Der Brief
Schon als Johannes über den Vorplatz zur Werkstatt ging, wusste er, dass sich etwas verändert hatte. Die Arbeiter wagten nicht ihn anzusehen, Flüstern lag in der Luft. Verstohlen musterte Johannes die Männer, die ihn gestern noch eingekreist hatten. Wahrscheinlich fürchteten sie sich davor, dass er seine Drohung wahr machen könnte. Johannes suchte nach dem Einäugigen, der die Verwünschung gegen den Zaren ausgestoßen hatte, aber er war nicht hier.
»Wo ist der einäugige Kerl mit dem grauen Bart?«, fragte er Michael.
Sein Onkel, der gerade eine Werkbank reinigte, runzelte die Stirn. »Fort«, brummte er. »Schon heute Morgen. Ich habe Marfa losgeschickt um eine Meldung zu machen.«
»Er ist doch nicht etwa geflohen!«
Onkel Michael zuckte die Schultern. »Ich denke, doch. Armer Teufel. Aber wir müssen es melden, jeder weiß, dass er weg ist. Marfa ist schon zur Festung gegangen. Zumindest hat er ein paar Stunden Vorsprung.«
Mit einem Mal war Johannes elend zumute. Die Flucht des Leibeigenen war seine Schuld. Er hatte ihm Angst eingejagt. Wenn die Aufseher ihn fingen, würden sie ihn zurückschleppen und so schwer bestrafen, dass er danach mehr tot als lebendig wäre – im schlimmsten Fall drohte ihm die Hinrichtung. Er bemerkte, dass Iwan ihn über eine Säge hinweg, die er gerade mit einem geölten Lappen abrieb, anstarrte. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Iwan ebenfalls allen Grund hatte, den Zaren zu hassen.
Die Arbeit erschien ihm anstrengender als sonst. Die Nachmittagssonne ließ den Sägestaub leuchten wie einen Schleier, der durch die Luft gewirbelt wurde. Johannes zimmerte Querstreben für die Gerüste, Trittbretter und Winkelstützen. Er vermaß Stützklötze, trieb Nägel in duftendes Buchenholz und band die beschrifteten Holzstapel so zusammen, dass Trezzinis Schauerleute sie am nächsten Tag in der richtigen Reihenfolge auf– und abladen konnten.
Mitja ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken, dafür sah Johannes durch das Werkstattfenster, wie Marfa gegen Abend von der Festung zurückkam und schnurstracks ins Haus ging. »Ich brauche mein Schnitzmesser«, sagte Johannes schnell und rannte über den Vorplatz. Marfa zuckte zusammen, als er die Stube betrat. Still saß sie am Tisch, die Ellenbogen aufgestützt, und starrte ihn an. Ihm fiel auf, wie blass sie war. »Was ist passiert?«, rief er.
»Sch!«, zischte sie. »Schrei nicht gleich die ganze Werkstatt herbei.« Sie schluckte und rieb sich die Augen so heftig, dass Johannes zum Tisch sprang und ihre Handgelenke umfasste. »Marfa«, sagte er sanft. »Bitte erzähl mir, was los ist! Hat es etwas mit dem Leibeigenen zu tun?«
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein … ich weiß nicht. Sein Besitzer wird verständigt. Es ist nicht unsere Sache. Nein … ich habe nur etwas gesehen.«
»Was, Marfa?«
Heute waren ihre Augen schmelzendes, brüchiges Eis, Marfas Härte rann davon und ließ eine verängstigte Frau zurück. Johannes erschrak darüber, wie sehr ihn ihre Schwäche verunsicherte.
»Eine Katze«, sagte sie tonlos. »Bei Thomas Rosentrost. Ich wollte neue Salbe holen für Michaels Rücken – und dann hat Thomas mir die Katze gezeigt …«Sie holte Luft und Johannes fragte nicht weiter, sondern ließ ihr Zeit, ihre Worte zu finden. »Die Zunge hing ihr aus dem Maul. Thomas sagte, sie habe vor seiner Tür gelegen.«
»Na und? Einem Arzt, der Tiere präpariert, bringen Leute dauernd tote Tiere. Vielleicht ist sie vor seiner Tür verendet.«
Heftig schüttelte Marfa den Kopf. »Die Katze wurde ertränkt. Bei uns hing auch eine … vor einigen Tagen. Ich habe sie abgehängt und weggebracht.«
»Bei uns? Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich wollte nicht, dass Michael es weiß. Ich hoffte, es wäre nur ein grausamer Scherz.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. »Auch diese Katze hat jemand ertränkt. Und dann aufgehängt. An einem Nagel – bei uns an der Tür. Ich wachte nachts auf, weil ich ein Klopfen hörte. Du … warst nicht auf deinem Lager. Ich ging vor die Tür, aber alles, was ich fand, war die Katze. Weißt du, was das bedeutet?«
Johannes dachte angestrengt nach. Es kam ihm bekannt vor; in Moskau hatte er Malereien gesehen, die unter strengster Geheimhaltung von Hand zu Hand gingen. Sie zeigten einen Kater – einen Kater mit einem langen Schnurrbart. Plötzlich wurde ihm kalt. »Der Zar? Leute, die ihn verhöhnen, nennen ihn einen deutschen Kater. Weil er einen Schnurrbart trägt. Meinst du … jemand droht dem Zaren?«
»Wenn nicht dem Zaren, dann uns«, sagte Marfa. »Es war eine Drohung. Ich habe lange mit Thomas gesprochen. Immer wieder tauchen die Katzen auf. Johannes, du weißt, dass es in der Stadt mehr goldene Kälber als Katzen gibt -jemand muss sie von irgendwoher herbeischaffen.«
Schaudernd dachte Johannes an den Leibeigenen, der ihm gestern gedroht hatte. Also hatte er doch von einer Verschwörung gewusst. Plötzlich fühlte er sich nackt und schutzlos. »Wir müssen es melden. Der Zar wird nicht zulassen, dass jemand gegen ihn ein Komplott schmiedet.«
»Oh, ich weiß«, sagte sie bitter. »Glaub mir, er wird keinen Stein auf dem anderen lassen, wenn er das erfährt.« Plötzlich sah sie ihn irritiert an. Im nächsten Augenblick griff sie nach seinem Arm. »Johannes«, drängte sie. »Sag mir, wo du nachts bist. Du hasst diese Stadt, ich weiß es. Aber du würdest dich nicht überreden lassen, etwas gegen den Zaren zu unternehmen?«
»Marfa!« Grob schüttelte er ihre Hand ab.
»Entschuldige. Ich … sehe überall Gespenster. Aber ich muss wissen, wo du bist.«
»Am Newaufer«, antwortete er.
»Allein?«
»Nun, manchmal ist ein Fischer dort. Er … ich habe ihm geholfen sein Boot zu reparieren.« Mehr Wahrheit konnte sie nicht von ihm verlangen.
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Und glaubst du, er ist ein Freund?«
Wie immer war es Marfa gelungen, alle geschickt platzierten Umgehungen einfach zu überrennen. »Ich … denke schon«, gab er schließlich zögernd zu.
