Iwan
Der Weg zurück erwies sich als hundertfach schwieriger als der Hinweg. Nach kurzer Zeit setzte ein Nieselregen ein, der den Boden aufweichte und sie trotz der Sommerluft frieren ließ. Die wenigen Stunden, die sie sich als Rast gönnten, vergingen in hastigem Dämmerschlaf, begleitet von seltsamen, dumpfen Träumen, in denen Johannes sich von Wasser umgeben sah. Schlammig war es und so zäh, dass es jede Bewegung erstickte. Bilder von Gesichtern huschten an ihm vorbei, aber sie waren gespenstisch und nicht greifbar, auch wenn er die Züge von Michael und Marfa zu erkennen glaubte. Die Zukunft schnappte zu wie eine Falle und hielt ihn atemlos und verzweifelt fest. Wenn er erwachte und ihm das Regenwasser aus den Haaren lief, war der einzige Trost, den er verspürte, Jelenas Gegenwart. Ohne ein Wort suchten sie in der Dunkelheit die Nähe des anderen und drängten sich aneinander wie Katzen. In diesen Stunden sprachen sie nicht, aber Johannes lernte eine neue Jelena kennen, ein Mädchen, dessen Hände er in den seinen wärmte und das nicht so barsch und abweisend war wie Jewgenij. Schritt für Schritt schien sie in seiner Gegenwart die Maske von Jewgenij abzulegen. Zurück blieb ein sehr trauriges Mädchen, das nicht ja und nicht nein sagte. Kälte und Fieber krochen ihnen in die Glieder. Feuer wagten sie nicht zu machen – ohnehin war das Holz so nass, dass sie damit nur einen weit in den Himmel reichenden Wegweiser für Derejews Leute gesetzt hätten.
Oft war Johannes sich nicht mehr sicher, ob sie sich auf dem richtigen Weg befanden, aber schließlich wurde der Wald karger. Der Wind blies stärker und immer häufiger aus dem Südwesten. Manchmal glaubte Johannes bereits die Brise von Salz zu ahnen, aber es musste eine Täuschung sein. In diesen Tagen dachte Johannes oft darüber nach, wie unendlich groß das Zarenreich war. Und wie klein er selbst, der wie eine Ameise versuchte in die Nähe der Newa zu gelangen. Jeder Schritt schien sie in den schlammigen Grund hineinzusaugen und der Wind blies ihnen so stark entgegen, dass Johannes das Gefühl hatte, er wollte sie von ihrem Ziel fern halten. Die Sorge um Michael und Marfa begann an ihm zu nagen und er fragte sich, ob er Derejew nicht unterschätzt hatte. Immer wieder sah er die Namen vor sich, die Karpakow aufgeschrieben hatte. Was für ein Plan! Einen Deutschen als Mörder zu präsentieren. Jelena schien nicht müde zu werden. Sie war zäh wie ein Maultier, musste er zugeben. Obwohl er viel größere Schritte machte, war sie oft schneller als er.
Johannes wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren – einen Tag, zwei oder vielleicht auch schon hundert –, als er hinter sich das Echo eines Rufs vernahm. Noch war es Nacht. Der Wind trug Hufschlag mit sich. Johannes und Jelena sahen sich an. Panik ließ sie erstarren. Derejews Leute? Mitten im Wald? Im nächsten Augenblick war wieder alles still. Nur zu gern wollte Johannes glauben, dass ihre Ohren ihnen einen Streich gespielt hatten, aber im nächsten Moment wussten sie es beide: Jemand folgte ihnen. Es war kein Geräusch, das sich ausmachen ließ, eher eine Ahnung, dass stets ein Schritt verebbte, sobald sie innehielten. Stumm gab Johannes Jelena ein Zeichen. Sie nickte kaum merklich. Unauffällig gingen sie einen Bogen, liefen immer weiter auseinander, bis sie die Richtung der Geräusche ausmachen konnten, dann trat Johannes fester auf und lenkte den Verfolger mit dem Lärm seiner Schritte ab, während Jelena sich auf einen Baum schwang – lautlos und so rasch, dass sie aussah wie ein seltsamer Affe.
