Babajaga Knochenbein
Unmerklich rückten die ausländischen Handwerker näher zusammen. Man traf sich abends, mutmaßte über die neuesten Pläne und redete sich die Vorfälle mit den ertränkten Katzen so lange schön, bis sie zu Anekdoten wurden. Später, wenn die Kinder und Enkel mit der neuen Stadt wuchsen, würde man sich diese seltsame Geschichte am Feuer erzählen – nachts, wenn draußen die Winterstürme tobten und Schneemassen das Newadelta zuschütteten. Aber noch war es Sommer und die Stadt würde viele Jahre brauchen, um zu wachsen. An einem dieser Abende bekamen Michael und Marfa Besuch von Thomas Rosentrost. Als Johannes aus der Werkstatt kam, saß der Arzt am Feuer und begutachtete den bloßen Rücken des alten Handwerkers. Wie die Erhebungen knotiger Wurzeln standen die Wirbelknochen hervor, die Thomas Rosentrost nun abtastete. Onkel Michael verzog das Gesicht, aber er muckte nicht auf, als der Arzt seinen Arm hin und her bewegte, die Beweglichkeit des Schultergelenkes prüfte und die geschwollenen Gelenke begutachtete. Zum ersten Mal fiel Johannes auf, wie alt sein drahtiger Onkel geworden war. Kein Wunder, dass er die Arbeit nur mühsam bewältigte.
»Die Stadt ist nichts für dich«, sagte Thomas Rosentrost schließlich. »Die Feuchtigkeit zieht dir jede Wärme aus dem Körper. Deine Gelenke sind aufgeschwemmt.« Unter dem besorgten Blick von Marfa holte er die Schröpfkellen heraus und begann sie anzusetzen.
An diesem Abend bekam Johannes keine Gelegenheit, seinen Onkel nach der Kiste zu fragen. Am nächsten Tag hatte Michael Fieber und Marfa hielt jeden von ihm fern. Mehrmals ging Johannes unter einem Vorwand zum Newaufer, aber die Russalka ließ sich nicht blicken. Nur einmal sah er einen Aalschwanz, der für den Bruchteil einer Sekunde auf das Wasser schlug. Spürten die Wasserwesen, dass Johannes in Gefahr war? Schließlich machte er sich auf die Suche nach Jewgenij. Seinen struppigen schwarzen Haarschopf entdeckte er in der Nähe einer Anlegestelle. Gerade verkaufte Jewgenij ein paar Fische an die Frau eines Kanalbauers und Johannes ging ohne zu zögern auf ihn zu. Er hatte noch einige Kopeken in der Tasche, die er nun hervorzog. Jeder, der ihn beobachtete, würde glauben, dass er für Marfa Fisch kaufen wollte. Jewgenijs Gesicht hellte sich bei seinem Anblick auf.
»Brehmow«, sagte er leise. »Wo warst du?«
»Gib mir einen Fisch. Irgendeinen«, erwiderte Johannes. »Und wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht. Ich werde beobachtet.«
Jewgenij gehorchte prompt und Johannes liebte ihn beinahe dafür, dass er so scharfsinnig war und keine Fragen stellte.
»Von Mitja? Allerdings! Die Russalka hat ihm aufgetragen auf dich aufzupassen.«
»Nicht Mitja«, sagte Johannes und musterte den großen gefleckten Fisch, den Jewgenij ihm hinhielt, mit gespielt fachmännischem Blick. »Oberst Derejew. Es ist wirklich eine Verschwörung im Gange und Derejew steckt mittendrin.«
Jewgenij überspielte sein Entsetzen gut. »Warum meldest du es nicht?«
»Und die Russalkas?«, erwiderte Johannes. »Sie sind Teil der Verschwörung. Derejew würde sie verraten, dann lässt der Zar jede einzelne von den Nixen aus dem Fluss ziehen. Solange Derejew glaubt, sein Plan entwickelt sich wie vorgesehen, wird er schweigen. Ich muss herausfinden, wie dieser Plan genau aussieht.«
»Das heißt, unsere Wege trennen sich?«, fragte Jewgenij nüchtern.
Johannes gab es einen Stich. »Nein. Für eine Weile vielleicht. Ich will die Russalkas nicht in Gefahr bringen. Und … euch auch nicht. Ich werde beobachtet. Und dich bitte ich – halte dich von der Stadt fern. Zumindest für ein paar Tage.« Er zog das Geld hervor und zählte es umständlich. »Ich komme zur Weide, sobald ich kann«, murmelte er.
»Ritze ein Kreuz in die Rinde, dann werde ich in der nächsten Nacht dort sein«, gab Jewgenij zurück.
»Gut. Wie viel Kopeken?«
Jewgenij sah ihn mit spöttischem Staunen an. »Ich bin ein Fischer, kein Sklaventreiber. Von meinem Gehilfen verlange ich kein Geld.« Er streckte die Hand aus und grinste. »Nun zeig, ob du ein Taschenspieler bist, und tu so, als ob du mir Geld gibst.«
Johannes dachte an Jewgenijs Großmutter und drückte Jewgenij alle Kopeken, die er besaß, in die Hand. Bevor sein Freund etwas erwidern konnte, hatte er sich umgewandt und ging ohne sich umzusehen weiter. Es fiel ihm unendlich schwer, den Freund zurückzulassen. Nun war er wieder einmal allein.
* * *
Schließlich, als das Fieber und die Schmerzen in Michaels Schulter dank Rosentrosts Behandlung endlich nachgelassen hatten, gelang es Johannes, ihn in der Werkstatt abzupassen. Michael war verblüfft den Brief zu sehen, dessen Existenz er längst vergessen hatte, dann betrachtete er mit konzentriertem Gesicht die Zeichnung der Kiste. Marfa beugte sich über seine Schulter und studierte die Schrift. Johannes wusste, dass sie kein Wort lesen konnte, schließlich war der Brief nicht in Kyrillisch verfasst.
»Für wen ich die Truhe damals angefertigt habe, willst du wissen?«, murmelte Michael. Seine Stirn lag in tiefen Falten. Ratlose Stille senkte sich über die Kammer. »Es ist lange her, ehrlich gesagt kann ich mich an den Namen nicht erinnern. In jener Zeit habe ich unzählige Truhen gemacht.«
»Es muss ein Adliger gewesen sein.«
»Natürlich«, warf Marfa ein. »Wer sonst kann sich eine Kiste leisten, auf der sein Wappen prangt?«
»Ja«, bestätigte auch sein Onkel. »Es war ein großer Mann, ungewöhnlich groß – eine Narbe hier, wenn ich mich recht erinnere.« Mit dem Zeigefinger deutete er eine Linie an, die quer über die Nasenwurzel führte. »Er trug stets einen langen Kaftan. Ja, es war ein Bojar und ein Altgläubiger dazu. In seinem Haus lebten ein Pope und dessen Frau. Er gab viel Geld aus für den Bau einer Kirche.«
»Wo stand sein Haus?«, fragte Johannes.
