Die Gespenster verschwendeten keine Sekunde. Schon nach wenigen Minuten ertönte jenseits der Mauer eine schrille Alarmglocke, dann noch eine. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie auch im dritten Ring Alarm schlagen würden.
Ich flüchtete an Ständen entlang, durch Gassen, die mir auf dem Papier so vertraut und in Wirklichkeit eine fremde Welt waren. Der Knöchel tat bei jedem Schritt mehr weh, aber eine schlimmere Verletzung schien es nicht zu sein. Sobald ich Schritte hörte, versteckte ich mich hinter Mauern und Ecken, wartete Ewigkeiten, beäugt nur von mageren, streunenden Hunden.
Hier, im dritten Ring, gab es kein Glas, Eisen und Stahl, nur Holz und Lehm und altertümliche Karren. Es roch nach Sand und Schmutz. Und an manchen Stellen nach fauligem Obst und Verfall. Irgendwo stritten sich Leute vor einem Haus, bellten Hunde, quietschten Karren. In der Nähe ragte als einziger Fixpunkt für die Orientierung die gemauerte Spitze eines alten Aussichtsturmes auf. Das hieß, ich befand mich ganz in der Nähe des Tuchmarktes. Und der war nur noch eine Viertelmeile vom nächsten Stadttor entfernt, das in den vierten Ring führte.
In der Ferne erklang immer noch der Alarm, aber zu meiner unendlichen Erleichterung war mir offenbar niemand gefolgt. Als das Seitenstechen zu schlimm wurde, verkroch ich mich unter einem Marktkarren, der in einer Seitenstraße stand. Der Boden war uneben, voller Sand und Schmutz. Es stank wie in einem Zoo nach Tieren und Schweiß. Ich zitterte noch immer, Seitenstechen machte mir das Atmen schwer und meine Füße waren wund vom ungewohnten Rennen über Sand und Steine. Aber im Moment war ich nur glücklich, ausruhen zu können – hier, wo der Nachtwind mich daran erinnerte, dass ich immer noch zu den Lebenden gehörte. Für einige kostbare Momente war ich in Sicherheit. Mit dieser Erkenntnis kam die Erschöpfung. Ich lehnte mich an das Holzrad und schloss die Augen. Nur zehn Sekunden. Nur bis das Seitenstechen aufhört. Und dann musste ich es irgendwie schaffen, in den vierten Ring und dann aus der Stadt zu kommen. Zumindest dafür war es nützlich, dass ich mein Strahlen, meinen Glanz verloren hatte. Vielleicht konnte ich verbergen, eine Hohe zu sein.
Wunderbare Idee, spottete meine innere Stimme. Und dann? Gehst du mit deinem kleinen Brieföffner in die Wildnis, zu den Bestien, den Mördern, den Stürmen?
Doch bei der Erinnerung an Tians Stimme zog sich mein Herz zusammen wie ein verwundetes Wesen. »Folge mir.« Und nur für einen Herzschlag lang ließ ich den Gedanken zu, der so verboten war, dass ich es nicht einmal gewagt hätte, die Worte stumm mit den Lippen zu formen: Was, wenn es nicht nur ein bedeutungsloser Traum war? Sondern … eine Botschaft?
*
»Hier drunter sitzt jemand!«
Laternenschein streifte mein Knie. Ich warf mich herum und krabbelte auf Händen und Knien unter dem Wagen hervor. Mitten in eine Gruppe von Gestalten, die mit Laternen und Seilen bewaffnet waren. Diesmal blieb keine Zeit für Angst, und noch weniger Zeit dafür, mir Gedanken um meinen Knöchel zu machen. Ich rappelte mich auf, bevor sie überhaupt begriffen, was geschah. Aber noch bevor ich um die nächste Ecke war, brach der Tumult los. »Das ist das Mädchen!«
»Festhalten! Flüchtling aus dem zweiten Ring!« Plötzlich erschien mir Ghan wie ein lebendiges Wesen, vernetzt und atmend, keine Berührung blieb unbemerkt. Noch gestern hätte diese Erkenntnis mich beruhigt und stolz gemacht. Die Rufe hallten wie Echos in meinen Ohren, meine Sohlen schlugen hart auf sandigen Boden, jeder Sprung ein Stechen in meinem geschwollenen Fußgelenk. Lange würde ich die Verfolgungsjagd nicht durchhalten.