Im nächsten Moment hörte Johannes ein Knacken und fuhr herum. Ein Schatten huschte durch das Unterholz. Mit wenigen Sätzen war Johannes bei ihm. Es behagte ihm nicht, einen Wächter niederschlagen zu müssen, aber einen Verräter konnten sie nun am allerwenigsten brauchen. Jelena sprang. Der Mann gab ein entsetztes Grunzen von sich. Eine Faust traf Johannes’ Kinn mit solcher Wucht, dass er taumelte. Durch einen schmerzroten Schleier sah er, wie Jelena auf dem Rücken eines Soldaten landete und ihm den Kopf zurückbog. Johannes sprang auf und holte aus. Seine Faust traf den Mann mitten in die Magengrube und presste ein Keuchen aus dem gekrümmten Körper. Noch während Johannes das zweite Mal ausholte, hatte sein Kopf begriffen, wen er vor sich hatte. Der zerschlissene Uniformrock rutschte über eine bloße Schulter.
»Mitja!«
Der Gottesnarr schwankte wie ein verwundetes Pferd unter seinem Reiter, strauchelte und ging zu Boden. Jelena sprang von seinem Rücken. »Mitja – o Himmel, wir haben Mitja verletzt!«
Johannes stürzte zu dem Narren und drehte ihn behutsam um. Mitja hielt sich den Bauch und rang nach Atem. »Er ist nicht verletzt«, versuchte Johannes sich selbst und Jelena zu beruhigen. »Mitja, ruhig bleiben. Atmen, hörst du?«
Mitjas Gesicht war krebsrot, die Augen quollen hervor, aber nach und nach schöpfte er stockend wieder Luft. Erleichtert beobachteten sie, wie der Gottesnarr sich auf die Seite wälzte und aufsetzte. Sein Blick irrte zu seinen Händen, die schlammverschmiert waren. »Derejew!«, stöhnte er.
Jelenas Körper spannte sich. »Wo?«, flüsterte sie und sah sich um.
Mitja machte eine verschlungene Geste, die Johannes nicht verstand, kam taumelnd auf die Beine und floh.
»Wir sollen ihm folgen«, raunte Jelena Johannes zu.
So leise wie möglich rannten sie durch das Unterholz. Johannes staunte über Mitja, der plötzlich zu einem Schatten wurde. Alle Plumpheit war aus seinem Körper gewichen. Johannes erinnerte sich an die Worte der Russalka. Mitja liebte den Wald. Bei einem Baum blieb er stehen und bog einige Ranken und Klettergewächse zur Seite. Ein Loch erschien – der Baum war hohl! Ein Ruf ertönte, nun war auch der Hufschlag ganz deutlich zu hören. Flinker als ein Fuchs verschwand Jelena im hohlen Stamm, Johannes sah in die weit aufgerissenen schlammgrünen Augen des Gottesnarren und folgte ihr. Mitja schob Johannes in den Stamm, dann ließ er die Ranken über die Höhle fallen und rannte wie der Teufel davon. Sie klammerten sich so eng aneinander, dass sie den rasenden Herzschlag des anderen spüren konnten. Im Baum roch es nach faulendem Holz.
»Ich habe sie gehört!«, rief eine kehlige Stimme. Erschreckend nah schnaubte ein Pferd.
»Verdammt, sie können nicht weit sein! Es sei denn, sie sind auf die Hauptstraße ausgewichen.«
Mitjas Stimme ertönte. Er sang.
»He, Mitja!«, sagte die erste Stimme freundlich. Natürlich, es waren Grenadiere – Mitja brachte ihnen Glück. »Gib es zu – du hast sie dir geschnappt!«
»Immer und niemals«, antwortete Mitja.
»Na, dann zeig uns mal, wo du die zwei versteckt hast!«
Die zweite Stimme lachte.
»Im Baum stecken sie«, sagte Mitja ernsthaft. »Die Arme hängen ihnen aus dem Maul – und aus den Augen fließt der Fluss.«
Die erste Stimme lachte. »Danke, Mitja. Eine große Hilfe bist du.« Und barscher fügte der Soldat hinzu: »He, Dima – zur Hauptstraße, los! Die haben uns gerochen, ich sag’s dir doch!«
Hufschlag verklang. Johannes spürte Schmerz an seinen Armen und begriff erst langsam, dass er von Jelenas Händen rührte, die ihn immer noch umklammerten. Die Ranken raschelten, dann erschien Mitjas besorgtes Gesicht. Ohne ein Wort packte er Jelena und zerrte sie aus dem Stamm. Auch Johannes, der mit seinen langen Beinen nicht mit einem Satz aus dem Stamm herauskam, half er.
