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»Höchste Mutter!« Mein Flüstern klang wie das Echo von Mäusescharren.

Es war so paradox, die alte Frau hier zu sehen – in einen groben Umhang gehüllt, ohne ihren Mann, losgelöst von allem, was zu ihr gehörte.

Diesmal lächelte die Mégana nicht. »Komm her!«

Mit weichen Knien schlüpfte ich in den Keller. Trotz allem schämte ich mich, der Höchsten Herrscherin so schmutzig und abgerissen gegenüberzustehen.

»Wie kannst du es wagen, zu fliehen? Hatte ich dir nicht gesagt, Ghan gibt niemanden auf?«

Ich hätte Angst vor ihrem Zorn haben sollen, aber offenbar veränderte es alles, wenn man von Hunden und Kopfgeldjägern durch die halbe Stadt gehetzt wurde.

»Ghan hat mich aber aufgegeben!«, brach es aus mir heraus. »Und Tian ebenfalls. Ihr selbst habt sein und mein Urteil besiegelt!«

»Die höchste Richterzweiheit hatte nun mal eindeutige Beweise für deinen Schuldspruch«, kam es hart zurück. »Und du schuldest dem Urteil Gehorsam.«

»Das Urteil gründet auf Lügen!«

»Du schreist mich an? Mich?« Ihr Zorn war wie eine Hitzewelle, die mich versengte. »Sei froh, dass ich dich für diese Lästerung nicht lebendig in der Wüste begraben lasse. Habe ich dir erlaubt zu gehen?«

Ich begriff erst nicht, dass der letzte Satz nicht an mich gerichtet war, denn immer noch fixierte sie mich. Aber dann antwortete der Jäger: »Ich sollte sie finden und zu Euch bringen. Mein Auftrag ist erfüllt.«

Ich hielt unwillkürlich die Luft an. Abgesehen davon, dass er der Mégana widersprach, machte er jetzt tatsächlich Anstalten, sich ohne Erlaubnis einfach umzudrehen und zu gehen!

»Du bleibst, Amadar. Oder du wirst morgen deine Zunge eigenhändig an die Falken verfüttern.«

Amad-Ar? Amad, mein Sklave? Diese alte Formel kannte ich nur aus Geschichtsbüchern, aus den Zeiten des großen Chaos. Dieser Kerl, der mir gedroht hatte, mich niederzuschlagen, war also noch weniger wert als ein niederer Diener! Jetzt verstand ich gar nichts mehr – jeder Hohe hätte ihm für seine Unverschämtheit eigenhändig die Zunge herausgeschnitten, aber die Höchste Herrscherin duldete seine Verfehlung.

Er blieb, angespannt wie ein Tier, das fliehen wollte und nicht konnte. Nun, offenbar habe ich neuerdings mit den Niederen noch mehr gemeinsam als die Hässlichkeit, dachte ich bitter. Wir sind beide Gefangene. Ich hasste die Mégana dafür, dass sie Amadar nicht hinausgeschickt hatte und mir dadurch zeigte, auf welcher Stufe ich inzwischen stand. Aber ihm war es offenbar ebenso unangenehm. Unsere Blicke berührten sich und trennten sich sofort wieder, als hätten wir uns daran verbrannt.

»Jetzt zu dir«, wandte sich die Mégana wieder mit aller Schärfe an mich. »Du scheinst nicht zu begreifen, dass ich die Einzige bin, der noch etwas an dir liegt. Ich komme sogar hierher – allein! Selbst der Mégan weiß nicht, dass ich hier bin. Du solltest also mehr als dankbar sein.«

»Dafür, dass Ihr mich abführen lasst?«

»Das ist nicht meine Aufgabe. So leid es mir um dein Schicksal tut: Andere werden dich finden und zum Haus der Verwaisten zurückbringen.«

Wie zufällig streifte ihr Blick Amadar. Mir wurde kalt. Ich hatte also richtig vermutet, er war ein Menschenjäger.

