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Mein Körper war so schwer, als hätte man mir Marmorplatten auf den Rücken geladen. Alles brannte – meine Haut, der Nachtwind, und mein Mund vor Salz und Kälte. Schwall um Schwall presste ich mit einem Würgen Wasser aus Nase und Mund, bis endlich wieder Luft in meine Lunge strömte. Ich weiß nicht, wie lange ich immer wieder nach Atem rang. Nie hatte die Luft süßer geschmeckt.

Meine Traumgestalten waren verschwunden, als hätte das Meer sie statt meiner verschluckt.

Den Kopf zu heben, kostete zu viel Mühe, aber ich schaffte es, mich auf den Rücken zu wälzen. Der Mond trug einen Schleier aus langem Wolkenhaar und schien mich höhnisch anzulächeln wie meine Mörderin. Meine Zähne klapperten im Schock. Plötzlich war alles wieder da – der Angriff, der Schlag mit dem Stock, die Kälte. Und die Haie.

Aber wie war ich hierhergekommen? Links von mir erahnte ich die Silhouette des Leuchtturms und der Stadt, weit entfernt. Hier, wo ich lag, gab es nur noch Fels, der an der Seekante steil in die Tiefe abfiel. Die Haie strichen so nah daran entlang, dass ich das schabende Geräusch von Sandpapierhaut an Stein hören konnte. Schwanzflossen schlugen nervös auf, Wasser spritzte. Wieder glaubte ich die raue Fischhaut an meiner zu spüren und die Hilflosigkeit, den Raubtieren unter Wasser ausgeliefert zu sein. Und wenn sie an Land kommen

Das schlug mich endgültig zurück ins Leben. Ich drehte mich auf den Bauch und versuchte auf Ellenbogen und Knien fortzukriechen, nur weg vom Wasser. Aber es war zu spät. Ich starrte auf bloße Füße, lange Beine in dunklen Hosen, sicher Haihaut, die wie Kleidung wirkte. Mein Atem rasselte in einem Schrei, der keiner war. Das Wesen packte mich an der Weste und zog mich in eine kniende Position hoch. Jetzt blieb mir sogar der Atem im Hals stecken. Das waren nicht die matten Augen eines Raubfischs. Diese hier funkelten voller Zorn im fernen Licht von Gaslaternen.

»Du verdammte, hinterhältige Hexe!« Amad riss mich endgültig auf die Beine. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich erleichtert sein oder mich fürchten sollte. Und bizarrerweise gab es irgendwo in einem Winkel meiner Seele noch ein ganz anderes Echo – die Freude darüber, ihn wiederzusehen.

Raue Kiesel schabten über meine Füße und Knöchel, Amad schleppte mich ein Stück bergauf, weg von der Gefahr, dorthin, wo Fels in Kiesstrand überging. Meine Beine schienen mir nicht zu gehören, ich knickte um und fiel, kam wieder hoch. Dann verlor ich allen Halt und sackte auf den Kieselsteinen zusammen. Amad ließ sich neben mich fallen und starrte auf die Haifischflossen, die wie dunkle Messer durch nachtgraue Seidenwellen schnitten. Sein Ärmel und sein Hemd hingen in Fetzen, Haizähne, scharf wie Rasiermesser, hatten den Stoff säuberlich durchschnitten. Er spuckte wütend aus und wischte sich das nasse Haar aus der Stirn. »Was ist los? Zunge verschluckt, Canda Giftmischerin?«

»Wie … wie konntest du so schnell hier sein?«, stammelte ich.

Er schnaubte. »Viele Wege führen nach Tibris, da musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen, als eine Brücke hinter dir zu kappen. Und wenn du schon schmierige Tricks mit Gift versuchst, solltest du dich vergewissern, dass du es nicht mit einem verweichlichten Stadtjungen zu tun hast, den ein Tropfen Schlangengift tagelang außer Gefecht setzt.«

Ich würgte an einem Husten, meine Lunge brannte noch.

»Stimmt, mit schmierigen Tricks kennst du dich besser aus als ich.« Meine Stimme war ein raues Krächzen. »Vielleicht bin ich hinterhältig, aber du bist ein Verräter und Lügner! Du kennst die Entführerin, und die ganze Zeit über hast du mich in die Irre geführt, damit sie fliehen kann.«

Zwei Haie kletterten an Land. Der eine hatte die harmlose Gestalt eines sechsjährigen Kindes, der andere war eine graue Dame, eisern, schön und kalt. Sie starrten uns aus glanzlosen Augen an, doch sie wagten sich nicht vor, als würden sie vor Amad Respekt haben.

Meine Stimme war heiser, als hätte ich schon die ganze Zeit geschrien.

»Ich war dumm genug, dir zu glauben. Du wolltest Tian opfern, um deine Geliebte zu retten. Mich wolltest du dazu bringen, aufzugeben und ohne Tian in die Stadt zurückzukehren. Und dafür hast du mich mit deinen Berührungen und Geschichten eingelullt, hast jeden Zweifel zum Schweigen gebracht und meine Angst und Einsamkeit ausgenutzt.« Jedes Wort schmeckte bitterer.

»Und andere lächeln süß und küssen ihre Opfer, bevor sie sie vergiften«, erwiderte Amad genauso hart.

»Du hast dich ja nicht gerade gewehrt«, fauchte ich.