Bitter schüttelte sie den Kopf. »Du hast es immer noch nicht gelernt, Johannes! Hier hast du keine Freunde. Allenfalls jemanden, der vorgibt dein Freund zu sein, um dich in eine Verschwörung hineinzuziehen.«
Wütend sprang er auf. »Ich hätte dir nichts erzählen sollen.«
Sie stand auf und strich sich die Ärmel glatt. Brüsk wandte sie sich von ihm ab und holte aus ihrer Ledertasche einen schweren Salbentiegel hervor. »Geh arbeiten. Und morgen früh wirst du zu Oberst Derejew gehen und ihm Bericht über die Katzen erstatten.«
* * *
Johannes konnte sich kaum daran erinnern, wie er den Arbeitstag hinter sich gebracht hatte. Die Stimmung war seltsam, noch seltsamer wurde es, als Mitja auftauchte und sich mit bedrücktem Gesicht auf einen Holzstapel setzte. Er beachtete Johannes gar nicht, sondern sang immer und immer wieder das gleiche Lied, bis Johannes das Gefühl hatte, ebenfalls wahnsinnig zu werden. Noch spät in der Nacht hörte man Mitjas Summen, das der Wind zu den Fenstern trug und wie ein unwillkommenes Geschenk durch die Ritzen zwischen den Fensterläden drückte. Johannes ahnte, dass auch Marfa nicht schlief. Mit ihrer Frage nach seiner Freundschaft zu Jewgenij hatte sie einen Felsbrocken auf seine Brust gewälzt. Wenn Johannes die Augen schloss, sah er Jewgenijs schmales Gesicht vor sich, die dunklen Augen und den ernsten, oft zusammengekniffenen Mund. Konnte es wirklich sein, dass er ihn belog? Eine Verschwörung gegen den Zaren würde zu seinem Ziel passen, die Russalkas zu retten. Aber wäre er so dumm zu glauben, gegen ein ganzes Heer und einen Zaren bestehen zu können? Nein, entschied Johannes. Es ergab keinen Sinn. Selbst wenn Jewgenij Verbündete in der Stadt hatte, würde er mit ein paar Leibeigenen nicht viel ausrichten. Es steckte mehr dahinter. Viel mehr. Ob der Unbekannte, von dem die Russalka träumte, etwas damit zu tun hatte? Jemand war auf dem Weg in die Stadt, ein anderer saß hier und ertränkte Katzen. Es passte immer noch nicht zusammen.
Leise stand Johannes auf. Er war schon auf dem Weg nach draußen, als ihm einfiel, dass die Tür knarrte. Marfa, die sicher mit offenen Augen in die Dunkelheit starrte, würde sie hören. Johannes überlegte, dann zog er so leise wie möglich das Fenster auf, kletterte hinaus und hangelte sich geräuschlos wie ein Schatten auf der anderen Seite hinunter. So weit ist es mit mir gekommen, dachte er verschämt. Jetzt schleiche ich wirklich wie ein Dieb davon. Mitjas Augen glänzten in der Dunkelheit auf, aber der Narr verhielt sich still. Johannes fragte sich, ob er ihm das Gespräch mit der Nixe übel nahm.
Mit einem mulmigen Gefühl rannte er in Richtung Newa. Er wartete beinahe zwei Stunden, bis sich auf der anderen Flussseite etwas regte. Im nächtlichen Nebel glaubte Johannes eine schmale Gestalt zu erkennen, Wasser plätscherte, als sie ein glänzendes Etwas aus dem Wasser zog. Auf die Entfernung konnte Johannes es nicht erkennen, aber er stellte sich vor, wie sich nasse Körper darin bewegten und durch die Maschen des Netzes weiße Fischbäuche schimmerten. Sicher hatte die Russalka Jewgenij reiche Beute ins Netz gejagt. Johannes war fasziniert davon, seinen Freund zu beobachten, wie er mit geschickter Hand die Beute an Land zog und Fisch für Fisch aussortierte. Mit einem Platschen landeten die kleineren wieder in der Newa, nur die größeren wuchtete Jewgenij in seinen Weidenkorb. Nicht weit von ihm schaukelte das Boot, das nur lose an einem verkrüppelten Uferbusch vertäut war. Mit Unbehagen erkannte Johannes, wie wenig er immer noch von Jewgenijs Leben wusste. Noch nie hatte sein Freund ihm angeboten mit ihm zu seinem Haus zu gehen. Andererseits – er selbst hätte Jewgenij vor Marfa am liebsten ganz verborgen.
Zögernd spitzte er die Lippen und schickte einen leisen, scharfen Pfiff über das Wasser. Jewgenij erstarrte und sah herüber. Dann verstaute er hastig den Fischkorb in dem winzigen Boot, stieß es ab und sprang hinein. Heute tauchten keine Russalkas auf, um sein Boot über das Wasser zu bringen. Ruderschlag für Ruderschlag kämpfte sich Jewgenij über den Fluss. Als er endlich ankam, hatte ihn die Strömung ein ganzes Stück westwärts getragen. Er keuchte vor Anstrengung und auf seinen Wangen leuchteten dunkle Flecken. Bei Tageslicht hätte er einen roten Kopf gehabt.
»He, Brehmow«, rief er und sprang an Land. Mit wenigen Griffen vertäute er das Boot und kam zu Johannes. Sein Gesicht sah noch schmaler aus, so als hätte er die vergangenen Nächte gar nicht geschlafen.
»Wo warst du gestern und vorgestern?«, fragte Johannes statt einer Begrüßung.
Erstaunt sah Jewgenij ihn an. »Muss ich mich entschuldigen?«, gab er zurück. »Ich hatte viel zu tun.«
Johannes wollte sich dagegen wehren, aber das Misstrauen sprang ihn an wie ein Hund, der sich nicht abschütteln ließ. »Viel zu tun, so«, knurrte er.
Jewgenij grinste und knuffte ihn in die Seite. »Was ist los mit dir? Du hattest doch genug Gesellschaft, wie ich gehört habe. Sogar einen neuen Freund hast du – leider einen Verrückten, aber was will man bei euch Ausländern schon erwarten?«
»Hat die Russalka dir das erzählt?«
»Wenn nicht die Russalka, dann die Wellen.«
Johannes holte tief Luft und sah sich um. Dann bedeutete er Jewgenij ihm flussaufwärts zu der Weide zu folgen. Dort setzten sie sich ans Ufer.
»Wusstest du, dass Mitja mit ihr sprechen kann?«
»Sprechen würde ich das nicht nennen«, erwiderte Jewgenij. »Aber Narren werden einander immer verstehen.«
»Die Russalka hat mir von dem Pfand erzählt«, fuhr Johannes unbeirrt fort. »Weißt du, von wem sie träumt?«
»Sie hat dir davon erzählt?«, fragte Jewgenij tonlos. Johannes konnte regelrecht fühlen, wie sein Freund von ihm abrückte und sich versteifte. Plötzlich wünschte er sich, er hätte diese Frage nicht gestellt. Jewgenij schluckte sichtlich und schwieg. Heute gelang es ihm nicht, seine Gefühle zu verbergen.
Johannes fühlte, wie er rot wurde, und er fluchte insgeheim auf die Russalka. War das ihre Art, Zwietracht zwischen ihnen zu säen? Aber warum sollte sie so etwas tun? »Nun, sie hat mir nicht alles erzählt«, versuchte er die Situation zu retten.
»Och, das, was sie erzählt hat, genügt schon«, erwiderte Jewgenij spitz. Beinahe konnte Johannes die Worte hören, die sein Freund in Gedanken hinzusetzte: »Erst nimmst du unser Land und jetzt mischst du dich in unsere Geheimnisse ein.« Doch sein Freund überraschte ihn.
»Nun, ich hätte es dir schon lange erzählen sollen«, sagte er nach einer Weile. »Es ist eine alte Geschichte. Du ahnst nicht, wie oft meine Großmutter von nichts anderem redet. Die Sage von dem Unterpfand – sie ist für uns wie ein Gebet.« Er räusperte sich und rezitierte wie ein Märchenerzähler: »›Den Schatz hält eine Affenfaust, die Faust steckt in einer Muschel, die keine ist. Die Muschel befindet sich in einem Beutel aus gelbem Samt, der Beutel in einem Kästchen und das Kästchen in einer Truhe, die das Bild eines geflügelten Fisches trägt.‹ Wir werden wahnsinnig darüber – und der Narr träumt davon. Vielleicht hat es diese Muschel, diesen Beutel und dieses Kästchen wirklich einmal gegeben, aber ich glaube, die Russalkas können lange warten.« Er seufzte tief. »Ich bin sicher, sie könnten die Newa verlassen, wenn sie aufhören würden an diese Prophezeiung zu glauben.«
»Aber sie glauben daran«, erwiderte Johannes. Verstohlen betrachtete er seinen Freund von der Seite. Wenn die Russalkas nicht gehen, werden sie sterben, dachte er. Die einzige Möglichkeit, dass die Stadt ihnen nicht den Tod bringt, bestünde darin, sie erst gar nicht zu bauen. Der Einzige, der diese Stadt unbedingt bauen will, ist der Zar. Wäre der Zar tot, würden auch die Architekten in ihre Länder zurückkehren, ebenso die Soldaten, Kanalbauer und Knechte. War das der Gedankenweg, den die Verschwörer betreten hatten?
