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ELF

Während Mort sich auf seinen eigenen Traumsprung vorbereitete, befanden Buttercup und ich uns in Balthazars Büro, einem kleinen Raum mit einem Sofa, zwei Stühlen und einem Schreibtisch. An den Wänden hingen Poster von einigen, wenn nicht sogar allen alten Filmen, bei denen Balthazar, wie ich annahm, in seinen Hollywood-Zeiten Regie geführt hatte. Und das waren wirklich nicht wenige.

Ich setzte mich auf einen der Stühle, während Buttercup überall herumschnüffelte und jede Ecke genau untersuchte, einige sogar mehrmals, bevor er sich niederließ. Balthazar setzte eine Lesebrille mit glitzerndem rotem Gestell auf, lehnte sich in seinem abgewetzten Ledersessel zurück, nahm einen Notizblock und einen Stift zur Hand und begann damit, mir alle möglichen Fragen über meine Vergangenheit zu stellen – oder, wie er es nannte, über meine Hintergrundgeschichte.

Hauptsächlich wollte er, dass ich ihm so viel von meiner Beziehung zu dem Empfänger erzählte, wie ich konnte (oder, so wie ich das für mich auslegte, so viel, wie ich wollte).

Er nannte meine Schwester Ever den Empfänger. Und ich war für ihn der Versender.

Zumindest hoffte ich, dass ich das sein würde. Er hatte mir immer noch nicht zugesichert, dass er mich weitermachen lassen würde. Anscheinend hing alles von der Hintergrundgeschichte ab.

Wenn ihn meine Geschichte fesselte und er meine Beweggründe überzeugend fand, wenn er es für lohnend hielt, dass alle dafür ihre Zeit opferten, dann würde er mich lehren, einen Traumsprung zu machen.

Wenn nicht, dann … Doch darüber wollte ich lieber nicht nachdenken.

Ich vermutete, dass es eine lange Liste von Menschen gab, die auf eine Chance warteten, mit ihm arbeiten zu dürfen, aber weil Buttercup genau zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht war und den gerade laufenden Traumsprung gerettet hatte, war er bereit, mir einen Gefallen zu tun und mich ganz oben auf seine Liste zu setzen. Ob ich jedoch weiterkommen würde, hing davon ab, ob ihn meine Hintergrundgeschichte neugierig machte.

Also legte ich los. Ich erzählte ihm alles über mich und meine Familie, darüber, wie wir bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und wie ich mich noch lange danach auf der Erdebene herumgetrieben hatte, damit ich weiterhin meine große Schwester Ever besuchen konnte. (Oder sie heimsuchen konnte, je nachdem, wie man es sah.) Ich zählte so viele Details wie möglich auf und bemühte mich, meine Geschichte unterhaltend zu erzählen und sie nicht zu sachlich und langweilig zu schildern. Ich hatte den Eindruck, dass er ein Mensch war, der sich schnell langweilte und kein Interesse an den alltäglichen Einzelheiten hatte. Termine beim Zahnarzt, das erste Mal, als ich mir selbst ein Sandwich zubereitete – solche Dinge behielt ich für mich. Und jedes Mal, wenn er mit seinem Spitzbart zu spielen begann, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen, wurde mir klar, dass ich jetzt schnell weitersprechen musste, um seine Aufmerksamkeit nicht zu verlieren.

Aber als der Zeitpunkt kam, an dem ich ihm sagen sollte, welche Art von Nachricht ich senden wollte … tja, da ging alles den Bach runter.

Ich stotterte.

Und stammelte irgendetwas.

Mir blieben die Worte immer wieder im Hals stecken, bis ich schließlich gar nichts mehr herausbrachte.

Es war mir sehr peinlich, dass ich das so verpatzt hatte – aber es wäre mir noch peinlicher gewesen, ihm zu gestehen, dass meine Nachricht weniger dem Zweck diente, Ever zu helfen, sondern dass ich mich damit eher selbst bestärken wollte.