Heute glommen Amads Augen wirklich. Vor Wut. Mit einem Satz sprang er auf. »Dann sind wir ja quitt. Zumindest, was das betrifft.« Er wollte sich umdrehen und gehen, aber ich kam auf die Beine und riss ihn grob zurück.

»Du schuldest mir immer noch Antworten, Amad!«

Sein verächtliches Lachen war wie eine Ohrfeige. »Dir schuldet immer jemand etwas, Prinzessin, nicht wahr?«

»Allerdings. Meine Gabe zum Beispiel! Sie wurde nicht zerstört, deine Geliebte hat sie mir gestohlen!«

Amad erstarrte. Immer noch krallte ich mich in Amads Ärmel, ließ ihn nicht gehen, spürte die Angespanntheit, die Drohung, die von ihm ausging, und hielt ihr stand. Die Nacht schien zu pulsieren und wie damals am Lagerfeuer fühlte ich mich wie am Rand eines Abgrunds.

Eure Chance, Wächterschatten, dachte ich bitter. Es braucht nur ein Flüstern und er ertränkt mich, bevor die Haie mich fressen können. Aber komischerweise war ich zu betäubt, um wirklich Angst zu haben. Vielleicht ist das so, wenn man die Schwelle des Todes betreten hat.

»Lass mich los, Canda.« Ein Befehl wie ein Knurren, bedrohlich und leise. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, die weißen Knöchel schienen im Mondlicht zu leuchten.

»Nicht bevor du mir die Wahrheit sagst! Denkst du im Ernst, du kommst damit durch? Selbst wenn du mich reingelegt hättest und wir ohne Tian nach Ghan zurückgekehrt wären, glaubst du, du kannst deine Liebste vor dem Zorn der Mégan retten?«

»Meine Liebste.« Er schnaubte verächtlich und wand sich mühelos aus meinem Griff. Manchmal vergaß ich, wie stark er war.

»Wer ist sie?«, rief ich. »Auch eine Kriegsgefangene? Hat sie dich verraten? Und wenn ja, warum willst du sie retten? Oder steckst du selbst in Tians Entführung mit drin?«

»Tians Entführung«, sagte er fast amüsiert. »Als ob es darum ginge.«

»Worum geht es dann?«, schrie ich.

In Mondlicht war sein kaltes Lächeln eine Sichelklinge. »Fragen wir meine Liebste doch selbst!«

*

Er wartete nicht auf mich, und meine Hand lag am Dolch, während ich ihm hinterherstolperte. Jetzt hätte ich mir die Graue an der Seite gewünscht, aber sie war bei Juniper, und wahrscheinlich – hoffentlich – suchten sie mich schon. Ich schwankte und mir war schwindelig, sobald ich zwinkerte, war da wieder der Schock des Fallens. Vielleicht ist das alles nur ein Albtraum, dachte ich benommen. Bitte lass mich aufwachen. Aber diese Nacht tat mir den Gefallen nicht.

Wir kletterten über Felsen und wateten durch knietiefes Meerwasser. Schlammspringer und Krabben flohen vor uns ins Wasser und bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen, weil ich fürchtete, es könnte ein Hai sein. Dann lief Amad so schnell bergauf, dass ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Achthundertvierunddreißig Schritte hinter der Stadt blieb er zwischen zwei Felsen stehen. Von der Treppe aus hatte ich diese Stelle der Küste nicht gesehen, zu gut war sie hinter einem Wall aus Felszähnen verborgen. Von hier oben wirkte die kleine Bucht wie ein Lächeln aus Asche. Das Fackellicht brachte Schlieren von Meeresnebel zum Leuchten, an Land aber wurde jedes Licht fast verschluckt: schwarz der Strand, schwarz die Reihe kleiner Hügel entlang der Wasserlinie, sogar im Wasser selbst trieb eine Dunkelheit, die tiefer war als die Nacht. Dann begriff ich, dass es tatsächlich Asche war, und die Hügel waren die Reste alter Scheiterhaufen. An einigen Felsen waren Schädel befestigt – geschmückt mit Lederbändern und Muscheln. Meine Knie wurden so weich, dass ich mich an dem Felsen abstützte. »Ist das ein … Hinrichtungsplatz?« Bitte nicht!

»Es ist das Ende der Welt«, antwortete Amad. »Der Schädelhafen. Von hier aus treten die Menschen von Tibris die letzte Reise an. Sie werden verbrannt, damit die Haie sie nicht holen. Siehst du die kleinen Holzboote? Viele Leute schicken die Knochen ihrer Verstorbenen mit der kalten Strömung über das Meer, in das Land des weißen Himmels, so nennen sie es. Nur Sklaven haben kein Recht auf ein Bootsgrab oder eine Ruhestätte am Fels.«

Aber Tian ist nicht auf diesem Friedhof, er lebt, dachte ich verzweifelt. Ich spüre ihn doch!

Wen spürst du? Ihn oder die Diebin?, flüsterte meine sachliche Stimme so leise, als müsste sie sich vor Amad verbergen. Zweimal hat dich der Weg nur zu ihr geführt.