»Oh Canda!«, fuhr die Herrscherin etwas freundlicher fort. »Ich hätte versucht, deine Eltern zu überzeugen, dass du wenigstens mir noch dienen darfst. Als Namenlose zwar, und im Verborgenen, aber mit den Talenten, die du noch besitzt. Doch jetzt hast du dir auch noch diese letzte Chance auf ein würdiges Dasein genommen.«

»Dann lasst mich gehen!« Der Ruf brach aus mir heraus. Und selbst jetzt fühlte es sich noch wie ein Frevel an, die Herrscherin so respektlos anzusprechen.

»Hast du den Verstand verloren? Wieso sollte ich so etwas Verrücktes tun?«

»Weil es für Euch jetzt ohnehin gleichgültig ist, ob ich lebe oder sterbe. Für die Stadt habe ich keinen Nutzen mehr.«

»Du bist immer noch eine Tochter Ghans und verdienst unseren Schutz.«

»Schutz?« Beinahe hätte ich gelacht. »Und deshalb lasst ihr zu, dass ein Sklave eine Hohe Tochter anfasst?«

Beim Wort Sklave holte Amadar scharf durch die Nase Luft und seine Hände schlossen sich zu Fäusten. Nun, weshalb auch immer er mich hasste – jetzt hatte er wenigstens Grund dazu.

»Ich musste ihm erlauben, dich zu berühren, um dich vor den Häschern in Sicherheit zu bringen«, erwiderte die Mégana ruhig. »Und sieh dich an: Ich kann dich doch nicht deinem Schicksal überlassen.«

»Das habt Ihr längst getan.«

Die Züge der Herrscherin verhärteten sich. Ich war sicher, sie würde jetzt ihren menschlichen Bluthund auf mich hetzen, aber zu meiner Überraschung musterte sie mich nur so erstaunt, als würde sie mich zum ersten Mal wirklich wahrnehmen. »Und wie weiter, Canda? Glaubst du wirklich, du könntest in der Wüste allein überleben? Amadar, was meinst du?«

Ich war fassungslos. Sie fragte einen Sklaven um Rat?

Der Kerl schüttelte den Kopf. »Sie würde nicht einmal bis zum nächsten Wasserlager kommen.«

Ich galt bei meiner Familie seit jeher als die Ruhige, Vernünftige – aber jetzt schäumte mein Blut hoch.

»Ich bin eine Moreno! Die Wüste ist meine Heimat. Meine Vorfahren jagten dort mit Pfeil und Bogen. Unsere Zelte waren mit den Fellen von Wüstenlöwen ausgelegt und unsere Feinde fürchteten uns so sehr, dass sie lieber starben, als uns nach einem Kampf verletzt in die Hände zu fallen.«

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Vor hundert Jahren vielleicht. Da wart ihr noch die Wölfe der Wüste. Heute dagegen seid ihr … Städter.«

Es klang so verächtlich, als würde er »Versager« meinen.

»Wie kannst du es wagen, meine Familie zu beleidigen!«

»Habe ich das? Ich nenne die Dinge nur beim Namen. Im Windschatten des eisernen Turms ist es einfach, mutig zu sein. Aber die richtige Wüste ohne den Schutz der Stadt ist etwas anderes. Die Kreaturen fragen nicht danach, ob sie das Fleisch einer Moreno oder eines namenlosen Nomaden verschlingen. Und in den Wüstenbergen lauern Wesen, die das Blut der Schlafenden trinken und nur ihre leeren Hüllen zurücklassen …«

»Soll mich dieser Aberglaube etwa einschüchtern?« Ich hob das Kinn und wandte mich an die Mégana. »Und selbst wenn es so wäre, ich sterbe lieber unter den Sternen, als unter Glas zu verenden wie eine gefangene Fliege!«

