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Tian hatte mir erzählt, dass die Stadt voller geheimer Wege war. Und nun sah ich staunend, dass es Türen gab, die für den Zaubertrick eines perfekten Illusionisten gemacht schienen. Eine optische Täuschung machte den schmalen Spalt unsichtbar, ein Hebel ließ eine Art Drehtür aufschnappen und sofort wieder zurückfallen. Ich glitt als Letzte hinter die Wände, im selben Moment, als eine Explosion den Gang hinter der Glaswand mit einem neongrellen Blitz erhellte.

Wir flohen, so leise wir konnten. Das Licht einer kleinen Taschenlampe fing erst schmale Treppen ein und dann, nach mindestens hundert Stufen, eine steile Metallleiter, die sich in schwarzer Unendlichkeit verlor. Die Wächterschatten flackerten ungeduldig. In der Ferne hallten Männerstimmen und Schritte. Juniper packte kurzerhand die Graue und schulterte sie, dann kletterte sie geschickt mit nur einer Hand voraus nach unten. Wir sprachen kein Wort, und selbst Vida, die erst noch meine Hand umklammerte, als wollte sie mir die Finger brechen, schwieg und kletterte in die Schwärze. Als Letzte glitt ich in den Schacht. Es war ein Wettlauf gegen die Echos von Soldatenschritten. Wenn sie in den Schacht schießen, sind wir verloren, dachte ich mit einem Frösteln.

Je tiefer wir kamen, desto mehr roch es nach altem Stein und Staub, nach Knochen und Rattenfell und Sand. Der Schacht führte uns tief hinab in ein Labyrinth aus alten Fundamentmauern.

Insekten flohen vor uns, viel zu nah kratzten Gliederbeine über Mauern. »Wir sind unter der Stadt!«, flüsterte Kallas. »Durch solche Gänge sind Tian und ich geflohen. Gavran kennt das Labyrinth.«

Neben mir verschob sich die Dunkelheit in einer fließenden Bewegung. Die Toten glitten nach rechts und verschwanden. »Stopp!«, flüsterte ich. »Wir müssen hier irgendwo nach rechts!«

Meine Hand glitt über rauen Stein und dann über kühle Glätte. Und die Rundung eines weiteren Schachteingangs. »Reicht mir die Taschenlampe hoch, ich gehe vor!«

Ein greller grüner Lichtball zischte an uns vorbei und tauchte alles in gleißendes Licht. Glas reflektierte an einem Loch in der Wand, einen halben Meter neben der Leiter. Es war im Fließen erstarrt.

»Sie sind da unten!«, rief jemand.

Ich stieß mich von der Leiter ab. Etwas Scharfes, Heißes streifte mich noch im Sprung, dort, wo die Schulter nicht mehr von der Weste aus Haihaut geschützt war, dann landete ich auf Stein, taub von dem Schuss, der mich getroffen hatte. Ich drehte mich um und riss Vida zu mir. Schüsse echoten. Wahida feuerte nach oben, während ich Hand um Hand ergriff. Das grüne Licht erlosch, als Wahida als Letzte zu uns sprang.

Schmerz jagte bei jeder Bewegung durch meine Schulter, warme Nässe floss an meinem Arm entlang. Aber mein Körper kroch ganz von selbst weiter, auf der Flucht vor dem metallischen Klicken von Stiefeln auf Leitersprossen, vor mir die Toten, die mir zuwinkten, mich zu beeilen. Plötzlich war überall Echohall, als wären über uns Kuppeln und hohe Decken. Meine Finger stießen auf glatte Mauern, wasserdicht verputzt. »Die alten Zisternen«, flüsterte ich Meon zu. »Wir sind im Labyrinth der alten Wasserreservoirs.«

Aus der Ferne glühte wieder grüner Schein auf und zeigte mir eine bizarre, auf dem Kopf stehende Welt. Ich vergaß meine Verletzung und starrte mit offenem Mund an die Decke. Ein … Fluss? Über mir? Aber dann erkannte ich, dass es Glas war. Als wäre es in flüssigem Zustand an den Wänden hochgeflossen und hätte sich an der Decke zu einem Strom zusammengefunden, der mitten im Wellengang erstarrt war. Das Labyrinth verzweigte sich in mehrere Gänge, aber die Glasspur führte nur in einen von ihnen. Dorthin, wo die Wächterschatten auf uns warteten.