Sein Onkel runzelte die Stirn noch mehr, bis sie aussah wie die Maserung von Tannenholz. »Warum um alles in der Welt fragst du mich solche Sachen? Moskau – ich glaube im südlichen Viertel von Zargorod. Er bestand darauf, dass ein russischer Handwerker die Arbeit machen sollte.« Leise lachte er auf. »Ich glaube, es hätte ihm nicht gefallen, dass stattdessen ein Ausländer seine Truhe gezimmert hat. Ich könnte mir vorstellen, er trägt heute noch seinen Bart und die langen Bojarengewänder. Ach, jetzt fällt es mir ein – er hieß Asalow oder so ähnlich.«
Führte die Spur der Russalkas bis nach Moskau? Konzentriert dachte Johannes nach. Die Russalka hatte gesagt, der Besitzer des Unterpfands nähere sich der Stadt. Vielleicht war es dieser Adlige, der aus Moskau anreiste? Er nahm sich vor, einige der Fuhrleute zu befragen.
Onkel Michael schob die Schüssel mit der Kascha von sich weg und drehte sich zu Johannes um. »Warum willst du das wissen?«
»Ich habe den alten Brief gelesen, nichts weiter.«
Marfa sagte nichts.
* * *
Gerade als Johannes gedankenverloren eine Kiefernplatte abhobelte, die einmal Teil einer Täfelung werden sollte, drangen Stimmen vom Hof herein. Eine von ihnen gehörte Carsten Sund. Sie klang unnatürlich hoch und aufgeregt. »Michael Brehm!«
Alarmiert von dieser offiziellen Anrede sprang Onkel Michael von seiner Werkbank auf und klopfte sich die Sägespäne von den Ärmeln und vom Hemd. Er und Johannes wechselten einen raschen Blick. Im Augenwinkel sah Johannes Iwans schmales, blasses Gesicht, das beinahe so weiß war wie der Bart darunter. Johannes begriff die Lage sofort und bedeutete Iwan mit einem Wink, unter den Werktisch zu kriechen. Der Leibeigene verkroch sich so flink wie ein Frettchen und hätte beinahe das Modell der Sankt Paul vom Tisch gerissen, das seit ein paar Tagen in der Werkstatt stand. Ein Schatten fiel in den Raum. Der Besucher füllte den ganzen Türrahmen aus.
»Ich wünsche einen schönen Tag!«, rief er. Er sprach ein kantiges Deutsch, was Johannes, der inzwischen sogar schon auf Russisch träumte, so sehr irritierte, dass er die Worte zunächst kaum verstand. Mit einer unwirschen Bewegung riss sich der Besucher den Dreispitz vom Kopf und duckte sich, um nicht an den Türrahmen zu stoßen. Er war so groß, dass selbst Johannes ihm vermutlich nur bis zur Schulter ging. Er trug keine Perücke, sein rotbraunes Haar war im Nacken zusammengebunden und sein Schnurrbart akkurat gestutzt. Zar Peter.
Johannes schluckte und machte wie die anderen eine tiefe Verbeugung. Die Aufregung, dem Zaren gegenüberzustehen, ließ seine Knie weich werden.
»Welch eine Ehre, Eure Majestät, der Zar«, sagte Michael ehrfürchtig. Im Laufe der Jahre war sein Deutsch holprig geworden. Jedes Wort lag ihm im Mund wie ein sperriges Stück trockenes Brot, aber der Zar lächelte zufrieden und sah sich um. »Das ist also die Werkstatt des Mannes, den Trezzini nicht genug loben kann«, rief er und rieb sich die Hände.
Erleichtert bemerkte Johannes, dass der Zar sich nicht weiter um ihn kümmerte, und zog sich vorsichtig zu seiner Hobelbank zurück. Mit einem Seitenblick sah er, dass Iwan nur schlecht verborgen unter dem Tisch kauerte. Unauffällig platzierte er sich so, dass er die Sicht zum Tisch verstellte. Dann musterte er verstohlen den Zaren. Er trug einen grünen Mantel von ukrainischem Schnitt und schwarze Stiefel, die ihm bis über die Knie reichten. Das Hemd mit dem Rüschenkragen schien im Halbdämmer der Werkstatt zu gleißen. Sein Gesicht kam kaum zur Ruhe, ab und zu zwinkerte er, als hätte er einen Krampf im Lid. Sein Blick war ruhelos und sprang wie ein Jagdhund auf der Suche nach Dingen, die er verschlingen konnte, in jeden Winkel. Und Zar Peter verschlang wirklich alles, was er sah: Wissen, die Schönheit von Frauen, jeden Fehler und jede Unregelmäßigkeit, die er entdeckte. Heute jedoch war er freundlich und überbordend. Ohne auf die ehrerbietige Antwort von Onkel Michael zu achten, schoss der große Mann zum nächsten Tisch und wischte alles, was darauf lag, zur Seite. Zeichnungen, Holzkisten und ein Hammer rutschten an den Rand des Tisches. Klappernd fiel eine Kiste mit Nägeln zu Boden. Alle Gehilfen sprangen herbei und sammelten sie eilfertig wieder auf.
»Sieh dir das an, Michail!«, rief er. »So heißt du doch, oder? Michael?«
Johannes’ Onkel verbeugte sich wieder. »Ja, Eure Majestät. Michael Brehm, Tischler und Zimmermann. Aus der Nähe von Magdeburg.«
»Ein Preuße also.« Der Zar musterte ihn wohlgefällig und lächelte. Dann wandte er sich wieder seinem Papier zu. »Sieh dir das hier an. Kannst du das hier für eine meiner neuen Korvetten machen?«
Johannes streckte sich unauffällig und erhaschte einen Blick auf die Zeichnung einer Bordkanone, die von einer ungewöhnlich hohen Stützkonstruktion getragen wurde. Gleichzeitig fiel ihm auf, wie kräftig die Finger des Zaren waren. Mit einem Schaudern dachte er an die Geschichte, dass der Zar mit bloßen Händen einen Silberteller zusammenrollen konnte. Onkel Michael war aschfahl geworden. Johannes konnte sehen, dass es ihm nicht behagte, Gerätschaften für den Krieg herzustellen. Aber es war eine großartige Chance, direkt für den Zaren zu arbeiten. Gleichzeitig fielen ihm Derejews Worte wieder ein: »Wer nahe am Feuer, der nahe am Brand.«
»Ja, Eure Majestät«, sagte Michael knapp. Trotz der Ruhe, die er ausstrahlte, bemerkte Johannes ein Pochen, das sein straff gespanntes Hemd an der Brust bewegte. Michaels Herz schlug bis zum Hals.
Zar Peter lachte. Seine Hand sauste auf Onkel Michaels schmerzende Schulter herab. Johannes konnte sehen, wie sein Onkel leicht in die Knie ging. »Nichts anderes habe ich erwartet!«, rief der Zar. »Ich brauche sechs davon, du bekommst die Maße. Komm morgen zur Werft und schau dir die Kanonen an. Und nun lass sehen, was du sonst noch hier hast!« In seiner Begeisterung und Unternehmungslust, die er nun versprühte wie ein Feuer die Funken, wirkte er jünger als die vierunddreißig Jahre, die er zählte.
Hinter Johannes ertönte ein Rascheln. Während Onkel Michael dem Zaren seine Baupläne zeigte und die Vorzüge der Werkbank erklärte, die er selbst angefertigt hatte, ging Johannes zu seiner Hobelbank zurück. So als wollte er die Bank freiräumen, nahm er die Kiefernholzplatte und stellte sie vor Iwans Tisch ab. Mit roten Flecken auf den Wangen und einem reizenden Lächeln tauchte Marfa in der Werkstatt auf und kredenzte den teuren Tokajer, den sie für Gelegenheiten wie diese ebenso gut hütete wie die Geldkassette.
