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Juniper hatte die Graue und mein Gepäck bei der Wirtin ausgelöst und mich über versteckte Wege zu den Baracken im Fanghafen geführt, wo ihre Gruppe ihr Quartier hatte. Die Fangboote dümpelten wie schlafende Fische an kleinen Bootsanlegern, und im Laternenlicht flickten ein paar Fischer riesige Löcher in den Netzen, die zwischen den Baracken aufgespannt waren. »Heute hatten die meisten Fischer Pech«, erklärte Juniper. »Auch unser Boot ist fast leer ausgegangen. Nur sieben kleine Haie. Schlechte Zahl, schlechtes Omen.« Sie verstaute mein Gepäck, dann winkte sie mir zu, ihr zu folgen.

Den Tag über hatte ich mir den Plan aller vier Häfen bis in die letzte Gasse eingeprägt, aber in dieser Nacht lernte ich mit Juniper noch ein anderes Tibris kennen. Je weiter wir über versteckte Treppen und durch Hinterhöfe hinauf in den alten Wohnteil des Handelshafens kamen, desto mehr Menschen begegneten uns. In der Nähe des Leuchtturms waren die Gassen mit Papierlaternen beleuchtet, die einen Heiligenschein von Motten trugen. Gitarrenklänge und Trommeln vermischten sich mit Klatschen und Lachen. Schon der Geruch nach Branntwein machte fast trunken. Und plötzlich standen Juniper und ich am Rande eines kleinen Festes in einem Innenhof. Hundertvierundsiebzig Leute, konstatierte eine besorgte Stimme in mir. Die Hälfte völlig betrunken. Vierzehn Messer …

Aber der Duft nach gegrilltem Fischfleisch und Knoblauch ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Auf einen guten Fang – auf unsere Geheimisse, und auf die Freundschaft!« Juniper drückte mir einen Weinbecher aus Perlmutt in die Hand. Freundschaft. Ich wusste nicht, warum mich das Wort plötzlich so traurig machte. »Wenn du fällst, dann fange ich dich auf.«

War alles, was Amad gesagt und getan hatte, eine Lüge gewesen?

»Mach nicht so ein Gesicht«, schalt mich Juniper. »Heute wirst du diesen Tian nicht mehr finden. Wenn er verschleppt wurde, musst du bei den Lagern der Sklavenhändler suchen. Morgen sage ich dir, bei wem du nachfragen kannst. Aber heute trinkst du mit mir – und zwar auf uns! Also?«

»Auf die Freundschaft«, antwortete ich und lächelte ihr aus ganzem Herzen zu. Dieser Wein war schwer und süß wie Honig. Ich schloss die Augen und spürte darin dem Aroma von Tians Mitternachtswein nach. Dann ließ ich mit klopfendem Herzen den Blick über die tanzende Menge schweifen. Der Tanz war Wildheit und Willkür, sprühend, aber ohne Perfektion und Form. Und plötzlich blühte etwas in mir auf – etwas Weiches, Wehmütiges. Weißt du noch?, flüsterte die Stimme des ängstlichen blonden Jungen sanft. Zabina und Anib? Ihr wart wie Schwestern. Es schien hundert Jahre her zu sein, dass ich die besten Tänzerinnen Ghans bewundert hatte, elegant und so perfekt, dass niemand in meiner Stadt einen Sinn darin sah, selbst zu tanzen und sich vor ihnen zu blamieren.

»Komm!« Juniper fasste mich einfach an der Hand und zog mich mitten in die Menge. Die Graue bellte auf, der Perlmuttbecher rollte über den Boden, dann wurde ich zwischen Seide und Leinenstoff, fliegendem Haar und fremdem Atem herumgestoßen. Juniper legte mir die Arme um die Taille, drückte sich gegen meinen Rücken. Ich spürte die schlangengleichen Bewegungen. Vergeblich versuchte ich mich loszumachen. »Juniper, ich kann nicht tanzen!«, schrie ich gegen die Musik an.

