Wahre Güte
Wo bist du, Dov? Der Morgen dämmert schon. Weiß Gott, was du da draußen treibst, zwischen Gräsern und Nesseln. Jetzt wirst du jeden Augenblick an dem mit Kletten bedeckten Tor erscheinen. Zehn Tage haben wir zusammen unter einem Dach gelebt wie seit fünfundzwanzig Jahren nicht, und du hast kaum etwas gesagt. Nein, stimmt nicht. Es gab den einen langen Monolog über die Bauarbeiten unten an der Straße, irgendetwas mit Abflussrohren und kratergroßen Löchern. Mir kam der Verdacht, es sei ein Kode für etwas anderes, was du mir sagen wolltest. Über deine Gesundheit vielleicht? Oder unsere gemeinsame Gesundheit, die von Vater und Sohn? Ich versuchte dir zu folgen, aber du hast mich abgehängt. Ich wurde vom Pferd geworfen, mein Junge. In der Gosse zurückgelassen. Ich habe einen Fehler gemacht, indem ich dir so viel erzählt habe – ein schmerzlicher Ausdruck verzerrte dein Gesicht, und dann bist du in Schweigen zurückverfallen. Nachträglich kam mir der Verdacht, es sei ein Test gewesen, einer, den du extra für mich ausgebrütet hattest, bei dem ich als einzig mögliches Ergebnis nur versagen konnte, damit du frei warst, dich wieder wie eine Schnecke in dein Gehäuse zu verkriechen, fortzufahren, mich zu beschuldigen und zu verachten.
Zehn Tage zusammen in diesem Haus, und wir haben fast nichts anderes getan als unsere Reviere abgesteckt und ein paar Rituale geschaffen. Um Fuß zu fassen. Uns eine Orientierung zu geben, wie die Leuchtstreifen auf den Gängen in Not geratener Flugzeuge. Jeden Abend gehe ich vor dir schlafen, und jeden Morgen, so früh ich auch aufstehen mag, bist du vor mir wach. Ich sehe deine lange graue Gestalt über die Zeitung gebeugt. Ich hüstele, wenn ich die Küche betrete, damit du nicht erschrickst. Du setzt das Wasser auf, stellst zwei Tassen hin. Wir lesen, grunzen, rülpsen. Ich frage, ob du einen Toast magst. Du lehnst ab. Jetzt bist du schon übers Essen erhaben. Oder sind es die angebrannten Krusten, die du nicht magst? Toasten war immer Sache deiner Mutter. Mit vollem Mund rede ich über die Nachrichten. Schweigend wischst du die verspuckten Krümel weg und liest weiter. Meine Worte sind für dich höchstens atmosphärisch: Sie dringen verschwommen durch, wie Vogelgezwitscher oder das Ächzen alter Bäume, und soviel ich sagen kann, verlangen sie dir ebenso wenig wie diese eine Antwort ab. Nach dem Frühstück ziehst du dich zum Schlafen auf dein Zimmer zurück, erschöpft von deiner nächtlichen Streunerei. Kurz vor Mittag erscheinst du mit deinem Buch im Garten und stellst dir den einzigen Gartenstuhl mit heiler Sitzfläche heraus. Ich nehme den bequemen Sessel vor dem Fernseher. Gestern habe ich mir einen Bericht zum Tod einer übergewichtigen Frau angeschaut, die in Safed gestorben ist. Sie hatte sich seit mehr als zehn Jahren nicht von ihrem Sofa bewegt, und als sie tot aufgefunden wurde, stellte man fest, dass ihre Haut damit verwachsen war. Wie es so weit hatte kommen können – darüber haben sie nichts gesagt. Der Bericht beschränkte sich darauf, dass sie vom Sofa losgeschnitten und mit einem Kran durchs Fenster hinausbefördert werden musste. Der Reporter schilderte den langsamen Abstieg des mächtigen Körpers, der in schwarze Plastikfolie gehüllt war, weil es, als letzte Demütigung, in ganz Israel keinen Leichensack gab, der groß genug gewesen wäre. Um Punkt zwei Uhr kehrst du ins Haus zurück, um dein einsames Mönchsessen einzunehmen: eine Banane, einen Becher Joghurt und einen mickrigen Salat. Wer weiß, vielleicht erscheinst du morgen im härenen Hemd. Um Viertel nach zwei nicke ich in meinem Sessel ein. Um vier wache ich von den Geräuschen dessen auf, was du dir für diesen Tag an seltsamen Betätigungen vorgenommen hast – den Schuppen entrümpeln, rechen, die Dachrinne reparieren –, als wolltest du dir die Unterkunft verdienen. Damit alles im Lot bleibt und du mir nichts zu danken hast. Um fünf, beim Tee, fasse ich die neuesten Nachrichten für dich zusammen. Ich warte auf eine Öffnung, einen Sprung in der harten Glasur deines Schweigens. Du wartest, bis ich fertig bin, spülst die Tassen, trocknest sie ab und stellst sie wieder in den Küchenschrank. Du faltest das Geschirrtuch zusammen. Du erinnerst mich an jemanden, der im Rückwärtsgang seine Fußspuren verwischt. Du begibst dich nach oben, in dein Zimmer, und schließt die Tür. Gestern blieb ich davor stehen und lauschte. Was glaubte ich, was ich hören würde? Das Kratzen eines Federhalters? Aber nichts. Um sieben tauchst du auf, um die Fernsehnachrichten zu sehen. Um acht esse ich mein Abendbrot. Um halb zehn lege ich mich schlafen. Viel später, vielleicht gegen zwei oder drei Uhr morgens, verlässt du das Haus und gehst streunen. In die Dunkelheit, die Berge, die Wälder. Ich wache nachts nicht mehr mit jenem Heißhunger auf, der mich früher aus dem Bett vor den offenen Kühlschrank trieb, um mich vollzustopfen. Dieser Appetit, den deine Mutter biblisch nannte, ist mir längst vergangen. Jetzt wache ich aus anderen Gründen auf. Schwache Blase. Rätselhafte Schmerzen. Mögliche Herzattacken. Schlaganfälle. Und immer finde ich dein Bett leer und ordentlich gemacht. Ich lege mich wieder hin, und wenn ich morgens aufstehe, egal wie früh, finde ich deine Schuhe aufgereiht neben der Tür und deine lange graue Gestalt über den Tisch gebeugt. Dann hüstele ich, damit wir von vorn beginnen können.
Hör zu, Dov. Das werde ich nicht zweimal sagen: Unsere Zeit läuft ab, meine und deine. Wie elend dein Leben auch sein mag, dir wird noch einige Zeit bleiben. Du kannst damit machen, was du willst. Sie damit verschwenden, den Wald zu durchwandern und die Kotspur eines Wühltiers zu verfolgen. Ich nicht. Ich nähere mich rasch dem Ende. Und ich werde weder in Gestalt von Zugvögeln oder Pollenstaub zurückkehren noch als irgendeine hässliche, minderwertige, meinen Sünden gerechte Kreatur. Alles, was ich bin, alles, was ich war, wird sich zu Erdkruste verhärten. Und du wirst damit alleingelassen sein. Allein mit dem, was ich war, was wir waren, und allein mit deinem Schmerz, der keine Aussicht auf Linderung mehr haben wird. Also denk darüber nach. Denk lange und gründlich. Denn wenn du nur gekommen bist, um bestätigt zu finden, was du schon immer über mich gedacht hast, ist dir der Erfolg gewiss. Ich werde dir sogar helfen, mein Junge. Genau der Scheißkerl sein, für den du mich immer gehalten hast. Wohl wahr, das fällt mir leicht. Wer weiß, vielleicht befreit es dich sogar von den letzten Resten an Bedauern. Aber täusch dich nicht: Während ich vollständig gefühllos in einem Loch begraben liege, wirst du ein Nachleben in Schmerzen weiterleben.
Aber du weißt das alles, nicht wahr? Ich spüre doch, dass du deswegen gekommen bist. Es gibt Dinge, die du mir sagen willst, bevor ich sterbe. Also raus damit. Halt es nicht zurück. Was hindert dich? Mitleid? Ich sehe es in deinen Augen: Bei jedem Flug mit meinem Aufzugstuhl sehe ich deinen Schock über meine Schrumpfung. Das Monster deiner Kindheit von so etwas Banalem wie einer Treppenflucht geschlagen. Und doch, ich muss nur meinen Mund auftun, und schon huscht dein Mitleid wieder unter den Felsen, aus dem es hervorgekrochen war. Es bedarf nur ein paar ausgewählter Worte, um dir in Erinnerung zu rufen, dass ich allem Schein zum Trotz immer noch dasselbe arrogante, begriffsstutzige Arschloch bin, das ich von jeher war.