Ich brachte die nächste Frage kaum über die Lippen. »Soll das heißen, Tian ist tot?«

»Noch nicht«, antwortete Amad trocken. »Aber den Dolch hast du ja schon in der Hand.« Er deutete mit einem Rucken des Kinns zum linken Rand der Bucht. Ein schwarzes Schiff wartete dort, hochwandig und bis zur Reling gespickt mit nach unten gebogenen, zum Teil abgebrochenen Metalldornen. Eine Windsbraut hätte es mit einem beiläufigen Hüsteln versenken können, so schäbig und geflickt war es. Die Seile, die es hielten, waren straff gespannt, als würde eine Strömung an dem Schiff ziehen. Das Ächzen der Spanten trieb zu uns herüber. Eine Gruppe von Menschen ging gerade an Bord. Gestalten in abgerissenen Mänteln, manche hatten Kapuzen und Mützen über die Stirnen gezogen, die Köpfe hielten sie gesenkt. Eisen klirrte. Sklaven? Ein Transport mitten in der Nacht? Nur zwei von ihnen trugen keine Fesseln, vielleicht waren es Menschenhändler. Der kleinere war kahl und hüllte sich in eine Jacke, der größere, schlankere hatte sich die Kapuze eines langen Mantels über den Kopf gezogen. Sie blieben stehen, als würden sie auf jemanden warten.

Kein Tian weit und breit. Aber dafür wieder: sie!

Ich erkannte sie auf Anhieb, jeder Schritt, jede Bewegung war mein Spiegelbild. Sie hatte sich den Wüstenmantel übergeworfen und rannte, so schnell sie konnte, zum Ablegeplatz. Der Wind verwirbelte ihr helles Haar. Inmitten der Asche strahlte sie wie eine Geistergestalt. Pfiffe durchschnitten die Luft, die ersten Seile fielen ins Wasser und wurden an Bord eingeholt.

»Sie flieht aufs Schiff!« Ich wollte losstürzen, aber Amad packte mich am Arm und hielt mich mit eisernem Griff zurück. »Sieh hin!«

Im selben Moment entdeckten die wartenden Gestalten die Diebin. Der Größere ließ den anderen stehen und stürzte ihr entgegen. Die Kapuze rutschte ihm im Lauf vom Haar. Wenn Amad nicht gewesen wäre, jetzt hätte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten können.

Ich hatte vergessen, wie Tian aussah, wenige Tage außerhalb von Ghan hatten genügt, um mich blind zu machen für unsere Schönheit. Im Licht von Schiffslaternen sah ich meinen Versprochenen mit den Augen einer Gewöhnlichen, geblendet von dem Glanz und der Perfektion, ein fremder, vertrauter Mann, so strahlend und schön, dass es mir den Atem nahm. Bronze und Kupfer. Tians Haar war zwar kurz geschoren, die Locken verschwunden, was ihn älter, erwachsener aussehen ließ. Aber seine Haltung, sein Stolz – und die Lippen, weich und so vertraut, dass ich sie fast auf meinen spüren konnte, waren noch die des Jungen, den ich schon mein ganzes Leben lang liebte.

Er blieb stehen, breitete die Arme aus, und die Diebin warf sich in diese Umarmung, die mir gehörte. Und ich konnte nur dastehen, mit dem Gefühl, dass ich wieder ertrank, diesmal unwiderruflich.

Hand in Hand rannten sie zu dem zweiten Mann, Münzen blitzten im Fackelschein auf, die Blonde zahlte mit ihrem Tanzgeld für die Passage, dann eilten sie zu den Sklaven auf das Schiff, im letzten Moment, als das letzte Seil fiel, der Steg eingeklappt wurde. Der Kerl, der das Geld genommen hatte, blieb im Hafen zurück und holte die Seile ein. Die Strömung sog das Schiff aus dem Hafen, ohne dass ein Ruder sich bewegte.

Und Tian umfasste das Gesicht der Diebin zärtlich mit den Händen, er lächelte und dann … küsste er sie.

Die Zeit blieb stehen, der Hafen verschwand und zurück blieb nur das erstarrte Bild der beiden. Ein Kuss wie eine Klinge, die alles durchtrennte, was mich je mit der Welt verbunden hatte. Er ist nicht entführt worden. Er hat mich verlassen. Er küsst eine andere.

Irgendjemand gab einen schrecklichen Laut von sich, ein verwundetes Tier, das seinen Schmerz durch eine zu enge Kehle presste. Eine Hand umfasste meine Schulter, eine Stütze, die mich jedoch nicht rettete. Nichts konnte mich retten. Ich fiel wieder dem grünen Marmor entgegen. Meine Mörderin entfernte sich – trieb immer weiter im Meeresnebel davon, in den Armen des Verräters, den ich geliebt hatte. Und ich zerschellte.

*

Ich erinnerte mich kaum an meine Amme, die mich anstelle meiner Mutter umsorgt hatte. Ihre Gestalt war nur ein Schemen aus weichem Stoff und Hautduft, aber ihre Stimme und ihre Märchen waren mir so gegenwärtig, als hätte sie mich nie verlassen. Ihre Geschichten erzählten von schönen Wüstenfrauen, von bösen Geistern und vom guten Tod. In den Märchen hieß es, die Toten wanderten durch eine schwarze, sternenbestickte Wüste. Sie lösten sich im Wind auf, mit jedem Schritt ein wenig mehr, sie wurden leichter und leichter, verwehten, bis nur noch ihre Skelette über schwarze Dünen wanderten, und schließlich zerrieb der gnädige Wind auch die Knochen, und die Menschen wurden zu nichts. Erlöst, ohne Gedächtnis, ohne Schmerz und Vergangenheit. Partikel in der Ewigkeit, Teile von etwas Neuem – der Todeswüste, die auf neue Wanderer wartete.