Die Mégana überraschte mich mit einem leisen Lachen. »So hätte ich dich ja gar nicht eingeschätzt, Canda«, sagte sie nach einer Weile. »Du machst deinen Vorfahren alle Ehre. Aber ich verstehe dich besser, als du denkst: Als ich noch so jung war, hätte ich mich auch niemals brechen lassen wie ein Stück Holz. Und ich wäre auch eher gestorben, als aufzugeben.« Ein schmerzlicher Zug ließ ihr Gesicht weicher wirken, und mir schien, als blickte sie weit in eine Vergangenheit voller Krieg und Chaos. Zum ersten Mal flackerte wieder so etwas wie Hoffnung in meiner Brust auf. Pack sie an dieser Stelle! Das ist deine Verbindung zu ihr!

»Dann wisst Ihr ja am besten, worum ich Euch wirklich bitte. Oder hättet Ihr Euch als junges Mädchen in ein solches Schicksal ergeben?«

Die Mégana lächelte schmal. Ihr Mund war eingefallen und faltig und hier, in dem flackernden Licht, sah sie den Gespenstern im Haus der Verwaisten erschreckend ähnlich.

»Kluges Mädchen. Aber ich weiß genau, was du wirklich vorhast. Dir geht es nicht um dich, das ist nicht deine Art. Du bist für andere mutiger als für dich selbst, habe ich recht? Wenn Tian tot wäre, würdest du dein Leben demütig und gehorsam im Haus der Verwaisten beschließen. Aber du hoffst, ihn zu finden.«

»Ihr selbst habt vor Gericht gesagt, dass Ihr Euch vorstellen könnt, er sei das Opfer eines Verbrechens geworden.«

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Das war, bevor wir wussten, was mit dir geschehen ist. Das verändert alles. Alles.« Es klang traurig und ich wagte nicht, nachzufragen, während sie auf die Kerze starrte. »Armes Kind. Und du glaubst immer noch an seine Unschuld.«

»Was meint Ihr damit?«

Die Mégana zögerte, als hätte sie zu viel gesagt. »Der Mégan würde nicht billigen, was ich hier tue«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu mir. »Aber an deiner Stelle würde ich auch wissen wollen, was geschehen ist, so schrecklich es auch ist. Und ich glaube, du bist immer noch stark genug, um es zu ertragen. Komm zur Flamme!«

Sie betrat die kleine, zitternde Insel aus Helligkeit. Ich humpelte ebenfalls zur Kerze. Irgendwo in der Ferne echote ein Hall, vielleicht eine Tür, die zuschlug. Die Mégana lauschte einen angespannten Moment, und mir wurde klar, dass sie tatsächlich heimlich hier war und jede Minute zählte. Wann würde der Mégan spüren, dass seine andere Hälfte ihm nicht nahe war?

»Ich habe nicht viel Zeit, Canda. Du weißt doch noch, was man dir über die Gaben beigebracht hat?«

Seltsamerweise kam mir als Erstes die alte Legende in den Sinn, die manche Ammen ihren Schützlingen erzählten, wenn diese noch an eine verborgene Welt voller Magie glaubten. Von geisterhaften Wesen, die uns von Geburt an begleiteten und uns mit Gaben beschenkten. Aber die abergläubische Zeit der Ammenmärchen war für mich längst vorbei.

»Sie sind die Pfeiler unserer Macht«, antwortete ich. »Jeder Höchstgeborene besitzt sie. Die, die vom Schicksal besonders beschenkt wurden, haben vier Gaben, wie Tian und ich. Früher, in den Anfangszeiten, hatte jeder vier, aber diese Statistik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Seit fünfzehn Jahren werden die meisten der Höchsten und Hohen mit zwei, höchstens drei Gaben geboren. Es gibt Missgeburten, die nur eine besitzen, aber selbst eine einzelne ist und bleibt das Merkmal der hohen Geburt. Sie erhebt uns über die gewöhnlichen Menschen und die Barbaren außerhalb der Stadt.«