Hör zu. Ich will dir einen Vorschlag machen. Lass mich ausreden, dann kannst du ja oder nein sagen, wie es dir beliebt. Was hältst du von einem vorübergehenden Waffenstillstand, so lange, wie es dauert, bis jeder seinen Teil gesagt hat, du deinen und ich meinen? Damit wir einander anhören, wie wir es nie getan haben, einander anhören, ohne abzuwehren oder um uns zu schlagen, einen Augenblick aussetzen mit Gift und Galle? Einmal sehen, wie es sich anfühlt, die Position des anderen einzunehmen? Vielleicht wirst du sagen, es sei zu spät für uns, die Zeit für Mitgefühl sei längst vorbei. Und vielleicht hättest du recht, aber wir haben nichts mehr zu verlieren. Auf mich lauert der Tod schon an der nächsten Ecke. Wenn wir die Dinge lassen, wie sie sind, bin ich nicht derjenige, der den Preis bezahlen wird. Ich werde ein Nichts sein. Nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr denken, nichts mehr fühlen. Vielleicht findest du, dass ich auf dem Offensichtlichen herumreite, aber ich würde wetten, du verbringst nicht viel Zeit damit, über den Zustand des Nichtseins nachzudenken. Früher hast du es vielleicht getan, aber das ist lange her, und wenn es einen Gedanken gibt, den der Geist nicht erträgt, ist es der seiner eigenen Nichtigkeit. Die Buddhisten mögen ihn ertragen, die tantrischen Mönche, aber nicht die Juden. Die Juden, die so viel aus dem Leben gemacht haben, wussten nie, was sie mit dem Tod beginnen sollten. Frag einen Katholiken, was passiert, wenn er stirbt, und er wird dir die Höllenkreise ausmalen, das Fegefeuer, die Vorhölle, die Tore des Himmels. Der Christ hat den Tod so vollständig bevölkert, dass er keinen Bedarf mehr hat, sich das Gehirn überhaupt noch mit dem Ende seiner Existenz zu vernebeln. Aber frag einen Juden, was passiert, wenn er stirbt, und du wirst das ganze Elend eines Menschen sehen, der sich allein damit herumschlagen muss. Verloren und verwirrt. Ein blinder Wanderer. Denn der Jude mag über alles in der Welt gesprochen haben, er mag alles erforscht, Reden geschwungen, seine Meinung über den Äther geschickt, argumentiert und sich endlos ausgebreitet, den letzten Fetzen Fleisch vom Knochen jeglicher Frage genagt haben, nur darüber, was passiert, wenn er stirbt, hat er sich weitestgehend ausgeschwiegen. Er hat einfach akzeptiert, darüber nicht zu diskutieren. Er, der sonst keine Unklarheiten duldet, hat akzeptiert, dass die wichtigste aller Fragen im Sumpf einer nebulösen, verschwommenen Grauzone steckenbleibt. Verstehst du die Ironie? Die Absurdität? Was hilft eine Religion, die sich von der Frage abwendet, was passiert, wenn das Leben endet? Da ihm eine Antwort versagt geblieben ist – und er gleichzeitig als Volk dazu verdammt ist, seit Jahrtausenden einen mörderischen Hass in anderen zu wecken –, hat der Jude keine andere Wahl, als täglich mit dem Tod zu leben. Mit ihm zu leben, sich in seinem Schatten häuslich einzurichten und seine Bedingungen nicht zu diskutieren.
Wo war ich stehengeblieben? Ich bin aufgeregt, habe den Faden verloren, siehst du, wie ich vor Wut schäume? Aber warte, ja. Mein Vorschlag. Was sagst du, Dov? Oder lass es, sag nichts. Ich nehme dein Schweigen als ein Ja.
Komm. Lass mich anfangen. Siehst du, mein Kind, ein klein wenig verfalle ich jeden Tag in Betrachtungen über meinen Tod. Ich erkunde ihn. Tunke sozusagen den Zeh ins Wasser. Weniger um mich praktisch darauf einzustellen, als um ihn zu hinterfragen, solange ich noch fragen und die Vergessenheit ergründen kann. Bei einem dieser Streifzüge ins Unbekannte habe ich etwas über dich entdeckt, was mir fast entfallen war. In den ersten drei Jahren deines Lebens wusstest du nichts vom Tod. Du dachtest, alles würde endlos weitergehen. Als du aus dem Gitterbettchen herausgewachsen warst und das erste Mal in einem richtigen Bett schlafen durftest, kam ich dir gute Nacht sagen. Schlafe ich jetzt ewig wie ein großer Junge?, fragtest du. Ja, sagte ich, und wir blieben still: ich mit einem Bild vor Augen, wie du an deine Bettdecke geklammert durch die Hallen der Ewigkeit fliegst, und du mit dem vor Augen, was immer sich ein Kind unter der Ewigkeit vorstellen mag. Ein paar Tage später saßest du am Tisch und spieltest mit dem Essen, das du nicht essen wolltest. Dann lass es, sagte ich, aber solange du nicht isst, stehst du auch nicht vom Tisch auf. So einfach ist das. Deine Lippe begann zu zittern. Nur zu, meinetwegen schlaf am Tisch, sagte ich. Mama macht das aber nicht so, wimmertest du. Was kümmert es mich, wie sie das macht, versetzte ich, ich mache es so, und du bewegst dich nicht, bis du gegessen hast! Du brachst in Tränen aus und machtest protestierend weiter. Ich ignorierte dich. Nach einer Weile herrschte Schweigen in der Küche, nur unterbrochen von deinem gelegentlichen Winseln. Und auf einmal, aus dem Nichts, erklärtest du: Wenn Joella stirbt, bekommen wir einen Hund. Ich war überrascht. Weil es so unverblümt herauskam und weil ich nicht auf die Idee gekommen wäre, dass du irgendetwas über den Tod wüsstest. Wärst du nicht traurig, wenn sie stirbt?, fragte ich, den Krieg um das Essen einen Augenblick vergessend. Und du antwortetest, sehr praktisch: Doch, dann hätte ich ja keine Katze mehr zum Streicheln. Ein Augenblick verging. Wie sieht es aus, wenn Menschen sterben?, fragtest du. Als würden sie schlafen, sagte ich, nur dass sie nicht atmen. Du dachtest darüber nach. Sterben Kinder auch?, fragtest du. Ich spürte, wie in meiner Brust ein Schmerz aufriss. Manchmal, sagte ich. Vielleicht hätte ich ein anderes Wort wählen sollen. Nie, oder einfach nein. Aber ich wollte dich nicht belügen. Wenigstens das kannst du mir zugutehalten. Dann wandtest du mir dein Gesichtchen zu und fragtest ohne Zucken: Werde ich sterben? Bei diesen Worten aus deinem Mund erfüllte mich ein nie gekannter Schrecken, Tränen brannten mir in den Augen, aber statt zu sagen, was ich hätte sagen sollen: Irgendwann in langer, langer Zeit, oder: Du nicht, mein Kind, du allein wirst ewig leben, sagte ich einfach: Ja. Und da du, egal wie du gelitten hast, in deinem tiefsten Inneren noch ein Tier warst wie jedes andere, das leben, die Sonne fühlen und frei sein will, sagtest du: Aber ich will nicht sterben. Die schreckliche Ungerechtigkeit erfüllte dich. Und du schautest mich an, als wäre ich dafür verantwortlich.
Du würdest dich wundern, wie oft ich auf meinen rastlosen kleinen Wanderungen durch das Tal des Todes dem Kind, das du einmal warst, begegnet bin. Zuerst hat es mich selbst überrascht, aber bald habe ich mich auf diese unverhofften Begegnungen gefreut. Ich versuchte zu begreifen, warum ausgerechnet du dort auftauchtest, obwohl die Sache doch so wenig mit dir zu tun hatte. Mir wurde bewusst, dass es mit bestimmten Gefühlen zusammenhing, die ich zum ersten Mal empfunden habe, als du ein kleines Kind warst. Ich weiß nicht, warum Uri nicht vor dir schon dieselben Gefühle geweckt hat. Vielleicht war ich in seiner Babyzeit mit anderen Dingen beschäftigt, oder ich war noch zu jung. Es lagen nur drei Jahre zwischen euch, aber in diesen Jahren bin ich erwachsen geworden, meine Jugend war offiziell beendet, und für mich begann ein neuer Lebensabschnitt, als Vater und als Mann. Bei deiner Geburt habe ich auf eine Weise, die mir bei Uri noch nicht möglich war, begriffen, was ein Kind eigentlich bedeutet. Wie es wächst und wie es seine Unschuld allmählich verdirbt, wie sich seine Züge für immer verändern, wenn es das erste Mal Scham empfindet, wie es die Bedeutung von Enttäuschung oder Ekel lernt. Dass es eine ganze Welt in sich birgt und dass ich nur noch verlieren konnte. Ich fühlte mich ohnmächtig dagegen. Und natürlich warst du ein andersgeartetes Kind als Uri. Von Anfang an schienst du Dinge zu wissen und sie mir vorzuwerfen. Als hättest du irgendwie verstanden, dass bei der Erziehung eines Kindes unvermeidlich Gewaltakte inbegriffen sind. Wenn ich vor deiner Wiege stand und herabblickte in dein winziges, von Schmerzensschreien verzerrtes Gesicht – anders kann man es nicht nennen, ich habe nie ein Baby so schreien gehört wie dich –, war ich schon schuldig, bevor ich auch nur angefangen hatte. Ich weiß, wie das jetzt klingt; schließlich warst du ja erst ein Baby. Aber irgendetwas an dir hat meinen schwächsten Punkt getroffen, und ich bin zurückgeschreckt.