Ich knickte mitten im nächsten Schritt ein, aber Juniper fing mich ab und stützte mich.

»Du bist ja verletzt!« Vida stürzte zu mir. Ich erinnerte mich an meine Schwester, die beherrscht war und ihre Gabe der Autorität ausspielte, aber nun war sie nur noch ein verängstigtes Mädchen, das die Welt nicht mehr verstand.

»Alles wird gut, Floh«, flüsterte ich ihr zu.

Und woher weißt du das?

»Wir trennen uns«, entschied Wahida. »Wir führen die Verfolger weg von euch. Ihr vier folgt den Toten. Beeilt euch! Trinn! Nimm den Hund, so finden wir Canda wieder.«

Der Junge, der die Gabe meiner Erinnerung gewesen war, nahm von Wahida eine Waffe entgegen und nickte knapp. Natürlich war er blass vor Furcht, aber nun erschien er mir älter, als er war. Er hielt kurz inne und schenkte mir ein Lächeln, dann strich er mit dem Handrücken über meine Wange. Eine zarte Geste, die mir die Tränen in die Augen steigen ließ. »Erinnere dich«, sagte er leise. Und wieder floss ein Strom von Bildern durch mich hindurch: Medas Tod, und Wasser, das zu Glas wurde, hinter dem die Krieger verblassten.

*

Ich wusste nicht, wie lange ich weiterstolperte, gestützt von Juniper und Vida. Kallas folgte uns in einiger Entfernung mit entsichertem Gewehr. Kälte kroch in meinen linken Arm, der längst keine Kraft mehr hatte. Echos umkreisten uns, Schüsse in der Ferne und Rufe von verschiedenen Seiten. Grüner Schimmer erhellte manchmal den erstarrten Fluss über uns und glatte Wände, unberührt von Glas.

»Magie, die sich ins Gegenteil verkehrt«, murmelte ich. »Wasser in der Wüste. Ein Fluss, mitten in der Stadt … deshalb wurden die Zisternen angelegt.«

»Sprich nicht, lauf weiter!«, presste Juniper zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Weiter kam sie nicht. Die Druckwelle einer Explosion riss uns von den Füßen und warf uns nach vorne. Blendend weißes Licht flutete den Gang. Ein Schlag traf mich so unvermittelt, dass die Welt mir entglitt. Als ich die Augen wieder öffnete, schmeckte ich Staub und spürte eine polierte Treppenstufe unter meiner Hand. Und ich musste einen verrückten Traum haben, denn ganz in der Nähe erteilte meine Mutter Befehle. »Zurück! Fasst sie nicht an!«

Ich blinzelte und sah erst einmal nur die helle Linie eines kantigen Umrisses, scharf aus dem Schwarz geschnitten. Tür?, dachte ich benommen. Licht, das durch Türritzen fällt? Rauch schien auf der Treppe zu wabern, aber nicht von der Explosion. Die Wächter zeigten mir den Weg.

Juniper kam neben mir stöhnend zu sich und rieb sich den Kopf. Dann erstarrte sie. Mühsam hob ich den Kopf und blinzelte zu drei Silhouetten, die sich aus dem Nebel der Explosion schälten. Vidas schriller Schrei schmerzte in meinen Ohren. Kallas sprang auf, das Gewehr in den Händen.

»Nein!«, rief ich ihr zu. »Tu ihr nichts, bitte! Das ist meine Mutter.«

Sie stand ein Stück von der Treppe entfernt. Offenbar hatte sie sich in aller Hast angekleidet, ihr Haar war offen und zerzaust und ihr schlichtes graues Konferenzkleid falsch geknöpft. Hinter ihr warteten zwei Begleiter – einer davon war der alte Leibwächter, der mich vor einer Ewigkeit ins Haus der Verwaisten gebracht hatte. Juniper und Kallas verharrten, beide die Waffe in den Händen, aber sie warteten. Vida stürzte zu meiner Mutter und klammerte sich an sie. »Der Mégan ist tot«, schluchzte sie. »Er wollte uns töten. Und Canda … sie ist …«

»Scht«, sagte meine Richtermutter streng. »Rede keinen Unsinn. Bringt sie in Sicherheit! Und lasst uns allein.« Sie schob Vida brüsk nach hinten, wo der alte Leibwächter sie in Empfang nahm. Es tat mir weh, diese Kälte und Sachlichkeit zu sehen. Juniper legte mir die Hand auf die Schulter.

