und grausam waren die Augen des Wesens, das sich nun über Jelena beugte, sie küsste und losließ. Jelenas Gesicht versank wie eine Blüte, die ein Fisch unter Wasser zieht.
»Nein!«, schrie Johannes, dann warf er sich wie besessen in das Wasser und schwamm, bis seine Arme taub waren. Fluten warfen ihn herum, aber es war ihm gleichgültig, ob er ertrinken würde. Aus dem Augenwinkel sah er eine gewaltige Flutwelle, die sich am Horizont auftürmte, er fühlte den Sog gewaltiger als einen Orkan und wusste, dass er und alle anderen in dieser Stadt verloren waren. Er tauchte und bekam einen Arm zu fassen, in den die Fesseln tief einschnitten, aber der Sog entriss ihm seine Beute, ließ ihn trudeln, drückte ihm Wasser in die Lunge und wirbelte ihn herum, bis sein ganzer Mund voll sandigem Newaschlamm war. Hass wallte in ihm auf. Ein Gesicht erschien neben ihm, älter als die anderen, schrecklicher, ein Seeungeheuer, von dem er dachte, es würde ihn verschlingen. Schuppen rieben an seiner Kehle, das Flusswesen drückte ihn gegen etwas Hartes. Reflexartig griff Johannes zu. Es war der Lastkahn. Wie ein Korken trieb er auf dem Wasser, gehalten und gehütet von Russalkas. Auf den Knien lag Karpakow darauf. Er und Derejew duckten sich vor den Schüssen, die die Soldaten am Ufer in Panik abfeuerten. Die gewaltige Woge walzte heran. In wenigen Augenblicken würde die Stadt vernichtet werden. Zurückbleiben würden die Reste einer Sandburg, die eine gewaltige Welle zerstört hatte, und die Tränen eines enttäuschten Kindes.
Johannes war blind vor Schmerz; alles, was er sah, war Karpakow. Alle Predigten, die er in seinem Leben gehört hatte, fielen ihm ein. Aber er dachte gar nicht daran, zu verzeihen, er wollte die Rache nicht dem Himmel überlassen. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Karpakow. Der alte Bojar fuhr herum. Aus seiner Kehle kam ein erstickter Schrei, dann lagen schon Johannes’ Hände um seinen Hals. Er drückte zu, bis das bärtige Gesicht rot anlief und die Augen aus den Höhlen quollen. Es erstaunte ihn beinahe, dass es noch eine andere Welt außerhalb dieses Hasses gab, eine nasse Welt, starke glatte Arme, schnappende Zähne. Es war die Russalka. Seine Russalka. Aber nun waren ihre Augen ganz und gar schwarz, Zähne glänzten im Sturm. Sie fauchte ihn an und er erkannte, dass sie ihn töten würde. Mit einer schlängelnden Bewegung bog sie seine Hände auf. Wasser kroch ihm unter die Arme, riss ihn hoch und schleuderte ihn fort. Während die Wellen ihn herumwarfen, sah Johannes, wie sich Karpakow, den die Russalka gerettet hatte, keuchend an die Kehle griff und hustete.
* * *
Ob er tot war, konnte er nicht sagen, aber für die Hölle war es eindeutig zu nass. Außer dem Schmerz in seiner Schulter spürte er kleine Wellen, die wie übermütige Welpen an seinen Unterschenkeln leckten. Da war Strömung, aber er lag auf etwas, das hart und kalt war. Vorsichtig öffnete er ein Auge. Der Horizont war immer noch da. Die Russalka hat Karpakow gerettet, dachte er. Und der nächste Gedanke, der ihm ein glühendes Eisen in die Brust stieß: Und Jelena hat sie ertrinken lassen. Bitter schmeckte die Luft, die zu atmen er verdammt war. Es tat weh, den Kopf zu heben.
Er hatte gedacht, dass nichts ihn überraschen könnte. Nun, wie gründlich hatte er sich geirrt! Er trieb auf einem großen Stück Treibholz – es mochte der Unterbau eines Lastkahns gewesen sein. Seine Beine hingen halb im Wasser, das ungewöhnlich kalt war. Der Horizont erstreckte sich vor ihm wie ein silbernes Tuch, rechts von ihm trieben Sandbänke vorbei. Er musste weit hinter Fürst Menschikows Insel sein, vor sich den Finnischen Meerbusen, rechts, in Sichtweite, die Festung Kronstadt im Meer. Da war keine Flutwelle mehr. Er sah nur silberne Ruhe und die Klarheit eines diamantenen Himmels nach dem Sturm. Sankt Petersburg war verschwunden, aber im Moment war es Johannes auf seltsame Weise gleichgültig. Jeder Wellenschlag brachte ihm die Erinnerung an ein schmales blasses Gesicht, das ihm unwiderruflich und für immer entglitten war. Er hätte jede Stadt der Welt eingetauscht, um noch einmal Jelenas Stimme zu hören.
»Ein Leben für ein Leben«, sagte eine leise Stimme neben ihm. Wieder blinzelte er und erkannte eine Gestalt vor dem Horizont. Weiße Arme lagen auf dem Treibholz, ein Mädchengesicht sah ihn an. Die Augen schimmerten wie schwarzen Perlen.