Diese Geschichte war eine Lüge.

Ich war tot. Aber nichts war leicht und ich war immer noch da. Ich fühlte schärfer als je zuvor. Taugras brannte an meiner Stirn, so zusammengekrümmt kauerte ich auf dem Boden. In meinem Kopf echoten wie ein höhnischer Gesang im Kinderliedtakt immer die gleichen Sätze: Niemand hat ihn entführt. Er hat mich verlassen.

Plötzlich bekamen so viele Dinge einen Sinn. Tians Abschiedsworte und seine Zerstreutheit in den Tagen vor unserer Verbindung. Und die Fallen und Windfänger. Tians Locken und ihre blonden Strähnen. Es war ein Bund, der mit dem Blut der Verfolger besiegelt werden sollte, stärker als ein mit Tinte unterzeichneter Vertrag zwischen zwei Familien, und stärker als siebzehn Jahre mit mir.

»Canda, hol Atem«, sagte eine besorgte, sanfte Stimme. Ich gehorchte und das war ein Fehler. Der Schmerz flutete mit dem Atem in meinen Körper. Und die einzige Möglichkeit, ihn zu ertragen, war der Zorn. Ich richtete mich auf. Die Wächterschatten flackerten in meinen Augenwinkeln, aber heute brauchte ich ihre Einflüsterungen nicht.

»Ich werde sie einholen«, stieß ich hervor. »Sie werden dafür bezahlen. Beide.«

»Und wofür willst du sie bestrafen?«, erwiderte Amad ernst. »Dafür, dass sie sich lieben? Dass sie sich den Gesetzen eurer Stadt nicht beugen wollen?«

Liebe? Wie aus der Ferne nahm ich wahr, wie ich hochschnellte.

»Du stehst also immer noch auf ihrer Seite«, presste ich hervor. »Aber sie haben kein Recht, zu lieben! Und kein Recht, mich zu opfern. Deine blonde Diebin hat mir alles gestohlen, was ich hatte. Meine Schönheit – und ihn.«

»Erstens ist es nicht meine Diebin, wir sind kein Paar und waren es nie. Und zweitens hat jeder dir gesagt, dass er dich verlassen hat«, erwiderte Amad mit dieser Sanftheit, für die ich ihn am liebsten geohrfeigt hätte. »Nur du allein hast an eine Entführung geglaubt. Und diese Frau soll ihn dir also gestohlen haben?« Er schüttelte den Kopf. »Du redest wie ein Sklavenhändler. Ist Tian eine teure Vase, die man irgendwo mitgehen lässt?«

»Du hältst mir Predigten?«, fauchte ich ihn an. »Du? Erklär mir lieber, wie es möglich ist, dass jemand die Gabe eines anderen stiehlt!«

Er zögerte, sein Blick schweifte zum Meer. Unter der Wasseroberfläche zogen leuchtende Fische ihre Bahn, Funken im Ascheschwarz. Ein weißer Raubvogel glitt im Fackelschein über der Oberfläche dahin, vielleicht war es ein Fischadler. Aber bevor er zustoßen konnte, wurde er selbst zur Beute: Ein Hai schoss nach oben, schnappte den Raubvogel und riss ihn mit sich in die Tiefe. Ich schauderte.

»Ich weiß nur eines: dass man Menschen nicht stehlen kann«, sagte Amad leise. »Sie sind frei, zu denken und zu lieben. Und niemand hat deine Schönheit gestohlen, Canda. Weil sie nie dein Besitz war.«

Fast war ich ihm dankbar, dass ich ihn für diese Worte hassen konnte. Es linderte den Kummer und den Schock und ließ den Schmerz zu einem schwarzen, klebrigen Pochen schmelzen, kälter und erträglicher.

»Das ist nicht wahr. Wenn ich die Diebin anschaue, dann ist es, als würde ich mich selbst sehen. Sie hat meinen Glanz, mein Lächeln, sogar meine Bewegungen.«

»Dann weißt du doch, wer sie in Wirklichkeit ist, Canda! Tief im Herzen kennst du die Antwort längst.«

Sieh hin! Ich erinnerte mich an den blonden Jungen, seine drängenden Worte.

Ich schüttelte den Kopf und wich zurück. »Ich weiß nicht, wovon du redest!«

»Weil du es nicht wissen willst.«

Amad trat vor und packte mich bei den Schultern. Seine Finger gruben sich in meine Haut. In mir schrien meine Stimmen vor Entsetzen auf – aber irgendetwas in mir hatte den verrückten Impuls, ihn einfach zu umarmen und mich aus diesem Albtraum in die Sicherheit seiner Nähe zu flüchten.

»Was hast du noch zu verlieren?«, beschwor mich Amad. »Schließ die Augen, schau hin. Manche Wahrheiten sieht man am deutlichsten durch geschlossene Lider.«

Wie Manoa? Ich schüttelte erschrocken den Kopf und wand mich grob aus seinem Griff. Gras schnitt über meine Füße und der Wind wehte mir das Haar ins Gesicht, als ich davonrannte.