»Ja, sie sind unser wertvollstes Gut. Und was wertvoll ist, ist in Gefahr, missbraucht oder zerstört zu werden. Früher, lange vor dem großen Chaos, schadeten Menschen einander, indem sie die Talente ihrer Gegner zerstörten. Nimm einem feindlichen Befehlshaber seine Gabe, strategisch zu denken, und du wirst ihn besiegen.«

»Wie soll das möglich sein?«

»Unsere Ahnen beherrschten die Kriegskunst, ihre Feinde auf diese Weise zu schwächen. Die Dokumente über solche Verbrechen sind nach der Neuordnung vernichtet worden. Noch zu Zeiten meines Großvaters wäre für ein solches Verbrechen die ganze Sippe des Täters ausgelöscht worden. Heute ist das Geheimnis verloren, niemand kann mehr auf die Gaben von anderen Menschen zugreifen. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: In einer Zweiheit kann es geschehen – wie man an dir sieht. Deine vierte und größte Gabe wurde ausgelöscht. Für immer.« Das zu hören, fühlte sich immer noch an wie ein Schlag in den Magen. Ihre Stimme bekam einen dunkleren, weicheren Klang, wie die einer Mutter, die ihr Kind tröstet. »Das ist die Schattenseite der Liebe, Canda: Diejenigen, die wir am meisten lieben, haben leider auch die Macht, uns am schlimmsten zu verletzen.«

»Tian soll mir das angetan haben?« Es war so abwegig, dass ich nicht einmal zornig werden konnte.

»Wer sonst, Canda? Wir sind mächtiger als die gewöhnlichen Menschen. Ghan herrscht über die Wüste, die Berge, die Küste und alle ihre Schätze. Wir haben die besten Söldner aus allen Ländern, keiner unseres eigenen Blutes muss sein Leben noch für unsere Siege opfern. Herrscher fremder Länder kaufen unseren Rat und Strategien und bezahlen ihr Leben lang in Gold dafür. Wir sind unbesiegbar, aber dort, wo wir lieben, sind wir auch verletzlicher, denn anders als die Gewöhnlichen haben wir als Zweiheiten Zugang zum Geist unseres Partners.«

Ich trat einen Schritt zurück, riss mich los von ihrer Sanftheit. »Er war es nicht!«

»Aber wer sollte es sonst gewesen sein, Canda?«

»Ich weiß es nicht … Spione, Feinde der Stadt, Verschwörer …« Auf meiner Haut konnte ich den kalten Aquamarinblick des Jägers spüren. In seiner Haltung lag eine Spannung, die mich beunruhigte. Warum darf er hier sein? Warum hört ein Sklave das, was nur für die Ohren des innersten Kreises bestimmt ist?

Die Mégana schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Niemand konnte dir so nahe kommen wie dein Versprochener. Durch deine Liebe warst du für ihn eine geöffnete Tür. Er ist hindurchgegangen und hat das Kostbarste zerstört, was du hattest. Nur deshalb ist er geflohen. Alle Indizien sprechen dafür. Leider.«

Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen, so fest ballte ich die Hände zu Fäusten. »Dann … müssen seine Entführer einen Weg gefunden haben, dieses Verbrechen zu begehen und falsche Fährten zu legen. Warum sollte Tian mir so etwas Grässliches antun?«

Die Mégana hob in einer bedauernden Geste die Schultern.

Jetzt verstand ich zumindest, was zu meinem Schuldspruch geführt hatte: Es war ein gerichtlicher Vergleich, ein Handel. Wir waren keine Barbaren und es gab längst keine Blutrache und keine Sippenhaft mehr. Solange ich offiziell selbst die Schuld an dem Verlust meines Glanzes trug, würde man Tian und die Labranakos nicht zur Rechenschaft ziehen. Dazu war die Machtbalance zu kostbar, gerade jetzt, in den Zeiten, in denen das Verhältnis der Mächtigen angespannt war und Bündnisse wichtiger denn je. Die Tatsache, dass die Labranakos für mein Leben im Haus der Verwaisten zahlten, war nur der geringste Teil der Buße. Es würde sie Generationen kosten, für dieses vermeintliche Verbrechen ihres Sohnes zu sühnen. Und meine Familie würde sie nicht billig davonkommen lassen.