»Glück gehabt«, sagte Jelena und strahlte den Narren an. »Danke, Mitja!«
Der Narr brummte, drehte sich um und lief voraus. Endlich kamen die ersten abgeholzten Bäume in Sicht, frische Spuren von Hufen und Zugwerken fanden sich zwischen den Bäumen. Sie hatten den äußersten Ring erreicht, bis zu dem die Arbeiten für die Stadt vorangeschritten waren. Aus weiter Ferne trug der Wind ein paar Rufe zu ihnen herüber. Mit zittrigen Beinen blieben sie stehen, schwach und ausgezehrt nach den Tagen dieser nassen Wanderung. Die tiefe Rille vor ihnen, die ein Baumstamm, der über den Waldboden geschleift worden war, in den Boden gegraben hatte, war mit Wasser gefüllt. In Sankt Petersburg würden einige der Behausungen, die auf Meereshöhe lagen, vom Regen bereits überschwemmt sein.
»Dort geht es zum Fluss«, erklärte Jelena und deutete nach Norden. »In einer Stunde können wir dort sein.«
»Wenn nicht Derejews Leute schon warten.«
Sie zögerten. Nach einer langen Pause räusperte sich Jelena. »Gut. Wir haben Angst. Na und? Wir können von südöstlicher Richtung zum Fluss gehen – weitab von der Stadt, newaaufwärts. Ich werde dort die Russalka rufen.«
Johannes dachte an Onkel Michael. Die Sorge nahm ihm fast den Atem.
Jelena sah ihn mit ernsten Augen an. »Brehmow, du musst nicht mitgehen. Du machst dir Sorgen um Marfa und die anderen. Also geh in die Stadt und lass mich zum Ufer gehen. Es ist … meine Geschichte.«
»Jetzt ist es auch meine«, gab er ungehalten zurück. Warum schaffte sie es so mühelos, ihn wütend zu machen? »Wir gehen beide«, beharrte er. »Was glaubst du, was ich bin – dein Zeitvertreib und Diener?«
»Russalka!«, sagte Mitja.
»Ja«, erwiderte Jelena und strich sich erschöpft über die Augen. »Dorthin müssen wir.«
Die Hand des Narren schoss vor und packte das Mädchen beim Unterarm. »Nein. Neineinein.«
»Was heißt das?«
Mitjas Stimme wurde leise und weinerlich wie die eines Kindes. Er begann den Oberkörper zu wiegen, als wollte er sich selbst in den Schlaf singen. »Katzen schlafen in den Wellen, das weiße Mädchen flieht, die Zwillingsschwester ist tot.«
»Welche Zwillingsschwester?«
»Natascha, die Katze«, sang der Narr. »Katzen und Spatzen liegen in einem Nest. Der Mann, der träumt, trägt den Pflock.« Bei den letzten Worten hatte er ein Stück Holz aus seiner Tasche gezogen und tippte Jelena damit an die rechte Schulter. »Der Mann trägt den Pflock!«, flüsterte er eindringlicher.
»Zeig her!«, bat Johannes. Mitja gab ihm das Holzstück.
Johannes sah es an und erstarrte. »Das hat Iwan gemacht.« Das Begreifen kam langsam, aber dann mit voller Wucht. Er hielt die kleine Madonnenstatue, die derjenigen ähnelte, die Iwan ihm geschenkt hatte, vor Jelenas Gesicht. »Onkel Michael«, sagte er. »Der Mann, der träumt, ist mein Onkel. Michael soll des Mordes an Natascha angeklagt werden!«
Mitja begann zu weinen. Jelena war noch blasser geworden. Sie legte den Arm um den Narren. »Haben sie Michael? Mitja, haben sie ihn?«
Mitja grinste schief. Wieder einmal staunte Johannes, wie verständig der Narr sein konnte, wenn er nur wollte. »Die Glocke schlägt, aber ihr Klang trägt noch die Luft«, antwortete er.