Ich meine, natürlich wollte ich sie wissen lassen, dass ich sie liebte und vermisste und all das. Ich wollte ihr auch sagen, dass ich mir Sorgen machte, weil sie in diesem Leben gelandet war – und dass ich große Angst davor hatte, sie möglicherweise nie wiedersehen zu können. Aber ich war nicht bereit, das Balthazar mitzuteilen, also gehörte es zu den Informationen, die ich für mich behielt.

Wenn ich jedoch hundertprozentig ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass der Traumsprung in erster Linie für mich selbst gedacht war.

Ich brauchte Bestätigung.

Ich brauchte einen verlässlichen Rat.

Ich brauchte Ever, um mir zu sagen, wie ich neue Freundschaften schließen konnte – und wie ich es anstellen könnte, dass Teenager mich mochten.

Wie ich die Aufmerksamkeit von Jungs auf mich ziehen konnte.

Alle diese Dinge, über die ich mir bisher keine großen Gedanken gemacht hatte.

Aber vor allem musste ich sie fragen, wie ich ein Teenager werden konnte. Das war, was ich immer gewollt hatte. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.

Da der große Rat mich dazu gezwungen hatte, eine Pause vom Seelenfang einzulegen – der einzigen mir bekannten Möglichkeit, mein Glühen zu verstärken und mich dadurch weiterzuentwickeln –, hatte ich keine andere Wahl, als mir Rat von dem tollsten Teenager zu holen, den ich kannte. Von Ever, meiner Schwester.

Und obwohl ich nicht so dumm war zu glauben, dass ein Besuch bei ihr mich zu einer Dreizehnjährigen machen würde, so war ich ziemlich überzeugt davon, dass ich von ihr zumindest lernen konnte, wie ich mich als solche zu verhalten hatte. Und dann, hoffentlich bald, würde ich tatsächlich ein Teenager sein.

Aber als ich Balthazar in die Augen sah, wurde mir klar, dass ich ihm das nicht sagen konnte. Ich hatte ja bereits Schwierigkeiten, es mir selbst einzugestehen.

Stattdessen ermutigte ich ihn, seinen Notizblock mit einer scheinbar beliebigen, aber doch sorgfältig zusammengestellten Auswahl an Fakten zu füllen, die irgendwie wichtig waren. Und als er mehr wissen wollte, na ja, da zog ich einfach meine Schultern hoch, senkte den Blick und sagte ihm, dass ich keinen richtigen Plan hätte. Ich erklärte ihm, dass mein Ziel lediglich darin bestünde nachzuschauen, wie alles lief, und dann weiterzusehen.

Er ließ seinen Stift krachend auf den Schreibtisch fallen, lehnte sich weit zurück und sah mir direkt in die Augen. Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Interviews, aber ich war mir ziemlich sicher, dass Balthazars Körpersprache bedeutete, dass ich durchgefallen war.

Und daher war ich total verblüfft, als er sagte: »Perfetto! «

Ich starrte ihn an. Blinzelte. Fragte mich, ob er mich missverstanden hatte.

»Magnifico!« Er klatschte in die Hände, einmal, zweimal, und legte sie dann auf seinen gewölbten Bauch. »Das ist so unverfälscht! So … aufrichtig!« Er schob seinen Stuhl nach vorn und legte seine Hände an die Seiten des Schreibtisches. »Wir werden die Geschichte einfach laufen lassen … Wir werden sie natürlich und einheitlich halten. Das ist einfach fantastico! Ich kann es kaum erwarten, damit zu beginnen!« Seine Augenbrauen schossen nach oben, und sein Spitzbart zuckte vor und zurück.

Dann sprang er von seinem Stuhl auf, ging um seinen Schreibtisch herum, zerrte an meinem Ärmel und zog mich durch einen Nebeneingang, den ich vorher nicht bemerkt hatte. Er hastete mit Buttercup und mir durch eine Reihe von Gängen, bis er schließlich stehen blieb, einen seiner kurzen, dicklichen Finger an sein Kinn presste und erklärte: »Das ist der Ort, an dem wir beginnen werden.«

Ich folgte ihm und war überrascht, als ich mich in einem Raum wiederfand, der so aussah, wie ich mir den Ort der Träume ursprünglich vorgestellt hatte – ein dunkles Kino mit Stühlen, einem Projektor und einer Leinwand.