Zum Tuchmarkt! Dort gibt es mehr Verstecke als im Wohnviertel. Ich taumelte um die Ecke und riss mit voller Wucht einen Mann zu Boden. Sein schnapsumwehtes Fluchen folgte mir noch, als ich längst in der nächsten Straße war. Meine Schritte knirschten auf Sand und Stein – aber da war noch etwas, ein schneller, schleichender Gang und ein Schatten in meinem Augenwinkel. Bevor ich begriff, schnellte schon eine Gestalt auf mich zu. Der Zusammenprall brachte mich fast zu Fall. Staub nebelte uns ein, der Kerl versuchte mich zu fassen zu bekommen, aber meine Haut und meine Kleidung waren noch glitschig vom Saft der Früchte. Er wollte mir den Arm um die Kehle legen, aber bevor er mich richtig packen konnte, bohrte ich mein Kinn in seinen Unterarm und meine Zähne bekamen Haut zu fassen. Es knirschte, so fest biss ich zu. Das bin ich nicht, dachte ich voller Entsetzen. Aber gleichzeitig riss ich instinktiv den Arm hoch und schlug mit aller Kraft zu. Meine Faust traf etwas, das knackte. Dann war ich frei.
Der Tuchmarkt war eines der alten Gebäude, die im Laufe der Jahrhunderte wie Bienenstöcke aus Stein Schicht für Schicht gewachsen waren. Ein Labyrinth aus Läden, Färberkammern und Lagerräumen. In den Färberkammern wurde heute nur noch Stoff für die Prunkgewänder für das Zentrum verarbeitet. Ein teurer Luxus in einer Stadt, in der Wasser aus großen Tiefen hochgepumpt werden musste.
Ich tauchte in die Gassen und schlüpfte zwischen frisch gefärbten Stoffbahnen hindurch, die an Leinen quer über die Höfe gespannt waren. Zwei Höfe noch, drei, zählte ich in Gedanken, wenn ich es aus der Färberei schaffe, bin ich beim Durchgang zu den Lagern und kann mich verstecken.
Doch als ich keuchend um die Ecke bog, merkte ich, dass das Labyrinth auf dem Stadtplan sich von der Wirklichkeit unterschied. Kein Durchgang zur nächsten Gasse! Der Weg endete in einem kleinen Hof. Und aus einer Seitentür traten gerade zwei Männer mit Taschenlampen. Ich bremste schlitternd ab und presste mich an die Wand. Noch hatten sie mich nicht entdeckt. Hastig zog ich mich zurück – doch dann hörte ich hinter mir Schritte. Schwere plumpe Schritte von einer ganzen Gruppe von Verfolgern. Vor Enttäuschung hätte ich am liebsten geheult, aber der Teil von mir, der immer noch nicht aufgeben wollte, suchte nach einem Ausweg. Nach oben? Klettern? Über das Dach?
Etwas landete neben mir, lautlos und katzenhaft geschmeidig. Ein Arm umschlang meine Taille, eine Hand presste sich so grob auf meinen Mund, dass meine Lippen schmerzhaft fest gegen meine Zähne gedrückt wurden. Mit einem Ruck wurde ich hochgehoben und nach hinten gerissen. Stein streifte meine Schulter, dann fielen wir beide zu Boden, Körper an Körper. Staub kratzte in meinen Augen. Als ich wieder blinzeln konnte, erkannte ich, dass wir in einer Nische lagen, die ich vorhin im Schatten nicht gesehen hatte.
»Habt ihr sie gefunden?«, rief jemand.
»Noch nicht, aber sie muss hier langgelaufen sein.«
Fackelschein tastete sich wie ein schnüffelnder Hund um die Ecke, leckte über den Ellenbogen des Kerls, der mich gefangen hielt. Seine Hand drückte auch gegen meine Nase, ich bekam nur wenig Luft. Ich schielte zu dem Arm. Neben dem blutigen Abdruck meiner Zähne prangten Kratzer wie von Tierkrallen auf seinem Handgelenk. Der Verrückte aus dem Konferenzsaal!
»Holt die Hunde«, befahl jemand draußen. »Vielleicht hat sie sich hinter dem Zollhaus verkrochen.«
Das Licht wanderte weiter. Sandalen knirschten an der Nische vorbei.