Johannes sprang auf. »Sie sind auf dem Weg zur Werkstatt. Ich muss ihn warnen!«
Jelena sah ihn zweifelnd an. Regen lief über ihr Gesicht. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich komme mit.«
Fackeln brannten in der Septembernacht, die Nachtschicht arbeitete in den Wäldern. Geschickt umrundeten die drei alle Plätze, an denen Holz geschlagen wurde, und gelangten in die unmittelbare Nähe der Stadt. Mitja schien zu wissen, was von ihm erwartet wurde, denn als einer der Posten am Stadtrand in Sicht kam, riss er sich einfach von Johannes los und floh. Einen Augenblick wusste Johannes nicht, was der Narr vorhatte, aber dann hatte Mitja schon den Posten erreicht, fuchtelte aufgeregt mit den Armen und zerrte den Mann weg. Der Posten rief ein paar Soldaten und sie gingen in die Richtung, in die Mitja zeigte, als hätte er dort etwas Ungewöhnliches entdeckt. Genug Zeit für Jelena und Johannes, ungesehen Zar Peters neue Stadt zu betreten. Einige Augenblicke warteten sie auf Mitja, aber der Narr hatte sich offensichtlich davongemacht und lenkte die Soldaten ab.
Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert. Die Bauarbeiten im Sumpf waren weiter fortgeschritten, mehr Erde war aufgeschüttet worden, einige Gebäude waren ein Stück gewachsen. Johannes musste sich klar machen, dass sie nicht Monate weg gewesen waren, sondern nur wenige Tage, obwohl ihm die Zeit länger vorkam als die ganze Reise von Magdeburg nach Moskau. Im Bogen schlichen sie sich zur Werkstatt. Erleichtert atmete Johannes auf. In dem Gebäude brannte Licht. Wie immer, wenn er besonders schlecht geschlafen hatte, war Michael aufgestanden und bereitete die Tagesarbeiten vor.
Jelena blickte sich um. »Ich warte hier«, sagte sie leise. »Wenn etwas ist, dann rufe!«
»Danke, Jelena!«
Sie schluckte sichtlich, als sie ihren Namen hörte, aber sie nickte nur knapp und versetzte ihm einen unsanften Stoß in die Rippen. »Geh schon!«, zischte sie ihm zu. »Verschwende nicht noch mehr Zeit!«
Er stand auf und lief zwischen den Häusern hindurch. Der Platz war frei, die Leibeigenen hatten sich vor dem Regen in ihre baufälligen Unterkünfte verkrochen oder sich unter überhängenden Dächern windgeschützte Stellen gesucht. Tröstlich und vertraut fühlte sich die hölzerne Klinke der Werkstatttür an, die Johannes herunterdrückte. Er atmete tief durch und trat leise ein. Holzduft schlug ihm entgegen und eine trockene Wärme, die ihm nach den vielen Tagen im Regen gut tat. Er war überrascht zwei Leute zu sehen, die an der Werkbank saßen. Zwischen sich hatten sie eine Kerze. Er waren nicht Michael und Marfa. Es waren ein Soldat und Mitja.
»Endlich«, sagte eine wohl bekannte Stimme. Schatten erhoben sich in der Dunkelheit der Werkstattwinkel und traten ans Licht. Derejews Augen blitzten spöttisch auf. »Nehmt ihn fest.«
»Derejew!«, brüllte Johannes, so laut er konnte. Er schnellte los, aber es war zu spät. Ehe er den Soldaten, der vor der Werkbank aufsprang, mit einem Fausthieb niederstrecken konnte, traf ihn von hinten ein harter Gegenstand am Kopf. Wie ein verhallendes Echo hörte er Mitjas Schrei und sah, wie der Narr aus der Werkstatt floh, dann taumelte die Wirklichkeit davon.
Als sie wieder herankroch, verwandelte sie sich erst einmal in den Geschmack von Blut und das Gefühl von Schmerz. Wasser rann ihm in den Kragen und das Hemd klebte an seinem Körper. Mühsam blinzelte er und fragte sich, ob er Mitjas Gegenwart nur geträumt hatte. Nun war er allein in der Werkstatt – allein mit Derejew. Nein, halt, da waren noch zwei Soldaten – rechts und links standen sie neben ihm und hielten ihn mit grobem Griff aufrecht.