»Wie sehr hasst du den Zaren?«, fragte Johannes unvermittelt. Jewgenij hob ruckartig den Kopf. »Ich meine, wie weit würdest du gehen um die Russalkas zu retten. Den Zaren töten?«
»Den geraden Weg, Brehmow«, sagte Jewgenij mahnend. »Was willst du?«
»Ich weiß nicht. Ich dachte nur …«
Jewgenijs Augen verengten sich. Wut ließ seine Stimme beben. »Ach, jetzt verstehe ich!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Der russische Fischer hat es auf den Zaren und auf euch abgesehen, natürlich.«
»Du betonst so oft, dass du mein Feind bist … und ich … ich weiß nichts von dir. Vielleicht bin ich nur ein Tölpel, der nicht bemerkt, dass er eine Spielfigur in einer Verschwörung ist.«
»Du weißt mehr von mir als jeder andere in dieser Höllenstadt!«, fuhr Jewgenij ihn an. »Meinst du, ich würde mit einem Feind hier herumsitzen? Mein Gott, Brehmow, ein Holzpfosten hat mehr Verstand als du.« Wütend klopfte er sich den Sand von den Hosen. »Verschwörung, so ein Quatsch!«
Johannes antwortete nicht. Niemals hätte er zugegeben, wie erleichtert er war, auch wenn Jewgenij ihn beleidigt hatte. »Jemand will uns töten«, erklärte er schließlich unumwunden. »Und vielleicht den Zaren. Ich will herausfinden, was es damit auf sich hat. Irgendeine Verbindung gibt es möglicherweise zu den Russalkas. Du weißt nicht zufällig etwas über die ertränkten Katzen?«
Jewgenijs Erstaunen war echt. »Katzen? Wenn du Menschen gesagt hättest, dann hätte ich dir gesagt, dass meine Russalka durchaus etwas damit zu tun haben kann.« Er lachte leise auf.
»Mir ist nicht zum Lachen«, sagte Johannes scharf.
»Mir schon«, gab Jewgenij zurück. »Du prügelst dich wie ein Russe, arbeitest wie ein Sklave für den Zaren und fürchtest dich vor ein paar Verrückten, die so mutig sind eine Katze zu ersäufen? Deine Ausländervorstadt muss ein richtiges Mädchenzimmer gewesen sein. Nun, willkommen im russischen Zarenreich! Es wird nicht die letzte Drohung sein, die du im Leben zu sehen bekommst.«
»Vielleicht«, räumte Johannes ein. Plötzlich war ihm etwas wohler.
»Brehmow«, rief Jewgenij entschlossen. »Ich sage dir was: Wenn jemand dich auch nur antippt, dann versenke ich ihn höchstpersönlich genau hier. Er wird Schlamm fressen, bis er erstickt.«
Johannes lachte auf. Plötzlich zerfielen seine Sorgen wie eine Hand voll Sand im Wasser. Jewgenij hatte Recht. Viel zu schnell ließ er sich einschüchtern. Morgen würde er Bericht erstatten und Oberst Derejew und Zar Peter persönlich würden sich um die Angelegenheit kümmern. Er staunte, wie wichtig ihm Jewgenijs Freundschaft war. Noch nie hatte er zu einem Menschen ein solches Verhältnis gehabt, mit Ausnahme seiner Brüder vielleicht.
»Ist das alles, was es zu erzählen gibt?«, fragte Jewgenij. »Oder ist noch etwas wirklich Wichtiges in deinem Leben passiert?«
Selbst der Spott tat gut. Trotzdem beschloss Johannes Jewgenijs Hochmut eine kleine Lektion zu erteilen. »Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?«, fragte er.
»Nein, wozu?«, erwiderte Jewgenij prompt.
»Ich schon.«
»Ach ja?«
Jewgenij gähnte demonstrativ und ließ sich zurücksinken. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen starrte er in den Himmel.
Johannes grinste. »Sie heißt Christine«, erzählte er weiter. Es war angenehm, ihren Namen auszusprechen, ohne von Marfa einen kritischen Blick dafür zu ernten. »Sie ist die Tochter eines Kaufmanns und lebt in Moskau. Als ich wegfuhr, hat sie mir ein Bild geschenkt.«
»Na, du scheinst ja sehr verknallt zu sein. Und, liebt sie dich auch?«
»Ja, bestimmt.«
»Hat sie es dir gesagt?«
»Nicht direkt«, druckste Johannes herum. »Sie ist ziemlich schüchtern.«
»Genau das Richtige für ein Großmaul wie dich, was?«
»He!«
Lachend steckte Jewgenij den Hieb ein, der ihn am Arm traf. Flink wälzte er sich unter dem zweiten Schlag davon. »Wie hast du es angestellt? Musstest du sie einfangen und ihre Ärmel an die Tür nageln?«, fragte er aus sicherer Entfernung.
Johannes stellte fest, dass er errötete. Wie schaffte Jewgenij es, der Wahrheit so nahe zu kommen? »Nun, so ähnlich«, gab er schließlich zu.
Endlich bekam Jewgenij große Augen. »Ah!«, sagte er und rückte wieder heran. Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht. »Jetzt wird es interessant!«
Johannes’ Wangen brannten noch mehr.
»Nun, in Moskau gibt es einen Osterbrauch«, begann er zögernd. »Vom Osterfest bis zum Tag der Himmelfahrt grüßt man die Leute auf der Straße mit einem roten Ei. Ein solches Geschenk darf niemand ablehnen. Und bedanken muss er sich mit einem Kuss. Dabei ist es gleichgültig, ob er ein Leibeigener, Bauer, Pope oder der Zar persönlich ist. Es gilt als Verbrechen, das Ei auszuschlagen oder den Kuss zu verweigern. Das habe ich Christine gesagt …«
»Was für ein guter Trick«, meinte Jewgenij trocken. »Und war deine Christinka dann glücklich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Johannes wahrheitsgemäß. Christine war rot geworden und hatte gelächelt. Aber im Grunde genommen hatte sie fast immer gelächelt.
»Ist sie hübsch?«, bohrte Jewgenij weiter. Seine Stimme klang so gnadenlos gelangweilt, dass Johannes sich ärgerte.
»Schöner als eure Weiber hier allemal.«
»Schöner als die Russalka?«
Warum hatte er plötzlich das Gefühl, Christine verteidigen zu müssen? »Wenn du sie sehen würdest, du würdest dich sofort in sie verlieben.«
Jewgenij gab ein Schnauben von sich. Nachdenklich betrachtete er die Wolkenfetzen, die über den Himmel trieben. Johannes fand, sie sahen aus wie die Lateinersegel riesiger Schiffe.
»Ich kenne eine, die ist viel schöner als deine Christinka.«
»So?«
»Ja, die wunderschöne Jelena.«
Johannes lachte. »Die gibt es nur im Märchen, Jewgenij.«
»Na und?« Jewgenij lächelte. Seine Stimme bekam einen weichen Klang. »Sie lebte hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Zarenreich. Schön war sie wie die Morgensonne, ihr Haar war Seide und ihre Lippen zwei rote Blütenblätter. Lange Zeit lebte sie bei der grausamen Hexe Baba Jaga. Kennst du die Baba Jaga? Ihr Häuschen steht auf einem Hühnerbein und dreht sich, wohin die Hexe will. Auf ihrem Gartenzaun hat sie abgeschlagene Köpfe aufgespießt. Aber Jelena behielt ihr Leben. Und als der böse Koschtschej, der Knochige, sie entführte, da rief sie nicht um Hilfe, nein, sie überlistete Koschtschej und floh.«
Er lächelte verschmitzt. »Eine wie Prinzessin Jelena würde mir gefallen.«
»Eine Prinzessin, die einen Fischerjungen liebt! Darauf kannst du in alle Ewigkeit warten. Nun, ich bleibe lieber bei Christine!«
»Und sie lebten glücklich und häuften großen Reichtum an«, spottete Jewgenij. Er klang verärgert. Hastig stand er auf und ging zu seinem Boot. »Hast du ein Messer dabei?«, fragte er barsch.