»Du schreist doch ständig nach der Wahrheit, tapfere Moreno?«, rief Amad mir nach. »Und jetzt bist du zu feige dazu, sie bei dir selbst zu suchen? Du warst mutiger, als du mich geküsst hast, Canda Hasenherz.«

Schwer atmend blieb ich stehen, mit geballten Fäusten. Ich hatte doch noch etwas zu verlieren, das war eine interessante Entdeckung. Meinen Stolz. Und es stimmte. Niemand auf der Welt hatte weniger zu verlieren als ich. Die Augen zu schließen, war wie ein Sinken in absolute Einsamkeit. Und dennoch – da waren sie. Und diesmal war ich froh, dass ich meine Traumgestalten nicht an der Schwelle des Todes verloren hatte.

»Weißt du noch?«, flüsterte der ängstliche Junge. »Wie Tian sich vor deiner Brautnacht verabschiedet hat? Und wie er dich dabei angesehen hat – dich und deinen Glanz?«

»Es ist der Weg, der dich führt«, sagte die sachliche Stimme. Sie gehörte, das erkannte ich nun, dem grauhaarigen schlanken Mann. Er stand hinter der Glashaut und bewegte die Lippen nicht, aber trotzdem hörte ich ihn.

»1+1=1«, schrieb das mathematische Mädchen.

Weil wir … eins sind?, dachte ich.

»Die Sterne haben dir vier Geschwister geschenkt, kleine Prinzessin«, murmelte meine Amme. »Sie wurden nicht von deiner Mutter geboren und dennoch sind sie dir näher als Geschwister von Familienblut. In deiner Geburtsstunde kamen sie mit dir auf die Welt, geboren im Reich der Geister aus Sternenstaub und Himmelslicht. Und bei deinem ersten Atemzug sanken sie zu dir herab. Bis zum Tod begleiten sie dich, unsichtbar, aber immer mit dir verbunden. Sie sprechen in den Träumen zu dir und schenken dir ihre Gaben, sie küssen dich und segnen deine Schritte, sie warnen dich vor Gefahr, sie helfen dir und beschützen dich. Sie sind deine Stimmen der Vernunft, Stimmen der Liebe, der Warnung und des Trostes. Ehre sie gut und höre auf sie!«

Es war die Geschichte, die jedes Kind in der Stadt kannte und die als Erwachsener niemand mehr erzählte, weil sie als Aberglaube verpönt war. Auch ich hatte sie als Kind geliebt und als Erwachsene gehorsam belächelt. »Du bist nicht allein«, hallte Manoas Stimme in meinem Kopf. »Ihr seid … drei.« Und sie hatte nicht mich und die Wächterschatten damit gemeint.

Ich riss die Augen auf und blinzelte zum Himmel. Jetzt wusste ich, was Amad in jener Nacht gemeint hatte, in der ich vom Rabenmann geträumt hatte. Ich sah den Himmel wirklich nicht durch meine Augen – sondern mit den Augen des Mädchens mit den Kirschlippen, das nur in Zahlen dachte und sprach.

Dann gab es noch den blonden Jungen, der so viel Angst hatte, weil er nichts vergessen konnte und deshalb in allem, was geschah, alle Möglichkeiten sah, auch die schlimmsten.

Und den grauhaarigen Mann, der mir mit kühler Sachlichkeit half, immer einen Weg zu finden, so aussichtslos die Lage auch schien.

»Schwester Zahl«, flüsterte ich in den Wind. »Bruder Erinnerung. Bruder Wegesucher …«

Und Schwester Glanz. Doch sie konnte Manoa nicht sehen.

Was hatte Schwester Glanz gesagt, bevor sie mich in die Tiefe stieß? »Verzeiht mir.« Sie hatte also zu den anderen drei gesprochen, nicht zu mir.

Ich drehte mich langsam um. »Aber sie … sie kann nicht selbst meine Gabe sein! Wenn diese Märchen wirklich wahr wären, dann … wäre sie gar kein Teil von mir, sondern wirklich ein eigenes Wesen.« So wie Manoa es mir auch erzählt hat. »Aber sie wäre ein Geist in einer anderen Wirklichkeit. Kein Mädchen, das mich niederschlagen kann!«

»Vielleicht bist in ihrer Wirklichkeit du der Geist«, erwiderte Amad. »Es kommt immer darauf an, auf welcher Seite einer Mauer man steht.«

Er hatte wieder diesen blinden Blick, der mir heute mehr Angst denn je machte. Während ich versuchte, einfach nur zu atmen, fanden sich Puzzlestücke zum Bild: Tian, der mich im Traum ebenso ansah wie Amad jetzt – als wäre da jemand anderes, hinter mir. Und seine zärtlichen Worte: »Folge mir, mein Stern.« Es war keine Botschaft an mich gewesen. Tian hatte nicht mich gemeint, sondern die andere gesehen. Und sie war es, die er geliebt hat. Von Anfang an. Wenn ich noch Tränen gehabt hätte, ich hätte geweint. Ich war nicht nur einmal, sondern doppelt verraten und verlassen worden. Und die Verbundenheit, die ich spürte – war die zu meiner verlorenen Gabe. An dieser unsichtbaren Nabelschnur entlang hatten meine drei anderen Geschwister mich geführt. Erst jetzt fiel mir auf, was die ganze Zeit offensichtlich gewesen war: Amad hatte nicht mich geführt, unauffällig hatte er sich an mir orientiert, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er mich vom Weg abbringen wollte.