Ja, etwas an dir, wie du damals warst, mit deinem lichten Haar, ehe es fest und dunkel wurde. Ich habe andere sagen hören, sie hätten, als ihre Kinder geboren wurden, zum ersten Mal ihre eigene Sterblichkeit geschmeckt. Aber so war es bei mir nicht. Das ist nicht der Grund, warum ich dich dort in den Untiefen meines Todes versteckt finde. Ich war zu sehr mit mir selbst, mit den Kämpfen meines Lebens beschäftigt, um zu merken, wie der kleine Himmelsbote mir die Fackel aus der Hand nahm und sie stillschweigend an dich und Uri weitergab. Um zu merken, dass ich hinfort nicht mehr der Mittelpunkt aller Dinge sein würde, der Schmelztiegel, in dem das Leben, um sich lebendig zu erhalten, am glühendsten brennt. Das Feuer in mir kühlte ab, aber ich habe es nicht gemerkt. Ich habe weiter so gelebt, als würde ich gebraucht, als hätte das Leben mich nötig und nicht umgekehrt.
Und doch hast du mich etwas über den Tod gelehrt. Fast heimlich hast du das Wissen in mich eingeschleust. Irgendwann, es war kurz nachdem du mich gefragt hattest, ob du sterben würdest, hörte ich dich im anderen Zimmer laut reden: Wenn wir sterben, sagtest du, werden wir hungrig sein. Eine einfache Feststellung, dann hast du weiter in schiefen Tönen vor dich hin gesummt und deine Spielzeugautos über den Fußboden geschoben. Aber bei mir ist es hängengeblieben. Niemand, schien mir, hatte den Tod je so zusammengefasst: ein unendlicher Zustand des Verlangens, ohne Hoffnung, es zu stillen. Ich fand es beinahe zum Fürchten, mit welcher Gelassenheit du etwas so Abgründiges ins Auge gefasst hast. Wie du es betrachtet, es so gut du konntest in deinem Kopf gewälzt und eine Form von Klarheit gefunden hast, die dir erlaubte, es zu akzeptieren. Vielleicht schreibe ich den Worten eines Dreijährigen zu viel Bedeutung zu. Aber wie zufällig sie auch sein mochten, sie hatten etwas Schönes: Im Leben sitzen wir am Tisch und wollen nicht essen, und im Tod sind wir ewig hungrig.
Wie soll ich es erklären? Auf welche Weise du mir ein wenig Angst machtest. Wie du dem Wesen der Dinge immer um Haaresbreite näher schienst als wir anderen. Ich kam ins Zimmer und sah dich auf etwas in der Ecke starren. Was ist da so faszinierend?, wollte ich wissen. Sofort war deine Konzentration dahin, und du wandtest dich zu mir um, eine Falte auf der Stirn, ein überraschtes Zucken ob der Störung. Nachdem du das Zimmer verlassen hattest, schaute ich selbst in der Ecke nach. Ein Spinnennetz? Eine Ameise? Ein ekliger Haarball, den Joella sich aus dem Magen gewürgt hatte? Aber es war nie irgendetwas da. Was ist los mit ihm?, fragte ich deine Mutter. Hat er keine Freunde? Um diese Zeit hatte Uri sich schon mit der ganzen Nachbarschaft befreundet. Ein endloser Strom von Kindern ging seinetwegen bei uns ein und aus. Eine Schwäche für Ecken hatte Uri nur, wenn er die Arme um sich selbst schlang und sich wand wie bei einem Zungenkuss. Er fuhr, sich knutschend, mit den Händen über den Rücken, kniff sich in den eigenen Hintern, japste dabei ein bisschen und ruckte mit dem Kopf in einer Kussimitation, dass man sich vor Lachen nicht mehr halten konnte. Aber dein Lachen war nie dabei. Später, beim Ausgeizen der Tomatenpflanzen, entdeckte ich im Garten ein Stückchen Erde, wo du auf geheimnisvolle Weise kleine Häufchen geformt, in Reihen versammelt und dazwischen mit einem Stock Rechtecke und Kreise gezogen hattest. Was zum Teufel soll das sein?, fragte ich deine Mutter. Sie reckte den Kopf und schaute es sich an. Das ist eine Stadt, erklärte sie ohne den geringsten Zweifel in der Stimme. Hier ist das Tor, zeigte sie, da der Befestigungswall, und das hier ist eine Zisterne. Dann ging sie weg und ließ mich wieder einmal geschlagen stehen. Wo ich kümmerliche kleine Erdhaufen gesehen hatte, sah sie eine ganze Stadt. Von Anfang an hattest du ihr die Schlüssel zu dir gegeben. Mir nicht. Mir nie, mein Sohn. Ich erspähte dich geduckt am Haus. Komm her, rief ich. Du kamst auf deinen kleinen Beinchen angewackelt, das Gesicht kurios von einem Eis am Stiel verschmiert. Was soll das bedeuten?, fragte ich, mit der Gartenschere gestikulierend. Du schautest auf den Boden und schnieftest. Dann hast du dich hingehockt und blitzartig ein bisschen umgebaut – eilig gewischt, geklopft, einen Klumpen neu geknetet. Im Stehen hast du es von oben noch einmal prüfend angeschaut, den Kopf im gleichen Winkel gereckt wie deine Mutter. Das also ist das Geheimnis, dachte ich. Du musst den Kopf in einem bestimmten Winkel halten, damit es Sinn ergibt! Doch kaum hatte ich die Lösung begriffen, hobst du den Fuß, ebnetest die ganze Sache mit ein paar schnellen Stampfern ein und verschwandest im Haus.
Was war zuerst? Bin ich vor dir zurückgeschreckt oder du vor mir? Ein seltsamer Knirps mit einem Geheimwissen, der mich zur Weißglut brachte und zu einem jungen Mann heranwuchs, dessen Welt mir versperrt war. Willst du die Wahrheit wissen, Dov? Als du zu mir kamst, um mir von dem Buch, das du schreiben wolltest, zu erzählen, war ich fassungslos. Ich konnte nicht verstehen, wieso du beschlossen hattest, ausgerechnet mir davon zu erzählen – mir, dem du so wenig über dich verraten hast, mit dem du nur in letzter Instanz sprachst, wenn es unbedingt nötig war. Ich habe zu langsam geschaltet, um so zu antworten, wie ich es gern getan hätte. Ich konnte mich nicht so schnell umstellen. Ich nahm die alte Haltung ein. Einen bestimmten Ton, eine Schroffheit, die immer meine Verteidigung gegen alles gewesen war, was ich an dir nicht kapiert habe. Lieber wollte ich dich abweisen als von dir abgewiesen werden. Danach habe ich es bedauert. Du warst kaum aus dem Zimmer gegangen, da wurde mir klar, dass ich meine Chance vertan hatte. Ich verstand, es war ein Versöhnungsangebot gewesen. Ich hatte es verspielt, und ich wusste, ein zweites Mal würdest du nicht kommen.
Ein Hai, der als Hort menschlicher Traurigkeit dient. Der alles auf sich nimmt, was die Träumenden nicht ertragen, der die Gewalt ihrer gesammelten Gefühle trägt. Wie oft habe ich an dieses Tier gedacht und an meine verlorene Chance mit dir. Manchmal wähnte ich mich kurz davor, das, wofür der große Fisch stand, in seiner ganzen Bedeutung zu begreifen. Eines Tages suchte ich in deinem Zimmer einen Schraubenzieher, den du dir geliehen hattest, und sah die einleitenden Seiten auf deinem Schreibtisch liegen. Meine erste Reaktion war Erleichterung darüber, dass ich dich schließlich doch nicht von deinem Vorhaben abgebracht hatte. Außer mir war niemand zu Hause, aber ich schloss trotzdem die Tür, bevor ich mich hinsetzte und über das schreckliche Tier las, das mit gefletschten Zähnen, aufgehängt im leuchtenden Becken, in einem sonst dunklen Raum schwebte. Der grünliche Körper mit Elektroden und Drähten bedeckt. Bei Tag und Nacht summende Maschinen. Irgendwo auch das anhaltende Geräusch einer Pumpe, die den Hai am Leben erhielt. Das Biest zuckte und wälzte sich, und gewitterartig huschten Ausdrücke über sein Gesicht – kann ein Hai Gesichtsausdrücke haben?, fragte ich mich –, während die Patienten in kleinen fensterlosen Zimmern schliefen und träumten.
Ich brauche dir nicht zu erzählen, dass ich nie ein großer Leser war. Es war immer deine Mutter, die Bücher liebte. Ich brauche lange, muss mich langsam von einer Seite zur anderen arbeiten. Manchmal sind mir die Worte ein Rätsel, und ich muss sie zwei- oder dreimal lesen, bis ich die Nuss geknackt habe. In meinem Jurastudium musste ich immer mehr büffeln als die anderen. Mein Geist war scharf, meine Zunge noch schärfer, ich lieferte mir Wortgefechte mit den Besten, aber Bücher machten mir zu schaffen. Als du so leicht lesen lerntest, fast von allein, konnte ich nur staunen. Es schien unmöglich, dass ein Kind wie du von mir stammen sollte. Zugleich war das wieder so ein müheloses Verständnis, das du mit deiner Mutter teiltest, während ich außen vor blieb und nie hereingelassen wurde. Trotzdem, ohne dein Wissen oder deine Zustimmung las ich dein Buch. Las es, wie ich noch kein Buch gelesen hatte und kein anderes lesen würde. Zum ersten Mal erhielt ich Zugang zu dir. Und ich war voller Ehrfurcht, Dovik. Ich war erschreckt und überwältigt von dem, was ich da fand. Als dein Militärdienst anfing und du zur Grundausbildung eingezogen wurdest, war ich verzweifelt bei der Vorstellung, mein heimliches Lesen würde nun ein Ende nehmen, die Türen zu deiner Welt würden mir wieder verschlossen sein. Und dann, siehe da, kamen alle paar Wochen diese Päckchen von dir an, mit braunem Klebeband umwickelt, dazu die prangenden Worte PERSÖNLICH!!! NICHT ÖFFNEN! sowie ausdrückliche Bitten an deine Mutter, sie in deine Schreibtischschublade zu legen. Ich war glücklich. Ich redete mir ein, du wüsstest es, du hättest es die ganze Zeit gewusst, und der Zirkus dieser Geheimnistuerei sei einfach ein Weg, mir – uns beiden – die Verlegenheit zu ersparen.