Johannes fuhr mit der Hand in seine Hosentasche, fühlte das abgegriffene Leder der Hülse und nickte.
»Dann komm«, sagte Jewgenij. »Oder fürchtest du dich auch vor toten Fischen?«
* * *
Seit Johannes’ Besuch bei Dr. Rosentrost waren die Bauarbeiten der Peter-und-Paul-Festung vorangetrieben worden. Schon vom Lastkahn aus konnte Johannes die Fortschritte erkennen. Die ersten Grundmauern wuchsen aus dem Boden und die Befestigung und Aufschüttung ließ schon jetzt die imposante Größe der späteren Festung erahnen. Die Schläge der Steinmetze hallten durch die Luft und die Baumeister und ihre Gehilfen wimmelten wie Ameisen auf der entstehenden Festung. Mit Knutenschlägen und Gebrüll trieben die Aufseher die Leibeigenen zur Arbeit an.
An diesem Tag räkelte sich die Newa träge in einer diesigen Augustsonne. Der Fährkahn, auf dem Johannes saß, lag tief im Wasser. Sorgfältig hatte Johannes die Gerüststreben zusammengebunden, deren Aufbau er heute anleiten würde. Es freute sich darauf, den Tag nicht in der Werkstatt verbringen zu müssen. Unauffällig hatte er nach der Russalka Ausschau gehalten, aber heute war der Fluss bis auf das Heer von Lastkähnen und Booten unbewohnt. Zar Peter war nach Moskau gereist. Doch auch in seiner Abwesenheit liefen die Arbeiten weiter wie ein Fuhrwerk, dessen Zugpferde sich auch ohne die Peitsche ihres Herrn mit aller Kraft ins Geschirr legten. Sehnsüchtig blickte Johannes zum Hafen. Nur wenige Schiffe lagen heute vor Anker. Für einige verträumte Augenblicke stellte er sich vor, wie er auf seinem Schiff stand – eine aus Holz geschnitzte Nixe als Galionsfigur am Bug, prächtige große Rahsegel gebläht im Wind. Er würde hinausfahren auf die Ostsee und von dort die Küsten entlang bis in die Gefilde, die noch niemand kannte. Die Russalkas würden ihn begleiten – glänzende Gestalten, die auf der Bugwelle ritten. Er schreckte auf, als eine Welle gegen die Kahnwand schwappte. Ein Schiff strich an ihnen vorbei, die Segel gebläht – ein Zweimaster, an Bord waren Soldaten.
Es war nicht ganz einfach, die Holzplanken am Newator auszuladen, aber die Schauerleute verstanden ihr Handwerk und wuchteten auf Johannes’ Anweisung die Gerüste an Land. Sogar ein Karren, auf dem sonst nur Steine transportiert wurden, stand bereit, da die Bauteile für das Gerüst ein ganzes Stück gefahren werden mussten.
»Ah, da bist du!«, rief Carsten Sund ihm zu und strahlte über das ganze runde Gesicht. »Wir müssen schnell arbeiten, Trezzini will das Gerüst vor Sonnenuntergang sehen.«
Die Arbeit war schwer, aber die Sonne schien, das Rauschen des Flusses umhüllte ihn, Carsten Sunds Leute hörten auf seine Befehle und die Gerüstwinkel passten bis auf ein Haar genau. Gute Arbeit war es und für einige Stunden vergaß Johannes die Katzen, die Verschwörung, sogar die Russalka. Flink kletterte er auf die oberen Plattformen, um die Querbretter einzuziehen, und hatte plötzlich einen guten Blick auf das Kronwerk, die Verteidigungsmauer, die der Haseninsel vorgelagert war. Als die Sonne schon tief am Himmel stand, machten sie Rast und Carsten Sund packte gebratene Hasenkeulen und kalten Kohl aus. Er drückte Johannes sogar einen geschliffenen Kristallbecher mit Wein in die Hand und stieß mit ihm an. »Auf viele Aufträge, Johannes! Du arbeitest gut, ich hoffe, dein Onkel bezahlt dich angemessen.«
Johannes, der eben an dem Wein hatte nippen wollen, ließ erstaunt den Becher sinken. Noch nie war er auf den Gedanken gekommen, von seinem Onkel einen Lohn einzufordern. »Nun, ich lebe und esse bei ihm. Ich bin sein Lehrjunge, noch nie habe ich gehört, dass ein Lehrjunge eine Bezahlung einfordert. Gewöhnlich zahlt man seinem Meister Lehrgeld.«
Sund lachte diebisch und klopfte ihm väterlich auf die Schulter. »Guter Mann. Aber sieh dir das Gerüst doch einmal an: Du bist längst kein Lehrjunge mehr. Außerdem kannst du schnitzen, rechnen, sogar drechseln! Und du hast ein Auge für die Schönheit der Formen. Es wird Zeit, dass du auf eigenen Beinen stehst. Jede Schuld ist einmal beglichen und du könntest viel verdienen. Soll ich mit Michael reden?«
Johannes wurde rot und zögerte. Um den Moment zu überbrücken, nahm er einen tiefen Schluck von dem Wein. Er schmeckte schwer und würzig und stieg ihm sofort in den Kopf. Er fühlte sich stark und freute sich über das Lob. »Nein danke«, sagte er schließlich. »Wenn es nötig sein sollte, werde ich selbst mit meinem Onkel sprechen.«
»Trezzini braucht gute Leute. Dort drüben«, Sund deutete in Richtung der Holzkathedrale, »wird einst die mächtigste und schönste Kirche des Zarenreiches stehen. Du kannst ein angesehener Palastzimmermann werden – oder als Tischler Türen und Täfelungen fertigen.«
Johannes starrte nachdenklich in seinen Wein. Möglichkeiten blitzten darin auf und tauchten wieder ab, doch eine Frage ließ sich nicht vertreiben. »Und was ist, wenn der Zar stirbt und es gar keine Paläste geben wird?«
Der Baumeister starrte ihn an, als hätte er gefragt, was geschähe, würde die Sonne verlöschen. »Wieso sollte er sterben?«, fragte er.
»Im Gefecht möglicherweise«, beeilte sich Johannes zu sagen. »Oder an einer Krankheit – an der Brustwassersucht vielleicht oder am Fieber. Auch Zar Peter ist nur ein Mensch. Alles hängt an seiner Macht und seinen Entscheidungen, vor allem wir, die er in sein Reich geholt hat. Die Bauern hassen uns.«
Sund schüttelte den Kopf. »Natürlich hassen uns die Bauern. Alle Sklaven hassen ihre Herren, sieh nach oben, Johannes, niemals nach unten, hörst du? Sollte er umkommen, was Gott verhindern möge, wird ein anderer Zar an seiner Stelle regieren. Für gute Zimmerleute wird es immer Arbeit geben.«
Johannes nahm noch einen Schluck Wein. »Ich will nicht mein ganzes Leben lang Türen herstellen, Meister Sund. Aber ich danke für das Angebot.« Sund verzog den Mund. »Was ist verkehrt an Türen?«, sagte er ärgerlich. »Was willst du dann?«
»Schiffe«, erwiderte Johannes.
Carsten Sund starrte ihn perplex an, dann begann er zu lachen. Mit seiner breiten Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn und seufzte. »Schiffe, soso. Nun gut, pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Bei mir könntest du genug Geld verdienen, um später sogar dein eigenes Schiff zu bauen. Ich kenne Leute, wichtige Leute, auch in der Werft. Du könntest Schiffszimmermann werden, später Schiffsbaumeister – und dann erlernen selbst ein Schiff zu segeln.« Er lehnte sich zurück und zupfte sein Halstuch zurecht. Er sah aus, als würden hinter seinem gemütlichen Gesicht viele Gedanken einen schweren Kampf ausfechten. Strategien wurden erwogen und verworfen. Staunend wurde Johannes klar, wie viel Carsten Sund daran lag, ihn abzuwerben. Ein bisschen machte ihn diese Erkenntnis stolz.