Es kostete mich allen Mut, zu Amad zurückzugehen. Mehr denn je spürte ich die Gefahr und Kälte, die von ihm ausging, aber jetzt wusste ich, dass es meine Geschwister waren, die vor ihm zurückwichen. Amads Fokus änderte sich mit einem Wimpernschlag. Vielleicht war es das erste Mal, dass wir einander wirklich sahen. Aber wen sieht er denn?, dachte ich verzagt. Wer bin ich überhaupt, wenn meine Gaben gar kein Teil von mir sind? Und wer ist Amad, wenn meine Geschwister ihn so sehr fürchten, dass sie in seiner Nähe verstummen?

Amads Hemd war getrocknet, der Wind ließ die Fetzen seines Ärmels flattern. Eine blutige Spur zeichnete sich an seinem Unterarm ab. Ritzungen von Haizähnen, die ihn nur gestreift und sich weiter unten an seinem Lederband verfangen hatten. Es war fast ganz durchtrennt. Amad wehrte mich nicht ab, als ich ihn am Handgelenk fasste und das Band abriss. Wie ich vermutet hatte, war darunter eine Tätowierung verborgen. Ein Zeichen wie ein Siegel, rund, mit verschlungenen Symbolen wie Blütenblätter.

»Das Blau der Traumdeuter«, sagte ich heiser. »Du gehörst zu ihnen. Du siehst durch die Seelenhäute der Welt, deshalb hat die Mégana dich mit mir auf die Reise geschickt. Du belauschst meine anderen Gaben, die mich zu Schwester Glanz führen. Sie haben mich das Fresko meiner Ahnin finden lassen, weil sie auch blonde Haare hatte – wie Schwester Glanz. Und vielleicht wollten sie mir auch das Mal der Traumdeuter zeigen, damit ich verstehe, wer du bist. Und … es war kein Zufall, dass wir uns zum ersten Mal im Konferenzraum getroffen haben, nicht wahr? Du solltest für die Mégan überprüfen, ob eine meiner Gaben verschwunden ist.«

Er schluckte schwer und sah wieder aufs Meer. Aber sein Schweigen war Antwort genug.

Die Vorstellung, dass die Gaben zerstört werden konnten, wie es in früherer Zeit geschehen war, machte mir Angst. Wie tötet man Geister?, dachte ich. Aber Schwester Glanz ist kein Geist mehr, sie hat einen Körper, sie ist real.

»Wie kann das geschehen?«, rief ich verzweifelt. »Wie können unsere Gaben zu Menschen werden und uns verlassen?«

»Sie sind keine Menschen«, murmelte Amad. »Nicht in unserer Wirklichkeit, hier sind sie körperlos und können sich nicht manifestieren.«

»Und doch ist es passiert! Aber Tian ist ganz sicher kein Traumdeuter, wie konnte er meine Schwester also überhaupt sehen?«

»Genau das wollen die Mégan herausfinden. Um jeden Preis. Und deshalb brauchen sie beide: Tian und vor allem deine Schwester.«

»Ghan gibt niemanden auf.« Die Worte der Mégana bekamen den Klang eines Todesurteils. Ich hatte mir eingebildet, die Fäden in der Hand zu haben, in Wirklichkeit war ich die Marionette. Die Demütigung schmeckte bitter. »Hat es der Mégana Spaß gemacht, die Verständnisvolle zu spielen, die mich großzügig gehen ließ? Etwas Besseres als meine Flucht aus dem Haus der Verwaisten hätte ihr doch gar nicht passieren können. Und wenn meine Geisterschwester überhaupt nicht deine Geliebte ist, warum riskierst du dein Leben, um Tian und ihr zur Flucht zu verhelfen?«

Amad holte durch die Nase scharf Luft. Sogar im Mondlicht konnte ich erkennen, wie sich seine Miene verschloss. »Du weißt schon mehr, als du wissen darfst, Canda«, erwiderte er kaum hörbar. »Zuviel für die Méganes.« Es war eine Warnung, das verstand ich sehr gut. Aber so einfach wollte ich es ihm nicht machen.

»Schwester Glanz ist nicht deine Geliebte. Aber du hast einen Pakt mit den Méganes geschlossen und jemandem ein Versprechen gegeben, zurückzukehren.« Ich holte den Ring hervor. Die Silberintarsien leuchteten im Mondlicht auf. Sogar im Halbdunkel konnte man erkennen, wie blass Amad wurde. Er biss sich auf die Unterlippe. »Wer ist es, Amad? Wessen Leben ist das Pfand für dein Versprechen?«

»Ich habe dir alles gesagt, was ich dir sagen kann, und mehr als das«, erwiderte er heiser. Seine Hände waren immer noch zu Fäusten geballt. »Lass die beiden gehen, Canda! Was erwartet Tian, wenn er zurückkehrt? Verzeihen? Ein Platz in der Stadt an der Seite der Hohen?« Er schüttelte den Kopf. »Oh nein, du kennst die Gesetze Ghans besser als ein Fremder wie ich. Und deine Schwester wird nicht darauf hoffen können, im Haus der Verwaisten lebendig begraben zu werden. Sie wird sterben, schreiend, und nichts wird sie retten.«