»Was?«, flüsterte er, denn seine Stimme war unwillig und schabte in seiner Kehle wie ein Hobel über sandiges Holz. Er räusperte sich.
Die Russalka lächelte. »Wir haben das Versprechen erfüllt«, erklärte sie und bettete das Kinn auf die perfekten Hände. Ihre Fingernägel schimmerten.
»Ja«, erwiderte Johannes bitter. »Ihr habt getötet auf Karpakows Geheiß – und ihn selbst habt ihr gerettet.«
Ihr Lächeln wurde noch feiner. »Du verstehst nicht«, meinte sie nachsichtig. »Ein Leben nehmen oder ein Leben geben, so lautete der Pakt. Er wollte, dass wir Leben nehmen, das Leben des Zaren – aber wir retteten stattdessen seines. So war das Versprechen erfüllt.«
Nur langsam sickerten ihre Worte in sein Bewusstsein. »Wenn ich ihn nicht hätte töten wollen, hättet ihr seinem Befehl folgen müssen?«
Sie nickte.
»Ihr musstet ihm das Leben retten – und der Befehl?«
»Die Wasser haben wir zurückgeschickt.«
»Aber die Stadt …«
»Sie steht.« Sie verzog den Mund und Johannes wurde mit grimmiger Trauer bewusst, dass auch die Russalka einen Verlust erlitten hatte.
»Nur der Narr und Jelena werden Sankt Petersburg nicht mehr sehen«, flüsterte er. Er hatte nicht geahnt, dass selbst die Nennung eines Namens mehr schmerzen konnte als ein Fausthieb. Aber es würde viel geben, was er lernen musste. Atmen zum Beispiel. »Nun, Mitjas Wunsch ist erfüllt«, sagte er.
Die Russalka strich sich ihr smaragdschwarzes Haar aus der Stirn, eine Geste der Verlegenheit und der Trauer. »Vielleicht. Wünschen ist so einfach für euch – mit dem erfüllten Wunsch zu leben dagegen so schwer.«
»Nicht im Tod«, erwiderte er.
»Ja«, wisperte sie. »Seine Seele ist nun Teil des Meeres. Ich höre ihn lachen.«
Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Johannes brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er weinte. Auf seinem vom Wind gekühlten, nassen Gesicht brannten die Tränen wie heißes Wasser.
Die Russalka sah ihn entsetzt an. »Was ist?«, rief sie. »Warum weinst du?«
»Warum?«, brachte er hervor. »Warum wohl, du Bestie! Jelena – erinnerst du dich an sie? Wie konntest du sie im Stich lassen? Hörst du sie? Hörst du sie auch lachen?«
»Im Augenblick nicht«, antwortete die Nixe. »Aber vielleicht ändert sich das, sobald sie aufwacht.« Beim Blick in sein verblüfftes, zorniges Gesicht musste sie kichern. Das Holz schlingerte, als Johannes sein Gewicht verlagerte und sich umwandte. Etwas, das die ganze Zeit hinter ihm gelegen hatte, kam ins Rutschen. Er konnte gerade noch danach greifen. Bevor der Körper, der am Rande des Treibguts gelegen hatte, in die Fluten driftete, gelang es ihm, ein Handgelenk zu fassen. Sein Mund war mit einem Mal trocken wie ein Sack voll Sägemehl. Vorsichtig zog er an dem Unterarm, den er nie wieder losgelassen hätte – für alle Schätze der Welt nicht. Schwach nur spürte er unter seinen Fingern einen Pulsschlag. Sie lebte! Es gelang ihm, Jelena behutsam wieder auf das Holz zu ziehen. Eine glitzernde Kaskade wie von einem Springbrunnen rieselte auf das Boot herunter. Übermütig hatte die Russalka sich im Wasser herumgeworfen. Johannes nahm Jelena in die Arme und drückte sie an sich.
»Ich habe ihr etwas geschenkt«, sagte die Russalka. »Einen Kuss – genug Atem, um das Herz schlagen zu lassen, bis ich sie vom Grund holen konnte.«
»Warum hast du mich nicht geküsst, als du mich durch den Fluss getragen hast?«
»Du verschenkst deine Küsse vielleicht wahllos – ich nicht.«
In diesem Moment verkrampfte sich der Körper in seinen Armen. Jelena würgte, ihre Lider flatterten. Mühsam schlug sie die Augen auf und sah Johannes an, als würde sie ihn nicht erkennen. Widerwillig ließ er es zu, dass sie sich aus seiner Umarmung wand. Auf Knie und Hände gekauert hustete sie, bis er schon befürchtete, sie würde nun, da sie nicht ertrunken war, stattdessen ersticken.
Hinter der Russalka erschien ein Gesicht, dann ein weiteres, Strudel bildeten sich, als nach und nach die Russalkas auftauchten und das zertrümmerte Boot umkreisten. Jelena schlug die Hände vor den Mund und betrachtete die Wesen, als würde sie sie zum allerersten Mal sehen. Bei der Russalka, ihrer Russalka, verharrte sie.
