Es war ein Knacken, so leise, dass ich es nur spüren konnte. Spinnwebfeine Bruchlinien schienen aus meinen Fingerspitzen zu wachsen und breiteten sich aus, schneller und schneller, erreichten die Wände und kletterten weiter. Putz rieselte und fiel, Staublawinen rutschten, weggesprengt von den wandernden Linien, die bis zur Decke krochen. Die ganze Kammer bestand aus Glas, das Mauerwerk war nur Fassade gewesen.
Glas, das früher Wasser war, dachte ich. Onyxwasser, Tana Blauhand und die anderen haben es über die blauen Wege in die Wüste und in die unterirdischen Zisternen der Stadt geleitet. Und aus dem Wasser und aus ihrem Verrat, der jedes Gesetz ins Gegenteil verkehrte, schufen sie die Kerker.
Die Gespenster schrien auf und wichen vor dem wandernden Netz aus Rissen zurück, Juniper packte die Graue am Halsband und zog sie zur Tür. Sie rief mir etwas zu, das ich nicht verstand, zu schrill klang der Alarm, der plötzlich losging.
Grelle, glasscharfe Kälte durchbohrte jeden meiner Finger. Das Atemholen einer anderen Wirklichkeit ließ mich schwer werden und presste mich gegen das Glas. Jahre und Bilder fremder Erinnerungen durchströmten mich. Schnee und Sand und Sternenschauer. Der alterslose Greis hatte die Augen geöffnet und sah mich an. Dann holte er Luft wie ein Ertrinkender und bog den Kopf zurück, der ganze Körper verkrampfte sich, eine lebende Brücke, die sich vom Hinterkopf zu den Fersen spannte. Meine Hand versank im Glas, und dann sah ich in dem Bruchteil der Sekunde, bevor alles zerbrach: Blaue, pulsierende Waben, Trauben von Gebilden, so dicht, dass ich zwischen ihnen ersticken müsste, und hauchzart wie Seifenblasen. Fäuste trommelten und schlugen mit aller Kraft gegen die schimmernden Häute, die sich bogen, aber nicht brachen. Nur eine einzige Hand war keine Faust. Kratzer von Falkenkrallen zeichneten das Handgelenk und eine Tätowierung, eine Wüstenblume, die beides gewesen war: Freundschaftszeichen und Sklavenmal. Die Hand streckte sich mir entgegen und ich ergriff sie und umklammerte sie so fest, dass es wehtat. In der Ferne tobte die Welt, aber um mich herum war nur noch Dunkelheit, ein sternloser Himmel, finster und einsam und kalt wie zerspringendes Eis. Und darin: ein Duft nach Wüste, kühle Lippen, die meine fanden, und ein Kuss, von dem ich mein Leben lang träumen würde – vielleicht über den Tod hinaus.
Jemand schrie, aber ich hörte nur eines: einen feinen, sirrenden Klang, wie das Zupfen an einem zum Zerreißen gespannten Faden. Ein Knoten löste sich – irgendwo in Raum und Zeit. Dann folgte eine Explosion aus Watte, die mich taub machte ohne ein Geräusch. Der Druck in meinen Ohren wurde schmerzhaft stark, alle Luft wurde aus dem Raum gesaugt. Und alles Blau zerbrach in Splitter und die Splitter in Tropfen und Wellenschlag. Ich fiel, Kälte schlug über mir zusammen, überspülte mich wie eine Woge aus Eiswasser, schwer wie Marmor. Die Wucht eines Aufpralls schlug mich aus der Welt in eine Schwärze ohne Atem und Licht. Das Letzte, was ich in der ohrenbetäubenden Stille hörte, war das Weinen einer sehr alten Frau.
*
Wenn ich jemals geträumt hatte, dann in diesem Moment. Es musste ein Traum sein, denn Amad war bei mir, er hielt mich in seinen Armen und auf meinen Lippen glomm immer noch dieser dunkle, glühende Kuss zwischen zwei Wirklichkeiten, der mich zittrig und völlig benommen zurückgelassen hatte. Aber es war kein Traum. Unter meinen Fingerspitzen fühlte ich muskulöse Schultern und nasses, glattes Haar und an meinen Lippen einen warmen Atem, der mich erschauern ließ. Ich umschlang Amad und drängte mich an ihn, vergrub meine Nase an seinem Hals, wühlte meine Finger in sein Haar, und er zog mich so fest an sich, dass ich nur noch einen einzigen Herzschlag wahrnahm – unseren. Irgendwo in der Ferne tauchte nach und nach wieder eine Welt auf. Eisige Kälte, Lärm und das Beben von brechendem Stein. Amad legte sich halb über mich und schützte meinen Körper mit seinem und mein Gesicht mit seinen Händen. Der Boden erzitterte, um uns herum donnerte und grollte es. In der Ferne schrie jemand gellend auf und verstummte abrupt. Rufe vermischten sich mit Wasserrauschen, und als ich blinzelte, leuchtete um mich herum das letzte verlöschende Blau auf und verschwand. Zurück blieb nur Aquamarin, in dem ich ganz versank. Heute hätte ich schwören können, dass Amads Augen einen Sternenglanz hatten.