»Klar, rechnen kannst du ja auch nicht! Komm schon, nur einen Tanz, für mich! Vielleicht ist es das letzte Mal in meinem Leben.«

Ich wollte protestieren, aber plötzlich fühlte ich sie nicht mehr, weil ich mich im selben Takt bewegte. Ich tanzte wohl – ohne dass ich es wollte. Juniper ließ mich los und wie menschliches Strandgut in einem Meer aus Körpern wurde ich davongetragen, allein und haltlos. Aber seltsamerweise machte es mir heute keine Angst. Ich war allein inmitten der Tanzenden – und trotzdem nicht einsam. Und ich weiß nicht, warum, aber ausgerechnet jetzt musste ich an Amad denken. Ich kam aus dem Takt. Irgendwo schrien Menschen meinen Namen und ich erstarrte, erschrocken darüber, dass mich jemand hier kannte. Aber es waren nur meine verrückten Stimmen. Ich presste die Hände auf die Ohren, aber das Flüstern und Rufen war so durcheinander, dass ich nur Fetzen verstand. Ganz nah! … Hier!

Und dann spürte ich es auch. Ein Zittern in meiner Brust, kalt und heiß zugleich, ein Sog, eine Spur, unwiderstehlich und so stark, dass meine Beine ihr ganz von selbst folgten wie ein Schlafwandler dem Traum. Tian war hier – so nah, dass ich ihn fast schon sah!

Die Spur zog mich zu einem überdachten Durchgang zwischen zwei Häusern und von dort aus zu dem winzigen versteckten Marktplatz, über den ich heute schon einmal gelaufen war. In der Mitte ragte die verwitterte Brunnenskulptur auf – ein springender Fisch, der Wasser spuckte. Menschen umstanden den Brunnen in einer Traube. Mit offenen Mündern, verzückt wie Verliebte, starrten sie alle in eine Richtung. Niemand beachtete mich, niemand stieß mich fort, weil ich mich vorbeidrängte, bis ich an den Brunnenrand stieß.

Tian!, wollte ich schreien. Aber dann schwieg ich und stand nur da.

Er war es nicht.

Es war sie. Amads Geliebte.

Sie stand mit dem Rücken zu mir, aber ich hätte sie unter Tausenden erkannt. Sie trug ein viel zu schlichtes rostrotes Reisekleid, doch obwohl der Stoff schon zerschlissen war, ließ das Kleid ihre Schönheit umso greller wirken. Weiße Haut leuchtete wie die Sonne durch Herbstblätter und ihr Haar wallte wie ein Wasserfall. Barfuß wiegte sie sich ohne Musik, nur im Takt des Klatschens, in einem langsamen Tanz. Offenbar war ich nicht die Einzige, die Geld brauchte: Münzen fielen wie Sternschnuppen in den Brunnen, sanken in das knietiefe Wasser, in dem sie tanzte, glänzten unter ihren schlanken Füßen und schienen doch nur dafür da zu sein, ihren Glanz zurückzuwerfen. Ein Händler zog sich einen Goldring vom Finger und warf ihn ihr zu. Sie fing ihn auf, ohne dem Schenker mehr als ein kurzes Nicken zu gönnen. Es war ein Wiedererkennen mit jeder Faser meines Seins: die Anmut, die Neigung des Halses, die Bewegung der Arme, sogar die Art, wie ihr langes Haar auf ihrem Rücken und ihren Schultern tanzte. Es war, als würde ich mich von hinten in einem Spiegel betrachten, in dem ich anders aussah – und doch dieselbe war.

Das gehört mir!, wollte ich schreien, aber kein Ton kam über meine Lippen.

Das gehörte dir, korrigierte mich meine nüchterne, gnadenlose Stimme. Und niemals wieder wirst du solche Schönheit und Anmut besitzen – und auch nicht den Glanz, der jeden Raum erstrahlen lässt und alle Herzen gewinnt. Fort für immer.

