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ZEHN

Gerade noch hatte er erklärt, in meiner Schuld zu stehen, und behauptet, dass ich dank meines Hundes auf heldenhafte Weise seinen Tag gerettet hätte. Und gesagt, dass er mich am liebsten mit seiner enormen Dankbarkeit überhäufen würde. Nun, so wie ich das sah, war das jetzt wohl alles hinfällig.

Buttercup legte sich auf den Bauch und stieß ein trauriges Winseln aus, während Mort leise etwas vor sich hin murmelte, das sich in etwa anhörte wie: »Oje, jetzt hast du es geschafft … « Ich stand mit offenem Mund da und hatte keine Ahnung, was ich getan hatte, um Balthazar offensichtlich auf eine unverzeihliche Weise zu beleidigen.

Schließlich lief Mort hinter ihm her und überzeugte ihn irgendwie davon, stehen zu bleiben und ihn anzuhören. Ich konnte nicht hören, was er zu ihm sagte, aber Balthazar änderte offensichtlich seine Meinung, drehte sich wieder um und kam schließlich zurück. Er stellte sich vor mich, genau an die Stelle, an der er vorher gestanden hatte, und sprach jedes Wort sehr deutlich und betont sorgfältig aus. »Wie man mir gesagt hat, ist das dein erster Besuch im Traumland, stimmt das?«

Ich nickte nur stumm – meine Angst, etwas Falsches zu sagen, war viel zu groß.

Er musterte mich eine Weile schweigend und zupfte an seinem Seidenschal herum. »Und diese … diese … Unwissenheit soll ich dir nun verzeihen, ja?«

Ich nickte wieder. Es gefiel mir zwar nicht, wie er das Wort »Unwissenheit« auf meine Person bezog, aber ich hütete mich davor, etwas dazu zu sagen.

»Also sind wir uns einig, dass wir nie wieder darüber sprechen werden?«

Ich sah zwischen Mort und Buttercup hin und her. Beide nickten ermunternd. Dann richtete ich meinen Blick erneut auf Balthazar. »Äh, in Ordnung … Ich habe nur gedacht, Sie könnten mir vielleicht helfen, meiner Schwester einen Traum zu schicken, aber ich schätze, ich habe das wohl missverstanden, also …«

Mort atmete hörbar ein.

Buttercup legte seine Pfoten über die Augen.

Und Balthazar unterbrach mich mit kreischender Stimme, die überhaupt nicht zu ihm passte: »Korrektur!«, schrie er. »Wir verschicken keine Träume. Wir erschaffen auch keine Träume, sondern machen Traumsprünge. Du möchtest einen Traumsprung machen, liege ich da richtig?«

Er nickte auf eine Weise, die mir sagte, dass ich auch nicken sollte, wenn ich wusste, was gut für mich war.

Also nickte ich.

Dann räusperte ich mich und sagte: »Ja.« Nur zur Bestätigung.

Und dann nickte ich noch einmal.

Das war vielleicht etwas zu viel des Guten. Aber, meine Güte, praktisch von dem Moment an, in dem ich hier angekommen war, hatte ich nur falsche Sachen gesagt. Und soweit ich das beurteilen konnte, legten diese Leute wirklich großen Wert auf die korrekte Wortwahl, also kann man mir wohl nicht verübeln, dass ich nun versuchte, zur Abwechslung mal etwas richtig hinzubekommen.

Glücklicherweise schien es zu funktionieren, denn Balthazar sah mich an und meinte: »Gut. Dann komm jetzt bitte mit mir, Miss Riley Bloom.«

 

Wie Balthazar mir erklärte, war die Zeit, oder vielmehr die Tageszeit, beim Traumsprung nicht so wichtig. Das hielt ich für eine gute Sache, denn erstens hatte man mir gesagt, dass es im Hier und Jetzt keine Zeit gäbe. Und zweitens hatte das Traumland offensichtlich strikte Öffnungszeiten.

Balthazar ließ mich ebenfalls wissen, dass eine Person nicht schlafen musste, um eine Nachricht zu erhalten. Obwohl es der bevorzugte Zustand war – hauptsächlich, weil Menschen während des Schlafs eine geringere Abwehrhaltung haben und daher aufnahmebereiter für Botschaften aus dem Jenseits sind –, war es nicht unbedingt notwendig. Der Schlaf war nicht die einzige Möglichkeit.

Anscheinend konnte eine Nachricht ebenso gut geschickt werden, wenn eine Person sich in einem Tagtraum treiben ließ (was ich sehr oft im Matheunterricht getan hatte) oder, und das fand ich sehr überraschend, sogar bei einer langen Autofahrt.

»Autofahren ist meditativ«, erläuterte er. »Viele Menschen … wie sagt man das?« Er hielt inne, legte einen Finger an sein Kinn und versuchte, das Wort zu finden, nach dem er suchte. »Viele Menschen klinken sich aus, wenn sie fahren.« Er sah mich an und nickte, so dass seine weiße Strähne vor seinen dunklen Augen auf und ab wippte.