Eine Moreno weint nicht, hörte ich meine Mutter sagen. Aber diesmal nützte das Gebet unserer Familie nicht.

Die Mégana hob ihre knochige Greisenhand und strich mir mit einer liebevollen Geste eine Träne von der Wange. Ich konnte die alte kreisrunde Brandnarbe auf ihrem Handteller sehen, niemand wusste genau, woher die Verletzung stammte. Normalerweise verbarg sie diesen Makel unter Handschuhen. »Ach, Kind«, sagte sie mit zärtlichem Bedauern. »Ich weiß, die Wahrheit ist grausam. Und ich verstehe dich besser, als du denkst, denn auch ich habe geliebt, als ich jung war, mit ganzem Herzen.« Ich wunderte mich über den bitteren Klang in ihrer Stimme. Natürlich sprach sie vom Mégan, auch wenn es schwer vorstellbar war, dass das Herrscherpaar irgendwann einmal jung gewesen war. Und es war zumindest nicht offiziell bekannt, dass sie sich auch in Liebe gefunden hatten.

Aus dem Augenwinkel fiel mir auf, wie der Jäger hastig den Blick abwandte und verharrte, angespannt, wie versteinert, doch innerlich vibrierend von einem Zorn, den er zu verbergen suchte.

»Aber wir verstehen nicht immer, was diejenigen, die wir lieben, tun«, fuhr die Mégana mit harter Stimme fort. »Vor allem nicht in eurem Alter.«

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Lasst mich gehen, ich bitte Euch!«

»Du glaubst immer noch an ihn?«

Ich hielt ihrem Blick stand, wütend, verzweifelt, aber so entschlossen, dass sie erstaunt die Brauen hob. Die Flammen flackerten und irrlichterten als zuckende Goldpunkte in ihren Augen. Und plötzlich lachte sie auf. »Du ahnst ja nicht, wie sehr du mich an mich selbst erinnerst! Na schön, Canda Moreno: Mach mir ein Angebot! Was bekomme ich, wenn ich einfach wieder gehe und vergesse, mit dir gesprochen zu haben?«

Nur zu gern hätte ich mich jetzt irgendwo abgestützt, so weich wurden meine Knie. Sie dachte tatsächlich darüber nach!

Irgendwo echote ein Knarren, eine zweite Klapptür am Ende des Raums öffnete sich. Fackelschein zeichnete eine Treppe aus dem Schatten.

»Höchste Herrin!«, mahnte ein Wächter.

»Meine Zeit läuft ab«, sagte die Mégana. »Also?«

Endlich fand ich meine Stimme wieder. »Ihr bekommt den Beweis für Tians Unschuld.«

»Das ist alles?«

»Und ich bringe euch die Antwort, was wirklich mit meinem vierten Licht geschehen ist. Wie es sein konnte, dass es zerstört wurde. Und Tian wird zurückkehren und seinen Platz in der Stadt einnehmen. Ein Sohn Ghans wird nicht verloren sein.«

»Aber was wirst du tun, wenn du herausfindest, dass Tian so schuldig ist, wie wir glauben?«

Alles in mir sträubte sich dagegen, es auszusprechen. Du musst!, drängte meine kluge Stimme. Es ist der einzige Weg hinaus. Sonst wird ihr Bluthund dich in deinen Kerker zurückschleppen.