Der Zar strahlte sie an und griff nach der zierlichen Trinkschale aus Bergkristall. Sie thronte auf einem Silberfuß in Form einer Blüte und verschwand beinahe völlig in seiner großen Hand. »So liebe ich es. Gönnt Petruschka ein Glas Wein! Und gib diesem unsäglich dicken Sund auch noch einen!«, befahl er. Carsten Sund sprang herbei und bedankte sich überschwänglich, dann prosteten sie sich zu. Sowohl Sund als auch Michael achteten peinlich genau darauf, erst nach dem Zaren die Schale an die Lippen zu setzen.
Über den Kristallrand hinweg erblickte der Zar Johannes und dann, hinter ihm auf dem Tisch, die Sankt Paul. Johannes wurde heiß. Die leere Schale knallte beängstigend hart auf Holz, dann schoss der Zar schon auf den Tisch zu, unter dem Iwan kauerte. »Meine Sankt Paul!«, rief Zar Peter aus. Unwillkürlich verfiel er wieder ins Russische. »Wer hat sie gemacht? Du, Michael?«
Langsam schüttelte Onkel Michael den Kopf. »Mein Neffe, Eure Majestät«, sagte er ehrerbietig. »Johannes – er steht neben Euch.«
Johannes schluckte seine Panik hinunter und hoffte, seine selten geübte Verbeugung fiel nicht zu ungeschickt aus. Ihm war, als würde der Zar ihn mit dem Blick durchbohren. Er kennt mich nun, dachte sich Johannes. Ich könnte ihn vor Derejew warnen, aber ich habe keine Beweise. Und selbst wenn er mir glaubt, ist es der Tod der Russalkas. Mit Schaudern erinnerte er sich an die toten Wesen, die in Rosentrosts Kabinett in Spiritus dümpelten.
»So, der Neffe«, rief der Zar. »Dann sag mal, Johannes: Für wen hast du diesen Auftrag ausgeführt?«
Johannes schluckte. »Für niemanden, Eure Majestät. Ich habe es für mich gemacht.«
Onkel Michaels Gesicht schien neben der rechten Schulter des Zaren zu schweben und Johannes sah erschrocken, wie es grau wurde. Es war eine dumme Antwort gewesen, erkannte er. In Zar Peters neuer Stadt gab es keine Zeit für Müßiggang. Niemand arbeitete hier für sich.
»So«, sagte der Zar nur. »Geh zur Seite. Ich will es mir ansehen.«
»Natürlich, Eure Majestät«, erwiderte Johannes – und fügte geistesgegenwärtig hinzu: »Aber erlaubt, dass ich es auf den Tisch beim Fenster stelle. Dort ist mehr Licht.«
Der Zar kam ihm zuvor. »Lass«, befahl er, dann nahm er das Schiff behutsam auf und ging selbst zum Fenster. Iwan war gerettet – falls er nicht schon vor Angst gestorben war. Lange betrachtete Peter die filigran geschnitzten Masten.
»Sogar die Takelage hast du nachgebildet – und jeder Knoten sitzt am richtigen Platz«, murmelte er. Johannes wagte zu nicken und errötete vor Stolz.
»Woher weißt du so genau, wie mein Schiff aussieht?«
»Ich habe es gesehen. In Archangelsk.«
»Ich kaufe es dir ab«, bestimmte der Zar. Die Endgültigkeit, die in seinen Worten lag, zeigte, dass er es gewohnt war, der Herrscher über eine ganze Welt zu sein. »Wie viel verlangst du dafür?«
Fassungslos sah ihn Johannes an. Carsten Sund trat vor. »Das Schiff hat er bereits verkauft, Eure Majestät.«
Ein Schatten huschte über das Gesicht des Herrschers. »Stimmt das?«, wandte er sich barsch an Johannes. Carsten Sunds Miene war angespannt und Johannes sah, welchen Plan er verfolgte: Er wollte das Boot kaufen, um es Zar Peter zu schenken. Diesen Schachzug würde Johannes ihm verderben. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen und machte es schwer, zu antworten. Wütend blitzte er Sund an. Er war keine Spielkarte, er wollte keine sein, nicht für Sund und für keinen Herrscher dieser Welt, erkannte er plötzlich. Es war ein ungewöhnlicher Gedanke, Marfa und jeder andere hätte Johannes als verrückt bezeichnet.
»Ich hatte tatsächlich daran gedacht, es zu verkaufen«, sagte er schließlich. »Aber nun habe ich mich anders entschieden …«
»Selbstverständlich wird mein Neffe Euch das Schiff schenken«, fiel Onkel Michael ein. Er schwitzte.
Johannes schüttelte langsam den Kopf. »Ich … will es … weder verkaufen noch verschenken.«
Der Atem des Himmels verstummte und die Zeit hielt die Luft an. Onkel Michael japste. Carsten Sund griff sich an die Stirn. Er sah aus, als hätte er soeben Johannes’ Todesurteil vernommen. Du bist wahnsinniger, als Mitja es je sein wird, dachte Johannes. Ihm wurde übel.
Mit einem lauernden Gesichtsausdruck betrachtete der Zar ihn, als würde er ihn jetzt erst richtig wahrnehmen. Dann, unendlich langsam, drehte er sich um und stellte das Modell behutsam auf den Tisch neben dem Fenster. »Du liebst die Schiffe wirklich«, stellte er fest. »Aber ohne ein Schiff wirst du mich nicht lassen. Wenn du mir das kleine nicht geben willst, wirst du mir ein großes bauen.«
Dann wandte er sich streng an Onkel Michael. »Michail, lässt du deinen Neffen verhungern?«, bellte er und zeigte auf Johannes’ Hemd, das ihm etwas zu groß war und um seine Arme schlotterte. »Füttere ihn noch ein paar Wochen und dann schick ihn zu mir. Ich werde dich entschädigen.« Er lächelte Johannes wohlwollend zu. »Wenn du erst einmal in meiner Werft arbeitest, wirst du bald solche Schultern bekommen wie ich!« Er lachte dröhnend und scheuchte seine Gefolgsleute aus der Werkstatt.
Carsten Sund warf Johannes beim Hinausgehen einen irritierten Blick zu und beeilte sich dann dem Zaren zu folgen. Gemurmel und Getrappel ertönte und Marfa eilte mit hinaus, um den Besuch zu verabschieden.
Johannes und Michael blieben zurück. Sie mussten sich sehr ähnlich sehen, beide mit offenem Mund, beide blass und mit hängenden Armen. Ich kann Schiffszimmermann werden, hallte es in Johannes’ Kopf. Der Zar hat mich für die Werft angeheuert! Er fragte sich, ob er gleich aus einem wirren Traum erwachen würde. Sein Onkel dagegen schien alle Kraft zu verlieren, er schleppte sich zum nächsten Tisch und stützte sich schwer darauf ab.
»Onkel Michael?«, fragte Johannes zaghaft. Im nächsten Augenblick traf eine schallende Ohrfeige seine Wange. Erschrocken taumelte er zurück.
»Bist du verrückt?«, fuhr sein Onkel ihn an. »Bist du ganz und gar wahnsinnig, dem Zaren ein Geschenk zu verweigern?«
Die Empörung ließ das Blut in Johannes’ Wangen schießen. Seine rechte Gesichtshälfte pochte. »Er hat uns als Zimmerleute angeworben, nicht gekauft. Wir sind nicht seine Leibeigenen«, sagte er ruhig.