Derejews Augen waren hartes, glänzendes Glas. »Du wolltest den Fischerjungen warnen, nicht wahr?«, meinte er nun mit einem ironischen Lächeln. »Vergebliche Mühe, mein Freund. Er war es, der dich zu uns geführt hat.«
»Du lügst!«, schrie Johannes ihn an. »Lass mich los, du feiges Schwein!«
»Langsam, Johannes«, sagte Derejew. Er betonte den Namen mit so viel Verachtung, dass Johannes glaubte wahnsinnig zu werden. »Du bist ein Mörder, weißt du?«, fuhr der Oberst in aller Ruhe fort. »Wir haben Zeugen.«
»Lasst mich los und ihr erlebt einen Mörder!«, zischte Johannes. Der Soldat rechts von ihm verstärkte seinen Griff. Es knackste in Johannes’ Schulter.
»Das gefällt mir an euch Ketzern«, bemerkte Derejew. »Ihr seid alle Großmäuler.«
»Was hast du mit Michael und Marfa gemacht?«, stieß Johannes zwischen den Zähnen hervor.
»Oh, sie sind auf dem Weg in den Kerker. Sie haben einem Mörder geholfen. Wir haben die Aussagen von Zeugen. Adligen Zeugen, nicht irgendwelchen Bauern, die sich bestechen lassen.«
»Was hast du davon, Derejew? Was hast du von dieser Verschwörung?«
Derejew zog eine Braue hoch. »Nicht viel. Einen Bluthund von Zaren weniger, eine nutzlose Stadt weniger. Wir werden die Festung halten, ja, als Tor zur Ostsee. Aber wir werden nicht mehr nach den Gesetzen eines Deutschen leben.«
»Glaubst du, deine Schwester Marija würde gutheißen, was du hier tust?«
Er konnte kaum so schnell schauen, wie ihn der Schlag am Kinn traf. Erschrocken keuchte er auf und starrte Derejew an. Sein Kiefer pochte. »Wage es nicht, ihren Namen in dein dreckiges Maul zu nehmen!«, brüllte Derejew.
Die beiden Soldaten rissen Johannes, der nach dem Schlag zusammengesackt war, wieder hoch. Bleich wie ein Gespenst war der Oberst plötzlich, seine Augen glommen im Halbdunkel der Werkstatt. Plötzlich grinste er verzerrt. Es sah aus wie das Zähnefletschen eines schwarzen Wolfes. »Wir haben nicht viel Zeit – noch schläft der Zar in seinem Häuschen.« Er gab dem Soldaten zu Johannes’ Linken einen Wink. Dieser griff nach Johannes’ Gürtel und schnitt ihn einfach durch. Der Ledergürtel und der Beutel fielen zu Boden. Johannes biss die Zähne zusammen und verfluchte sich für seine Dummheit. Warum hatte er Jelena nicht die Perle gegeben? Der Beutel flog durch die Luft und Derejew fing ihn mit einer nachlässigen Geste auf. Er lächelte und drehte ihn über seiner linken Hand um. Einen Wimpernschlag später verlosch dieses Lächeln wie zischende Glut unter einem Wasserschwall. Auf seiner Hand lag ein Stein. Hübsch und rund war er, ebenso groß und vermutlich nur wenig schwerer als die Perle. Fassungslos starrte Johannes den grauen Wechselbalg an. Sturmregen klatschte gegen die hölzernen Wände der Werkstatt. Derejews Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze der Wut. Jelena, dachte Johannes. Jelena hatte die Perle genommen. Aber warum?
»Wo ist die Perle?«, brüllte Derejew.