»Ich möchte dir für den Anfang beweisen, dass ich dir viele Tore öffnen kann«, sagte Sund nun. »Du verkaufst mir eins deiner Modellschiffe. Ich brauche ohnehin ein Geschenk für … eine wichtige Person. Du wirst sehen, wie schnell man in der Werft deinen Namen kennen wird. Du kannst diese Verbindungen nutzen – unter der Bedingung, dass du zwei Jahre bei mir arbeitest und nur meine Aufträge annimmst.« Er lächelte schmal. »Es liegt an dir.«
Für einen Augenblick war Johannes versucht. Der Wein ließ seine Lider angenehm schwer werden. Der Weg, der sich vor ihm auftat, war erstaunlich gerade und einfach zu gehen. Da war nur ein Hindernis: sein Onkel. Er konnte ihn nicht alleine in seiner Werkstatt zurücklassen. Lange würden seine Hände nicht mehr zur Arbeit taugen, die Gelenkschmerzen machten ihm immer mehr zu schaffen. Andererseits – wenn er für Sund arbeitete, konnte er einen Teil seines Lohns Marfa und Michael geben.
»Ich überlege es mir«, sagte er und kam sich vor wie ein Verräter.
»Mehr wollte ich nicht hören, Zimmermann!«, rief Sund und stürzte den Rest des Weines in einem Zug hinunter.
Das fertige Gerüst sah majestätisch aus, fand Johannes. Stolz und Wein pochten durch seine Adern und wärmten ihn. Nicht einmal eine Sturmflut würde das Gerüst umreißen. Er freute sich darauf, Jewgenij davon zu erzählen.
Erst als er schon pfeifend auf dem Weg zum Newator war, fiel ihm Marfas Brief wieder ein. Er griff in seinen Lederbeutel, den er sich über die Schulter geworfen hatte, und suchte nach dem Brief. Da war er, ein wenig zerknittert zwar, aber kunstvoll versiegelt und sehr offiziell. Es ärgerte Johannes, dass die Knie ihm plötzlich weich wurden. Er war nicht schuldig, warum fühlte er sich dann so, als könnte er ertappt werden? Er würde Marfas Brief im Kommandantenhaus abgeben, wo ein Schreiber die Meldungen entgegennahm. Er fasste Mut, drehte sich auf dem Absatz um und ging schnurstracks auf das lang gezogene Holzgebäude zu.
»Ein Brief für Oberst Derejew«, murmelte er, als ein Soldat ihm den Weg versperrte. »Von Michael Brehm, dem Tischler. Oberst Derejew kennt ihn.«
Der Soldat runzelte die Stirn und streckte die Hand nach dem Brief aus. »Eine Meldung?«, fragte er argwöhnisch.
»Ganz recht.« Johannes richtete sich so gerade wie möglich auf. Manchmal fühlte es sich sehr gut an, seine Gesprächspartner fast um einen Kopf zu überragen. Dem Soldaten schien es dagegen nicht besonders zu gefallen, aber er nahm den Brief entgegen und machte eine Geste, die besagte, dass Johannes sich entfernen solle. Erleichtert wandte sich Johannes ab. Das Kribbeln in seinem Nacken sagte ihm, dass der Soldat ihm nachblickte, dann hörte er Gemurmel und das Scharren von Soldatenstiefeln. Als er sich schon außer Sichtweite glaubte, spießte sich ein Befehl in seinen Rücken. »Stehen bleiben!«
Kein Zweifel, er war gemeint. Seine Hände fühlten sich plötzlich taub an. Es war schwer, gegen den Impuls anzukämpfen, einfach wegzulaufen, aber die mahnende Stimme einer sehr vernünftigen Person in seinem Inneren schalt ihn und betonte immer wieder, dass er nichts zu befürchten hatte. Langsam drehte er sich um. Der Soldat winkte ihn heran. »Hierher«, befahl er.
Zögernd setzte sich Johannes in Bewegung. Noch bevor er bei dem Soldaten angelangt war, drehte sich dieser in der Tür um und bedeutete Johannes ihm zu folgen. Mit gemischten Gefühlen betrat Johannes das Kommandantenhaus. »Was ist?«, fragte er den Rücken des Soldaten.
In diesem Augenblick blieb der Mann schon vor einer Eichentür stehen. »Oberst Derejew will dich sehen«, sagte er knapp, öffnete die Tür und zeigte mit einer knappen Geste in den Raum. Johannes schluckte. Das Blut wich aus seinen Wangen, aber er versuchte sich an einem höflichen Nicken und folgte der Aufforderung. Im nächsten Augenblick klappte die Tür zu und er war allein. Der Raum war schlicht, aber teuer ausgestattet. Die Täfelung war frisch poliert und duftete nach einem harzigen Wachs. Der Tisch, der am Fenster stand, war einfach, aber sehr schön gearbeitet. Johannes schätzte, dass das billigere Blindholz zwischen den Edelhölzern aus Tanne bestand. Verschiedene Hölzer bildeten ein Muster. Nussbaumfurnier hob sich von Ahorn ab. Ein Tischler musste gut daran verdient haben. Gerne hätte Johannes sich die Maserung der Tischplatte angesehen, aber es lag eine ausgebreitete Karte darauf, die Schweden zeigte, die Spitze der Ostsee und ein Stück von Livland, das ebenfalls zu Schweden gehörte. Linien und Pfeile waren darauf abgebildet, außerdem militärische Kürzel, die Johannes nicht entschlüsseln konnte. Mit farbiger Tusche waren zudem einige Zeichen in der Newamündung eingetragen. Nachlässig auf den Tisch geworfen lag außerdem ein noch verschlossener Brief. Das Siegel war von der Ecke einer Landkarte verdeckt, sodass er es nicht erkennen konnte. Im ersten Augenblick dachte Johannes, es sei Marfas Schreiben, aber dann erkannte er eine Schrift, die viel steiler und kantiger war als Marfas runde Buchstaben. Bevor er entziffern konnte, von wem der Brief kam, hörte er, wie die Tür aufging, und fuhr herum.
»Ich grüße Euch, Oberst Derejew«, sagte er so höflich, wie er es gelernt hatte, und verbeugte sich. Der Oberst nickte ihm kurz zu und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer. Seine Stiefel schlugen auf die Holzdielen wie Hämmer. Mit Schwung ließ er sich auf dem Stuhl nieder und warf Marfas Brief auf die Landkarte. Er war ungeöffnet. Die Pause, die entstand, war unangenehm. Derejew würde ihn nicht auffordern sich zu setzen, begriff Johannes. Es ärgerte ihn, dass der Oberst ihn wie einen Bediensteten behandelte. Gut, sein Gegenüber schweigend und geheimnisvoll anstarren konnte er ebenfalls. Er hob den Blick und hielt der Musterung stand.
Zum ersten Mal konnte er Oberst Derejew genauer betrachten. Er war ein Bojar, ein Vertreter des alten Adels in Russland, so viel wusste er. Aber im Gegensatz zu vielen Bojaren, die zu den Altgläubigen zählten und sich gegen alle Veränderungen wehrten, die der Zar in seinem Reich durchsetzte, schien sich Derejew in der neuen Zeit gut zurechtzufinden. Er zahlte keine Bartsteuer, um wie die alten Popen und Würdenträger seinen Bart behalten zu dürfen, sondern war rasiert. Wie der Zar so trug auch er einen Schnurrbart und seine preußisch anmutende Uniform saß, als wäre sie angewachsen. Er war ein stattlicher Mann und für seine Feinde ein mächtiger und gefährlicher Gegner. Johannes erinnerte sich an die unausgesprochene Drohung, die ihn über den Verbleib der Russalka schweigen ließ, und senkte nun doch den Blick. Darauf schien Oberst Derejew gewartet zu haben. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Nun, was gibt es?«, fragte er.
Johannes räusperte sich und deutete auf den Brief. »Meine Tante Marfa Simeonowna hat Euch geschrieben.«
»Das dachte ich mir fast, als ich den Absender betrachtet habe«, erwiderte Derejew sarkastisch. »Ich werde ihren Brief lesen, sobald du mir geschildert hast, worum es darin geht.«
Gut, dachte Johannes wütend. In höflichen Worten begann er das Gespräch mit Marfa zu schildern. Er berichtete von den ertränkten Katzen und Marfas Vermutung, dass eine Verschwörung dahinterstecken könnte.