Sein Onkel wurde noch wütender. »Er ist der Zar! Wie auch immer wir uns bezeichnen, wir dürfen ihn nicht verärgern.«
»Ich habe ihn nicht verärgert.«
»Heute nicht, weil er zufällig gute Laune hatte. Aber an einem anderen Tag, in einer anderen Stimmung hätte er dich auf vielerlei Art bezahlen lassen können. Für ein lächerliches Holzschiff!«
»Es ist die Sankt Paul«, erwiderte Johannes eisig.
Onkel Michael schüttelte den Kopf. »Ein Spielzeug ist es«, sagte er verächtlich. »Du spielst damit, wie du mit deinem Leben spielst. Mein Gott, du bist ebenso leichtsinnig und verbohrt wie dein Vater! Ich werde nicht schlau aus dir – was geht in deinem Rübenkopf vor?«
»Was geht in deinem Kopf vor?«, erwiderte Johannes. »Wenn es so ist, wie du sagst, sei doch froh, dass du mich loswirst!« Die Wut und die Scham darüber, von seinem Onkel geschlagen worden zu sein, saß tief. Noch schlimmer aber war die Beleidigung gegen seinen Vater.
Onkel Michael sah ihn traurig an. Dann stand er auf, schlurfte zur Werkstatttür und schloss sie. »Die Werft ist eine Versuchung«, sagte er leise. »Ich verstehe dich, Johannes, besser als du denkst. Du meinst, du kannst die Hunde erst von der Kette lösen und sie dann mit einem Pfiff wieder einfangen. Aber du überschätzt dich.« Wenn du wüsstest, dachte Johannes, was es für Hunde sind, die um unsere Werkstatt herumschleichen.
»Der Zar ist ein kranker Mann«, sagte Michael leise. »Und krank geworden sind wir beide am selben Tag. Damals war ich jünger als du heute. Mein einziger Freund in diesem fremden Land war Stephan Gaden – ein Arzt, der am Hofe angestellt war. Wenn er genug hatte von der Zarenfamilie, den russischen Gesängen und der muffigen Luft hinter den dicken Mauern der Kremlpaläste, kam er zu mir und wir tranken zusammen. Zar Peter war damals ein Knabe. Wie du weißt, war sein Vater, Zar Alexej, zweimal verheiratet. Als er starb, wurde Peters Halbbruder Fjodor der neue Zar. Doch er starb schon bald, kaum zwanzig Jahre alt und kinderlos. Zar Peter stammte aus der zweiten Ehe. Eigentlich hätte sein Halbbruder, der Zarewitsch Iwan, die Erbfolge antreten sollen, aber da er schwachsinnig war, bestimmten die höchsten Würdenträger Peter zum Nachfolger. Die Familie der ersten Frau fühlte sich um ihre Erbfolge gebracht. Sie streuten das Gerücht, Iwan sei tot und Peters Sippe habe ihn ermordet, und wiegelten die Strelizen auf – die Kreml-Garde. Und die Strelizen riefen zur Rebellion gegen ihre eigenen Kommandeure und gegen die Zarenfamilie.« Er schluckte. »Im Mai stürmten sie in den Palast und brachten vierzig Verwandte von Peter um. Fürst Michail Dolgorukij, ein Strelizenkommandeur, war der erste, den seine eigenen Soldaten über die Brüstung in die Spieße und Hellebarden stießen. Die rasende Meute erschlug zwei Brüder der Zariza, dann stürzten sich die Strelizen auf einen Arzt, den sie der Giftmischerei bezichtigten.« Er starrte auf seine Hände. Sie zitterten.
»Stephan Gaden«, flüsterte Johannes.
Michael nickte kaum merklich. »Seit diesem Tag bin ich nicht der Einzige, der nicht mehr schlafen kann. Auch der Zar findet keine Ruhe mehr und träumt von dem Blut. Beide sind wir krank. Es ist die Krankheit des Misstrauens. Verstehst du jetzt, warum ich nicht möchte, dass du ihn verärgerst? Für dich ist er einfach ein Zar. Ich aber habe gesehen, dass er aus Rache auch ein Folterknecht und Bluttrinker sein kann.«
»Dann … ließ er die Strelizen bei ihrem zweiten Aufstand vor einigen Jahren aus Rache hinrichten?«, fragte Johannes.
Onkel Michael wischte Johannes’ Worte aus der Luft wie eine lästige Fliege. »Was für ein Aufstand?«, sagte er verächtlich. »Es gab keine richtigen Beweise, die Geständnisse waren oft unter der Folter erzwungen worden. In seiner Anklage hieß es, die Aufrührer hätten geplant, die Deutsche Vorstadt niederzubrennen, uns zu töten und Sofia, die Halbschwester des Zaren, als Regentin einzusetzen. Ich glaube, es war pure Rache. Du warst nicht dabei. Du hast nicht gesehen, wie er wütete.« Onkel Michael hatte sich in Rage geredet. Johannes hatte Angst, als er das gequälte Gesicht sah. Ihm war, als würden ihn alle Albträume und alle Bilder, die Michael nachts vor sich sah, anspringen wie Kobolde. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber er war zu starr vor Abscheu. »Die Hinrichtungen fanden überall statt – auf dem Schönen Platz, vor den Toren der Stadt und bei den Regimentern. Auf dem Hügel neben den Kasernen von Bebraschensko, wo üblicherweise die auf Schandpfähle gespießten Köpfe der Gerichteten verdorren, befahl der Zar einen Richtplatz. In langen Kolonnen wurden die Strelizen an all diese Orte getrieben – mit brennenden Kerzen in den Händen, gefolgt von ihren weinenden Frauen und Kindern. Peter hat sogar seinen Hofstaat gezwungen bei den Hinrichtungen zu helfen. Ungeschickte Beamte schwangen das Henkersbeil und ich will dir nicht erzählen, wie schlecht manche von ihnen dieses Handwerk beherrschten, weil ihnen die Hände zitterten und sie schwach und elend vor Angst waren. Es war ein Schlachtfest der Rache. Mehr als tausend Strelizen hat er hinrichten lassen. Nur die Minderjährigen ließ er laufen, junge Kerle, die so alt waren wie du – aber er ließ es sich nicht nehmen, ihnen vorher die Nasen und Ohren abzuschneiden.«
»Hör auf!«, rief Johannes. Die Übelkeit war so schlimm, dass er dachte, er müsse sofort hinausstürzen.
»Es hört nie auf«, antwortete Onkel Michael.