Vida protestierte, aber sie war zu schwach, um sich gegen den Griff des Wächters zu wehren. Schließlich nahm er sie kurzerhand auf die Arme und trug sie davon. Das Letzte, was ich von meiner Schwester sah, war ein verzweifelter Blick über die Schulter des Mannes.

Meine Mutter atmete tief durch. »Und jetzt, Tochter?«, sagte sie zu mir. »Willst du deinen Komplizen befehlen, mich zu erschießen?«

Kallas und ich wechselten einen Blick. Bitte, formte ich mit den Lippen. Sie zögerte zwar, aber dann senkte sie das Gewehr widerwillig ein Stück.

Wenn meine Mutter erleichtert war, ließ sie es sich natürlich nicht anmerken. Aber ihre Hände waren ein wenig fahrig, als sie sich mit ihrer typischen akkuraten Geste das Kleid glatt strich. Und das Lächeln auf ihren Lippen zitterte, als sie vorsichtig auf mich zutrat und mir die Hand entgegenstreckte. »Komm zu mir!«, sagte sie leise. »Ich kann dich vor dem Schlimmsten bewahren. Alles wird gut, ich verspreche es dir.«

Sie war immer noch eine miserable Lügnerin. Die Mégana hat sie rufen lassen. Die ungewohnte Zärtlichkeit in ihrer Stimme brach mir trotzdem das Herz. Tränen brannten in meinen Augen und ich hielt sie nicht zurück. Eine Moreno weint nicht. Es war fast zum Lachen, wie gleichgültig mir unser Familiengesetz geworden war. Ich schüttelte den Kopf. »Nichts wird gut«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Weil es nie gut war.«

Meine Mutter leckte sich nervös über die Lippen. »Du kannst nichts dafür. Die Lichter haben dich überwältigt und deinen Geist verwirrt und …«

»Dann könnt ihr mich ja wieder im Haus der Verwaisten begraben. Oder dort gleich in die Glaskammer sperren.«

Meine Richtermutter wurde noch blasser. »Vor der Kammer der Traumkranken haben wir dich bewahrt! Wir haben ein Vermögen bezahlt, damit du im Haus weiterleben konntest, hellwach, mit deinen Fähigkeiten, du durftest du selbst bleiben und deinen Verstand behalten.«

Es überraschte mich nicht einmal mehr zu hören, dass die Menschen nicht als Verrückte in die Kammern kamen. Es hatte sogar eine bestechende Logik: Ihnen wurde der Verstand genommen, damit ihre Gaben ungestört anderen Herren dienen konnten.

»Was für ein Privileg«, sagte ich bitter. »Ich und die anderen Gespenster durften mit den Gaben weiterleben, solange ihr für deren Nutzung bezahlt habt. Aber wenn du mich jetzt retten willst, vergisst du eins: Ich bin nichts mehr wert, meine Gaben sind nämlich frei.«

Es tat weh, dass sie mich ansah wie etwas, das schön und kostbar gewesen war und nun schrecklich verunstaltet vor ihr stand: eine blasse, farblose Gewöhnliche, die einst ihre Tochter gewesen war. Jetzt war sie es, die Tränen in den Augen hatte. »Meine Kleine«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Was haben sie dir angetan! Bitte gib auf, verlass diese Ungeheuer! Es ist deine letzte Chance! Ich sorge dafür, dass du fliehen kannst. Nicht einmal dein Vater weiß, dass ich hier bin …«

»Er ist nicht hergekommen, weil er mich längst verstoßen hat«, erwiderte ich.

Gehetzt blickte sie sich um. »Sie werden gleich hier sein. Aber ich kenne einen Weg, also gib mir die Hand und komm mit! Schnell!«

Juniper warf mir einen warnenden Seitenblick zu. Glaub ihr nicht, sagte er.