Am Anfang las ich die Sachen immer in deinem Zimmer. Und nur, wenn deine Mutter aus dem Haus war, wenn sie einkaufen ging, bei der Zionistischen Frauenorganisation half oder Irit besuchte. Mit der Zeit wurde ich dreister, setzte mich in die Küche oder machte es mir auf einem Gartenstuhl unter der Akazie bequem. Einmal kam sie früher als erwartet nach Hause und überraschte mich. Da ich keinen Verdacht erregen wollte, las ich weiter und tat so, als handelte es sich um einen Schriftsatz zu einem meiner Fälle. Ein Vermieter, der zwangsräumen lassen will, brummte ich und blickte kurz über den Brillenrand zu ihr auf. Aber sie nickte nur mit jenem halben Lächeln, das sie aufzusetzen pflegte, wenn sie in andere Gedanken vertieft war – an Irit vielleicht, an deren pathologische Bedürfnisse, deren aufgeregte Notfälle, auf die deine Mutter regelmäßig wie ein Rettungswagen reagierte. So einfach ist das, dachte ich, aber da ich mein Glück nicht aufs Spiel setzen wollte, schlich ich bei der nächsten Gelegenheit in dein Zimmer und legte die Seiten in deinen Schreibtisch.
Ich verstand nicht immer, was du geschrieben hattest. Zugegeben, am Anfang war ich frustriert über deine Weigerung, die Dinge vollständig zu erklären. Was frisst er, dieser Hai? Wo befindet sich dieser Ort, diese Einrichtung, dieses – in Ermangelung eines besseren Wortes – Krankenhaus mit dem riesigen Becken? Warum schlafen diese Leute so viel? Brauchen sie auch nicht zu essen? Isst denn niemand in diesem Buch? Ich musste mich schon arg am Riemen reißen, um keine Bemerkungen an den Rand zu schreiben. Oft hast du mich abgehängt. Ich war gerade dabei, mich in Beringers Zimmer einzufinden, in dem Hausmeisterquartier mit dem winzigen Fenster hoch oben (warum eigentlich regnete es draußen immerfort?) und den Schuhen, die wie Soldaten in Reih und Glied unter seinem harten kleinen Lager standen, drauf und dran, ein Gefühl für diesen Raum zu entwickeln, zu riechen, welchen Geruch ein Mann von sich gibt, wenn er allein in einem kleinen Zimmer schläft, und plötzlich warfst du mich raus, um mich durch den Wald zu schleifen, in dem Hannah sich als kleines Mädchen immer vor allen versteckt hatte. Aber ich tat mein Bestes, mir meine Einwände zu verkneifen. Ich stellte keine Fragen und sah von Korrekturvorschlägen ab. Ich gab mich in deine Hände. Und je mehr ich las, desto seltener regte sich Widerspruch in mir. Ich ließ mich auf deine Geschichte ein, ließ sie mich packen und mitnehmen – zu dem armen Beringer, der den Riss im Becken abtastete, während in den kleinen, mit der großen Halle und dem Becken verdrahteten Zimmern die Träumenden in ihren Träumen lagen, der kleine Benny und Rebecca, die von ihrem Vater träumte (sag mir, Dovik, hast du mich da als Vorlage genommen? Hast du mich wirklich so gesehen? So herzlos, arrogant und grausam? Oder bin ich genauso egoistisch wie er, wenn ich denke, ich nähme überhaupt einen Platz in deiner Arbeit ein?). Ich entwickelte eine Schwäche für den fiebernden kleinen Benny mit seinem unverwüstlichen Glauben an die Zauberei und ein besonderes Interesse für die Träume Noas, des jungen Schriftstellers, der mich am meisten von allen an dich erinnerte. Ich empfand sogar, weiß der Himmel wie, ein seltsames Mitgefühl mit diesem großen leidenden Hai. Wenn das Bündel Seiten zu Ende ging, war ich immer etwas betrübt. Was würde jetzt passieren? Und was war mit dem entsetzlichen Leck, das Beringer hilflos beobachtet, und dem Geräusch des tropfenden Wassers, pling, pling, pling, das nachts in alle Träume sickert und sie durchdringt und hundert verschiedene Echos der traurigsten Dinge auslöst? Manchmal, wenn du beim Militär besonders eingespannt warst, musste ich Wochen oder gar Monate auf den nächsten Abschnitt warten. Ich blieb im Ungewissen, ohne eine Ahnung davon, wie es weiterging. Nur dass der Hai krank und kränker wurde. Wissend, was Beringer wusste, den Träumenden in ihren fensterlosen Zimmern aber vorenthielt: dass der Hai nicht ewig leben würde. Und was dann, Dovik? Wo würden sie hingehen, diese Leute? Wie würden sie leben? Oder waren sie schon tot?
Ich habe es nie erfahren. Die letzte Sendung kam drei Wochen bevor du auf den Sinai geschickt wurdest. Danach nichts mehr.
An jenem Samstag im Oktober waren deine Mutter und ich zu Hause, als wir die Luftsirenen hörten. Wir drehten das Radio an, aber weil Jom Kippur war, herrschte Funkstille. Eine halbe Stunde lang knisterte es in der Ecke, bis schließlich eine Stimme ertönte und sagte, die Sirenen seien kein blinder Alarm gewesen; wenn sie noch einmal ertönten, sollten wir uns in die Luftschutzkeller begeben. Dann spielten sie Beethovens Mondscheinsonate – wozu? Zur Beruhigung? –, und irgendwann kehrte der Ansager mit der Meldung zurück, wir seien angegriffen worden. Es war ein furchtbarer Schock: Wir hatten uns eingeredet, mit den Kriegen sei es vorbei. Dann wieder Beethoven, unterbrochen von verschlüsselten Botschaften zur Mobilmachung der Reservisten. Uri rief aus Tel Aviv an, lautstark wie für taube Ohren redend; durchs halbe Zimmer konnte ich verstehen, was er zu deiner Mutter sagte. Er machte Witze; am liebsten hätte er den Ägyptern eine Zaubervorstellung geboten. Das war Uri. Etwas später riefen sie von der Armee an, um nach dir zu fragen. Wir dachten, du wärst bei deiner Einheit im Hermongebirge, aber sie sagten uns, du hättest übers Wochenende Urlaub genommen. Ich schrieb den Ort auf, wo du dich binnen Stunden melden solltest.
Wir riefen überall an, aber niemand wusste, wo du warst, nicht einmal deine Freundin an der Universität. Deine Mutter steigerte sich in Panik, bis sie nur noch ein Wrack war. Stürz dich nicht in falsche Schlüsse, sagte ich zu ihr. Ich, der seit Jahren von deiner nächtlichen Streunerei wusste, der vertraut war mit deiner Art, dich dem Rest der Menschheit zu entziehen, dir Möglichkeiten zu verschaffen, ein bisschen in einer ungestörten Welt zu leben, abseits des Getümmels. Ich freute mich, etwas über dich zu wissen, was deine Mutter nicht wusste.
Dann hörten wir die Schlüsselgeräusche an der Tür, und du kamst hereingestürmt, erregt und aufgewühlt. Wir fragten nicht, wo du gewesen seist, und du hast es uns auch nicht gesagt. Ich hatte dich seit einer Weile nicht gesehen und war erstaunt, wie robust du geworden warst, fast physisch imposant. Die Sonne hatte dich gebräunt und dir eine neue Festigkeit gegeben, oder vielleicht etwas anderes, einen Tatendrang, den ich von dir nicht kannte. Als ich dich sah, versetzte es mir einen Stich des Bedauerns um meine eigene verlorene Jugend. Deine Mutter fuhrwerkte nervös in der Küche herum und bereitete das Essen vor. Iss, drängte sie dich, du weißt nicht, wann du das nächste Mal etwas bekommst. Aber du wolltest nicht essen. Du standest nur am Fenster und suchtest den Himmel nach Flugzeugen ab.