»Aber warum sind wir dann nicht in Moskau geblieben?«, ereiferte sich Johannes. »Du wärest freier und der Zar wäre weiter fort.«
»Die Zukunft Russlands ist dort, wo der Zar ist«, sagte Michael bitter. »Der Zar hasst Moskau. Er will nicht in den Kremlpalästen leben, in diesen Labyrinthen dunkler Gänge und Gemächer, er erträgt nicht die monotonen Gesänge der Priester und hasst alle, die an den altrussischen Sitten festhalten. Nein, Moskau wird untergehen. In wenigen Jahren wird sich niemand mehr auch nur daran erinnern. Diese Stadt aber wird die neue Hauptstadt sein. Und es wird eine bessere Stadt sein. Es wird Schönheit geben. Und wenn ich noch an Schönheit glauben kann, will es was heißen. Ich habe lange nicht mehr daran geglaubt.« Seine Stimme wurde sanft und seine Falten glätteten sich. »Erst wieder in dem Augenblick, als ich Marfa traf.« Müde erhob er sich. »Nun, du wirst Arbeit haben als Schiffszimmermann. Das ist es doch, was du wolltest. Ich gratuliere dir zu deiner neuen Arbeit in der Werft.« Er wankte aus der Werkstatt. »Das Leben geht weiter«, hörte Johannes ihn murmeln. »Immer weiter.«
* * *
Lange saß Johannes wie betäubt da und starrte auf die Werkstatttür, die sich, so schien ihm, für immer zwischen ihm und seinem Onkel geschlossen hatte. Sund hatte Recht gehabt. Johannes war nicht mehr der gehorsame Lehrling, der seinen Weg in den Fußstapfen anderer suchte, er war neben den gut begangenen Pfad getreten. Und der Weg, der sich nun vor ihm auftat, war beängstigend und voller Geheimnisse. Schwerfällig erhob er sich und ging zum Haus hinüber. Schweigend sammelte er seine Habseligkeiten zusammen, warf sich die Decke über die Schulter und verließ das Wohnhaus. Seltsamerweise war er erleichtert, als er seinen Platz in Onkel Michaels Haus geräumt und sich in der Werkstatt einquartiert hatte. Sein Bett richtete er sich unter einer Werkbank ein, möglichst weit entfernt von den Pritschen der Gehilfen. Es würde sie stören, wenn der Neffe ihres Herrn in der Werkstatt war und ihnen den letzten Raum zur ungezwungenen Unterhaltung nahm, aber Johannes konnte es nicht ändern.
Seine Knochen schmerzten, als er sich auf der Decke ausstreckte. Er schloss die Augen und dachte zum ersten Mal seit dem Besuch des Zaren in aller Ruhe nach. Eigentlich erschien es ihm so, als hätte er seit Wochen keinen klaren Gedanken gefasst, umso deutlicher formten sich nun Bilder, Eindrücke und wirbelnde Fragen vor seinem inneren Auge. Als Erstes erschien das Gesicht der Russalka vor ihm, dann Jewgenijs Lächeln. Jewgenij, sein Freund, der arme Fischer. Was ihn am meisten verwunderte, war das klamme Gefühl, das er verspürte, wenn er an die Arbeit in der Werft dachte. Noch vor wenigen Wochen hätte er beinahe seine Seele verkauft, um dort arbeiten zu können, und nun, da ihm dieser Weg freistand, zögerte er diesen Schritt zu tun. Es stimmte – es konnte gefährlich werden, in der Nähe des Zaren zu sein. Onkel Michaels Geschichte hatte ihn mehr verstört, als er zugeben wollte. Andererseits – es war der einzige Weg, alles zu bekommen, wovon er je geträumt hatte. Beinahe konnte er schon das Holz eines glatten Achterdecks unter seinen Füßen spüren, er hörte das Knarren von mächtigen Rahsegeln und seine Seele flog über einen tintenblauen Ozean einem neuen Leben entgegen. Türen würden sich öffnen – nicht zuletzt die von Christines Elternhaus. Johannes runzelte die Stirn. Allerdings hatte er die Sehnsucht nach Christine irgendwo zwischen Newa und Werkstatt verloren. Sie fehlte ihm nicht halb so sehr wie sein Freund Jewgenij. Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Neben Jewgenijs Bild tauchte die Russalka auf – lachend, listig und verführerisch, ein Wesen, das es nicht gab, ein Katzenfisch und Wellenmensch.
Ein Wesen, das bald tot auf dem Grund der Newa liegen oder vielleicht mit Sägespänen ausgestopft die Hauptattraktion in Zar Peters Monstrositätenkabinett sein würde. Der Zar, der Johannes eine Zukunft als Schiffszimmermann ermöglicht hatte, war Jewgenijs Feind. Johannes stand zwischen Freund und Feind. Und wenn er ehrlich war, dann war es Jewgenij, zu dem er lief, Jewgenijs Wort war wichtiger als Christines Lächeln, das Leben der Russalka wichtiger als das Achterdeck und das tintenblaue Meer. Ich bin dumm, dachte Johannes mit einem grimmigen Stolz. Aber ich werde keinen Fuß in die Werft setzen, solange die Russalka in Gefahr und Derejews Plan nicht vereitelt ist. Er würde beide retten – die Russalka und den Zaren.
Mit Leichtigkeit schob er sein neues Leben beiseite und besann sich auf die Vergangenheit. Schritt für Schritt ging er seine Erkenntnisse durch. Derejew hetzte gegen die Deutschen und spielte ein doppeltes Spiel. Teil dieses Spiels war es, die Existenz der Russalkas zu verheimlichen. Er schützte die Russalkas vor dem Zugriff des Zaren. Warum? Die Russalkas wiederum warteten auf ihren Herrn, der ihnen die Perle bringen würde. Die Perle befand sich bei einem Adligen in Moskau, einem Bojaren und Altgläubigen, der vielleicht schon auf dem Weg nach Sankt Petersburg war. Es gab keine Verbindungen und dennoch ertastete Johannes in der Dunkelheit der Gedankenkammer, in der er noch umherirrte, einen seidenen Faden, der ihn zu etwas Größerem führen würde, zu der Schatzkiste voller Geheimnisse. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn er sich von seinem Onkel trennte. Dadurch würden Michael und Marfa nicht in Gefahr geraten, falls Johannes scheitern sollte. Er würde die Fuhrleute befragen und versuchen herauszufinden, wer der Bojar war und ob sich jemand mit einer solchen Truhe auf dem Weg nach Sankt Petersburg befand. Und er würde herausfinden, von wem Derejew Briefe bekam.
Zufrieden und erleichtert schloss Johannes die Augen. Das Tuscheln der beiden Gehilfen, die glaubten, er sei schon längst eingeschlafen, klang wie das Geräusch von Wellen und schläferte ihn ein. Bevor er sichs versah, stand er auf einem Schiff und sah zu, wie der Bug die Wellen schnitt. Leiber blitzten in den Wellenkronen auf, die Russalka lachte ihm zu und winkte mit ihrem weißen Arm. Johannes lächelte. Der Himmel wurde dunkel und die See war plötzlich sturmgepeitscht. Johannes verlor das Gleichgewicht und griff nach der Holzreling. Glühend heiß war sie, Schmerz durchzuckte seine Hand und schoss den Arm hinauf. Der Gestank von verbranntem Fleisch ließ ihn zurückzucken, doch er sah, dass er gefesselt war. Ein Eisenring war um sein Handgelenk geschmiedet. Die Reling hatte sich in ein glühendes Foltereisen verwandelt.
In Zar Peters Augen tanzte die Flamme des Folterfeuers. »Wo ist die Russalka?«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Du weißt es!«
»Nein!«, schrie Johannes. Verzweiflung erfüllte ihn, als er erkannte, dass er seine Lüge nicht lange würde aufrechterhalten können. Im Hintergrund gähnte eine Folterkammer, rußschwarz und schrecklich wie der Schlund der Hölle. An Ketten hing ein Gefangener mit struppigem schwarzem Haar – Jewgenij!
»Nein«, flüsterte Johannes, während Zar Peter ihn düster betrachtete. Tränen brannten auf Johannes’ versengten Wangen. Im selben Augenblick schien seine Hand durchsichtig geworden zu sein, er konnte sie heben und sie glitt wie ein Schemen durch die eiserne Schelle um sein Handgelenk. Eine andere Hand schien dort zu bleiben, während er seine an die Wange hob und sich die Tränen abwischte. Es war angenehm kühl auf seiner Haut. Auch der Geruch war verschwunden, stattdessen duftete es tröstlich nach Holz und Firnis und ein wenig auch nach Eisen und Öl. Nach endlosen Augenblicken hatte er sich endlich in die Realität zurückgetastet. Es war nicht der Albtraum, der ihn geweckt hatte, es war ein Geräusch. Jemand hatte die Werkstatttür geöffnet und kam auf leisen Sohlen auf ihn zu. Im ersten Moment fühlte er endlose Erleichterung und bange Freude. Immer noch halb im Traum gefangen richtete er sich auf. »Jewgenij?«, flüsterte er.