Es war verrückt. Dort stand meine Mutter, die ich trotz allem noch liebte und der ich mein ganzes Leben lang hatte gefallen wollen. Mit der ich gekämpft und gestritten hatte und der ich trotz allem so ähnlich war. Ich wollte ihr glauben, dass sie wirklich vorhatte, mich zu retten, dass sie alles daran setzen würde, mich vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und vielleicht stimmte das sogar zum Teil. Aber gleichzeitig sah ich in ihr Tana Blauhand, die Verräterin, die Frau, die Sterne stahl. Zu gut kannte ich die Höchste Richterin.

»Wann hätte ich es erfahren, Mutter? All das?«

»Ein Jahr vor deiner Ernennung zur Mégana.« Selbst jetzt schwang in ihrem Tonfall noch die Trauer um erloschene Träume mit. »Trau diesen Ungeheuern nicht, Tochter. Sie sind keine Menschen! Sie sind … Truggestalten, Geister, Dämonen! Und selbst wenn du gewinnst: Denkst du wirklich, du wirst zu den Siegern gehören? Du bist ihre Marionette, nichts weiter. Was glaubst du, was Sieger mit Besiegten machen? Bildest du dir wirklich ein, du wirst leben, oder Vida – oder irgendjemand von uns, wenn du dich weiterhin auf ihre Seite stellst? Nein! Diese Bestien werden uns alle töten, auch dich.«

Sie warf Kallas einen Blick zu, so voller Hass, dass mir kalt wurde. Und das Medasmädchen, das noch vor wenigen Tagen bereit gewesen war, mich und Tian zu opfern, wurde blass und biss die Zähne zusammen. Ihre Schultern sanken herab, als würde alle Kraft aus ihren Armen weichen. Dann entsicherte sie die Waffe und stellte das Gewehr neben sich ab. Sie sah mich an. Es war ein Versprechen. Und diesmal hörte ich nur auf eine Stimme: mein eigenes Herz. Manchmal gibt es nur eine Antwort, dachte ich. Wie ein Schnitt mit einem Messer. Und die Klinge kann nur einen Namen tragen: Ja – oder …

»Nein«, sagte ich zu meiner Mutter. Ich schüttelte den Kopf und wich zur Treppe zurück. »Du irrst dich. In jeder Hinsicht. Aber ich ermögliche dir die Flucht. Verlass die Stadt und lauf, so weit du kannst!«

Es war wie ein weiterer Tod, der letzte Schritt, der mich endgültig von dem trennte, was ich gewesen war. Und wie endgültig er war, zeigte mir die Reaktion meiner Mutter. »Glaubst du, du bist besser als wir?«, erwiderte sie mit kalter Würde. »Selbst wenn es so wäre, wie du dir einredest, was wäre das Ergebnis? Du wärest wie wir, eine Siegerin, die Leid über ein Volk bringt, das sie verraten hat – über Vida und über uns, deine Familie! Und über alle Bewohner Ghans. Und das lasse ich nicht zu!«

Sie nickte jemandem zu, der irgendwo verborgen war, als würde sie ihm die letzte Erlaubnis geben, und schloss die Augen. Kallas war schlauer als ich. Als der erste Schuss fiel, hatte sie sich längst mit einem Satz hinter einen Vorsprung in Sicherheit gebracht. Mich riss Juniper von den Beinen. Funken stoben, als Querschläger durch die Gänge pfiffen. Beißender Rauch zischte und vernebelte den Raum. Die Graue bremste mit kratzenden Krallen vor mir. Splitter von Holz und Stein flogen uns um die Ohren.

»Das war letzte Zehntelsekunde«, sagte Wahida atemlos direkt neben mir. »Zwei Bewaffnete im Hinterhalt. Den Rest haben wir in den Gängen erledigt.« Meon zielte auf meine Mutter. »Lass sie gehen, Meon«, befahl Kallas. Meine Mutter sah mich nicht mehr an, sie wandte sich ab und ging davon, aufrecht, mit genau bemessenen Schritten. Und ein Teil von mir bewunderte sie immer noch – dafür, dass sie keine Angst und keinen Kummer zeigte.

Juniper hustete neben mir und richtete sich wieder auf. »Wer eine solche Familie hat, braucht keine Feinde mehr«, murmelte sie.