Derejew nickte. »Ich hörte, dass bei euch ein Arbeiter entlaufen ist«, meinte er nach einer Weile. »Kanntest du ihn?«
Die Härchen an Johannes’ Nacken stellten sich auf. Er begriff, dass er dabei war, auf dünnes Eis zu laufen. »Flüchtig. Nicht besser als die anderen Arbeiter.«
Derejew beugte sich vor. »Aber du hast mit ihm gesprochen.« Die Stille wurde zu einer Wand aus Eis.
»Ja«, antwortete Johannes schließlich. »Natürlich. Er hat bei uns gearbeitet.«
»Hat er etwas über Sankt Petersburg oder den Zaren gesagt?«
Sie haben ihn bereits, dachte Johannes entmutigt. Sie haben ihn gefangen und verhören ihn. Und nun werde ich geprüft. Wieder machte er sich klar, dass er nicht schuldig war. Er musste preisgeben, was er wusste, dann konnte ihm nichts passieren und – was noch wichtiger war – Derejew würde darauf verzichten, weitere Fragen zu stellen.
»Ja, er sagte, dass die Stadt mitsamt dem Zaren in der Newa ersaufen würde. Diesen Satz hat er irgendwo aufgeschnappt. Aber ich nahm es nicht so ernst – viele der Leibeigenen beklagen ihr Schicksal und hassen die Stadt.«
Derejew lächelte. »Natürlich hassen sie die Stadt. Und euch Deutsche ebenfalls. Was sollen sie sonst tun, außer arbeiten und hassen? Ihr verachtet sie ja schließlich ebenfalls.«
»Das ist nicht wahr«, erboste sich Johannes. »Es ist nicht schwer, Widerwillen gegen jemanden zu empfinden, der einen solchen Hass hegt. Wir sind für sie die Ausländer, die Ketzer und Teufel.«
»Welch philosophische Gedanken der Zimmermann hat«, stellte Derejew spöttisch fest. »Und wie steht es mit dir? Bist du nicht selbst voller Hass? Du magst mich nicht, das ist deine Sache. Aber du urteilst über mich wie über die anderen Russen, das stimmt doch, oder?«
Johannes schwieg.
»Ich kann nicht sagen, dass ich die ganzen Leute, die Zar Peter hierher geholt hat, besonders liebe«, fuhr Derejew fort. »Aber was du auch denken magst, ich bin nicht euer Feind. Ich versuche diese Stadt im Gleichgewicht zu halten. Ich will beides – das Alte und das Neue.«
Johannes wunderte sich, warum ihn die freundlich-kühlen Worte des Obersts so sehr verunsicherten. War er, Johannes, wirklich schon so misstrauisch? Er wusste nicht, was ihn antrieb eine Frage zu stellen. Vielleicht war es der Wein, der immer noch in seinem Kopf sein Unwesen trieb, vielleicht auch Carsten Sund, der ihm all die neuen Möglichkeiten gezeigt und das Gefühl, unsichtbaren Feinden ausgeliefert zu sein, deutlich gemildert hatte. »Wo ist Natascha Neglowna begraben?«, fragte er.
Derejew sah ihn scharf an. »Sag du es mir. Sie ist aus eurer Werkstatt verschwunden.« Johannes war überrumpelt von der Aufrichtigkeit des Obersts. Argwöhnisch beobachteten ihn die braunen Augen. »Wenn Ihr es nicht wisst, warum habt Ihr dann gesagt, ihre Verwandten hätten ihren Leichnam abgeholt?«
»Ich weiß nicht, ob du es begreifst, Zimmermann. Ich habe dir einen Gefallen getan. Wer nahe am Feuer, der nahe am Brand. Ihr seid der Flamme schon sehr nahe gekommen.«
»Was soll das heißen?«
»Der Zar schätzt euch, die Architekten kennen die Arbeit deines Onkels. Aber du kennst den Zaren nicht«, sagte er und beugte sich vor. »Du hast doch in Moskau gelebt. Erinnerst du dich nicht mehr an die jährliche ›Wahnsinns-, Spaß– und Saufsynode‹, die er mit seinen Freunden in den Straßen abhält?«
Natürlich erinnerte sich Johannes an den Mummenschanz, bei dem sich Zar Peters Freunde als Patriarch, als Metropoliten, Archimandriten, Popen und Diakone verkleideten und mit den Abzeichen kirchlicher Würde angetan singend und marodierend durch die Straßen zogen. Zar Peter trat meist als Schiffstrommler oder friesischer Handwerker auf.
»Er verhöhnt den alten Glauben«, fuhr Derejew fort. »Auch dir dürfte nicht entgangen sein, dass er für euch Fremde oft mehr übrig hat als für sein eigenes Volk. Er ist furchtlos, aber eines fürchtet er mehr als alles andere: Verrat. Deshalb stich in das Wespennest und du wirst sehen, was geschieht. Wenn es um Verrat geht, ist niemand vor seinem Zorn sicher.« Er machte eine effektvolle Pause. »Auch ihr nicht.« Er atmete tief aus und schien sich zu sammeln. »Ich kann nicht behaupten, es sehr zu schätzen, dass so viele Fremde hier sind. Aber der Zar ist mein Herr und ich habe nicht über seine Befehle zu urteilen. Und deshalb sage ich dir: Sieh dich vor mit Verdächtigungen und Anklagen. Wenn der Wind sich dreht und irgendjemand wittert, dass du selbst daran beteiligt sein könntest, dann wirst du unter der Folter alles zugeben, was Zar Peter hören will.« Er lächelte freundlich.
Johannes war mit einem Mal nüchtern. »Das ergäbe keinen Sinn«, ereiferte er sich. »Ich bin fremd hier. Ohne den Zaren hätte ich hier nichts zu suchen. Warum sollte ich an einer Verschwörung gegen ihn beteiligt sein?«
»Es reicht schon viel weniger als eine Verschwörung. Jemand könnte bezeugen, dass du Spottlieder auf den Zaren singst. Jemand könnte eins der Bilder bei euch finden, auf denen der Zar als Kater abgebildet ist.«
Johannes konnte sich nicht entscheiden, ob er eine gut gemeinte Warnung oder eine versteckte Drohung hörte. Der Boden unter seinen Füßen erschien ihm wie ein schwankendes Gerüst, auf dem er keinen Halt fand.
»Ich weiß nicht, wer das Mädchen war und wie es zu Tode kam«, schloss Derejew. »Das ist die Wahrheit und die wirst du für dich behalten. Ich dachte, sie wäre eine Adlige, und diese Meldung wäre über kurz oder lang beim Zaren gelandet. Vielleicht gehörte sie zu den Narren, die versuchen die Stadt wieder einzureißen und die das Tagwerk der Brückenbauer vernichten. Was für ein nutzloses Unterfangen!«
Johannes entspannte sich. Die Worte klangen logisch. Vielleicht hatte Derejew Recht. Mit einem Mal erschien ihm der Oberst längst nicht mehr so beängstigend und unberechenbar. In diesem Augenblick fand die Welt, die seit dem Auftauchen der Russalka so sehr aus den Fugen geraten war, wieder in ihren Lauf zurück. Er hatte sich geirrt. Derejew wusste nichts von der Russalka. Zumindest hatte er nun einen Feind weniger. Er erwiderte Derejews Lächeln und fühlte sich, als sei eine schwere Last von seinem Rücken gerutscht. Zum ersten Mal gestand er sich ein, dass er wirklich an einem falschen Bild festhielt. Überall sah er nur ungeschlachte Moskowiter und intrigante Leibeigene, aber Derejew war ein Adliger. Er hatte vielleicht studiert und Bücher gelesen. Zweifellos war er weitaus gebildeter, als Johannes es je sein würde.
»Nun, dann wollen wir sehen, was deine Tante mir schreibt«, sagte Derejew versöhnlich und beugte sich über den Tisch.