»Heißt er so?«, fragte eine vertraute Stimme in der Dunkelheit.
Johannes war verwirrt. »Wer?«, fragte er.
Die Stimme lachte leise. »Dein Freund, der Fischer.« Marfas Schritte hielten inne.
Johannes atmete tief aus. Die Spannung ließ nach, der Traum verwehte. »Bist du gekommen, weil ich mich mit Michael gestritten habe?«
Eine Pause folgte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich habe etwas für dich.«
Er hörte sie nach etwas suchen. Ein Span leuchtete auf, dann entzündete sie den Docht eines Kerzenstumpens und stellte ihn auf den Boden. Johannes dachte unwillkürlich an Onkel Michael, der die Kerze sofort zertreten und Marfa eine Predigt über brennende Werkstätten halten würde. Die Gehilfen schnarchten. Marfa sah sich um, dann setzte sie sich ohne Umschweife neben Johannes’ Lager auf den Boden. Jetzt erst bemerkte er das große Buch, das sie bei sich trug. Behutsam legte sie es neben die Kerze. Stumpf und abgeschabt war das Einbandleder. An einer Seite hatten Mäuse genagt. Marfa legte den Finger an die Lippen und schlug das Buch auf. Seite um Seite blätterte sie behutsam um, bis sie endlich innehielt. Johannes spähte über ihren Arm hinweg und erkannte mehrere akkurat gezogene Spalten, die von einer Vielzahl beschrifteter Zeilen unterteilt waren. In winziger Schrift waren Zahlen und Namen notiert.
»Michael hebt alle alten Auftragsbücher auf«, sagte sie. »Die Truhe hat er vor fünfzehn Jahren angefertigt. Es war sehr mühsam, die Mooreiche zu besorgen, aus der sie gemacht ist. Und sehr teuer.« Sie blätterte einige Seiten um und fuhr mit dem Finger eine lange Reihe von Bezeichnungen hinunter. Bei einem Wort hielt sie inne. »Truhe mit dem fliegenden Fisch, Mooreiche.« Johannes bemerkte erst jetzt, wie er vor Nervosität seine Hände ineinander verkrampft hatte. Marfas Zeigefinger glitt nach rechts zum Namen des Auftraggebers. »Artamon Karpakow«, flüsterte sie und klappte das Buch wieder zu. »Nicht Asalow, wie Michael meinte.«
»Karpakow«, wiederholte Johannes leise. Er hatte das überwältigende Gefühl, dass sich ein Knoten in seiner Brust löste. Am liebsten hätte er den Namen herausgeschrien, aber er grinste nur breit und glücklich und sah den Widerschein seines Triumphes in Marfas Gesicht aufleuchten. Jetzt ergab es einen Sinn. Karpakow – der Name, der auf dem Brief stand, der auf Oberst Derejews Schreibtisch darauf gewartet hatte, gelesen zu werden. Karpakow und Derejew – zwei Antworten in dem Rätsel um die Russalka, das es zu lösen galt. Johannes beugte sich vor und umarmte Marfa. Noch nie war er ihr so nahe gewesen. Anfangs versteifte sie sich, aber bald gab sie nach und ließ sich in seine Umarmung fallen.
»Danke!«, flüsterte Johannes. »Marfa, ich danke dir so sehr! Du bist mein … geheimer Schlüssel zu Petrus’ Himmelstor.«
Verwirrt machte sie sich los und strich sich das Haar zurecht. »Sagst du mir nun, was du vorhast?«, flüsterte sie.
Johannes biss sich auf die Unterlippe. Die plötzliche Zärtlichkeit, die er für seine Tante empfand, wich der Sorge. »Ich kann nicht, Marfa. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen und auch Michael nicht. Aber wenn alles vorbei ist, werde ich es dir erklären und du wirst mich verstehen.«
Sie lächelte. »Ich werde dich nie verstehen, Johannes. Aber gerade das gefällt mir an dir. Ich glaube, du bist Michael sehr ähnlich – so muss er als junger Mann gewesen sein.«
»Hilfst du mir deshalb?«
Mit einem Mal wurde sie ernst. »Ich helfe dir, weil du ein mutiger Mann bist«, erwiderte sie. »Es gehört viel Mut dazu, dem Zaren ein Geschenk zu verweigern. Dein Onkel würde das nicht verstehen, aber ich denke, die Mutigen werden die Welt in den Händen halten.« Sie lächelte wieder. »Ich hatte Angst um dich, doch jetzt habe ich nur Angst davor, dass du dein Ziel nicht erreichen könntest. Ich glaube, dass Leben davon abhängen, habe ich Recht?«
Er nickte.
»Hat es etwas mit deinem Freund zu tun?«
»Ja, mit … Jewgenij.«
Sie stand auf und löschte die kleine Flamme. Einer der Gehilfen schnaubte im Schlaf und drehte sich dann geräuschvoll auf die andere Seite. Marfas Stimme schwebte in der Dunkelheit. »Wenn es so weit ist, dass du ihn nicht mehr vor uns verstecken musst, werde ich mich freuen ihm die Hand zu geben.«
* * *
Johannes kam erst zur Ruhe, als er an der verkrüppelten Weide stand. An diesem Sommermorgen war der Himmel grau. Ein starker Wind trieb die Rufe der Holzfäller aus dem Wald zu ihm herüber. Weit hinten am Waldrand mühte sich eine Kolonne von Arbeitern ab, die entasteten Stämme allein mit Menschenkraft in Richtung Stadt zu schleppen. Die Wasseroberfläche war rau und undurchsichtig. Nachdenklich ließ Johannes seinen Blick über das gegenüberliegende Ufer schweifen. Angestrengt überlegte er, woher er ein Ruderboot bekommen könnte. Er nahm ein paar Kiesel und ließ sie über das Wasser tanzen. Als alle Kiesel aufgebraucht waren, zog Johannes seine Schuhe aus und watete am Ufer entlang. Der Newasand rieb zwischen seinen Zehen, aber er fühlte sich gut und beinahe lebendig an.
»He!«, raunte ihm die Stimme des Flusses zu. Er fuhr herum und blickte nach rechts in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Die Russalka lächelte.
Besorgt sah er sich um, aber die Arbeiter, die damit beschäftigt waren, ein Pferdefuhrwerk zu beladen, bemerkten weder ihn noch den seltsamen Nebelstreif über der Newa. »Du hast meine Steine gehört«, stellte er fest.
»Steine?«, sagte sie. »Nein, dein Herz schlägt so laut und ungeduldig, dass selbst ein tauber Wal dabei nicht ruhen könnte.« Nun klang ihre Stimme ärgerlich und ihr Mund war schmal und nicht mehr so hübsch wie sonst.
»Ich wollte dich nicht stören«, erklärte er. »Aber ich muss wissen, wo Jewgenij lebt. Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn!«
In ihren Augen glomm Neugier auf. »Ich weiß, wo du ihn findest.«
»Gut! Hör zu, wenn ich ein Boot besorge, würdest du mich über die Newa ziehen? Ich habe gesehen, wir ihr Jewgenij über den Fluss bringt.«
Die Nixe betrachtete ihn prüfend. »Nein«, entschied sie dann.