Obwohl ich Schwester Glanz hasste, gab mir dieser Gedanke einen Stich. »Was kümmert es dich?«, rief ich. »Warum liegt dir so viel daran, sie zu retten?«

Er hob den Arm mit der Tätowierung. »Ein Traumdeuter steht nun einmal auf der Seite der Geister. Den Méganes ist das Leben der Lichter nichts wert, mir schon. Und es geht nicht nur um eine deiner vier Gaben. Die anderen drei sind immer noch mit deiner Schwester verbunden. Wird sie getötet, dann sterben auch sie. Oder glaubst du, die Méganes werden deine Schwester schonen, nur damit die anderen am Leben bleiben?«

Unwillkürlich zog ich die Hände an die Brust, als könnte ich die drei schützen. Schwester Zahl, dachte ich entsetzt. Bei der Vorstellung, ihr könnte etwas zustoßen, war mir zum Weinen zumute. Deshalb fürchten sie Amad. Weil er sie sieht und mich zurückbringen soll. Er ist dazu gezwungen, ihr Kopfjäger zu sein, obwohl er sie retten will.

»Aber Schwester Glanz wollte mich töten – aber dann wären meine anderen Lichter doch mit mir gestorben. Und sie selbst doch auch?«

Amad schüttelte den Kopf. »Ihr Leben ist nicht an dich gebunden. Wenn du stirbst, verlassen sie dich nur und … verlieren einander.«

Dann hat sie darum gebeten, dass sie ihr verzeihen, von ihr verlassen zu werden.

»Ich verstehe, wie verletzt du bist, Canda. Aber was ändert es an deinem Schicksal, wenn du sie gehen lässt?« Amads Stimme hatte wieder diese beschwörende Sanftheit, und diesmal brachte sie mich fast zum Weinen. »Du hast Tian doch längst verloren, nun rette wenigstens deine Lichter. Und …«, seine Stimme wurde leiser, bittend, »… rette dich selbst. Die Mégana hält ihre Versprechen, im Schlechten, aber auch im Guten. Wenn du ohne Tian zurückkehrst, kannst du in deiner Stadt leben und der Mégana mit deinen Gaben dienen. Du … musst nur alles vergessen, was du nun weißt, und nie wieder ein Wort darüber verlieren. Wenn die Méganes erfahren, dass du das Geheimnis der Lichter kennst, dann …«

»… stirbst du.« Es war dieser Moment, als mir wirklich bewusst wurde, wie viel Amad für mich aufs Spiel setzte.

Oh ja, ich kannte die Gesetze der Stadt. Wenn ich mit Schwester Glanz zurückkehrte und mit ihr meine Gaben starben, wäre ich in Ghan nichts mehr wert. Weder für die Mégana noch für meine Familie. Und warum sollten die Méganes jemanden wie mich dann noch am Leben lassen? Als Hohe, die wenigstens noch drei von vier Gaben besaß, war ich dagegen wertvoller als manch andere, die weniger Lichter hatten. Und war meine Stadt nicht immer noch mein Zuhause? Trotz allem?

»Ja, ich habe gelogen«, sagte Amad leise. »Für die Lichter, aber … es geht längst nicht mehr nur um sie oder um meinen Pakt.« Ich bildete mir ein, dass seine Züge im Mondlicht weicher wurden. »Glaub es oder nicht, aber es ist so: Zuerst sah ich in dir nur eine arrogante, herzlose Stadtprinzessin, die die Welt nur durch die Augen ihrer Gaben betrachten konnte, so wie all die Menschen im Zentrum deiner Stadt. Aber jetzt sehe ich … ein Mädchen, das sein Leben aufs Spiel setzt, um einen alten Hund zu retten, eine Frau mit dem Herzen eines Wüstenlöwen – und ich will sie um keinen Preis der Welt leiden und sterben sehen.«

Seine Worte berührten mich, lösten etwas in mir aus, das nichts mit dem dunklen Schmerz zu tun hatte, den ich um Tians Verrat litt. Es war, als hätte die Nacht mehr Glanz und Licht bekommen. Noch nie war ich so verwirrt gewesen. Niedergeschlagen und verraten, völlig am Boden. Und gleichzeitig so froh, dass der Mann, den ich vor Kurzem noch so sehr gehasst hatte, bei mir war.

Trau ihm nicht!, flüsterte es in mir. Vergiss nicht, wer er ist. Aber heute hörte ich nicht auf das, was ich als Moreno noch gedacht hätte. Ich wehrte mich nicht, als er zu mir trat und mich in seine Arme zog. Ich ließ mich in diese Nähe fallen, die mir schon so vertraut war, dass ich erst jetzt merkte, dass ich sie vermisst hatte. Es war seltsam: Wir standen auf verschiedenen Seiten, wir täuschten und belogen einander, aber dennoch waren wir verbunden. Der einzige Mensch, den ich noch habe, ist ein Sklave der Méganes. Und trotzdem ist er es, der mich aufgefangen hat und mir Geheimnisse anvertraut, die ihn das Leben kosten können. Noch nie, so wurde mir bewusst, hatte jemand mir ein größeres Geschenk gemacht.