Ich fuhr dich zu dem Treffpunkt. Erinnerst du dich an diese Autofahrt, Dov? Danach gab es Dinge, an die du dich nicht erinnern konntest, darum bin ich mir nicht sicher, ob du es noch weißt. Deine Mutter kam nicht mit. Sie brachte es nicht über sich. Womöglich wollte sie dich auch nicht mit ihrer Angst anstecken. Das Gewehr lag auf deinen Knien, samt der Tüte mit ihren Esspaketen. Wir wussten beide, dass du sie wegwerfen oder verschenken würdest, sogar deine Mutter wusste es. Sobald wir auf der Straße waren, wandtest du den Kopf zum Fenster und gabst deutlich zu verstehen, dass du nicht in Gesprächslaune warst. Also gut, dann reden wir eben nicht, dachte ich mir, was ist neu daran? Und doch war ich enttäuscht. Irgendwie dachte ich, die Umstände, die alarmierende Notlage, die sich um uns her zusammenbraute, die Tatsache, dass ich dich einem Krieg auslieferte – ich dachte, dieser ganze Druck würde den Pfropfen bezwingen und irgendetwas von dir herauströpfeln lassen. Aber es sollte nicht sein. Du hast deine Haltung klargemacht, dich scharf abgewandt und aus dem Fenster gestarrt. Ehrlich gesagt, war ich trotz meiner Enttäuschung auch ein bisschen erleichtert. Denn ich, der ich immer etwas zu sagen hatte, aufsprang, um das erste Wort zu haben, und am Ball blieb, bis ich auch das letzte hatte – ich war ratlos. Ich sah, wie dein Körper mit dem Gewehr zusammengewachsen war. Wie beiläufig du es hieltest, wie vertraut es dir in den Händen lag. Als wäre dir alles, was sich damit verbindet – seine Anforderungen an dich, seine Macht und seine Widersprüche –, in Fleisch und Blut übergegangen. Der Junge, dem seine eigenen Arme und Beine einmal fremd gewesen waren, hatte aufgehört zu sein, und an seiner Stelle saß, mit dunkler Sonnenbrille und aufgekrempelten Ärmeln, die braune Unterarme blicken ließen, ein Mann neben mir. Ein Soldat, Dova’leh. Mein Junge war zu einem Soldaten herangewachsen, und ich brachte ihn in den Krieg.
Ja, es gab Dinge, die ich sagen wollte, aber in dem Moment nicht konnte, also fuhren wir schweigend. Ein großer Konvoi von Lastwagen war schon dort, die Soldaten voller Ungeduld und rastlos. Wir verabschiedeten uns – so einfach war das, ein hastiges gegenseitiges Auf-den-Rücken-Klopfen –, dann schaute ich dir nach und sah dich in das Meer von Uniformen eintauchen. In diesem Moment warst du nicht mehr mein Sohn. Mein Sohn war fortgegangen, er hatte sich für eine Weile irgendwo versteckt. Wo immer du gewesen sein magst, bevor du nach Hause kamst – auf einsamer Wanderung durch die Berge –, es war, als hättest du gewusst, was kommen würde, als wärst du fortgegangen, um dich in einem Loch zu vergraben. Dich dort, unter der kalten Erde, so lange zu verstecken, bis die Gefahr vorüber war. Und was übrig blieb, nachdem du dich von der Gleichung abgezogen hattest, war ein Soldat, der mit den Früchten Israels groß geworden war, mit der Erde seiner Vorfahren unter den Fingernägeln, und jetzt in den Krieg zog, um sein Land zu verteidigen.
In jenen Wochen hat deine Mutter kaum geschlafen. Sie führte keine Telefongespräche, damit die Leitung nicht besetzt war. Aber am meisten fürchteten wir die Türglocke. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, klingelten sie bei den Biletskis, um zu sagen, dass Itzhak, der kleine Itzy, mit dem ihr beide, du und Uri, als Kinder gespielt habt, auf den Golanhöhen getötet worden sei. Er war in einem Panzer verbrannt. Danach verschwanden die Biletskis in ihrem Haus. Ringsum wucherte das Gras, die Vorhänge blieben immer geschlossen, nur manchmal, sehr spätabends, ging innen ein Licht an, und man hörte jemanden zwei Töne auf dem Klavier spielen, immer dieselben, ding dong ding dong ding dong. Eines Tages, als ich drüben einen Brief abgeben wollte, der versehentlich zu uns gekommen war, sah ich einen hellen Flecken am Türrahmen, wo die Mesusa gewesen war. Das hätten ebenso gut wir sein können. Es gab keinen Grund, warum es ihrem Sohn passiert war und nicht unserem, warum Biletski zwei Töne spielte und nicht ich. Jeden Tag wurden Söhne geopfert. Ein anderer Junge aus der Nachbarschaft wurde von einer Granate zerfetzt. Eines Abends gingen wir zu Bett und schalteten das Licht aus. Wenn ich einen von ihnen verliere, sagte deine Mutter mit leiser, zitternder Stimme zu mir, kann ich nicht mehr weitermachen. Entweder konnte ich sagen: Du wirst weitermachen, oder ich konnte sagen: Wir werden sie nicht verlieren. Wir werden sie nicht verlieren, sagte ich, indem ich ihre dünnen Handgelenke festhielt. Sie sagte nicht: Ich würde dir nicht verzeihen, aber das brauchte sie auch nicht zu sagen. Uri war auf einem Berg oberhalb des Jordantals stationiert. Er schaffte es, uns einmal anzurufen, so wussten wir, dass er dort war. Viel später, Jahre später, erzählte er mir, wie er über das Funkgerät die verzweifelten Gefechte der israelischen Panzereinheiten auf den Golanhöhen hören konnte. Eine nach der anderen verschwand einfach vom Sender, in Stille ausgelöscht, während Uri lauschte und sich nicht davon losreißen konnte, weil er wusste, es waren die letzten Worte dieser Soldaten. Von Uri haben wir erfahren, dass deine Brigade auf den Sinai geschickt worden war. Jeden Tag rechneten wir mit dem Klingeln an der Tür, aber es klingelte nicht, und jedes Mal, wenn die Morgendämmerung ohne Klingeln anbrach, hattest du eine Nacht mehr überlebt. Es gab vieles, was deine Mutter und ich uns in diesen Tagen nicht sagten. Unsere Ängste zogen uns tiefer und tiefer in ein beklemmendes Schweigen. Ich wusste, wenn dir oder Uri etwas zustieße, würde sie mir nicht das Recht zugestehen, genauso zu leiden wie sie, und das nahm ich ihr übel.
An jenem Abend, zwei Wochen nachdem der Krieg begonnen hatte, klingelte gegen elf das Telefon. Das ist es, dachte ich, und in meinem Inneren tat sich ein gähnendes Loch auf. Deine Mutter war im anderen Zimmer auf dem Sofa eingeschlafen. Übernächtigt, mit trüben Augen und elektrisierten Haaren stand sie jetzt in der Tür. Ich erhob mich, als müsste ich mich durch Beton kämpfen, von meinem Sitz und nahm ab. Mir brannten die Augen und die Lungen. Es entstand eine Pause, lange genug, um mir das Schlimmste vorzustellen. Dann kam deine Stimme durch. Ich bin’s, sagtest du. Das war alles: Ich bin’s. Zwei Silben nur, und doch hörte ich eine leichte Veränderung in deiner Stimme, als wäre ein winziges, aber lebenswichtiges Stückchen darin gebrochen, wie der Leuchtfaden einer Glühbirne. Trotzdem, in diesem Moment war es egal. Mir geht es gut, sagtest du. Ich konnte nicht sprechen. Ich glaube nicht, dass du mich je weinen gehört hattest. Deine Mutter begann zu schreien. Er ist es, sagte ich. Es ist Dov, brachte ich erstickt heraus. Sie eilte zu mir, und wir drückten beide unsere Ohren an den Hörer. Mit gepaarten Köpfen lauschten wir deiner Stimme. Ich wünschte mir nur noch, dich ewig reden zu hören. Über irgendetwas, was auch immer. Dich reden zu hören, wie wir dich morgens in deinem Gitterbettchen so oft brabbeln gehört hatten, bevor du nach uns riefst. Aber du wolltest nicht lange sprechen. Du sagtest uns, du seist in einem Krankenhaus bei Rechovot. Dein Panzer sei getroffen worden, und ein Granatsplitter habe dich an der Brust verletzt. Es ist nicht schlimm, sagtest du. Du fragtest nach Uri. Ich kann jetzt nicht lange sprechen, sagtest du. Wir kommen zu dir, sagte deine Mutter. Nein, sagtest du. Selbstverständlich kommen wir, sagte sie. Ich sagte nein, gabst du schroff, fast ärgerlich zurück. Und dann, wieder milder: Sie bringen mich morgen oder übermorgen nach Hause.
In dieser Nacht hielten deine Mutter und ich uns im Bett fest in den Armen. Eine Atempause lang umschlangen wir uns und verziehen einander alles.