»Begreifst du denn nicht?«, fuhr er sie an. »Es geht um dein Leben – aber auch um unseres. Ich weiß, wie wir euch retten können! Aber dafür darf ich keine Zeit verlieren!«
Ihre Augen wurden wieder zu Raubfischaugen. Sie schien sich die Entscheidung, ob sich ihn auslachen oder doch ertränken sollte, nicht leicht zu machen. »Eben«, sagte sie spitz. »Du hast keine Zeit, ein Boot zu holen. Ich verstehe ohnehin nicht, was ihr damit wollt!« Ohne auf die Arbeiter zu achten erhob sie sich halb aus dem Wasser und streckte die Arme nach Johannes aus. »Komm ins Wasser«, raunte sie.
Johannes sah ihre Fingernägel an. Sie mussten scharf wie Ritzmesser sein. »Schwimmen?«, brachte er heraus. »Mit dir?«
Die Russalka ließ sich ins Wasser gleiten und schwieg. Er begriff, dass sie ihn hier lassen würde. Es war keine Frage an ihn, es war ein Angebot. Und es galt für diese paar Herzschläge und nicht länger. Ihr Gesicht tauchte unter die Wasseroberfläche und Johannes erkannte plötzlich ein Wasserwesen, nicht Fisch, nicht Mensch, sondern das Unheimlichste von beidem. Kiemen schnappten neben knöchrigen Kiefern, Augen blickten seelenlos, schuppige Haut spannte sich über erschreckend menschliche Züge. Für die Dauer einer flüchtigen Spiegelung hatte er das Gefühl, das wahre Bild der Russalka zu sehen, abstoßend und monströs und doch auf bizarre Weise schön. Widerwillen würgte ihn beim Gedanken, in die Arme dieses Geschöpfes zu tauchen, aber dann sah er Jewgenijs Gesicht vor sich – Jewgenij aus seinem Traum, in der Folterkammer.
Noch nie, so schien ihm, hatte ihn etwas so viel Überwindung gekostet wie die fünf Schritte in das tiefere Wasser. Im nächsten Augenblick war er in einer festen Umarmung gefangen, Arme wanden sich um ihn, Haar strich über seine Wangen und da waren auch die Brüste, die sich beunruhigend an ihn schmiegten. Gerade noch konnte er Luft schnappen. Wie ein seidiger Schal glitt das Wasser an ihm ab. Der Strom zerrte an seinen Wangen, sie mussten sich mit ungeheurer Geschwindigkeit bewegen. Das Rauschen seines eigenen Blutes dröhnte ihm in den Ohren. Unter Wasser riss er die Augen auf. Gesichter blitzten neben ihnen auf, ähnlich dem der Russalka, aber anders, so wie auch Menschen verschieden waren. Eine riesenhafte Hand ergriff seinen Knöchel, riss ihn aus den Armen der Russalka und zog ihn in die Tiefe. Panik übermannte ihn, der Druck in seinen Ohren wurde größer, Wasser drang in seinen Mund, als er reflexartig schreien wollte, aber da war schon eine andere Hand, zupfte an ihm, griff grob in sein Genick und wirbelte ihn herum, bis er nicht mehr wusste, wo oben und unten war, und panisch zu paddeln begann. Überall waren Aalleiber, die sich um ihn schlangen. Ein wirbelnder Kampf entbrannte. Neben ihm ertönte ein katzengleicher Schrei unter Wasser. Die Nixen balgten sich um ihn wie Fische um ein Stück Brot! Gleich darauf presste sich wieder der wohl bekannte Schlangenleib an ihn, die Arme der Russalka zogen ihn zur Wasseroberfläche. Endlich drang wieder Luft in seine Lunge. Sie waren nicht weit vom Nordufer entfernt, winzig klein starrte ihnen von der anderen Seite her die bucklige Weide nach.
»Still!«, sagte die Russalka, als er hustete. »Hol Luft!«
Und weiter ging es, stromaufwärts. Das Wasser war seichter und die Gesichter um ihn herum wurden weniger. Nach einer Ewigkeit, als er schon zu ersticken glaubte, stießen seine Knie auf sandigen Grund. Die Russalka ließ ihn los. Wie ein Schiffbrüchiger kroch er an Land und japste nach Luft. Er war erschrocken, wie weit entfernt er von der Stadt war, weit hinter der großen Newabiegung. Legte Jewgenij so große Entfernungen zurück?
»Gehe dort entlang, bis du zu den ersten Bäumen kommst«, raunte die Nixe. »Von dort aus folge dem Weg des Sonnenaufgangs.«
»Danke«, wollte Johannes sagen, aber ein Platschen schnitt ihm das Wort ab. Wasser floss aus seiner Kleidung und ließ ihn trotz der Sommerwärme frieren. Er fühlte sich elend und zerschlagen, immer noch brannte das Entsetzen darüber, dass ein anderes Russalka-Wesen versucht hatte, ihn der Nixe wie einen Beutefisch abzujagen, in jeder Faser seines Körpers. Mit wackligen Knien machte er sich auf den Weg. Nun, falls Derejews Leute seine Schritte beobachtet hatten, dann waren sie jetzt zumindest davon überzeugt, dass er ertrunken sei.
Der Weg war weit und öde. Nur ein paar schäbige Bäume standen in der Gegend herum. Johannes hatte erwartet eine Ansiedlung zu finden, ein kleines Dorf vielleicht oder ein befestigtes Haus, stattdessen sah er von weitem nur eine Art schlammigen Hügel. Je näher er ihm kam, desto mehr Gegenstände erkannte er, die an eine menschliche Behausung erinnerten. Faulige Bretter lagen auf dem Boden; an einem Hackblock, der unter einem Baum stand, klebten Fischschuppen und an einem anderen Baum war ein zerrissenes Netz zum Trocknen aufgehängt. Ein unbehagliches Gefühl beschlich Johannes. Unwillkürlich begann er zu schleichen. Die Hütte war so erbärmlich, dass Onkel Michael sie nicht einmal dazu verwendet hätte, Holz zu lagern. Dafür wäre sie auch zu feucht und modrig gewesen. Wie ein russisches Bauernhaus war sie aus runden Holzstämmen erbaut – ohne einen Nagel waren sie aufeinander geschichtet und ineinander verkantet. Solche Blockhäuser waren für gewöhnlich stabil, hier aber hatten die Winterstürme mit ihren Schneemassen und der Sommerregen ganze Arbeit geleistet. Nur notdürftig war das Häuschen repariert worden. Torf dichtete die Ritzen ab, manche der Stämme waren nur verschnürt, andere lehnten sich an Erdwälle, die aufgeschüttet waren, um die armselige Konstruktion zusammenzuhalten. Der Geruch von Fisch und einem rußigen Feuer lag in der Luft.
Verzagt schlich Johannes zu der Luke, die wohl die Tür war, und spähte hinein. Nein, das konnte nicht Jewgenijs Zuhause sein. Hier drinnen gab es nichts außer – soweit er erkennen konnte – einer Pritsche, auf der ein Lumpenbündel lag. Es bewegte sich. Johannes blieb wie angewurzelt stehen. Es war eine alte Frau. Sie war krank, ihre Haut war fleckig und ihr Gesicht glich einem Totenschädel. Einst musste sie hübsch gewesen sein, aber seit damals hatten Zeit und Krankheit auf ihren Zügen gewütet und auch der Tod hatte bereits die Hand auf ihre Schulter gelegt. Aus gelblichen Augen starrte sie Johannes an. Plötzlich schämte er sich ihre Armut zu sehen, er fühlte sich, als hätte er etwas Klebriges berührt, das nun ewig an ihm haften würde.