Das Mädchen tanzte weiter, ohne die Perfektion der wahren Gabe, aber dafür mit all dem Glanz, der Anmut, der Schönheit, die vor einigen Tagen noch mir gehört hatte. Ich hörte ihr Lachen, ein wenig rau, aber unwiderstehlich – Männer bekamen sehnsuchtsvolle Augen und einen entrückten Blick. Mit einer Drehung wirbelte sie herum. Mitten im Schwung entdeckte sie mich und erstarrte. Rostroter Stoff bauschte sich und fiel, zeichnete ihre Brüste nach, ihre Hüften, dann stand sie nur da, mit erhobenen Armen, eine Skulptur perfekter Anmut. Für eine gefrorene Ewigkeit starrten wir einander an, während die Zuschauer applaudierten, weil sie ihr Erschrecken für eine Schlusspose hielten.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Mein Gesicht? Nein, es hatte natürlich keine Ähnlichkeit mit mir. Es war oval und schmal, hohe Wangenknochen gaben ihm etwas Weiches, Katzenhaftes. Ihre Augen waren smaragdgrün wie ein Meer voller Geheimnisse und Versprechen. Die Lippen hatten einen launischen Schwung und schienen sogar jetzt lächeln zu wollen. Und das Verrückte war: Hätte sie mir zugelächelt, ich hätte nicht widerstehen können, das Lächeln zu erwidern. So wie früher die Menschen mir nicht widerstehen konnten. Und mit einem Mal begriff ich, dass Tian nicht das Einzige war, was mir geraubt worden war. Meine wichtigste Gabe war nicht zerstört worden – und am allerwenigsten von Tian. Sie war gestohlen worden. Die Diebin stand vor mir. Und sie hatte mich sofort erkannt.

Ihre Arme fielen herab, die Augen wurden schmal vor Zorn, die perfekten Züge bekamen die kalte Schönheit einer Klinge. Mit katzenhaft geschmeidigen Bewegungen raffte sie Münzen und Schmuck zusammen und schnappte sich einen weißen Sonnenmantel, der am Rand des Brunnens lag. Dann sprang sie über den Brunnenrand und tauchte wie ein rotgoldener Fisch im Meer der Leiber unter.

Mein Schock wich jäher Wut. Ich spürte nicht, wie ich Menschen anrempelte, hörte nicht, wie ich angeschrien wurde, während ich mich mit Knien und Ellenbogen durch die Menge kämpfte.

Ich war im Nachteil – meine Schönheit bahnte ihr den Weg, Menschen wichen vor ihr zurück und starrten ihr hinterher, standen mir im Weg wie Schlafwandler. Ein rostrotes Stück Stoff flatterte und verschwand um die Ecke. Sie will im Labyrinth der Altstadt verschwinden. Ich bog nach rechts ab, hetzte durch einen Hinterhof. In einer Ecke lag ein Stapel altes Holz, Skelette von getäfelten Räumen, Stöcke und Leisten, die meisten zerbrochen. Es klapperte, als ich im Laufen einen Stock aus dem Trümmerhaufen riss und weiterrannte. Die ferne Musik blieb endgültig hinter mir zurück und immer lauter hörte ich meinen eigenen keuchenden Atem. Ich passte sie punktgenau in der nächsten Gasse ab. Sie stürmte um die Ecke – und prallte zurück. Sogar jetzt war ihre Anmut so groß, dass es wehtat, sie anzusehen. Sie reagierte schnell. Bevor ich sie mit dem Stock zu Fall bringen konnte, schnellte sie wie eine Katze vom Boden, krallte sich in das Mauerwerk eines baufälligen Hauses – und kletterte blitzschnell daran hoch zu einer Mauer. Ich sah nur noch ihr Haar im Mondschein aufleuchten, als sie sprang, dann war sie fort. Ich fluchte. Aber sie hatte die Rechnung ohne mein Gedächtnis gemacht. Drei Möglichkeiten, vier Quergassen, zwei Richtungen. Vierzehn Sekunden!

Das nächste Mal schnitt ich ihr den Weg kurz vor dem Leuchtturm ab. Sie war wendig, aber nicht schnell genug für mich. Sie versuchte zu flüchten, aber ich erreichte sie fast und stieß ihr den Stock zwischen die Füße. Sie stolperte und schlug lang hin. Ihr Schmerzensschrei war erschütternd. Und während ich mich noch über die Heftigkeit ihrer Reaktion wunderte, begriff ich, was sie bezweckte. »He!«, rief jemand. »Was ist da los?« Am Fuß der Treppe, die zum Leuchtturm führte, tauchten zwei Männer auf.