»Ein Mucks und ich liefere dich den Kerlen aus. Verstanden?« Die Hand löste sich. Ich rang noch nach Luft, da war er schon aufgesprungen, packte mein Handgelenk und zog mich grob auf die Beine. Er war stark, viel stärker als ich, und bei seiner Berührung bekam ich eine Gänsehaut – eine von der Art, die man verspürt, wenn man sich einbildet, im Dunkeln Schritte zu hören.
Er zog mich mit sich, geduckt huschten wir um die Ecke, in Sichtweite der Gruppe, die nun am Ende der Gasse stand. Ich konnte nicht nachdenken, viel zu sehr war ich damit beschäftigt, nicht umzuknicken. An einer Treppe stolperte ich und er riss mich rücksichtslos wieder hoch. »Spring!«, befahl er an einer Mauer und versetzte mir einen Stoß. Es war nicht tief. Doch als ich hinter der kleinen Mauer aufkam und der Schmerz wieder durch meinen Knöchel schoss, war plötzlich Hundegebell ganz nah. Der Verrückte landete neben mir, packte mich am Arm und stieß mich zu einer niedrigen Tür. »Da rein. Und rühr dich nicht!«
Die Tür klappte zu, ein Schlüssel drehte sich von außen im Schloss. Dunkelheit schloss mich ein, nur durch einen Spalt in der Tür fiel Streiflicht. Er hat mich eingesperrt! Und woher hat er den Schlüssel? Ich war ihm wie ein Tier in die Falle gegangen. Warum hatte ich nicht versucht, ihm gleich zu entwischen? Sehr klug, Canda, höhnte die Stimme, die mich neuerdings immer begleitete. Dann hätten dich die anderen schon längst.
»He! Stehen bleiben!« Das Hundegebell wurde lauter.
Ich drückte meine Wange an die Tür und spähte durch den Spalt. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei sandfarbene Hunde den Verrückten bellend anfielen. Ich war sicher, sie würden ihn zerfleischen.
Doch zu meiner Überraschung lachte er und streckte die Hand nach dem größeren Hund aus. Zähne schnappten spielerisch in die Luft, Ruten wedelten. Die Tiere, eben noch Bestien, verwandelten sich in freundliche, unterwürfige Wesen, die den Verrückten umtänzelten. »Seid ihr blind?«, rief er zwei Männern entgegen, die mit Seilen und Stöcken bewaffnet auf ihn zu rannten. »Ich bin es!« Er hob den Arm, um den Strahl der Taschenlampe abzuschirmen. Sein seltsames vielfarbiges Haar leuchtete im Streiflicht auf.
»Amad!« Der Mann senkte die Lampe sofort. »Was machst du denn hier?«
»Dasselbe wie ihr.«
»Hast du sie erwischt?«
»Das Biest hat mich erwischt«, antwortete mein Entführer. »Schau mich an – und dann hat sie mich auch noch gebissen – führt sich auf wie ein tollwütiger Hund.«
Ich wich hastig zurück und tastete mich zur Rückwand der Kammer. Nur noch dumpf hörte ich die Stimmen.
»Wo hast du sie gefunden?«
»In der Färberkammer versteckt. Ist völlig durchgedreht, als ich sie aufgestöbert habe. Ich konnte sie nicht halten.«
Der Hundeführer lachte rau auf. »Das will ja bei dir was heißen. Deshalb haben die Hunde sie also hier gerochen. Schade, ich dachte schon, jetzt hätten wir die goldene Ratte.«
Meine Zehen stießen gegen Holz – ein Fass … mehrere Fässer, sie reihten sich an der Wand auf. Es roch metallisch nach Färbersud und abgestandenem Wasser.
»Versucht euer Glück, ich habe genug von ihr. Sie ist dort über die Mauer und in Richtung Norden gerannt!«
Meine Hände griffen in etwas Zähflüssiges, Nasses, glitten dann über Mauerstein. Aber keine Tür. Das Licht einer Taschenlampe streifte meine Hände. Sie waren blau von dem Färbemittel, in das ich gegriffen hatte. Und wie Höhlenmalereien prangten meine blauen Handabdrücke nun am Stein. Ich fuhr herum. Mein Herz raste so sehr, dass ich mir einbildete, der Echoschlag müsste die Flüssigkeit in den Fässern zum Pulsieren bringen.
Der Kerl, der offenbar Amad hieß, stand im Raum. Mir war klar, dass er die Tür hinter sich wieder abgeschlossen hatte.