»Entschuldigung«, sagte er und wollte sich abwenden.
»Teufel!«, kreischte die Alte auf. Mit einer Gewandtheit, die er nie und nimmer in dem gebrechlichen Körper vermutet hätte, stemmte sie sich hoch und setzte sich auf ihrem Lager auf. Ihr knochiger Zeigefinger stieß in seine Richtung. »Teufel!«, wiederholte sie. »Ketzer! Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Brüder, deine Brut, deinen Vater!« Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze des Hasses.
Johannes stolperte und stieß sich die Schulter an der Tür. Die Wucht ihrer Worte traf ihn wie ein Tritt. Baba Jaga Knochenbein!, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf. Wenn sie könnte, würde sie meinen Schädel auf ihren Gartenzaun spießen. »Ich … bin kein Teufel«, erwiderte er.
Baba Jaga spuckte verächtlich aus. »Ein Hund bist du -Tiere seid ihr! Wo kommt ihr her, was habt ihr hier bei anständigen Gläubigen zu suchen? Ist das euer Land? Nein! Ihr seid Bestien. Du bist ein Tier, kein Mensch!«
»Katka?«, rief eine besorgte Stimme. Johannes drehte sich um und rannte.
»Verrecken sollst du!«, schrie ihm die Alte hinterher. »Auf dein Grab werden die Heiligen spucken!«
Vor der Tür prallte er gegen Jewgenij, stieß ihn beiseite und lief mit großen Schritten in Richtung Fluss. Gegen seinen Willen stiegen ihm die Tränen in die Augen. Er wollte nur noch fort. Er fror in seinen nassen Kleidern und stapfte immer weiter, bis er die Hütte weit hinter sich gelassen hatte. Dann setzte er sich einfach auf den Boden und vergrub den Kopf in den Armen. Es war zu viel. Was hatte er verloren in einem Land, in dem er Teufel und Tier genannt und verflucht wurde?
Jewgenij kam so leise heran, dass Johannes zusammenschrak, als er die Hand auf seiner Schulter fühlte. »Es tut mir Leid«, sagte Jewgenij. Seine Stimme war weich und traurig. »Katka … Du musst sie verstehen. Sie ist alt und sie hat alles verloren.«
Johannes schüttelte die Hand ab und sprang auf. »Ich muss sie verstehen?« Er wollte nicht, dass Jewgenij ihn weinen sah, aber es war zu spät. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen.
Jewgenij räusperte sich. Als er weitersprach, klang seine Stimme belegt. »Wenn dein Onkel sehen würde, wie ich hier lebe – was würde er über mich sagen? Und wenn er es nicht sagen würde, was würde er denken? Würde er denken, es sei das Richtige für dich, mit mir befreundet zu sein?«
Johannes holte Luft, endlich hatte er das Gefühl, er bekam wieder welche. »Wahrscheinlich nicht.« Und er dachte: Hätte ich das Haus vorher gesehen, ich wäre selbst davor zurückgewichen.
»Für mich bist du kein Ketzer«, sagte Jewgenij sanft. »Und auch kein Tier.«
Johannes’ Herz machte einen Satz, als er eine kurze Umarmung spürte. Jewgenijs Augen waren dunkle Seen, in denen er Verletzlichkeit schimmern sah. Mit einem Mal begriff Johannes, was Jewgenij für diese Freundschaft bezahlte. Sie waren beide Frontläufer – feindliche Soldaten, die beschlossen hatten sich die Hand zu geben. Warum ließ er sich da von den Worten einer todkranken, hasserfüllten Frau verunsichern? »Danke«, sagte er leise.
Jewgenij nickte knapp und ließ ihn los. Die alte Unnahbarkeit umfing ihn wieder wie ein Tarnmantel. »Nun, jetzt kennst du wenigstens mein prächtiges Haus und meine hochwohlgeborene Familie. Was willst du hier, außer dir in den nassen Kleidern den Tod holen?«
Johannes blinzelte und besann sich auf den Grund seines Hierseins. »Ich weiß, wer das Unterpfand hat – die rote Perle der Russalkas!«
Während er von Derejew und der Verschwörung erzählte, von dem Bojaren, der die Perle besaß und der an Oberst Derejew schrieb, vergaß er, dass er nass war und fror. Jewgenijs Augen wurden größer und größer. »Derejew schützt für Karpakow die Russalkas. Er wollte nicht, dass die Russalka entdeckt wird, deshalb hat er die Geschichte mit Natascha erfunden.«
»Und Karpakow, der Hüter der Perle, ist auf dem Weg in die Stadt?«
»Sein Brief kam aus Jesengorod. Und die Russalka träumt davon, dass der Schatz sich der Newa nähert. Viel schwieriger wird es sein, herauszufinden, was Karpakow mit der Perle vorhat.«
Jewgenijs Mund war ein wutbleicher Strich. »Das ist überhaupt nicht schwer. Er löst sein Pfand ein. Die Russalkas können das Wasser rufen. Er will … die Stadt auslöschen und den Zaren vernichten.«
Johannes ließ die Worte in sich nachklingen. Sie klangen hohl und blechern. »Carsten Sund hat von einer Flut gesprochen. Er meinte, eine Flutwelle würde genügen die Stadt einfach wegzuspülen. Die Kanäle sind nicht tief genug um das Hochwasser aufzufangen.«
»Wenn es ihm gelingt, leben die Russalkas und können in das Meer zurückkehren. Der Zar aber stirbt und mit ihm viele Menschen in der Stadt«, fuhr Jewgenij fort. »Gelingt es ihm nicht, sterben die Russalkas, denn dann können sie nicht fliehen und der Zar wird sie töten lassen.«
Sie schwiegen eine Weile und dachten beide denselben Gedanken. Verstohlen musterte Johannes seinen Freund und ertappte ihn dabei, wie er ihm ebenfalls einen zweifelnden Blick zuwarf. Beide mussten lachen.
»Sag schon«, meinte Johannes.
Jewgenij streckte sich. »Wir können die Stadt und die Russalkas retten. Und dazu müssen wir Karpakows Perle den Russalkas zurückbringen.«
»Beschlossene Sache also«, sagte Johannes. »Wir suchen Karpakow und stehlen ihm die Perle.«
»Wenn wir sie ihm stehlen, wird er den Dieb suchen lassen«, gab Jewgenij zu bedenken. »Was glaubst du, wie viele von Derejews Verschwörern uns auf einmal auf den Fersen wären? Nein …« – er grinste wie ein Verschwörer – »… wir werden die Perle vertauschen.«
Johannes sah seinen Freund anerkennend an. »Gut«, sagte er und lachte. »Lass uns im Wahnsinn sterben. Und wo willst du eine rote Perle herbekommen?«
Jewgenij zuckte mit den Schultern. »Für die Russalkas hole ich dir den Mond vom Himmel. Lass uns hoffen, dass Karpakow noch in Jesengorod ist.«
»Alles andere ergäbe keinen Sinn. Der Zar ist in Moskau und kommt erst in fünf Tagen wieder nach Sankt Petersburg zurück«, erwiderte Johannes. »Du besorgst die Perle – ich das Geld für die Reise nach Jesengorod.«