Kallas kniete sich neben mich und zog mich vorsichtig hoch. »Alles in Ordnung?«

»Nein«, erwiderte ich mit kläglicher Stimme. »Aber ich bin nicht verletzt.«

Kallas lächelte mir zu und strich mir die Haare aus der Stirn. »Doch, das bist du. Aber auch solche Wunden heilen«, sagte sie sanft. »Komm schon, Schwester Sturkopf, finden wir unsere Männer!« Und in diesem ganzen Chaos musste ich trotz allem lächeln.

*

»Diese Tür?« Wahida zückte einen Sprengsatz, den sie irgendeinem der Soldaten abgenommen hatte. »Gut, dann geht in Deckung.«

Die Explosion sog uns den Atem aus den Lungen. Meine Ohren schmerzten, obwohl ich sie mir zugehalten hatte. Und noch bevor der Rauch sich verzogen hatte, rannten meine Gefährten voraus. Ich stolperte von Kallas gestützt die Treppe hoch, blind von der Helligkeit, die uns entgegenflutetete. Als wir über die Schwelle traten, erkannte ich, dass ein Zentrum auch dort sein kann, wo alle anderen Wege enden. »Die Glaskammern«, sagte ich zu Kallas. »Hier wurden im großen Chaos die Kerker geschaffen und hier vergeben die Méganes die Lichter der betäubten Menschen an Fremde. Und das nennen sie Traumkrankheit.«

Der Goldsaum meines Mantelkleides schleifte über Glas. Heute war es, als würde ich über einen vereisten See laufen, in dem Ertrunkene immer noch vom Leben träumten. Schlafende, gequälte Gesichter glitten unter mir hinweg. Auch Maram lag dort, meine Großtante, die ich in meiner Zelle überwältigt hatte. Mir schnürte es die Kehle zu, so hilflos sah die ehemalige Gefängnisverwalterin aus. Für meine Flucht hat sie bitter gebüßt. Ich hatte sie damals nicht gemocht, aber jetzt konnte ich verstehen, in welchem Albtraum sie gelebt hatte: Als Vereinzelte Freiwild für die Verkäufer, das nur so lange oben im Haus sein Dasein fristen durfte, wie seine Familie für seine Gaben bezahlte. Und nun war ihr das passiert, was sie bestimmt am meisten gefürchtet hatte.

Als ich das Mädchen unter Glas erreichte, blieb ich stehen. Unverändert wehrte sie sich gegen die Ohnmacht, die sie in ihren Albträumen festhielt. Neben ihr lagen alte Menschen, nur die Sterne mochten wissen, wie lange sie dort schon alterten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wie Maram waren sie sicher Vereinzelte, die nicht das Glück gehabt hatten, dass ihre Familien ihnen ein Leben erkaufen konnten. Gestohlene Leben. Und ihre Lichter sind irgendwo in der Welt, bei Menschen, die dafür kämpfen, Ghans Macht auszudehnen. »Gavran!« Kallas ließ mich los und fiel auf die Knie. Ich konnte es ihr nicht verübeln, dass sie nicht Tians Namen nannte. Ich sank neben ihr auf das Glas. Tian lag ausgestreckt unter mir, reglos wie ein Gefallener. Aber er hatte sich gewehrt, Spuren davon zeichneten seinen Körper, Schrammen, Fesselstriemen. Sein rechter Arm lag locker über seinem Kopf. Eine runde Brandwunde prangte auf der rechten Handfläche, dort, wo die blaue Farbe gewesen war. Es tat weh, die Verletzung zu sehen. Sie hatten ihm den Schlüssel zu den blauen Wegen aus der Haut gebrannt: die blaue Morenofarbe, vermischt mit seinem Blut.

Mein Atem beschlug auf dem Glas und durch den Schleier sah ich für einige Sekunden nur ihn – und mich. Jemand trat an mich heran und berührte meine Schulter, Trinn. Und ich sah, wie Tian in meiner Brautnacht einen versteckten Gang zu unserem Turm fand, geführt von seiner stärksten Gabe: Gavran, dem Eroberer. Wie er zu uns schlafenden Mädchen ans Prunkbett trat, sich über mich beugte und Kallas aufforderte, ihm zu folgen. Wie er Tians Hand mit dem Morenoblau durch Kerkerhaut ausstreckte und wie Kallas seine Hand ergriff.