Ich konnte ein Kichern nicht unterdrücken, als ich ihn das sagen hörte. An das Wort perfetto hatte ich mich schon gewöhnt – es passte zu seinem seltsamen, scheinbar europäischen Akzent. Aber zu hören, wie er »klinken sich aus« in demselben Akzent betonte … na ja, das klang einfach so urkomisch, dass ich unwillkürlich losprusten musste.

»Und wenn das nicht möglich ist«, fuhr er fort und ignorierte mein Lachen. »Dann gibt es immer noch die Musik.«

Ich sah ihn an. Jetzt schenkte ich ihm wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Musik ist eine der höchsten Kunstformen, die es gibt. Sie kann ein Leben bestimmen, es verändern oder sogar retten, und das alles in dem kurzen Zeitraum von drei Minuten. Musik hat eine direkte Verbindung zum Göttlichen. Das trifft natürlich auf alle Kunstformen zu, aber Musik …« Sein Blick schweifte in die Ferne, während er nach einer besseren Ausdrucksweise suchte, um zu erklären, was er meinte. Doch dann schüttelte er den Kopf, fuhr mit der Hand durch die Luft und sagte: »Wie auch immer. Sag mir, hast du jemals das richtige Lied zu genau dem richtigen Zeitpunkt gehört?«

Ich presste meine Lippen zusammen und dachte angestrengt nach. Ich war mir ziemlich sicher, dass das schon der Fall gewesen war. Nein, bei näherem Nachdenken wusste ich genau, dass ich das schon erlebt hatte. Eigentlich mehr als einmal.

Er nickte. Mit dieser Antwort hatte er bereits gerechnet. »Das war jemand, der versucht hat, dir eine Nachricht zu schicken.«

Mir fiel die Kinnlade herunter, und ich brachte kein Wort mehr hervor. Ich dachte an all die Gelegenheiten in der Vergangenheit, bei denen ich entweder verängstigt, nervös oder traurig gewesen war – oder alles gleichzeitig – , und wie dann das Lied, das meine Mom mir immer vorgespielt hatte, als ich noch ein kleines Kind war, plötzlich auftauchte. Es handelte sich um einen Song von James Taylor, den ihre Eltern ihr schon vorgespielt hatten, und dieser Song ertönte wie auf magische Weise dann unvermittelt im Radio oder im Fernsehen. Manchmal hörte ich ihn sogar aus der Stereoanlage eines vorüberfahrenden Autos dröhnen.

Das Lied, das mich immer tröstete.

Oder zumindest hatte ich das immer so empfunden. Und trotzdem hatte ich es jedes Mal als verrückten Zufall abgetan, wenn ich diesen Song hörte.

Aber jetzt wusste ich es mit einem Mal besser.

Endlich war mir die Wahrheit bewusst geworden.

Im Gegensatz dazu, was die meisten Menschen glauben, sind Zufälle rar gesät.

»Und dann gibt es natürlich auch noch die Gedankenübertragung. « Er machte eine wegwerfende Handbewegung und rümpfte die Nase. Sein Gesicht spiegelte eine so starke Abneigung wider, dass ich mich unwillkürlich fragte, warum er das überhaupt erwähnt hatte. Doch bevor ich ihn nach Einzelheiten fragen konnte, fuhr er fort: »Gedankenübertragung kann jeder bewerkstelligen. Dafür ist keine Ausbildung nötig. Der Absender braucht lediglich einen ruhigen Ort, an dem er sich sehr stark auf eine bestimmte Nachricht konzentriert, die dann den Empfänger entweder erreicht oder auch nicht. So einfach ist das. Manchmal klappt es, manchmal auch nicht, das kommt immer darauf an. Aber für meinen Geschmack …« Er strich sich mit der Hand über sein Kinn, zupfte leicht an seinem Spitzbart und stellte dabei einen Daumennagel zur Schau, der doppelt so lang war wie meiner. »Nun, sagen wir einfach, das ist nicht nach meinem Geschmack. Also, um die Sache zu Ende zu führen, es gibt zwar viele Möglichkeiten, eine Nachricht zu versenden, aber, wann immer es möglich ist, empfiehlt sich die bevorzugte Methode des Traumsprungs. Wenn ein Traumsprung richtig ausgeführt wird, können Sender und Empfänger gleichermaßen etwas ganz Besonderes und Einzigartiges erfahren.«

»Und wenn es nicht richtig gemacht wird?« Ich hatte keine Ahnung, warum ich das fragte. Wahrscheinlich waren mir die Worte einfach entschlüpft, bevor ich darüber nachdenken konnte.

Glücklicherweise lachte Balthazar nur. Er schüttelte den Kopf, so dass sein Spitzbart wackelte. »Davon weiß ich nichts. Wir machen es hier niemals falsch. Ich bestehe darauf, dass es richtig gemacht wird, oder es wird gar nicht gemacht. Also, was denkst du? Bist du bereit dazu?«