Als du schließlich nach Hause kamst, warst du weder der Soldat, den ich in der Menge hatte verschwinden sehen, noch der Junge, den ich kannte. Du warst wie eine Hülle, die sich der beiden entleert hatte. Du saßest stumm auf einem Sessel in der Ecke des Wohnzimmers, eine unberührte Tasse Tee auf dem Beistelltisch, und zucktest zusammen, wenn ich dich berühren wollte. Wegen deiner Wunde, aber auch, das konnte ich spüren, weil du einen solchen Kontakt nicht ertrugst. Gib ihm Zeit, flüsterte deine Mutter in der Küche, wo sie Pillen, Tees und Tupfer vorbereitete. Ich setzte mich zu dir ins Wohnzimmer. Wir sahen Nachrichten und sprachen wenig. Wenn es keine Nachrichten gab, schauten wir uns Zeichentrickfilme an, Katz-und-Maus-Jagden: Wie viele Zuckerstückchen willst du?, und dann mit dem Hammer auf den Kopf. Mit der Zeit kam heraus – nicht vor meinen Ohren natürlich, nur vor ihren –, dass zwei andere der Panzerbesatzung gestorben waren. Der Schütze, der erst zwanzig war, und der Kommandant, auch er nur ein paar Jahre älter. Der Schütze war auf der Stelle tot, der Kommandant dagegen verlor ein Bein und stürzte sich aus dem Panzer. Du bist hinausgeklettert, um ihm zu helfen. Die Funkanlage war hinüber, überall Rauch und Verwirrung, und der Fahrer, der in dem Chaos womöglich nicht begriffen hatte, dass die anderen draußen waren, startete den Panzer in umgekehrter Richtung und fuhr durch den Sand davon. Vielleicht war er in Panik, wer weiß; du hast ihn nie wiedergesehen.
Du bliebst allein mit dem verwundeten Kommandanten in den Dünen zurück. Wie oft habe ich versucht, es mir vorzustellen, wie wenn ich du gewesen wäre. Nichts als endlose Dünen und Drähte von ägyptischen Raketen am Boden. Das Geräusch von Explosionen. Die Versuche, den Verwundeten auf deinem Rücken mitzuschleppen, ohne die geringste Möglichkeit, in dem Sand vom Fleck zu kommen. Der unter Schock dich anflehende Kommandant, ihn nicht im Stich zu lassen. Wenn du mit ihm dort bliebst, war das euer beider Tod. Wenn du Hilfe suchen gingst, war es womöglich seiner. Du hattest gelernt, einen auf dem Schlachtfeld verwundeten Kameraden nie im Stich zu lassen. Diese Kardinalregel hatte man dir beim Militär eingeschärft. Wie musst du mit dir selbst gerungen haben. Nur dass kein Selbst mehr da war, mit dem du ringen konntest. Der ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht, als er verstand, du würdest gehen. Wie er mühsam seine Uhr abmachte und sie dir hinhielt: Sie gehört meinem Vater. Überrascht es dich, dass ich es mir vorgestellt habe, dass ich wirklich mit allen Fasern versucht habe, mich in dich hineinzuversetzen? In dir war niemand mehr, und so gingst du ohne den Kommandanten wie ein wandelnder Toter davon. Du gingst und gingst. Durch die Wüste, durch die Hitze, mit den Explosionen in einiger Entfernung und den Raketen über dem Kopf. Immer schwindliger, das Bewusstsein verlierend, in der Hoffnung, dass es die richtige Richtung war. Bis schließlich, gleich einer Fata Morgana, eine Rettungseinheit auftauchte und du hochgehoben, zu den Toten und den kaum noch Lebenden gelegt wurdest. Der Lastwagen sei voller Verwundeter und Sterbender, darum könnten sie den Kommandanten jetzt nicht suchen, sagten sie dir, sie müssten später noch einmal zurückkehren. Entweder haben sie es getan und ihn nicht gefunden, oder sie sind nie zurückgekehrt. Man hat nichts mehr von ihm gehört, und er wurde als vermisst registriert. Auch nach dem Krieg wurde keine Spur von seiner Leiche gefunden.
Die Uhr lag tagelang auf deinem Schreibtisch. Als du endlich die Adresse der Familie in Haifa bekamst, hast du dir das Auto geliehen und bist selbst hingefahren. Ich weiß nicht, was dort geschehen ist. Als du abends wiederkamst, gingst du in dein Zimmer und hast wortlos die Tür hinter dir geschlossen. Deine Mutter biss sich auf die Lippen und hielt Tränen zurück, während sie die Teller spülte. Ich weiß nur, dass der Kommandant noch ein Kind war und dass du seinen Eltern die Uhr bringen wolltest. Wir dachten, damit wäre die Sache beendet. In den folgenden Wochen hast du dich ein wenig erholt. Uri besuchte dich alle paar Tage, und ihr gingt miteinander spazieren. Doch nach ungefähr drei Wochen kam ein Brief vom Vater des toten Soldaten. Ich entdeckte ihn in einem Stapel Post und legte ihn für dich beiseite. Ich schaute kaum auf den Absender, vollkommen ahnungslos, was der Brief enthielt, aber ich war derjenige, der ihn dir aushändigte, und am Ende war ich es, der in alle die darin enthaltenen Vorwürfe verstrickt wurde. Ein Vater, der an einen Sohn schrieb, nur war er nicht dein Vater, und du warst nicht sein Sohn – trotzdem wurde ich durch einen Strudel von Assoziationen, gegen die ich machtlos war, tief hineingezogen.
Es war kein wortgewandter Brief, aber seine Grobheit machte ihn noch schlimmer. Der Schreibende gab dir die Schuld am Tod seines Sohnes. Sie haben seine Uhr genommen, schrieb er in spindeliger Handschrift, und meinen Sohn sterben lassen. Wie können Sie noch mit sich leben? Er selbst hatte Birkenau überlebt und brachte das ins Spiel. Er beschwor den Mut der jüdischen Häftlinge in den Händen der SS und nannte dich einen Feigling. In der letzten Zeile des Briefs, mit solchem Druck gekritzelt, dass die Feder das Papier durchbrochen hatte, schrieb er: Es hätten Sie sein sollen.
Der Brief zerstörte dich. Was immer du an brüchigem Zusammenhalt hinübergerettet hattest, zerschellte, als du ihn lasest. Mit dem Gesicht zur Wand lagst du im Bett und standest nicht auf und wolltest nicht essen. Du hast niemanden zu dir hereingelassen, dich mit dem Opium des Schweigens betäubt. Vielleicht hast du auch versucht, die kleine noch lebendige Portion von dir verhungern zu lassen. Deine Mutter fürchtete nun auf eine neue Weise um dein Leben. (Wie viele Weisen gibt es eigentlich, um das Leben seines Kindes zu fürchten? Lass es.) Am Anfang kam deine Freundin dich besuchen, aber du hast sie abgewiesen, und sie ging unter Tränen fort. Sie hatte langes braunes Haar, schiefe Zähne, und sie trug ein Männerhemd, und irgendwie verstärkte das alles ihre Lebhaftigkeit und Schönheit. Du magst denken, ich gäbe mich zu viel mit der Schönheit deiner jungen Freundinnen ab, aber ich will auf etwas Bestimmtes hinaus, dass du nämlich trotz deines ständigen Leidens bis dahin nicht blind für Schönheit gewesen warst, man möchte sogar meinen, du hättest eine gewisse Zuflucht darin gefunden. Aber jetzt nicht mehr; du wolltest von diesem schönen Mädchen, das sich um dich sorgte, nichts mehr wissen. Du sprachst nicht einmal mehr mit deiner Mutter. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, ein klein wenig war ich froh, dass ihr dieselbe Behandlung widerfuhr wie mir. Dass sie einmal spürte, was ich mein Leben lang von dir zu spüren bekommen hatte. Dass sie es ein bisschen auf meiner Seite der Barriere aushalten musste und am eigenen Leib erfuhr, wie es sich anfühlte, gegen diese undurchdringliche Wand zu rennen. Aber meine Genugtuung blieb ihr nicht verborgen, und als sie es merkte, versiegte alles, was an Sanftmut über uns gekommen war, nachdem wir erfahren hatten, dass du am Leben warst, was immer der Zweifel uns an stillschweigender Duldung des anderen eingegeben hatte. Unsere Diskussionen über dich – mit leiser Stimme in der Küche oder abends im Bett – luden sich mit Spannung auf. Deine Mutter wollte den Vater in Haifa anrufen, ihn beschimpfen, dich verteidigen. Aber ich ließ sie nicht. Ich packte ihre Hand und entwand ihr den Hörer. Es reicht, Eve, sagte ich. Sein Sohn ist tot. Seine Eltern wurden ermordet, und jetzt hat er seinen einzigen Sohn verloren. Und du erwartest, dass er gerecht sein soll? Dass er vernünftig ist? Ihr Blick wurde hart. Du empfindest mehr für ihn als für deinen eigenen Sohn, sagte sie verächtlich und ging weg.
Danach ließen wir einander fallen, sie und ich. Versagten uns die Unterstützung, die wir gebraucht hätten. Stattdessen zogen wir uns, jeder für sich allein, in die eigenen Qualen zurück, die besondere, einzigartige Hölle, sein Kind leiden zu sehen, ohne ihm irgendwie helfen zu können. Vielleicht hatte deine Mutter in gewisser Weise recht. Nicht, was meine fehlenden Empfindungen für dich anbelangt – du warst mein Kind, Herrgott nochmal, du bist auch heute noch mein Kind. Aber vielleicht recht im Sinne einer fehlenden Großzügigkeit in meinem Umgang mit dir, mit deiner Reaktion auf die Tragödie, die dir zugestoßen war. Du hattest aufgehört zu leben. Deine Mutter glaubte, dir sei etwas geraubt worden. Mir dagegen schienst du es zu verwirken. Als hättest du dein Leben lang darauf gewartet, vom Leben verraten zu werden, dass es dir beweise, was du immer vermutet hast – wie wenig es für dich bereithielt, außer Enttäuschung und Schmerz. Jetzt hattest du einen untadeligen Grund, dich von ihm abzuwenden, endlich mit ihm zu brechen, genau wie du mit Shlomo gebrochen hattest, mit so vielen Freunden und Freundinnen und lange davor mit mir.