Blut floss aus seiner Nase, über Oberlippe und Kinn, und als er sich jetzt mit einer unwilligen Geste über den Mund wischte und ausspuckte, blieb ein roter Streifen auf seiner Wange zurück wie eine Kriegsbemalung aus alter Zeit. Mein Fausthieb hatte gesessen, vielleicht hatte ich ihm sogar die Nase gebrochen. Und dafür bringt er dich um, Canda. Obwohl es lächerlich war, tastete ich nach meiner armseligen Waffe, aber der Brieföffner war verschwunden. Vielleicht hatte ich ihn verloren, aber ich glaubte eher, dass der Kerl ihn mir abgenommen hatte.
Ich schrie auf, als er blitzschnell in die Mitte der Kammer sprang. Aber er stürzte sich nicht auf mich, sondern beugte sich hinunter und griff nach einem Eisenring am Boden. Im Streiflicht erschienen die Kratzer an seinem Arm wie Wunden. Mit Schwung zog er am Ring. Eine Klapptür im Boden tat sich auf.
»Los, du zuerst!«
Ich schüttelte den Kopf. »Wer bist du?«
»Der Mann, der dich diese Treppe hinunterstößt, wenn du nicht freiwillig gehst.« An der Hand, die die Taschenlampe hielt, traten die Knöchel weiß hervor. »Beweg dich, Prinzessin! Oder willst du zurück in den Kerker der Verwaisten?«
Tu, was er sagt, hier oben hast du keine Chance gegen ihn. Und obwohl es widersinnig war, machte die Tatsache, dass er Marams Reich als Kerker bezeichnete, es mir leichter.
Es war keine schäbige Stiege, wie ich erwartet hatte, sondern eine Steintreppe, blank und ohne ein Körnchen Staub. Sie führte in ein längliches, in Seitenkammern unterteiltes Gewölbe. Jetzt wusste ich wieder, wo wir waren. Und mir sank der Mut. Genauso gut hätte ich in eine Gruft hinuntersteigen können. Wir betraten die alten Zisternen. Noch vor hundert Jahren war hier das Wasserreservoir der Stadt gewesen. Heute, im Zeitalter der Pumpen und Leitungen, wurden die Felsgewölbe nur noch als Lagerräume genutzt, die meisten standen leer. Zu meiner Überraschung führte der Weg noch tiefer in die Zisternen. Kammern verzweigten sich zu einem Labyrinth, sorgfältig wasserdicht verputzte Mauern leiteten uns wie Mäuse durch ein Labyrinth. »Wohin bringst du mich?«
Natürlich antwortete er nicht. Meine Gedanken überschlugen sich, eine neue Panikwelle stieg in mir auf. Ich hatte von Mädchenhändlern gehört, die Schönheiten entführten und an die Herren fremder Städte verkauften. Eine Schönheit wie dich?, höhnte meine Stimme.
An einer Stelle war die Mauer beschädigt. Der Kerl wuchtete einige lose Mauersteine beiseite.
»Los, da rein!«
Ich zögerte, aber als er meinen Arm packen wollte, wich ich ihm aus und gehorchte. Der schmale Gang war nur auf Händen und Knien passierbar. Die Taschenlampe erlosch. Unter meinen Händen raue Scharten und Rillen wie von Steinmetzwerkzeug, jemand hatte diesen Geheimgang nur ganz grob in den Fels gehauen. Es wurde steiler, Staub stieg mir in die Nase, Mörtelbrocken und Backsteine schürften mir die Handflächen auf, während ich hustend nach oben kroch. Der Gang endete in einem breiteren Schacht.
Ein dumpfer Knall vibrierte als Echo in meinem Zwerchfell, durch ein staubvernebeltes Rechteck drang Flammenschein. Mein Begleiter hatte einen Stein aus der Mauer vor uns gestoßen und hangelte sich katzenhaft flink durch den Spalt nach draußen. Ich spähte in den Raum dahinter.
Aber dort draußen warteten keine Menschenhändler. In der Mitte eines … Kellers? … flackerte auf dem zerbrochenen hüfthohen Rest einer alten Wassertonne ein einsames Kerzenlicht. Der Lehmboden war schartig und alt, zerklüftet von Schatten. Aber er roch nicht nach Erde und Staub, sondern nach … Lilien.