Buttercup ließ sich zu meinen Füßen nieder, und Balthazar setzte sich auf den Stuhl zu meiner Rechten. Er schlug die Beine übereinander und legte seine gefalteten Hände auf die Knie. »Wir beginnen so, wie wir es immer tun«, erklärte er mit leiser, ernster Stimme. »Schweigend. Du wirst jetzt deine Augen schließen und ganz ruhig werden. Sehr ruhig. Und du wirst tief in dich gehen. Sehr tief. Du wirst dich an deine Schwester erinnern. Ihr Bild wird deine Gedanken erfüllen. Und wenn dieses Bild von ihr komplett ist, wirst du dich auf ihre Energiemuster einstellen. Die sind wie Fingerabdrücke, die jeder besitzt. Und wie ein Fingerabdruck, so ist auch jedes Energiemuster einzigartig. Und während du das tust, werde ich diesen Energie… wie nennt ihr das …« Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, aber ich zuckte nur die Schultern. Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. »Ich werde diesen Energieabdruck nehmen«, fuhr er fort und nickte. »Ja, das ist es. Abdruck. Der Abdruck ist das Wichtigste. Ohne ihn können wir überhaupt nichts tun. Verstehst du das?«

Ehrlich gesagt, nein. Ich verstand überhaupt nichts von dem, was er sagte. Nichts ergab irgendeinen Sinn für mich. Aber so wie er mich mit weit aufgerissenen Augen anschaute und dabei nickte, war mir klar, dass ich ebenfalls meine Augen weit öffnen und nicken sollte.

Also tat ich das.

Und dann schloss ich meine Augen und versuchte, den Anschein zu erwecken, als würde ich auch alle anderen Anweisungen befolgen. Ich stellte mir meine Schwester vor und holte ihr Bild immer näher heran, bis es meine Gedanken ausfüllte. Ich versuchte, mich mit ihrer Energie, ihrem Abdruck in Einklang zu bringen, obwohl ich keine Ahnung hatte, was das eigentlich bedeutete.

Eigentlich saß ich die meiste Zeit nur da und dachte an sie. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie sie aussah – mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen glich sie mir, aber im Gegensatz zu mir war ihre Nase nicht knubbelig und ihre Brust nicht so erbärmlich flach wie bei mir. Ever war so hübsch und beliebt, wie ich es mir nur wünschen konnte.

Ich erinnerte mich an ihr Lachen – es klang irgendwie hell und mädchenhaft. Und ich dachte daran, dass sie viel weniger lachte, seit sie den Unfall überlebt hatte – und dass es mich große Mühe gekostet hatte, ihr wieder ein Lachen zu entlocken.

Ich erinnerte mich an ihren Gesichtsausdruck an dem Tag, an dem sie mir mitgeteilt hatte, dass ich endlich aufhören sollte, die Erdebene heimzusuchen, dass es an der Zeit war, die Brücke zu überqueren und dorthin zu gehen, wo unsere Eltern und Buttercup warteten. Ihre Augen hatten dabei auf unnatürliche Weise geglänzt, und ihre Stimme hatte viel zu angespannt geklungen. Sie hatte sich sehr bemüht, sich erwachsen und streng zu verhalten und das Richtige zu tun, aber es war nicht zu übersehen gewesen, dass sie ebenso am Boden zerstört war wie ich.

Die Erinnerung breitete sich in meinen Gedanken so stark aus, dass ich das Gefühl hatte, sie wäre real. Es schien, als ob das alles noch einmal geschehen würde.

Und ich war so gefangen von diesem Moment, von der Trauer, die ich beim Abschied empfand, dass ich es beinahe nicht gehört hätte, als Balthazar rief: »Wir haben es! Perfetto! Jetzt beeil dich – vite-vite, Riley Bloom! Folge mir!«