Schreckliche Dinge stoßen Menschen zu, aber nicht jeder wird zerstört. Wie kommt es, dass dieselbe Sache den einen zerstört und den anderen nicht? Da beginnt die Frage des Willens – es gibt ein unveräußerliches Recht, das Recht zur Interpretation, das jedem Einzelnen vorbehalten bleibt. Ein anderer hätte vielleicht gesagt: Ich bin nicht der Feind. Ihr Sohn ist von Feindeshand gestorben, nicht von meiner. Ich bin ein Soldat, der für sein Land gekämpft hat, nicht mehr und nicht weniger. Und ein Dritter hätte den quälenden Selbstzweifeln die Tür zugeschlagen. Aber du hast sie aufgelassen. Und ich muss zugeben, das konnte ich nicht verstehen. Als es dir nach zwei oder drei Monaten nicht besserging, verwandelte sich der Schmerz, dich leiden zu sehen, in Missmut. Wie soll man jemandem helfen, der nichts tut, um sich selbst zu helfen? Ab einem bestimmten Punkt kann man nicht mehr anders, als Selbstmitleid darin zu sehen. Du gabst jede Bemühung auf. Manchmal, wenn ich über den Flur ging, hielt ich vor der geschlossenen Tür deines Zimmers inne. Was ist mit dem Hai, mein Sohn? Was ist mit Beringer und seinem Schrubber und dem unaufhörlichen Tropfen aus dem Leck des Beckens? Was ist mit dem Doktor und mit Noa und dem kleinen Benny? Was soll ohne dich aus ihnen werden? Aber dann sah ich dich wieder über einen Teller Essen gebeugt, das du nicht essen wolltest, und fragte stattdessen: Wen bestrafst du eigentlich? Glaubt du wirklich, es täte dem Leben weh, wenn du es ablehnst?
Auf Schritt und Tritt rasselte der Schmerz in dir, die alten Verletzungen, vermischt mit den neuen. Und für alles, was da zusammenkam, wurde ich untergründig angeklagt. Aus jedem Winkel zeigtest du mir nur den Rücken. Mein Groll wuchs, gegen euch beide, dich und deine Mutter, euer unantastbares konspiratives Lager, von dem ich, der brutale Rohling, ausgeschlossen war – um mich für mein komplettes Unverständnis und vieles andere, dessen ich schuldig war, zu bestrafen. Er fühlt sich von dir verletzt, sagte sie, als ich wegen ihrer Komplizenschaft mit deinem Schweigen, jenem speziellen gläsernen Schweigen, mit dem du nur mich bedachtest, vom Leder zog. Und du glaubst, er habe gute Gründe für diese Gefühle?, fragte ich. Du glaubst, er habe recht, dass ich – was? Ihn schlecht behandelt hätte? Ihn nicht richtig geliebt hätte? Aaron, sagte sie scharf und sog geräuschvoll ihren Atem ein. Ich habe ihn so geliebt, wie ich ihn lieben konnte!, schrie ich, und noch während ich schrie, wurde mir bewusst, dass ich ihrer – und deiner – erdrückenden Beweislast gegen mich gerade wieder ein Quäntchen hinzufügte. Womöglich habe ich sogar eine Schüssel – ja, eine Schüssel mit Erdbeeren – durchs Zimmer geschleudert, und das Glas zersplitterte. Gut möglich, dass ich so etwas gemacht habe. Wenn die Erinnerung nicht trügt. Es stimmt, von Zeit zu Zeit geht mein Temperament mit mir durch. Das Glas zersplitterte, und im Gefolge dieses Krachs zog ihr gerechtes Schweigen durch den Raum. Am liebsten hätte ich noch mehr zerschlagen.
Sobald ich den Mund aufmachte, wurdest du wütend und schmerzgeplagt. Jetzt ist er nur noch Opfer, egal worum es geht, sagte ich zu deiner Mutter. Er kultiviert sein Recht zu leiden. Aber wie immer ergriff sie für dich und gegen mich Partei. Eines Abends hatte ich die Schnauze voll, ich beschimpfte sie: Dann bin ich jetzt also auch noch schuld am Tod des Kommandanten? Es war ungerecht, ich bereute es sofort. Aber einen Moment später hörte ich die Haustür knallen und wusste, du hattest mich gehört. Ich lief dir nach, um dich zurückzuholen. Auf der Straße hast du geweint und wild versucht, mich abzuschütteln. Ich habe dich gepackt und deinen Kopf an meine Brust gedrückt, bis du aufhörtest zu kämpfen. Ich hielt dich fest umschlungen, du hast geschluchzt, und hätte ich sprechen können, hätte ich gesagt: Ich bin nicht der Feind. Ich bin nicht derjenige, der diesen Brief geschrieben hat. Lieber sollten tausend sterben, nur nicht du.
Monate vergingen, und es änderte sich nichts. Dann, eines Tages, kamst du in mein Büro. Ich kehrte von einem Mandatsgespräch zurück, und da saßest du an meinem Tisch, bedrückt eine Zeichnung auf meinen Notizblock kritzelnd. Ich war überrascht. So lange warst du kaum aus dem Haus gegangen, und plötzlich sitzt du vor mir wie die lebenden Toten. Ich konnte mich nicht erinnern, wann du mich zuletzt bei der Arbeit aufgesucht hattest. Um Worte verlegen, sagte ich: Ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest. Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass ich einen Entschluss gefasst habe, sagtest du ernst. Gut, sagte ich, immer noch stehend, wunderbar, obwohl ich keine Ahnung hatte, was für ein Entschluss das sein mochte. Der bloße Gedanke, dass du dich offenbar aufgerappelt hattest, dir eine Zukunft vorzustellen, war genug. Du schwiegst. Nun?, sagte ich. Ich werde Israel verlassen, sagtest du. Und wo willst du hin?, fragte ich, um Beherrschung meiner aufflackernden Wut bemüht. Nach London, sagtest du. Und was willst du dort? Bis dahin hattest du mir nicht in die Augen gesehen, aber jetzt hobst du den Kopf und blicktest mich direkt an. Ich werde Jura studieren, sagtest du.
Ich war sprachlos. Nicht nur, weil du noch nie ein Interesse an der Juristerei bekundet hattest, sondern weil es dir von Kindheit an so wichtig gewesen war, nicht so zu werden wie ich. Ja sogar mehr als das – das unbedingte Gegenteil von mir zu sein. Wenn ich laut sprach, warst du derjenige, der immer leise sprach, wenn ich Tomaten liebte, hast du sie gehasst. Ich war baff über diesen plötzlichen Sinneswandel und rang um Verständnis, was er zu bedeuten haben könnte. Wärst du nicht ein so ernsthafter Mensch gewesen, hätte ich wohl gedacht, du wolltest dich über mich lustig machen. Zugegeben, du als Jurist – das konnte ich mir nicht vorstellen, aber in jenen Tagen war es alles andere als einfach, sich dich überhaupt als irgendetwas vorzustellen.
Ich wartete auf mehr, aber es kam nichts. Du standest abrupt auf, sagtest, du müsstest gehen, einen Freund treffen. Du, der seit Monaten niemanden hatte sehen wollen. Nachdem du gegangen warst, rief ich deine Mutter an. Was hat das alles zu bedeuten?, fragte ich. Was alles?, fragte sie. Die ganze Zeit liegt er in katatonischer Starre auf seinem Bett, sagte ich, und plötzlich schreibt er sich zum Jurastudium in London ein? Darüber redet er schon seit einer Weile, sagte sie. Ich dachte, du wüsstest es. Wissen? Wissen? Wie sollte ich es wissen? Wo in meinem eigenen Haus doch niemand mit mir spricht. Hör auf, Aaron, sagte sie. Du bist lächerlich. Jetzt war ich also nicht mehr nur der Rohling, sondern auch noch lächerlich. Ein Knallkopf, mit dem niemand mehr zu reden brauchte, der abgeschoben wurde wie eine mürrische, lästige Katze, die man vor die Tür setzt und zu füttern vergisst, um sie an eine andere Familie loszuwerden, die sich um sie kümmert.
Du bist abgereist. Ich brachte es nicht über mich, dich zum Flughafen zu fahren. Ich hatte dich zum Aufbruch in den Krieg gefahren, aber ich konnte dich nicht in das Flugzeug setzen, das dich aus unserem Land entfernen würde. Ich hatte eine Gerichtsverhandlung. Vielleicht hätte ich sie absagen können, aber ich tat es nicht. Deine Mutter blieb die letzte Nacht vor deinem Abflug wach, um einen Pullover, den sie dir gestrickt hatte, fertigzubekommen. Hast du ihn je getragen? Sogar ich konnte sehen, wie wenig schmeichelhaft er war, sackartig vor lauter Angst, du würdest dich zu Tode frieren. Wir hoben uns den Abschied für morgens auf. Aber als ich zur Arbeit aus dem Haus musste, schliefst du noch.