Ein heiserer Schrei ließ mich aufblicken. Der Rauch war fast ganz verweht, nur der Gestank nach verbrannter Zündladung stach noch in der Nase. Es war wie eine weitere Erinnerung aus längst vergangener Zeit: Die schwarz gekleideten Gespenster standen am Eingang, eine neue Gefängnisverwalterin, die sich nicht zu rühren wagte, weil Wahida sie und die anderen mit dem Gewehr in Schach hielt. Und neben ihr – die Mégana.

Ich war froh, dass es der sachliche, kühle Meon war, der einen Arm um ihre Kehle gelegt hatte und sie gefangen hielt. Kallas wäre weit weniger sanft mit der alten Herrscherin umgesprungen. Sie hob eine zitternde Hand. »Tu es nicht, Canda! Geh zurück!« Eine alte Narbe, weiß geworden wie ein ausgeblichener Fleck auf altem Papier, zeichnete sich auf ihrer Handfläche ab. Eine Brandnarbe.

In einem Herzschlag fanden sich Erinnerungen zu einem Bild: Die Mégana, die von Liebe und Verrat sprach und dabei Amad einen hasserfüllten Blick zuwarf. Der Mégan, der seine Hand vielsagend auf ihre legte. Jetzt wusste ich, dass es eine Warnung an sie war, einen alten Verrat nicht zu vergessen.

Mühsam richtete ich mich auf und ging auf sie zu. Meine Schulterwunde schmerzte inzwischen unerträglich, die Schwäche kroch mir in jeden Knochen. Nur schwankend hielt ich mich auf den Beinen, aber diesmal stützte Kallas mich nicht.

»Ich würde mich beeilen«, sagte Wahida. »Die nächste Einheit, die hier auftaucht, wird ein paar mehr Leute haben!«

Ich bat Meon mit einem Blick, die Alte loszulassen. Er runzelte die Stirn und trat zurück. Die Mégana stützte sich an der Wand ab.

»Es ist schon einmal geschehen, was Tian so viele Jahrzehnte später auch gelungen ist«, sagte ich zu ihr. »Ein Licht aus seinem Kerker in unsere Wirklichkeit zu ziehen. Ihr wart es. Ihr… habt Amad befreit, als Ihr noch jung wart?«

»Und er wird dich auch betrügen!«, spuckte sie mir entgegen.

»Was ist passiert?«, wollte ich wissen. Die Alte schluckte schwer. Ihre Blicke huschten durch den Raum. Auf eine Art waren wir uns wirklich ähnlich. Auch sie gab nicht auf. Und auch sie tat, was ich an ihrer Stelle ebenfalls getan hätte: Zeit gewinnen.

»Ich war jung und dumm«, sagte sie. »Ich habe mich verliebt, obwohl ich es nicht durfte.«

»In Amad?«

Verächtlich schüttelte sie den Kopf. »Nein, in den Sohn einer befreundeten Familie. Natürlich waren wir beide anderen versprochen, aber wir fanden uns trotzdem. Und irgendwann … begannen ich zu träumen, mit jedem Kuss meines Geliebten deutlicher. Von einem jungen Mann mit vielfarbenem Haar. Er sagte, er könne uns dabei helfen … aus Ghan zu fliehen.«

Es war ein sehr alter Schmerz, aber auch eine Wehmut, die ihre Züge weich werden ließ. »Ich habe dieser Stimme geglaubt«, sagte sie bitter. »Und auch der Mann, den ich liebte, glaubte daran. Der Mann aus dem Traum sagte uns, er wolle uns helfen, wir müssten in die Wüste gehen, in die Höhle der Traumdeuter, dort gäbe es einen Weg, der uns weit fort bringen würde. Aber dafür müsste ich ihn befreien. Dort, in der Höhle. Ich tat es, ohne zu ahnen, dass wir von einem Medaskrieger gelenkt wurden – er war die Gabe meines Geliebten. Ich nahm das Morenoblau von den alten Zeichnungen der Höhlenwände. Aber als er frei war, erkannte ich …« Ihre Stimme brach und die Härte kehrte zurück. »Es war seine Jägerstrategie, sich zu befreien. Er hat uns beide mit falschen Versprechungen betrogen.«

