Am Arm des Protokollanten ging die Mégana zur linken Seite des Gerichtssaales. Dorthin, wo ein Podest mit vier Kerzen stand. Die Dochte waren noch weiß und unberührt.
Die Herrscherin hob den Zedernholzstab auf, der bei den Kerzen lag, und entzündete die in Harz getauchte Spitze. »Hier! Zünde die Kerzen an! Wir müssen prüfen, ob das Ritual, mit dem du deine Brautnacht eröffnet hast, korrekt ausgeführt wurde.«
Das hatte ich erwartet, meine Mutter hatte mich darauf vorbereitet. Für das Protokoll musste festgehalten werden, dass ich mich richtig verhalten und meinen Zustand nicht selbst verschuldet hatte. Ich nahm also den Zedernholzstab, atmete durch und schloss die Augen.
Jedes Kind erlernte diese älteste Zeremonie so früh, dass wir sie alle blind durchführen konnten, noch bevor wir es beherrschten, mit Messer und Gabel zu essen. Natürlich glaubten wir nicht mehr an Geister und höhere Mächte wie unsere Ahnen, aber das Ritual gab uns immer noch das Gefühl von Tradition und Zusammenhalt.
In Gedanken kehrte ich zurück in das Prunkzimmer. Noch war der Raum in Abendrot getaucht, meine Freundinnen und meine Schwester noch nicht nackt, noch ohne die blauen Zeichen auf der Haut. Lächelnd saßen sie auf dem riesigen Bett, ließen die Beine baumeln und sahen mir dabei zu, wie ich mit dem brennenden Zedernstab zum Podest mit den Kerzen ging. Etwas abseits auf einem Tischchen stand die Flasche Mitternachtswein. Sonne verwandelte das Rot darin in Lavaleuchten. Mein Herz glühte bei diesem Anblick, und mir war, als wäre Mitternacht schon vorbei und Tian und ich verbunden für immer.
»Für diese Nacht meiner Verwandlung von Einheit zu Zweiheit rufe ich dich, dunkle Schwester Zahl. Erscheine!« Ganz von selbst fand die Zedernholzspitze den Docht der ersten Kerze. Er fing sofort Feuer, das charakteristische Knistern verriet es mir.
»Und ich rufe dich, heller Bruder, der nie vergisst, stehe mir auch in Zweiheit stets zur Seite!«
Die zweite Flamme. Ich konnte die Wärme fühlen, erinnerte mich an jede Einzelheit, wie es meine Gabe war. An Anib, die ihrer Schwester zuflüsterte, dass sie in ihrer Hochzeitsnacht ganz bestimmt keine Brüder an ihrer Seite haben wollte, und Zabina, die darüber kicherte. Und an Vida, die Zabina in die Seite stieß und »Scht!« machte, obwohl sie selbst lachen musste. Ich glaubte das Flüstern meiner Mädchen wie Echos in meinem Kopf zu hören, so laut, dass es mich fast aus dem Takt brachte. Oder waren es andere Stimmen? Konzentrier dich! Aber als ich die Augen öffnete, war das Flüstern immer noch da. So, wie Tian das Meeresrauschen beschrieben hatte: Immer im Hintergrund. Anders als der Wind.
»Ich rufe meinen stillen Bruder, den Wegesucher, der weiter sieht als andere«, sprach ich lauter. »Erscheine in dieser Nacht, in der ich meinen Gefährten wähle für immer …« Das Zedernholzstäbchen zitterte in meiner Hand, so nervös war ich plötzlich. In meinem Rücken konnte ich die Blicke spüren. Ich atmete tief durch. Nur noch die letzte, Canda. » … und meine goldene Schwester Glanz«, schloss ich die Anrufung, »die mich mit ihrem Lächeln begleitet, mit Tanz und Klang und Anmut, und die mich mit leichtem Schritt die Schwelle zur Kammer aller Herzen überschreiten lässt. Erscheine und bleibe!«
Die vierte Flamme knisterte, offenbar war der Docht feucht geworden. Bitte nicht ausgehen!, flehte ich. Aber die vierte Kerze tat mir den Gefallen nicht. Ihr Feuer blieb lächerlich klein, kaum vorhanden, nicht mehr als ein Lichttropfen am Docht. Und dann verlosch sie einfach. Das Blut schoss mir in die Wangen. Ich hob den Stab, um es ein zweites Mal zu versuchen, doch die Mégana winkte ab. »Das genügt.« Ich nickte verzagt und blies die Flamme am Holzstab aus. Es war gespenstisch, dass ausgerechnet die vierte Kerze, die mir immer die liebste war, nicht mehr brannte. Fast so, als wollte auch sie mir zeigen, was ich verloren habe.