Johannes betrachtete die Hände des Obersts. Sie waren sehnig und schön geformt, man sah ihnen nicht an, dass sie Waffen hielten und die Peitsche schwingen konnten. Als Derejew nach Marfas Brief griff, der am Rand des Schreibtisches lag, rutschte der Uniformärmel ein Stück zurück. Helle Haut kam zum Vorschein. Im ersten Augenblick fiel Johannes nur auf, dass Derejews Hand dort, wo die Sonne hinkam, viel dunkler war als am Unterarm. Das Zweite, was er sah, waren die Kratzer. Sie waren so akkurat gezogen wie mit dem Lineal, vier tiefe, parallele Risse. Kratzspuren, wahrscheinlich von einer Katze. Im nächsten Moment rutschte der Ärmel wieder zurück wie ein Vorhang in einem Spielmannszelt. Oberst Derejew lehnte sich zurück und entfaltete den Brief.
Johannes begann zu schwitzen. Es konnte Zufall sein. Die Kratzer konnten von etwas anderem stammen – und selbst wenn eine Katze Derejew diese Verletzungen beigebracht hatte, was bedeutete das schon? Dennoch, das pochende Gefühl der Bedrohung sagte ihm etwas ganz anderes. Er saß mitten in der Wolfshöhle. Er leckte sich über die Lippen, die trocken wie Sägemehl waren, und wagte kaum zu atmen. Gleich würde Derejew von dem Brief aufblicken und erkennen, dass Johannes die Kratzer gesehen hatte. Wie hatte er so dumm sein können, dem Oberst zu glauben? Angst wallte in ihm auf, als er sich an den Leibeigenen erinnerte. Mit plötzlicher Klarheit wusste er, was mit dem Mann geschehen war. Nun, seinen Leichnam würde niemand finden. Konzentriert starrte er auf den Tisch und betrachtete Derejews Brief, der immer noch halb unter der Karte lag. Es war schwer, die kyrillischen Buchstaben zu lesen, zumal sie auf dem Kopf standen. Oberhalb des Namens war der Ort eingetragen, aus dem der Brief kam. Jesengorod. Die Stadt, aus der auch der Leibeigene stammte. Der Name des Absenders war kleiner geschrieben. »Karpakow«, entzifferte er schließlich. Er kam nicht mehr dazu, den Vornamen zu entschlüsseln.
»Wir untersuchen die Sache«, meinte Derejew und legte Marfas Brief wieder hin. »Sage deinem Onkel und deiner Tante, sie sollen weiterhin Schweigen bewahren. Es ist gut, dass ihr euch an mich gewandt habt, statt diese Sache mit den Katzen unter das Volk zu streuen. Ich will keine Gerüchte.«
Johannes nickte. Nichts anmerken lassen. Nicht zu freundlich sein. »Danke«, brachte er hervor und verneigte sich leicht. Oberst Derejew sah ihn noch einmal prüfend an und entließ ihn dann mit einem knappen Nicken. Johannes konnte sich nicht daran erinnern, wie er aus dem Zimmer gekommen war. Alles, was ihm noch im Gedächtnis haftete, waren seine Schritte, die auf den Dielen dröhnten. Jeder Soldat schien ihn anzustarren. Erst am Newator blieb er stehen und holte tief Luft. Obwohl sie klar und frisch war, hatte er das Gefühl zu ersticken. Derejew und die Verschwörer. Er überlegte, ob er seinen Onkel ins Vertrauen ziehen sollte, und entschied sich dagegen. Er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte, wurde ihm klar. Niemanden außer … Jewgenij. Ein neuer Schreck durchfuhr ihn: Ob Derejew ihn beobachten ließ und von seinen Ausflügen ans Newaufer wusste? Er musste Jewgenij warnen!
»He, willst du mit, oder was?« Er zuckte zusammen und bemerkte, dass der Lastkahn gerade dabei war, abzulegen. Über einen Graben aus grünem Wasser grinste der Fuhrmann ihn verächtlich an. Ohne zu antworten nahm Johannes Anlauf und sprang auf das glitschige Deck.
* * *
In der Nacht träumte er von der wunderschönen Jelena und dem Häuschen auf Hühnerbeinen. Katzenschädel staken auf den Pfosten. Jelena lächelte. Sie hatte das Gesicht der Russalka und aus ihrer Schulter ragte ein Holzpflock. Wieder hatte er das Gefühl, in einer Falle zu sitzen und zu ersticken. Am liebsten hätte er sich sofort zu Jewgenij aufgemacht. Beruhige dich, befahl er sich und zwinkerte in das Morgenlicht. Iwan hatte sich bereits aufgesetzt und strich sich die Haare glatt. Er sah müde aus und so alt, dass Johannes sich unwillkürlich fragte, wie lange der Leibeigene noch leben würde. Verstohlen beobachtete er, wie der alte Mann nach seinem Bart tastete, als fürchtete er, der Zar könnte sich nachts in die Kammer geschlichen haben, um ihn seines kostbarsten Guts zu berauben. Dann stand er auf und schlurfte hinaus.
Johannes hätte gerne über dieses Verhalten gelächelt, aber seit dem gestrigen Tag war ihm nicht mehr danach zumute. Ein Verdacht drängte sich ihm auf. Sollte Iwan …? Hastig sprang er auf, schob seine Decke beiseite und klappte den Deckel der Sitzbank hoch, dessen Holz von seinem Schlaf durchwärmt war. Seine Kiste war noch da, so wie er sie hineingelegt hatte. Trotzdem zog er sie hervor und öffnete sie. Er fand nichts Ungewöhnliches. Kein untergeschobenes Bild eines Katers, der den Schnurrbart des Zaren trug. Erleichtert atmete er auf, aber dann fiel ihm ein, dass er an der Stelle eines Verschwörers das Bild ein bisschen besser verstecken würde, und begann Brief für Brief hervorzuziehen und zu entfalten. Christines Bildnis lächelte ihm engelhaft und abwesend zu, da war Simons Nachricht und andere Schreiben, aber nichts Verdächtiges. Endlich war er beim letzten Stück Papier angelangt – der alte Brief von Onkel Michael. Johannes zog ihn heraus und wendete ihn hin und her. Mitten in der Bewegung stutzte er. Es war derselbe Brief, kein Zweifel. Aber ihm war, als würde er ihn zum allerersten Mal sehen. Da war sie – die Zeichnung der Kiste, die sein Onkel vor vielen Jahren für einen Adligen gefertigt hatte. Es erforderte viel Geschick, solche komplizierten Intarsien zu schnitzen und einzulegen, die dieses filigrane Wappen verlangte: das Bild eines geflügelten Fisches.
* * *
Erstaunlicherweise ging das Leben weiter wie bisher. Marfa war erleichtert, dass die Nachricht über die ertränkten Katzen bei Derejew angekommen war. Johannes erschien dieses ganze Gefüge wie ein Haus aus Reisig, das jederzeit zusammenbrechen oder in Flammen aufgehen konnte. Carsten Sund kam vorbei, besprach die neuen Pläne, lobte aber Johannes nicht für seine gestrige Arbeit. Johannes begriff, dass es für den Baumeister ein Spiel mit hohem Einsatz war. Er wollte Johannes abwerben, dafür durfte er Michael nicht zeigen, wie wertvoll sein Lehrling für ihn war. Allerdings ließ er seinen Blick anerkennend über das Modell der Sankt Paul gleiten und zwinkerte Johannes zu. Im selben Augenblick beschloss Johannes, das Schiff nie und nimmer zu verkaufen. Mehrmals vergewisserte er sich, ob der Zettel, auf dem er die Kiste und das Wappen hastig nachgezeichnet hatte, noch an seinem Platz war. Mitja war wie vom Sumpf verschluckt. Kurz überlegte Johannes, ob der Gottesnarr vielleicht das Schicksal des rebellischen Leibeigenen teilte, aber er beruhigte sich sofort mit dem Wissen, dass der Narr nach den hiesigen Vorstellungen heilig war. Niemand würde es wagen, ihm etwas zuleide zu tun, nicht einmal Derejew.