»Ich habe dich wieder!« Meine Stimme entfachte ein Lächeln auf seinem Gesicht. Und er wäre nicht mein Amad gewesen, wenn er nicht sogar jetzt spöttisch die Braue hochgezogen hätte. »Und es sieht dir ähnlich, dich dafür mit einer ganzen Stadt anzulegen.«
»Niemand nimmt mir meinen Liebsten weg!«
»Ich gehöre dir? Jetzt redest du wie eine Eroberin.«
»Gewöhn dich daran. Was ich einmal wiedergefunden habe, lasse ich nie wieder los. Egal in welcher Wirklichkeit!«
Sein Lächeln war schattig und schön. Und als er mein Gesicht in seine Hände nahm, war es der erste Kuss, der nur uns beiden gehörte. Amad hatte recht, wir waren wie Sonne und Mond, aber hier, Haut an Haut, bekam die Nacht einen Sonnenglanz und die Kälte des Wassers wurde zu einem warmen Glühen, das mich ganz durchrieselte. Die Zeit verschwamm und es gab nur noch den Duft von Feuern und Wüstenwind und seine Lippen, die sich an meine drängten, seine Hände und das endlose Fallen ohne die Angst, den Halt zu verlieren. Und für keine Zweiheit dieser Welt hätte ich diese Nähe eingetauscht. Atemlos tauchten wir nach einer Ewigkeit wieder auf.
»Du hast gewusst, dass ich zurückkehre, nicht wahr?«, sagte ich leise. »Nur deshalb hast du mir beigebracht, mit den Augen des Jägers zu sehen. Damit ich dein Herz erkenne, an wen auch immer du gebunden bist.«
»Ich wusste es nicht, aber ich habe es gehofft.«
»Obwohl du nie wieder einer Moreno vertrauen wolltest?«
Amad zog meine Hand an seine Lippen und küsste meine Handfläche. »Ich habe Canda Blauhand vertraut. Sie lässt niemanden im Stich, dem sie einmal ihr Herz geschenkt hat. Und das ist keine Gabe. Das bist ganz allein du.«
Nur widerwillig ließ ich es zu, dass sich die Welt wieder zwischen uns drängte. Steine brachen in der Nähe und die Kälte von Onywasser vermischte sich mit der Hitze von Wüstenwind. Als ich mich umsah, erschrak ich.
Das, was einst eine Falle für einen Hinterhalt und später das Haus der Verwaisten gewesen war, bestand nur noch aus Trümmern. Die Wände aus Wasser hatten das Dach zum Einsturz gebracht, nicht einmal die Ringmauer hatte dem Druck dieser Veränderung standgehalten. Es war ein Wunder, dass die Schlafenden nicht erschlagen worden waren. Das Wasser hatte den brechenden Stein noch im Fallen an die Seiten des Raums gedrückt. Nachtwind strich über nasse Haut, eisige Wellen schlugen über meine Beine und versickerten irgendwo zwischen Trümmern. Dort, wo vor wenigen Augenblicken noch Gemäuer und ein Dach gewesen waren, hing ein schwerer, samtweicher Nachthimmel, bestickt mit Sternen.
»Lass uns gehen«, sagte Amad. Ich nickte und wollte aufstehen, aber Amad hob mich hoch und trug mich zwischen den Trümmern zu einer Treppe. Sie war mit Steinbrocken übersät, aber nicht zerbrochen. Früher hatte sie in das Verließ unter Glas geführt.
Um uns herum erhoben sich die letzten Medaskrieger aus ihrem hundertjährigen Gefängnis. Das Ende der Zweiheiten Ghans. Und das Ende von Ghan. Irgendwo in anderen Ländern fielen Manoas Kunden zurück in eine normale Existenz. Vielleicht wurden gerade Eroberungskriege verloren. Sängern versagte die Stimme, Fährtensucher kamen vom Weg ab. Und auch in den Türmen von Ghan herrschte gerade das Chaos.
Hier dagegen ging es stiller zu. Die Medasmenschen sahen sich um, erkannten einander, erinnerten sich. Das Licht der Milchstraße ließ ihre Gesichter leuchten. Wahida bahnte sich den Weg zu einer älteren Medasfrau, die sie umarmte wie eine verlorene Tochter. Und mitten unter all den Gestalten entdeckte ich zwei besondere Lichter, ein Paar, das sich in den Armen lag, als wollte es sich nie wieder loslassen. Ein Mädchen, so strahlend schön vor Glück, dass es fast wehtat, sie anzusehen – wie ein Blick in die Sonne. Und ihr dunkler Geliebter, dessen langes, glattes Haar sogar im Sternenlicht den blauschwarzen Glanz von Federn hatte. Die Sonne und der Rabe, dachte ich.