Die Mégana runzelte die Stirn. »Ist in deiner Brautnacht auch eine der Kerzen erloschen?«
»Nein, Höchste Mutter!«
»Bist du sicher?«
»Meine Schwester kann es bezeugen. Alle vier Lichter brannten.«
Es wurde seltsam still. Sogar die Fliege hatte aufgehört zu summen. Die Mégana musterte mich prüfend. Ihr Lächeln war verschwunden. Gestützt auf ihren Silberstock ging sie mit kleinen Schritten zurück zum Tisch. Bis auf das Tock-Tock auf dem Marmor war es im Raum ruhig. Mein Vater war kreideweiß geworden. Meine Mutter starrte ohne zu blinzeln in die Flammen, in ihren Augen war etwas Verlorenes, Fernes, das ich an ihr nicht kannte. Als sie krampfhaft schluckte, traten die Sehnen an ihrem Hals zu deutlich hervor.
Ich hatte nichts zu verbergen, nichts falsch gemacht. Und trotzdem fühlte ich mich schuldig, als ich bei den Kerzen zurückblieb. Das fehlende vierte Licht wirkte wie eine tote Stelle. Vielleicht habe ich meinen Glanz verloren, als Tian ging, dachte ich. Wie soll ich ohne ihn auch lächeln?
Der Mégan brach das Schweigen. »Auch wenn ihre Schönheit verloren ist, könnten ihre anderen Talente für Ghan noch gute Dienste leisten.«
Ich zuckte zusammen. »Verloren?«, flüsterte ich. »Aber …«
»Niemals!«, zischte mein Vater. Plötzlich flirrte die Luft, als wäre sie elektrisch aufgeladen. »Unsere Tochter wird Ghan auf die Weise dienen, die das Gesetz für sie vorgesehen hat.«
Meine Mutter stand ruckartig auf.
»Mein Mann hat recht, Höchster Bruder.« Sie ging um den Tisch herum und legte mir die Hand auf die Schulter. Es war eine besitzergreifende Geste. Ich unterstand immer noch meinen Eltern. Seit gestern vergaß ich das immer wieder. »Hier geht Familienrecht vor Stadtrecht. Gesetzbuch von Ghan, Paragraph 14 B.«
Das Gesetz der Verwaisten? Ich schnappte nach Luft, und trotzdem hatte ich plötzlich das Gefühl, zu ersticken. Das kann nicht sein. Niemals würden sie mir das antun.
Aber wie so oft in diesen Tagen irrte ich mich auch diesmal.
»Das bedeutet also, ihr schickt sie ins Haus der Verwaisten«, stellte der Mégan fest. »Tja, schade um deine restlichen Talente, Canda.«
Ich dachte, ich wäre schon so tief gefallen, wie es nur ging, aber jetzt begriff ich, dass ich noch nicht am Grund angekommen war. Bilder meiner Zukunft flatterten davon, trudelten ins Nichts. Nur ein Bild blieb übrig: Ich, einsam und unvollständig vor mich hin vegetierend im Haus der gestrandeten Einzelnen. Bis ich starb. Jetzt wusste ich, was Manja gemeint hatte, als sie sagte, ich wäre besser tot.
»Ich gehe dort nicht hin!«, stieß ich hervor. »Ich bin keine Verwaiste!«
»Juristisch gesehen bist du es«, antwortete meine Mutter. Das Schlimme war, dass das stimmte. Und die alte Canda hätte ebenso gedacht und argumentiert wie sie. Ich konnte jedes Gesetz im Schlaf mit den schärfsten Argumenten verteidigen – auch dieses.
»Diener!« Schritte hallten hinter mir und mein Vater sagte die letzten Worte, die ich bis heute aus seinem Mund gehört habe: »Ich dürft sie festhalten und sie auch gegen ihren Willen in das Haus der Verwaisten bringen.«
Aber ich wehrte mich so sehr, dass die beiden Männer Schwierigkeiten hatten, mich zu bändigen. Ich hörte erst auf, mich gegen den Griff zu stemmen, als meine Mutter ihre Hände fest um mein Gesicht schloss. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ihre Augen vor Tränen glänzen. »Canda!«, wisperte sie mir zu. »Zwing uns nicht dazu, dir auch noch Fesseln anzulegen wie einer Wahnsinnigen. Du hast alles für Tian getan, was in deiner Macht stand. Und wir sind deine Eltern und tun jetzt das, was für die Familie und dich am besten ist!«
Hätte ich gewusst, dass es unser letzter Abschied sein würde, ich hätte ihr nicht geantwortet, dass sie eine Verräterin war, dass sie mich nie geliebt haben konnte und dass ich sie hasste. Und ich weiß bis heute nicht, woher ich die Kraft nahm, mich aus dem Griff der Diener zu winden. Ich rannte zur Mégana, die immer noch auf ihren Stock gestützt neben dem Tisch stand, ergriff die Hand der alten Frau, umklammerte die trockenen, dünnen Finger. »Lasst nicht zu, dass sie mich lebendig begraben«, flehte ich sie an. »Ich bin keine Verwaiste, Höchste Mutter!«
»Nehmt sie mit«, befahl meine Mutter mit zitternder Stimme.
Ich hielt den Blick der Mégana fest, so lange es ging. »Gebt Tian und mich nicht auf«, flüsterte ich immer wieder. »Ich bitte Euch!«
»So leid es mir tut, vor dem Familiengesetz endet unsere Macht«, antwortete sie. Aber bevor sie meine Hand losließ, flüsterte sie mir zu: »Ghan gibt niemanden auf!«