»Hilfe!«, stieß sie hervor. »Sie ist verrückt, sie will mich umbringen!« Die Mienen der Männer sprachen Bände. Es war erbärmlich und genial. Eine Schönheit litt Todesangst. Und eine wilde, vor Wut schäumende Wahnsinnige – also ich – jagte sie mit einem Stock.

Die Männer begannen zu brüllen und stürzten los. Sie rappelte sich erstaunlich schnell auf und war mit einem Satz an der Turmtreppe. Bevor sie davonschoss, blitzte sie mir noch ein bösartiges, triumphierendes Lächeln zu.

»Miststück!«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Aber leider nützte es nichts, ich war in Schwierigkeiten. Und lange dauert es nicht mehr, bis die Wächterschatten wieder ihren Spaß haben.

Folge ihr auf die Treppe!, befahl meine sachliche Stimme. Da hast du wenigstens die bessere Position.

Die Männer waren betrunken, ihre stampfenden Schritte brachten die Holzstufen des alten Leuchtturmes zum Schwingen. Einer erwischte mich am Hosenbein und brachte mich zu Fall. Ich trat zu und entwischte nur mit knapper Not einer Faust. Ich rannte keuchend weiter bis zu den Resten einer alten Tür. Ein langes blondes Haar hing daran. Die Diebin war also hindurchgeschlüpft.

Ich riss einen morschen Balken, der nur noch an einem Nagel hing, ab, und schleuderte ihn den Männern zwischen die Füße. Es war mein Vorteil, dass sie angetrunken waren, der erste stolperte und riss den zweiten mit. Polternd stürzten sie auf die Treppe hinunter. Das gab mir sicher eine Minute Vorsprung.

Und oben sitzt die Schöne in der Falle. Es sei denn, sie kann fliegen. Schnaubend stürzte ich in den obersten Raum. Ich war überrascht, als ich Meer schimmern sah, und den Vollmond, der wie ein Auge am Himmel stand. Der Leuchtturm war wirklich Stückwerk, Stürme und Meeresgischt hatten den Mörtel zerfressen, Lücken klafften in den Wänden. Die Blonde hatte sich in den Schatten eines Winkels geflüchtet. Sie wollte zur Seite ausweichen, aber ich stieß den Stock in die Wand und trieb sie zurück.

»Diebin«, schleuderte ich ihr entgegen. »Wo ist Tian?«

Sie starrte mich nur aus aufgerissenen Augen an, den Rücken gegen die Wand gepresst wie ein Tier, das ein Jäger in die Enge getrieben hat. Aber eine Sekunde später lernte ich eine neue Lektion: Ich war es, die wie ein Schaf in die Falle gelaufen war.

Ihre Bewegung war so schnell, dass ich sie kaum wahrnahm. Etwas zischte durch die Luft, traf mich mit voller Wucht gegen die Brust und schleuderte mich nach hinten. Greller Schmerz nahm mir die Sicht und die Luft. Über mir pendelte ein riesiger Eisenhaken an einem Seil. Irgendein Teil analysierte ganz sachlich, was geschehen war. Amads Geliebte hatte mich herankommen lassen. Und dann hinter ihrem Rücken ein Seil gelöst, das über eine Seilwinde zu einem schweren Haken führte. Das ist kein Stadtmädchen, dachte ich noch, während ich auf die Beine kam. Sie bewegt sich wie eine Kämpferin.