Die Gespenster des Verwaistenhauses und auch die neue Verwalterin waren verschwunden. Vermutlich hatten sie sich zurück in ihre Kammern geflüchtet. Die Menschen, die eben noch Verrückte gewesen waren, erwachten einer nach dem anderen und setzten sich benommen auf. Tian verzog das Gesicht, als er seine verletzte Hand bewegte. Aber er vergaß seinen Schmerz, als sein Blick auf Kallas fiel. Sie löste sich eben aus Gavrans Umarmung. Ein paar Augenblicke erinnerten die drei an ein gefrorenes Bild. Und ich liebte meine Schwester Glanz – denn das war sie und würde sie für mich immer sein – dafür, dass sie sich ein Herz fasste und zu Tian hinüberging.
Als Amad und ich schon am Ende der Treppe waren, entdeckte ich auch den Mann, der einst ein Mädchen geliebt hatte, das heute schon weißes Haar hatte. Er stützte sich mühsam auf schwachen, zitternden Armen auf und betrachtete ungläubig seinen Körper, der nicht mehr siebzehn war wie bei seinem letzten bewussten Atemzug. Es schnürte mir die Kehle zu, so leid tat er mir. Die Mégana müsste bei ihm sein, dachte ich. Nur wegen ihm ist sie doch hierhergekommen?
*
Ich hatte mich geirrt. Sie wäre nicht zu ihrem Geliebten gelaufen, sondern wollte sich mit den Gespenstern in Sicherheit bringen. Aber weit war sie nicht gekommen. Wir fanden die alte Frau im nächsten Raum, von dem nur noch eine Steinplattform und eine Treppe stand. Sie hatte weniger Glück gehabt als die Schlafenden. Die einstige Mégana lag auf dem Boden zwischen Trümmern eines Balkens, der sie mitten ins Genick getroffen hatte. Kein Atem hob und senkte ihre Brust. Ich konnte mir denken, was sie so sehr erschreckt hatte, dass sie nicht mehr auf die herabfallenden Dachbalken geachtet hatte: Hinter dem Körper ragten zwei Schatten auf, Henker und Totenwache in einem.
»Lass mich zu ihr gehen«, flüsterte ich Amad zu.
Er stellte mich auf die Beine. Mir wurde schwindelig und meine Wunde brannte wie Feuer, aber ich achtete nicht auf meine Schwäche. Ich ließ mich neben der Herrscherin nieder. Der Mégan hatte wie ein verwelktes Blatt gewirkt, aber bei ihr war der Tod gnädiger gewesen und zeigte mir einen letzten Abglanz des kämpferischen Mädchens, das sie einst gewesen war. Vorsichtig strich ich ihr das nasse weiße Haar aus der Stirn und stellte mir vor, dass es einst vielleicht so sonnenblond gewesen war wie das von Kallas. Es war dieses Mädchen, um das ich trotz allem trauerte.
»Auch sie hat für ihre Liebe alles gewagt«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Amad. Er trat zu mir und legte mir die Hände auf die Schultern.
»Ich weiß«, sagte er mit belegter Stimme. »Aber sie hat verloren. Weil … sie mir glaubte. Vor langer Zeit, als ich alles tat, um mein Volk zu befreien. Und es damit nur tiefer in die Sklaverei stieß.«
Und auch dafür liebte ich ihn: Für die Trauer in seiner Stimme, die trotz allem auch dem Mädchen galt, das er einst betrogen hatte.
»Seid ihr jetzt endlich zufrieden?«, wandte ich mich an die Wächterschatten. »Ihr habt eure Rache. Auch die andere Hälfte der Zweiheit, die euch zu Verachtung und Schande verurteilt hatte, ist tot. Jetzt geht und lasst uns leben.« Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Aber ich war überrascht, dass sie einfach verloschen, in einem Atemzug. Und erst jetzt merkte ich, wie groß die Last ihrer Gegenwart gewesen war. Mit ihnen wich auch ein Schatten von meiner Seele. Der Raum schien lichter zu werden – und dort, wo die Wächterschatten eben noch geflackert hatten, konnte ich nun Stufen erkennen. Ganz oben am Ende einer Treppe, die zu den Räumen der Gespenster geführt hatte und jetzt einfach mitten in der Luft aufhörte, stand das Mädchen!
Ich kam auf die Beine und eilte die Treppe hoch. Aber das Mädchen fiel nicht, es verharrte an der obersten Schwelle, die Arme um den Körper geschlungen. Hellwach und von ihren Lichtern befreit betrachtete sie staunend die Sterne. Ihr braunes Haar fiel in weichen Wellen bis auf ihre Hüften, aber das war nicht die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Canda, der Stadtprinzessin hatte. Ich hätte beide Frauen sein können, dachte ich. Dieses Mädchen unter Glas – und die grausame, unglückliche Herrscherin.
Die Fremde zuckte nicht zusammen, als ich ihr sacht die Hand auf die Schulter legte. Sie wandte nur den Kopf und lächelte mich mit dem Ausdruck einer verwunderten Schlafwandlerin an. »Ich hatte einen wirklich verrückten Traum«, sagte sie leise.