»Dann bringe ich ihn zurück, damit er vor Gericht gestellt wird.«

Endlich nickte die Mégana. »So kommen wir ins Geschäft. Deinen Dolch!«

Wieder war ich irritiert, weil sie mich bei diesem Befehl ansah – aber auch diesmal reagierte der Sklave. Er schüttelte den Kopf. »Das ist keine Waffe für …«

Die Mégana unterbrach ihn mit einer warnenden Geste. Diesmal, das spürte ich, würde es keine leere Drohung sein, ihn zu bestrafen. Die Adern an seiner Stirn traten hervor, aber er zog in widerstrebendem Gehorsam eine schmale Waffe hervor. Und am liebsten würde er der Mégana damit die Kehle durchschneiden.

»Gib ihr die Waffe!«, befahl die Herrscherin.

Seine Lippen waren ein schmaler Strich, als er auf mich zutrat. Einen Augenblick lang hatte ich Angst, dass er mich angreifen würde, aber er hielt mir die Waffe hin und ich ergriff sie zögernd. Obwohl er sie in der Hand gehalten hatte, war der Griff kalt. Er bestand komplett aus einem schwarzen Material, glatt wie Elfenbein, aber er war viel leichter. Die Klinge war matt, schon im Halbdunkel war sie kaum zu erkennen. Der Dolch eines Attentäters, dachte ich mit einem Schaudern, unsichtbar im Dunkeln, verrät sich nicht durch das Glänzen der Klinge. Meine Finger kribbelten, am liebsten hätte ich die Waffe fortgeschleudert.

»Der Dolch ist nur ein Geschenk auf Zeit«, sagte die Mégana. »Du versprichst mir, dass du ihn mir wiederbringst. Versprich mir außerdem, dass du mir nach deiner Rückkehr mit deinen verbliebenen Talenten dienen wirst. Nur mir. Solange ich es will. Bedingungslos. Das ist mein Preis. Und …« Sie senkte die Stimme, »…wenn Tian schuldig ist, wirst du es sein, die ihn mit diesem Dolch töten wird.«

Ich hatte mich getäuscht, als ich die alte Frau für den weicheren, freundlicheren Teil der Höchsten Zweiheit hielt. Der Mégan war in seiner Härte berechenbar, seine Frau dagegen hatte zwei Seiten, das erkannte ich jetzt. Die der gütigen, gebrechlichen Greisin – und das Feuer, das jeden zu Asche verbrannte, der sich ihm in den Weg stellte.

»Blut um Blut, so fordert es unser Gesetz«, fügte sie hinzu. »Ohne dieses Versprechen und die Zusage, dass deine Gaben in Zukunft nur mir dienen, lasse ich dich nicht gehen.«

Ich hatte einen gefährlichen Weg beschritten. Was, wenn …, flüsterte es in meinem Kopf. Wenn ich ihn finde und zurückbringe und ihn doch nicht mehr lieben darf? Was, wenn ich seine Unschuld nicht beweisen kann, weil seine Entführer zu klug sind, um Beweise zu hinterlassen?

Es war, als würde ich über den Glasboden balancieren, der unter mir knackte, kurz davor, zu brechen.

Jedes Wenn gehört dem Morgen, antwortete die vernünftige Gedankenstimme. Hier geht es um das Jetzt – und um dich. Und du musst jetzt erst einmal raus aus der Stadt!

Wie heute im Gerichtssaal machte ich innerlich wieder einen Schritt zur Seite, in einen geheimen Mörderwinkel, der nur mir gehörte. »Ich gebe Euch mein Wort darauf!«

Es war verrückt. Ich, Canda Moreno, einstige Hoffnung Ghans, spielte ein doppeltes Spiel mit der Herrscherin. Ich versuchte nicht auf Amadar zu achten. Wieder hatte ich das unbehagliche Gefühl, dass er durch mich hindurchsah, in jeden Winkel, sogar dorthin, wo die Lügen sich zusammenkauerten.