Am Nachmittag kam eine neue Fuhre aus Moskau an und Johannes nutzte die Gelegenheit, um mit Iwan zur Werft zu eilen, wo die Waren verkauft und Briefe verteilt wurden. Er bekam ein schlechtes Gewissen, als er sah, wie Leute dem Fuhrmann, der am folgenden Tag wieder zurückkehren würde, Briefe übergaben. Bestimmt wartete Christine sehnsüchtig auf eine Nachricht von ihm, er dagegen hatte nicht einmal daran gedacht, ihr zurückzuschreiben. Aus Nowgorod waren neue Arbeiter gekommen, die ihren Aufsehern zugewiesen wurden. Johannes kaufte Mehl und Zucker, teure Gewürze und eingelegtes Kraut und packte die Sachen in die großen Taschen, die Marfa ihm mitgegeben hatte. Iwan ließ es schweigend und mit unbewegtem Gesicht geschehen, dass sich Johannes den größten Teil der Last auflud. Andere Leibeigene waren ebenso alt wie Iwan, schleppten aber so viel, dass sie schwankten. Johannes beeilte sich, denn er sah sehr wohl, wie sich Iwan die ganze Zeit über verstohlen umsah, als würde er fürchten überfallen und geschoren zu werden. Johannes glaubte sich beobachtet und hatte das Gefühl, überall die Schatten toter Katzen zu sehen. Natürlich fielen ihm auch einige von Derejews Leuten auf, die ihn musterten, sich aber nichts weiter anmerken ließen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Jewgenij konnte er nirgends entdecken, doch er traf einen Apothekenhelfer, der einen in ein Tuch eingewickelten Fisch trug. Der Schwanz, der aus dem Bündel ragte, war säuberlich abgeschnitten. Genauso bereitete Jewgenij seine Fische für den Verkauf vor. Russalkas naschten Fischflossen so gern wie die Menschen Apfelschnitze und Jewgenij hob sie ihnen von seinem Fang auf.
»Lass uns gehen«, knurrte Iwan.
Johannes sah ihn verblüfft an. Es war das erste Mal, dass Iwan einen Wunsch äußerte. »Ja«, antwortete er. »Sicher, wir sind fertig. Gib mir die Tasche, ich muss ohnehin in die Werkstatt zurück.«
Iwans Blick zuckte über seine Schulter, dann schlug der Alte die Augen nieder.
»Was ist?«, fragte Johannes leise.
»Nichts«, murmelte Iwan. »Gott hat ein Auge auf dich, das ist alles.«
»Was meinst du?«
Iwan musterte konzentriert die Einkäufe. Ohne den Blick zu heben sagte er: »Der Gottesnarr – er folgt dir schon den ganzen Tag, aber er hält sich in deinem Rücken.«
»Wo ist er jetzt?«, flüsterte Johannes.
»Hinter der Schnitzerei, er späht auf der linken Seite um die Ecke.«
»Gut, geh vor, ich komme später nach.«
Iwan sah ihn entsetzt an. »Ich habe dir gesagt, halte dich von ihm fern! Einem Ketzer wie dir bringt er Unglück!« Er verstummte. Noch während er den Satz ausgesprochen hatte, war ihm klar geworden, dass er den Neffen seiner Herrin beleidigte.
»Ist schon gut, Iwan. Wenn es so ist, habe ich das Unglück eben selbst herausgefordert.«
Bevor Iwan etwas erwidern konnte, drehte sich Johannes um und ging auf die Schnitzerei zu. Natürlich war Mitja verschwunden. Johannes bog nach rechts ab, schlüpfte hinter das Haus und stellte seine Tasche ab. Dann schlich er um die Ecke. Er hatte richtig vermutet. Mitja ging vor wie ein Kind, das versuchte sich zu verstecken. Mit dem Rücken zu ihm stand er hinter dem Haus und lugte um die Ecke. An den Schultern war sein Soldatenrock so abgewetzt, dass Mitjas erstaunlich saubere Haut durch den fadenscheinigen Stoff schimmerte.
»He!«, sagte Johannes leise.
Der Narr fuhr herum. Schneller, als Johannes denken konnte, zuckte ein Messer durch die Luft. Einen Lidschlag später sauste es an Johannes’ Arm vorbei, dann hatte er dem Narren die Waffe schon aus der Hand gewunden. In hohem Bogen flog das Messer davon. Mitja heulte auf. Sofort ließ Johannes ihn wieder los. Seine Hände zitterten. »Mitja, bist du verrückt?«, zischte er und wurde sich im selben Moment bewusst, wie aberwitzig diese Frage war. »Ich bin es!«
»Katzen und Ratzen«, erwiderte Mitja mürrisch. Abwesend betrachtete er Johannes’ Handfläche. Erst jetzt bemerkte auch Johannes das Pochen und sah, dass das Messer ihm einen winzigen Schnitt beigebracht hatte. Ein perfekter Blutstropfen quoll hervor und bildete eine große Perle. Mitjas Augen wurden groß. Dann strahlte er Johannes an, als hätte er ihn eben erst erkannt. Johannes kämpfte seinen Ärger nieder und zog mit seiner unverletzten Hand die Zeichnung aus der Tasche. »Hier!«, raunte er. »Sieh dir das an – hast du davon geträumt?«
Mitja sah verständnislos die Zeichnung der Kiste mit dem fliegenden Fisch an und zuckte die Schultern. Das Messer, woher er es auch immer hatte, war völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden. »Den Schatz hält eine Affenfaust«, sang er vor sich hin. »Die Faust steckt in einer Muschel, die es nicht gibt. Die Muschel befindet sich in einem Beutel aus gelbem Samt, der Beutel in einem Kästchen und das Kästchen in einer Truhe, die das Bild eines geflügelten Fisches trägt.«
Also doch, dachte Johannes. Es ist das richtige Wappen und die Truhe.
»Und der Schatz, was ist der Schatz?«
»Was ist der Schatz?«, sang Mitja weiter.
Johannes ließ sich nicht täuschen. Der Narr verstand ihn genau. Mitja war bei weitem nicht so verrückt, wie alle dachten. Hinter dem Wahnsinn arbeitete ein wirrer, aber scharfer Verstand.
»Du und ich«, sang der Narr. »Wir haben Wein getrunken in des Zaren Kammer … schön bist du, schön, Baba Jaga Knochenbein!« Er knüllte das Papier zusammen und machte Anstalten, es sich in den Mund zu schieben.
»Halt!«, rief Johannes und packte Mitja am Arm.
»Spiele nicht dieses Spiel mit mir. Deine Russalka wird sterben, wenn du mir nicht hilfst. Geht das in deinen Kopf?«
Mitjas Augen waren Quecksilbertropfen auf einem hellen Teller. Plötzlich begann er zu weinen. Mit angewidertem Gesicht machte er sich von Johannes los und kauerte sich zusammen. Er wiegte seinen Körper vor und zurück, vor und zurück.
Johannes richtete sich auf, das Papier in seiner Hand war zerknittert und nun auch noch mit seinem eigenen Blut beschmiert. Er steckte seinen Finger in den Mund und leckte das Blut ab. Als er den Finger wieder ansah, bildete sich kein Tropfen mehr auf der Fingerkuppe, sondern nur ein kriechender roter Strom. Blutperle, dachte er. Der Gedanke klickte in seinem Kopf wie ein Räderwerk, das einrastete. »Ist der Schatz eine Perle? Es muss eine Perle sein! Du hast sie mir gezeigt damals, als du gestolpert bist und dich verletzt hast.«
Der Narr schüttelte heftig den Kopf, bis Johannes schon befürchtete, ihm würde schwindlig werden und er könnte einfach umfallen. Erst nachdem Johannes ihn am Arm ergriffen hatte, beruhigte er sich wieder und blinzelte.
»›Der Schatz leuchtet an der Krone des Himmels?‹«, flüsterte Johannes ihm eindringlich zu. »Das hast du zu mir gesagt. ›Der Fisch, der Wolken küsst, verschlingt sie.‹ Damit hast du den geflügelten Fisch gemeint, nicht wahr? In dieser Truhe liegt sie. Die Perle.«
Mitjas Augen wurden groß. »Sie ist rot!«, rutschte es ihm heraus, dann schlug er sich ertappt die Hand auf den Mund