Johannes presste die Lippen zusammen und schwieg. Das war ein Fehler. Der Oberst ließ ihm kaum Zeit, den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen. Schon traf ihn ein weiterer Schlag mitten ins Gesicht. Sein Kopf drohte zu zerspringen wie ein Scheit unter dem Hammer. Finger gruben sich wie Eisenklammern in seine Arme. Schmerz zuckte durch seine Schultern. Derejews Hand packte sein Haar und riss seinen Kopf zurück. »Wo?«
Johannes antwortete nicht. Angst würgte ihn, er wäre jede Wette eingegangen, dass er sterben würde. Nun kam es nur noch darauf an, zu schweigen und Jelena Zeit zu geben, zur Newa zu kommen. Ein neuer Gedanke leuchtete in seinem Kopf auf – brennend rot und unangenehm. Hatte Jelena ihn verraten?
»Prügelt es aus ihm heraus«, sagte Derejew und ließ ihn los.
Sie machten ihre Sache gründlich. Als Johannes viel später erwachte, klebte seine Lippe am Holz. Er war nicht besonders stolz darauf, Jelena nicht verraten zu haben. Es lag nicht an seinem Mut, es lag daran, dass der Schmerz ihm die Sprache genommen hatte. Als er bewusstlos geworden war, hatten sie von ihm abgelassen – vermutlich um später wiederzukommen. Er stöhnte. Aber nun war es still um ihn. Zumindest das. Kein Gebrüll, das in seinen Ohren zerbarst, kein Holz, das auf seinem Rücken zersplitterte und sich in seinen Magen bohrte, keine Fäuste mehr und kein Geruch nach Schweiß und Verzweiflung. Auf seinen Augen lagen zwei dicke Schichten öligen Leinens, und als er unter größter Anstrengung blinzelte, verriet ihm ein Brennen, dass es seine eigenen geschwollen Lider waren. Blut begann zu sickern und netzte sein Kinn. Vorsichtig bewegte er die Zunge und stellte fest, dass er nur einen einzigen Zahn verloren hatte. Ein Wunder. Nässe kühlte seine Wange, aber es war kein Blut, es war kalt und schmeckte nach Holz. Das trappelnde Geräusch über ihm verwandelte sich in Regen. Sturm heulte um die Häuser. Wie das Wasser durch die Ritzen, so tröpfelte die Erkenntnis in Johannes’ Bewusstsein. Wie lange mochte er hier schon liegen? Einen halben Tag? Einen ganzen?
Er konnte den Kopf nicht heben. Jemand hatte seinen Hals an ein Bein der Werkbank gebunden, so weit unten, dass er mit dem Gesicht an den Boden gedrückt dalag – und durch die Ritzen unter der Tür floss das Newawasser und schwoll Atemzug für Atemzug mehr an. Einen bizarren Moment lang ließ er sich treiben und bewunderte die Aussicht. Es sah aus, als würde er auf einem glänzenden Spiegel dahintreiben. Wenn Derejew und seine Leute nicht bald wieder auftauchten, würde er ertrinken. Allerdings war Ertrinken ihm beinahe lieber. Die Panik fühlte er noch nicht, dafür war die Enttäuschung immer noch frisch und stechend wie der Geruch von Pfeffer. Die Perle. Jelena. Der Plan wäre logisch – sie stahl ihm die Perle und ging zum Ufer. Sie wusste, dass Derejew hier auf ihn wartete und Johannes ihn lange genug ablenken würde. Aber war Jelena bereit ihn für die Russalkas zu opfern? Er wusste wenig von dem Mädchen, das sein bester Freund war, sehr wenig. Verbissen suchte er nach anderen Möglichkeiten. Kolja in der Herberge kam ihm in den Sinn. Waren sie bestohlen worden? Oder hatte Mitja die Perle an sich genommen? Ungläubig erinnerte er sich an den Narren und verwarf den Gedanken wieder. Wenn er der Russalka die Perle brachte, würde sie für immer gehen und ihn zurücklassen.
Ein Geräusch riss ihn aus seiner Starre, der Wasserspiegel zersprang in viele kleine Wellen, dann sah er plötzlich zwei Beine vor sich. In der Erwartung, weitere Prügel einzustecken, stöhnte er auf. Aber das Schicksal war gnädig.