»Siehst du meine … Lichter? Die ganze Zeit?«

Er schien zu überlegen, ob er auch dieses Geheimnis preisgeben sollte, aber dann nickte er zögernd, ich spürte die Bewegung. »Ein Mädchen, ein blonder Junge und ein Mann«, flüsterte er mir ins Ohr.

»Wie existieren sie?«

»Gewöhnlich sind sie wie im Schlaf und glauben, dass sie nur träumen.«

Ich lehnte meine Wange an Amads Schulter, schloss die Augen und stellte mir meine Stadt vor, so wie sie wirklich war: Menschen, die zwei, drei oder vier Gaben hatten – sie lebten umgeben und begleitet von diesem Heer unsichtbarer Geister, die mit ihnen verbunden waren, Tag und Nacht. Stimmen, die man nur in Gedanken hörte, pulsierende Häute aus Glas. Fünftausendeinhundertvierundsiebzig Bewohner des inneren Rings, rechnete Schwester Zahl. Zwei bis vier Gaben pro Person, das macht durchschnittlich mindestens fünfzehntausendfünfhundertzweiundzwanzig Lichter, die unsichtbar mit den Menschen leben. Der Gedanke machte mir Angst und faszinierte mich zugleich.

»Deine Lichter sind erwacht, vielleicht durch den Schmerz der zerrissenen Verbindung«, fuhr Amad flüsternd fort. »Sie versuchen sich vor mir zu verbergen. Weit hinter den Schleiern. Sie haben alles gehört, was ich gesagt habe, aber sie trauen mir nicht.« Es klang traurig.

Vorsichtig entzog ich mich Amads Umarmung und blickte über das Meer. Der Nebel hatte das Schiff längst verschluckt. »Sie leben hinter Häuten aus Glas«, sagte ich. »Die angeblich niemand durchschreiten kann.« Nur die Toten, erinnerte ich mich an Manoas Worte.

Amad seufzte. »Wer weiß, vielleicht ist es ja möglich – einmal in hundert Jahren. Aber wir werden das Rätsel nicht lösen. Bitte, Canda, du weißt nun, was auf dem Spiel steht. Lass Tian und deine Schwester gehen.«

Eines lernte ich über mich: Wer auch immer ich ohne meine wichtigste Gabe war, eine Frau, die einfach umkehrte und sich in ihr Schicksal ergab, war ich nicht. Ich konnte nicht an den Ort zurückkehren, an dem ich wie eine Blinde gelebt hatte, eingesponnen in einen Kokon aus Lügen. Trotzdem kostete es mich viel, den Kopf zu schütteln, so sehr kam ich mir nun wie eine Verräterin vor. »Tut mir leid, ich … kann nicht.«

Amad sah aus, als hätte ich ihm einen Schlag versetzt. »Was willst du denn noch? Rache? Die wirst du nicht bekommen!«

»Um Rache geht es nicht! Ich gebe dir mein Wort, dass du deinen Pakt erfüllen wirst. Und meine Lichter werden nicht sterben. Aber noch ist es mein Leben, und ich entscheide, wann ich aufgebe. Und vielleicht … gibt es einen anderen Weg.«

Diesmal fürchtete ich mich nicht, als die Wächter neben Amad aufflackerten.

»Glaubst du etwa, dass du deine Gabe zurückholen kannst?«, rief er. »Willst du ihr ein Hundehalsband umlegen und sie zu den anderen dreien zurückzerren?«

»Mach dich nicht über mich lustig!«

»Und du mach keinen Fehler, Canda Heißblut. Du bekommst sie nicht zurück. Niemals!«

Trotz allem schmerzten diese Worte. »Ob du es glaubst oder nicht, das hat sogar eine Stadtprinzessin wie ich inzwischen verstanden. Und die Lektion war hart genug. Aber ich lasse nicht zu, dass ein Mann, mit dem ich so lange verbunden war, mich feige mitten in der Nacht verlässt.« Amad schüttelte den Kopf und wollte schon widersprechen, aber ich kam ihm zuvor. »Gerade du müsstest es doch verstehen. Ich dachte immer, ich sei frei, aber in Wirklichkeit entscheiden andere für mich, seit meiner Geburt. Vielleicht ist das hier die einzige Entscheidung, die ich jemals selbst treffen kann: Niemand – niemand! – zerstört mein Leben, ohne mir dafür in die Augen zu sehen und mir zu sagen, warum. Tian nicht. Und am allerwenigsten meine Schwester. Ich muss sie finden und erfahren, was geschehen ist! Und ich gehe – auch ohne dich.«

Meine Stimme kippte, und jetzt war ich doch drauf und dran, zu weinen. Bevor Amad es sehen konnte, wich ich ihm aus und ging an ihm vorbei. Ich schritt mitten durch einen Wächterschatten, eine Wand aus Flüstern und Kälte. »Verschwindet endlich und lasst mich in Ruhe!« Mein Befehl schreckte sie auf. Harte Gesichtszüge schimmerten im Mondlicht. In dieser Nacht lernte ich, dass man mit diesen Wölfen in ihrer eigenen Sprache sprechen muss, ohne Angst, mit Entschlossenheit im Herzen, die Hand am Dolch. Denn sie gehorchten und folgten mir nicht.

Ich wartete darauf, dass Amad mich zurückrief, aber er schwieg und ließ mich gehen.