Aber die Mégana nickte. »Dann ist es abgemacht, Canda. Amadar, du stehst dafür ein, dass sie zurückkommt. Stirbt sie da draußen, dann stirbst du auch. Und für dich wird es weitaus unangenehmer sein.«

Unter anderen Umständen wäre es eine Genugtuung gewesen, zu sehen, wie seine arrogante Maske in Fassungslosigkeit und Empörung zerfiel. Aber im Moment hatte ich viel zu sehr damit zu kämpfen, nicht selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie dumm war ich gewesen zu denken, dass sie mich allein gehen ließ.

Amadar schüttelte den Kopf. »Ich unterstehe dem Mégan – und er wird es niemals dulden!«

Nie hätte ich der alten Frau so viel Schnelligkeit zugetraut. Sie schoss herum wie eine Schlange. Ich erschrak vor dem Hass in ihrer Miene. »Mach nicht den Fehler, mir noch einmal zu widersprechen«, sagte sie gefährlich leise. »Und jetzt verschwinde.«

Was hat er getan, dass sie ihn so sehr verachtet?

Amadars und mein Blick trafen sich, und seltsamerweise fühlte ich mich, als säßen wir beide in derselben Falle. Seine Kiefer mahlten und das Licht der Kerze ließ die Schatten auf seinem Gesicht tief und ihn noch hässlicher wirken. Er fluchte mit zusammengebissenen Zähnen, drehte sich auf dem Absatz um und ging mit großen Schritten zur Treppe. Sein Schatten flackerte über die Wand, dann fiel die Tür zu. Die Herrscherin und ich blieben im Schein der Kerze zurück.

Endlich fand ich meine Sprache wieder. »Lasst mich allein gehen, Höchste Mutter! Nicht mit ihm, nicht mit Amadar …«

»Fordere meine Geduld nicht heraus. Amadar ist unser bester Fährtensucher und der treueste Sklave, den wir haben.«

»Er … er benimmt sich nicht wie ein Sklave, am allerwenigsten mir gegenüber. Ich kann ihm nicht trauen!«

Sie lächelte schmal, ohne einen Funken Wärme. »Er ist der Einzige, dem du trauen kannst, und er wird dir gehorchen, weil ich es ihm befehle. Jeder Tropfen seines Blutes ist an uns verschuldet. Und glaube mir: Du brauchst ihn. Nur er kann einen Menschen aufspüren, der nicht gefunden werden will. Ob es dir gefällt oder nicht – ohne ihn setzt du keinen Fuß aus der Stadt.«

»Aber der Mégan, Höchste Mutter«, beharrte ich. »Ihr seid eine Zweiheit, Ihr könnt solche Entscheidungen doch nicht allein treffen!«

Dieser Einwand schien sie zu amüsieren. »Kann ich nicht? Nun, manchmal tue ich es einfach. Du würdest es verstehen, wenn du so lange eine Zweiheit wärst wie der Mégan und ich.« Sie trat näher zu mir, so nah, dass der Lilienduft mir fast Übelkeit verursachte. »Du magst viel verloren haben, aber du bist immer noch eine Tochter Ghans und wirst es immer sein. Du glaubst an unsere Gesetze, deren Teil du immer noch bist. Und ich weiß, du wirst alles dafür geben, dich deines Standes und der Stadt wieder würdig zu erweisen. Dann wirst du nie wieder in das Haus der Verwaisten zurückkehren müssen. Dafür werde ich sorgen. Das ist mein Versprechen.« Ich musste schlucken. Sie war wirklich wie das Feuer. Weich, nicht fassbar, doch was sie berührte, veränderte sich für immer oder flammte in neuer Hoffnung auf. Als sie nun zu mir trat und mir ihre Hand auf die Wange legte, war es, als würde mich diese Geste mit Sehnsucht versengen, so sehr wünschte ich mir trotz allem, keine Ausgestoßene mehr zu sein. »Ich warte auf dich, Tochter.« Es war verrückt, aber trotz allem gab es immer noch einen Teil in mir, der erleichtert war, dass es immer noch ein Oben und Unten gab und dass die Gesetze meiner Welt noch galten – sogar für einen gefallenen Stern wie mich. »Und jetzt versprich mir, dass du dich an unseren Pakt hältst.«