»Ich danke dir«, sagte die Nixe mit ihrer Flussstimme.
Die Sonne kam hervor und ließ sie leuchten. Ein letztes Lächeln schwebte über dem Wasser, dann tauchten die Gesichter unter. Eine Russalka nach der anderen verabschiedete sich stumm von ihrer Hüterin. Schließlich hob auch Jelenas Russalka die Hand. Jelena zitterte, als sie den Abschiedsgruß erwiderte. Das Letzte, was Jelena und Johannes von den Newanixen sahen, war ein Glitzern unter der Wasseroberfläche, das in der Tiefe erlosch wie ein Kerzenlicht. Zurück blieb die wasserdunkle Ewigkeit.
* * *
Jelena weinte lange und Johannes, der nicht wusste, was er ihr hätte sagen können, hielt sie einfach nur fest und ließ sich von ihrer Trauer über den Verlust ihres Lebens, ihrer Nixen, ihres Daseins durchdringen. Er stellte sich vor, wie die Nixen durch das Wasser trieben, mit dem Schatz in den Händen, der leuchtenden roten Perle, die sie wie ein Weglicht zum Herzen der See führte. Und er sah Mitja vor sich, den Narren, der dort angelangt war, wo er immer hatte sein wollen. Als Strandgut am Ufer zurückgeblieben war Jelena. Nach einer Weile befreite sie sich sanft aus seiner Umarmung. Stumm einigten sie sich darauf, zurückzukehren. Zurück in die Stadt, in der die Lebenden darauf warteten, dass die Sturmflut sich endgültig zurückzog. Holz, das vorbeitrieb, nahmen sie als Paddel und wendeten ihr provisorisches Boot. Schweigend ruderten sie, den Westwind im Rücken, während die Sonne höher und höher stieg.
Links von ihnen ragte die Festung Kronstadt aus dem Meer. Wahrscheinlich beobachteten die Soldaten durch ein Fernrohr die zwei Schiffbrüchigen, die tapfer weiterpaddelten. Nach und nach kamen Schiffe in Sicht, dann die ersten Häuser. An den Ufern ging das Wasser langsam zurück. Menschen saßen auf Bäumen, zerbrochenes Treibgut säumte die Newa wie ein bizarres Halsband.
»Es tut mir Leid«, sagte Johannes nach einer Weile.
Jelena sah ihn an und lächelte. Der Horizont, eine spiegelnde Scheibe, glitt hinter ihr vorbei. »Warum? Seit ich geboren wurde, habe ich geahnt, dass ich sie eines Tages verlieren würde. Sie werden leben – nur das zählt.«
Ihr Lächeln ermutigte ihn und unter dem Schatten, der immer noch über ihm schwebte, dem Schatten des Todes, der sie ihm beinahe weggenommen hätte, schwor er sich, nie wieder Zeit zu verschwenden. »Mich hast du nicht verloren«, sagte er. »Ich … werde Schiffe bauen. Wir können über das Meer fahren. Wir sind frei – du und ich.«
Das Lächeln verschwand, ihre braunen Augen leuchteten in der Sonne wie dunkler Bernstein. Sie schwieg und er fühlte sich wie ein Mann, der einen Ertrinkenden retten möchte und verzweifelt versucht das Seil nicht loszulassen.
»Hast du nie davon geträumt, über das Meer zu fahren?«, fragte er zaghaft.
»O doch«, antwortete sie. »Seit Ewigkeiten träume ich davon. Aber …« – die alte Ironie schlich sich wieder in ihre Worte – »… bringen Frauen auf den Schiffen nicht Unglück?«
»Auf unserem nicht«, sagte er mit fester Stimme. »Wir können segeln bis nach Kopenhagen, nach Hamburg oder über das Adriatische Meer nach Venedig.«
»In die Nähe der Russalkas?«, fragte sie leise.
»Wir werden ihre Träume stören«, erwiderte er und lachte.
Ihr Lächeln war fadenfein und zerbrechlich wie ein Glasgespinst. Er machte den Fehler und zerschlug es mit seiner Stimme. »Also kommst du mit mir?«
Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. Er machte einen weiteren Fehler. »Warum?«, rief er. »Was ist los? Liegt dir überhaupt nichts an mir? Wenn es das ist, dann sage es!«
»Hör auf«, fuhr sie ihm scharf dazwischen. »Verstehst du denn nicht? Du kehrst zurück in dein Leben. Ich dagegen habe mein Leben soeben verloren. Ich war eine Muschel, die eine Perle hütete – nun ist von mir nur noch eine Schale übrig.«
»Aber wir …«
»Lass es!«, schrie sie ihn an. »Du verstehst es nicht.« Die Endgültigkeit ihrer Worte nahm ihm jeden Mut. Hilflos starrte er sie an. »Lass es, Brehmow«, sagte sie leiser.
»Johannes heiße ich«, antwortete er. Es klang kläglich. Jelena blickte mit ausdruckslosem Gesicht dem Ufer entgegen, das Paddelschlag für Paddelschlag näher auf sie zuglitt.