Die Beine verschwanden, zwei Hände tauchten neben seinem Gesicht auf und schließlich erblickte Johannes einen hellen Bart. »Iwan!«
Der Alte betrachtete ihn so sachlich, als wäre Johannes ein Pferd, dessen Chancen er abschätzte, jemals wieder auf die Beine zu kommen. Dann sprang er erstaunlich behände auf und hastete zu der Truhe mit dem Werkzeug. Gleich darauf kam er mit einer Säge zurück. Geschickt begann er das Bein der Werkbank abzusägen. Johannes hörte Ketten klirren und begriff, womit Derejew ihn an das Tischbein gefesselt hatte. Die Beine der Werkbank waren auf den Dielen befestigt. Ein genialer Einfall, einen Gefangenen hier anzuketten. Nach einer Ewigkeit, als das Wasser schon bei Johannes’ Mundwinkel angekommen war, setzte Iwan ein zweites Mal an, diesmal weiter unten. Noch nie hatte Johannes den alten Mann so nah vor sich gesehen. Schweiß rann ihm über das konzentrierte Gesicht und fing sich in den tiefen Furchen neben Nase und Mund. Verbissen und grimmig sägte Iwan und ließ auch nicht ab, als er mehrfach abrutschte und sich die Finger abschürfte. Wirr hing ihm das weiße Haar ins Gesicht, und hätte Johannes es nicht besser gewusst, er hätte geglaubt, dass der Leibeigene wahnsinnig geworden war. Endlich fuhr die Säge mit einem letzten, reißenden Geräusch durch das Holz. Iwan sprang auf und trat mit aller Kraft gegen das Holzstück. Es fiel heraus und kam mit einem Platschen auf dem Boden auf.
»Los, hoch!«, befahl Iwan.
Johannes schob und ruckelte, obwohl die Kette ihn fast erwürgte. Das Eisen hing am Holz wie eine Klette am Stoff, aber endlich klirrte es. Die Kettenglieder fanden ihren Weg durch den Spalt und Johannes fiel auf die Seite. Schon war Iwan bei ihm und schnitt seine Fesseln an Armen und Beinen durch. Endlich konnte er sich die Kette über den Kopf streifen. »Danke!«, brachte er heraus. »Wo … hast du dich diesmal versteckt, als sie kamen?«
Der Alte ruckte mit dem Kinn in Richtung Werkzeugkiste.
»Du hast alles gehört?«
Iwan nickte und deutete auf die Rückwand der Werkstatt. »Kommst du durch den Spalt dort?«
Benommen sah sich Johannes um und entdeckte ein fehlendes Brett. Erstaunt stellte er fest, dass es dasselbe Brett war, das nach dem Verschwinden des toten Mädchens wieder in die Rückwand genagelt worden war. »Du hast es wieder gelockert«, stellte er fest. »Nach Zar Peters Besuch?«
»Ja«, brummte Iwan. »Und es ist der einzige Weg nach draußen. Die Ausgänge und die Fenster haben die Bastarde mit Brettern vernagelt.« Er beugte sich vor und zog Johannes auf die Füße ohne auf sein Stöhnen zu achten. »Sie haben Marfa. Und deinen Freund auch. Du musst dich beeilen.«
Derejew hat Jelena!, wurde Johannes klar. Und damit die Perle! Bevor Johannes protestieren konnte, hatte der Alte ihn zu dem losen Brett gezerrt. »Los«, knurrte er. »Du hast nicht viel Zeit.«
»Danke, Iwan«, sagte Johannes aus tiefster Seele. »Es tut mir Leid, dass ich dachte …«
Der Leibeigene schüttelte missbilligend den Kopf. »Du konntest Freund und Feind noch nie unterscheiden.«
Es tat an vielen erstaunlichen Stellen weh, sich durch die Lücke zu schieben, aber nach wenigen Augenblicken hatte Johannes es geschafft – und stand knietief im Wasser. Was er im schreckensbleichen Morgenlicht vor sich sah, war ein völlig anderes Sankt Petersburg. Sturmregen ergoss sich auf eine ganz und gar überschwemmte Wasserstadt. Überflutungen hatte es schon viele gegeben, doch heute zogen rote Schlieren vom Horizont auf und legten sich wie ein blutiger Brautschleier über das Wasser. Menschen hasteten durch die Fluten, sprangen in Ruderboote und retteten sich auf Hausdächer. Obwohl jede Bewegung unerträglich schmerzte, watete Johannes so schnell er konnte in Richtung Newa.