Sie schrie auf, als ich sie mit dem Stock erwischte, aber noch im Fallen federte sie über die Hände hoch und katapultierte sich mit einer Drehung des Köpers in die Luft. Der Tritt kam so schnell, dass ich ihn kaum spürte, er tat nicht einmal weh – aber die Kraft warf mich wie von selbst nach hinten. Eine Eisenstange schnitt mir in die Kniekehlen, eine lächerlich nutzlose Absperrung, die das fehlende Fensterbrett ersetzen sollte. Ich weiß nicht, wie es mir noch im Fallen gelang, nach der Absperrung zu greifen. Fingernägel kratzten über Rost und ich erwischte auch einen abgebrochenen Mauerstein. Ein mörderisch harter Ruck im Schultergelenk trieb mir die Tränen in die Augen. Jetzt hing ich an den Händen an der Außenseite des Turms, unter mir nur noch die Tiefe und das Meer, und versuchte mit den Füßen Halt im Mauerwerk zu finden. Wie in einem Albtraum sah ich, wie die Diebin sich nach meinem Stock bückte und ihn aufreizend langsam aufhob. Sie wird mich töten, kreischte es in mir. Aber aus meiner Kehle kam nur ein Wimmern. Krampfhaft versuchte ich mich hochzuziehen, meine Muskeln brannten.

Sie trat an den Abgrund und beugte sich vor.

»Nein!«, brachte ich endlich hervor.

Sie zögerte tatsächlich, eine Ewigkeit, in der mein Blut laut wie Sturmtosen in meinen Ohren rauschte und meine ganze Haut ein Meer von heißen Panikstichen war. Ihr blondes Haar fiel über die rostige Stange, verfing sich in der rauen Struktur. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, ich hätte mich in dieses Haar gekrallt und sie wenigstens mit in den Abgrund gerissen.

Das Mondlicht spiegelte sich in ihren Augen. Tränen glänzten darin.

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Verzeiht mir!«

Dann versetzte sie mir den letzten Stoß.

Komischerweise war es, als würde ich stillstehen und jemand würde die Welt von mir wegziehen. Ich spürte den Schmerz nur wie ein fernes Echo und die Panik wie etwas Fremdes, das mich aus meinem eigenen Körper schlug. Das Gesicht meiner Mörderin wurde kleiner und kleiner. Und zersplitterte in kalten, flüssigen Marmor.

Der Aufprall holte mich aus der Taubheit des Schocks zurück. Salz brannte in meiner Nase und meinen aufgerissenen Augen, aber ich sah nur mondverschleierte Dunkelheit. Kälte kroch unter meine Kleidung, jede Bewegung war unendlich schwer und das Pochen in meinem Kopf so laut wie dumpfe Paukenschläge auf einem Sklavenschiff. Ich krümmte mich unter Wasser, strampelte, aber ich war eingeschlossen wie eine Fliege im Honig und jede Bewegung ließ mich tiefer sinken. Krampfhaft versuchte ich die Luft anzuhalten, aber mein Körper reagierte von selbst und schnappte verzweifelt nach Atem. Salz auf meiner Zunge, schneidende Kälte in meiner Lunge, und während ich kämpfte und reflexartig versuchte, das Wasser auszuhusten, wurde die Dunkelheit zu Schwärze.

Es war sehen und nicht sehen. Im Takt meines rasenden Herzens pulsierte alles um mich herum, Wasserhäute – oder Schleier? Hinter einem von ihnen schwebte ein hochgewachsener Mann mit feinen, intelligenten Zügen. Er war nicht alt, aber trotzdem war sein Haar schon grau. Sein Gesicht war hager und freundlich, mit schmalen Brauen, die noch dunkel waren. Und hier, an der Schwelle des Todes, kamen auch andere Traumgestalten zu mir: das Mädchen mit den roten Lippen und der ängstliche Junge. Er war tatsächlich blond und schmal, höchstens dreizehn Jahre alt. Hinter den Schleiern trieben die Gestalten um mich herum im Wasser, aufrecht, traurig und ernst. Der blonde Junge senkte den Kopf.

Etwas Raues schabte über meine Wange und holte mich zurück. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich noch lebte. Noch. Wasserwirbel trafen mich von einem anderen Körper, etwas sehr Lebendiges strich an mir vorbei. Haut, so rau wie Sandpapier, schrie es in meinem Kopf. Dann packte mich etwas schmerzhaft zwischen den Schulterblättern und riss mich nach oben.