Diesmal musste Trinn nicht meine Hand nehmen. Bilder aus verschiedenen Jahrhunderten überlagerten sich: Amad in der Wüste, an derselben Stelle, an der einst Meda getötet wurde. Er war verbittert und sah in der Mégana und ihrem Geliebten nur seine Feinde. Ich konnte seine Enttäuschung spüren, als er den Fluchtweg in der Höhle verschlossen fand. Und dort: die Mégana, so jung wie ich heute, voller Hoffnung, ihre verbotene Liebe zu retten. Sie tat mir leid, zu gut konnte ich ihren Schmerz verstehen. Und gleichzeitig konnte ich Amads alten Hass nachfühlen, und die Verzweiflung eines Sklaven, der alles dafür tun würde, sich und sein Volk zu befreien.

Die Alte wischte sich mit einer zitternden Hand über die Augen und blickte zu den Menschen unter Glas. »Der Medaskrieger hatte Pech. Soldaten holten uns ein und brachten ihn und uns zurück vor die damaligen Méganes.«

»Aber Ihr wurdet nicht bestraft«, sagte ich. »Warum nicht?«

Die Mégana lächelte traurig und betrachtete die Narbe an ihrer Hand. »Weil ich, ohne es zu wollen, etwas gefunden hatte, das Ghan zu heutiger Größe gebracht hat. Nur durch Amads gescheiterte Flucht entdeckte man, dass es möglich ist, die Lichter in unsere Wirklichkeit zu holen. Und dass man die Gaben noch lebender Menschen an andere binden kann, ohne sie von ihren Besitzern zu trennen. So wurden sie zum Handelsgut. Aber du irrst dich, wenn du denkst, dass ich nicht bestraft wurde, Canda Moreno. Der Mann, den ich liebte, und ich, wir wurden für immer getrennt. Ich musste meinen Versprochenen heiraten, so wie es das Gesetz befahl. Mein Fehltritt wurde vertuscht, meine Familie hat gut genug dafür bezahlt. Aber selbst als Mégana war ich eine Gefangene, niemals hatte ich unumschränkte Befehlsgewalt. Und glaub mir, mein Gemahl hat mich jeden einzelnen Tag daran erinnert, wie sehr er mich verachtet.«

Und er hat Amad als Gabe gewählt und ihn als Sklave in unsere Welt gezwungen, nur um dich mit seinem Anblick zu quälen. Ich erinnerte mich zu gut daran, wie feindselig die Mégana mit Amad umgegangen war. Und jetzt verstand ich noch besser, welche Schuld Amad quälte.

»Die Familie des Jungen, den Ihr geliebt habt, hatte weniger Einfluss als Eure«, sagte ich leise. Sie zuckte zusammen, aber sie sah nicht zu ihm. Aber ich wusste auch so, um wen es sich handelte. Die Graue wartete dort und scharrte am Glas. Und die Wächterschatten tauchten den Winkel der Kammer in dunkles, pulsierendes Licht.

Ich verließ Tian und das Mädchen und wanderte über das Glas an der Reihe der Schlafenden vorbei. Ich hätte es mir denken können. Er war ein Greis, aber keine Falte zeichnete sein Gesicht. Er wirkte auf gespenstische Weise jung, obwohl sein Haar und sein Bart schneeweiß waren. Kein gelebtes Leben hatte seine Züge gezeichnet. Das war also seine Strafe gewesen: Mit siebzehn war er in diesen ewigen Albtraum gezwungen worden. Seine Lichter dienten irgendwo anderen Herren. Du hast geliebt. Und du hattest Träume, doch man hat sie dir gestohlen. Mitleid schnürte mir die Kehle zu. Gerne hätte ich ihm sanft über das Haar gestrichen. Stattdessen legte ich meine Hand mit dem schattenblauen Mal der Morenos auf das Glas, genau über sein Herz.

»Nein!«, schrie die Mégana.

Ich schloss einige Herzschläge lang die Augen und sammelte Mut.

»Amad!«, flüsterte ich.