»Ich habe euch doch bereits mein Wort gegeben!«

Sie lächelte wieder ihr schmales, eingefallenes Altfrauenlächeln. Ich sah jedes Fältchen, jede Verwüstung, die das Alter in ihrem Gesicht angerichtet hatte. Aber dahinter glaubte ich das kämpferische, listige Mädchen hindurchschimmern zu sehen, das sie lange vor meiner Geburt gewesen war.

»Worte sind doch nur Wind und Tinte nur gefärbtes Wasser.« Sie streckte mir die Hand hin. An ihrem Zeigefinger glänzte ein Silberring in Form einer Schlange, die sich in drei Windungen um den Finger schloss. »Gib mir ein richtiges Versprechen!«

Ihre zerbrechlichen Finger schlossen sich sanft um meine, eine Berührung, die mich mit Scheu und Unbehagen erfüllte. Plötzlich drückte sie zu. Ein Stechen durchfuhr meine Hand. Erschrocken entriss ich ihr die Rechte und starrte auf meinen Handteller – Blut quoll aus einem Stich und wurde zu einem Strom auf meiner blau gefärbten Haut. Das Rot verästelte sich in den Linien meiner Hand und in den gerade erst verheilenden Schnitten, die ich vor Gericht unter den Handschuhen verborgen hatte. Wie ein Stammbaum, dachte ich benommen. Aber was hätte meine Urahnin, Tana Blauhand, dazu gesagt, mich hier zu sehen?

»Diesen Ring habe ich von meiner Großmutter geerbt.« Die Mégana zeigte mir, dass der silberne Schwanz der Ringschlange in einer scharfen Spitze endete. »Und sie hatte ihn von ihrem Großvater bekommen. Er erinnert mich daran, nicht zu vergessen, was ein Versprechen wirklich ist. In grauer Vorzeit haben wir keine Verträge aufgesetzt. Unsere Unterschrift war unser Blut, unser Leben. Wenn du dein Versprechen wirklich ernst meinst, lösche die Flamme damit!«

Aus schmalen Augen beobachtete sie mich und diesmal erinnerte das Lauernde in ihrem Blick mich an ihren Mann. Stein und Feuer, dachte ich. Lava, die alles versengt.

Unsere Ahnen wussten offenbar viel über die Herzen von Lügnern. Es war einfacher, viel einfacher mit Worten. Aber irgendwo dort draußen war Tian, sein Leben in meiner Hand. Und hier, auf der anderen Seite, gab es nur ein Mädchen mit leerem Blick, gefangen unter Glas. Du wirst einen Weg finden, flüsterte es in mir. Du wirst den Sklaven loswerden, und niemand kann dich zwingen, den Dolch gegen Tian zu erheben.

Und während ich langsam die Hand über die Kerze streckte, gab ich mir auch selbst ein heimliches Versprechen: Was auch geschah, niemals, das schwor ich mir, würde dieser Dolch Tians Haut auch nur berühren. Die aufsteigende Hitze umfloss meine Faust. Blut sammelte sich in einem immer größer werdenden Tropfen an meinem kleinen Finger – und fiel. Der Docht fauchte auf, Dunkelheit fiel über uns wie ein schwarzes Fangtuch.

»Gut«, sagte die Mégana. »Dann viel Glück, Tochter Ghans. Geh und komme bald zurück. Und denke daran: Deine vierte Gabe wurde zerstört, das macht deinen Geist verwundbar. Also hüte dich vor deinen Träumen. Sie sind das erste Zeichen, dass du den Verstand verlierst.«