Von Anfang an waren deine Noten glänzend. Du bist leicht an die Spitze deines Semesters aufgestiegen. Das Leiden verschwand nicht, schien aber abzuklingen. Du hieltest es unter endloser, obsessiver Arbeit begraben. Als du deine Promotion abgeschlossen hattest, dachten wir, du würdest nach Hause kommen, aber du kamst nicht. Du wurdest Anwalt und Mitglied einer angesehenen Kanzlei. Du hast unmögliche Arbeitszeiten gehabt, dir keinen Platz für irgendetwas anderes gelassen und dir schnell einen Namen als Strafrechtler gemacht. Du hast verfolgt und verteidigt, die Waage der Gerechtigkeit gehalten, Jahre vergingen, du hast geheiratet, dich scheiden lassen, wurdest zum Richter ernannt. Und erst später habe ich begriffen, was du mir an jenem Tag vor so langer Zeit wohl hattest sagen wollen: Du würdest nicht zu uns zurückkehren.
Das alles ist lange her. Und doch komme ich unwillkürlich darauf zurück. Wie um, gleichsam rituell, ein letztes Mal jeden erhaltengebliebenen Restschmerz zu ertasten. Nein, die unbändigen Gefühle der Jugend beruhigen sich nicht mit der Zeit. Man bekommt sie in den Griff, lässt die Peitsche knallen, zwingt sie nieder. Man baut sich seine Festung. Sorgt für Ordnung. Die Stärke des Fühlens lässt nicht nach, sie wird nur in Schach gehalten. Aber jetzt zerfallen langsam die Mauern. Auf einmal denke ich an meine Eltern, Dovi. An bestimmte Bilder meiner Mutter im schattigen Abendlicht, in der Küche, und ich sehe, dass ihr Ausdruck etwas anderes bedeutete als das, was ich ihm als Kind entnommen hatte. Sie schloss sich im Klo ein und bestand nur noch aus Lauten. Gedämpft durch die Tür, an der mein Ohr lauschte. Meine Mutter war für mich zuerst und vor allem ein Geruch. Unbeschreiblich. Lass es. Dann ein Gefühl, ihre Hände auf meinem Rücken, die weiche Wolle ihres Mantels an meiner Wange. Dann war sie Stimme, und schließlich, als abgeschlagenes Viertes, kam ihr Anblick hinzu. Wie sie für mich aussah, immer nur in Teilen, nie insgesamt. Sie so groß und ich so klein, dass ich nur eins auf einmal fassen konnte, bald eine Rundung, bald das vorquellende Fleisch über einem Gürtel, den Ausschnitt mit Sommersprossen bis zur Brust hinunter oder die in Strümpfe gehüllten Beine. Mehr war unmöglich. Einfach zu viel. Nachdem sie gestorben war, hat mein Vater noch fast zehn Jahre gelebt. Sich die eine zittrige Hand mit der anderen gehalten. Ich traf ihn nur noch in Unterwäsche an, unrasiert, mit heruntergelassenen Jalousien. Ein pedantischer, ja sogar eitler Mann in einem fleckigen Unterhemd. Er brauchte ein ganzes Jahr, bis er sich wieder richtig anzog. Andere Dinge blieben liegen, wurden nicht mehr in Ordnung gebracht oder repariert. Es bröckelte von innen. Wenn er sprach, rissen klaffende Lücken auf. Einmal fand ich ihn auf allen vieren über eine Stelle auf dem Holzboden gebeugt: einen Kratzer, den er inspizierte und mit einem Gemurmel talmudischer Weisheiten bedachte, die er als Junge gelernt, aber vergessen hatte, weil er nichts damit anfangen konnte – bis der Kratzer sie ihm in Erinnerung rief. Ich habe keine, auch nicht die geringste Ahnung, was er über das Leben nach dem Tod dachte. Wir sprachen nicht über persönliche Dinge. Wir grüßten einander aus weiter Entfernung, von Berggipfel zu Berggipfel. Mit dem Klirren eines Löffels in der Teetasse, mit einem Räuspern. Diskussionen, wenn es denn welche gab, beschränkten sich auf die beste Wollsorte, woher sie kam, von welchem Tier, welcher Machart. Er starb friedlich in seinem Bett, ohne einen einzigen schmutzigen Teller im Spülbecken. Bei jedem Glas Wasser, das am Hahn gefüllt wurde, hatte er das Spülbecken trocken gewischt, um dem fleckenfreien Edelstahl keine Schande zu machen. Ein paarmal habe ich für beide Eltern Jahrzeitlichter angezündet, es mir aber bald wieder abgewöhnt. Meine Besuche an ihren Gräbern kann ich an einer Hand abzählen. Die Toten sind tot, und wenn ich sie besuchen will, habe ich meine Erinnerungen – so sah ich das, wenn ich es überhaupt sah. Aber auch die Erinnerungen hielt ich mir vom Leibe. Hat der Tod der Nächsten nicht immer einen Stachel, etwas von einem leisen, aber unmissverständlichen Tadel? Ist es das, was du aus meinem Tod machen wirst, Dov? Die letzte Rate der ewig tadelnden langen Rüge, für die du mein Leben hieltest?
Ich näherte mich dem Ende, da kamst du nach Hause. Mit deinem Koffer in der Hand standest du im Flur, und ich dachte – so schien es mir –, es wäre ein Anfang. Bin ich zu spät? Wo bist du? Du müsstest schon seit Stunden wieder zu Hause sein. Was hält dich auf? Irgendetwas stimmt nicht, ich spüre es. Deine Mutter kann sich nicht mehr um dich sorgen. Jetzt fällt das mir zu. Zehn Tage lang bin ich aufgewacht und fand dich hier, an diesem Tisch sitzend. So eine kurze Zeit, und doch habe ich mich schon darauf verlassen. Aber heute Morgen, an dem Morgen, an dem ich in der Absicht die Treppe herunterkam, das Schweigen zu brechen und endlich eine Waffenruhe anzubieten, war der Tisch leer.
Auf meiner Brust lastet ein Druck. Ich kann es nicht leugnen. Zehn Tage lang haben wir unter einem Dach gelebt, und du hast kaum gesprochen, Dov. Wie zwei Zeiger einer Uhr bewegen wir uns durch die vierundzwanzig Stunden: Gelegentlich überschneiden wir uns einen Augenblick, dann gehen wir wieder auseinander, jeder für sich allein. Tag für Tag das Gleiche: der Tee, der angebrannte Toast, die Krümel, das Schweigen. Du auf deinem Stuhl, ich auf meinem. Nur heute nicht, als ich nach dem Aufwachen zum ersten Mal im Flur hüstelte, die Küche betrat und niemand da war. Dein Stuhl war leer. Die Zeitung noch in ihrer Hülle draußen vor der Tür.
Ich hatte mir geschworen abzuwarten, bis du bereit wärst, ich wollte dich nicht drängen. Gestern ging ich in den Garten und sah dich dort stehen, eine seltsame Steifheit in deiner Haltung, als hättest du ein hölzernes Tragjoch auf den Schultern, wie die alten Holländer, nur dass es bei dir kein Wasser war, sondern ein Schwall von Gefühlen, den du nicht überschwappen lassen wolltest. Ich versuchte, dich nicht zu stören. Ich fürchtete, das Falsche zu sagen, also habe ich nichts gesagt. Aber ich schwinde dahin, werde jeden Tag ein bisschen weniger. Nur ein ganz kleines bisschen, fast unmerklich, aber trotzdem spüre ich, wie das Leben mir entgleitet. Du brauchst mir nicht zu erzählen, was du mir nicht erzählen willst. Ich werde dich nicht fragen, was vorgefallen ist, warum du dein Richteramt niedergelegt und das Einzige, was dich all die Jahre mit dem Leben verbunden hat, plötzlich aufgegeben hast. Ich kann damit leben, es nicht zu wissen. Aber eins muss ich wissen: warum du zu mir zurückgekehrt bist. Das muss ich fragen. Wirst du mich besuchen, wenn ich einmal gegangen bin? Wirst du hin und wieder kommen und dich zu mir setzen? Es ist absurd, ich werde ein Nichts sein, eine Handvoll leblose Materie, und trotzdem habe ich das Gefühl, es würde mir den Abgang erleichtern, wenn ich wüsste, dass du manchmal vorbeikommst. Dass du gelegentlich den Rand um den Grabstein kehrst, einen Stein aufnimmst, um ihn zu den anderen zu legen. Sofern es andere gibt. Es wäre schön, einfach nur zu denken, dass du kommen würdest, und sei es einmal im Jahr. Ich weiß, wie das klingt, wo ich an dem Vergessen, das mich erwartet, doch nie gezweifelt habe. Am Anfang, als ich mit meinen kleinen Wanderungen durch das Tal des Todes begann und diesen Wunsch in mir entdeckte, war ich selbst überrascht. Ich erinnere mich noch genau, wie es passiert ist. Uri kam eines Morgens, um mich zum Augenarzt zu bringen. Über Nacht hatte sich ein kleiner dunkler Fleck in der Sicht meines rechten Auges eingenistet. Es war nur ein Punkt, aber diese kleine Lücke machte mich verrückt, alles, was ich sah, wurde davon in Mitleidenschaft gezogen. Ich geriet in Panik. Was, wenn ein zweiter Fleck auftauchte, und dann noch einer? Ich kam mir vor wie lebendig begraben, unter einer Schaufel Erde nach der anderen, bis nur noch ein Stich Licht übrig blieb, und dann nichts mehr. Nachdem ich mich in Zustände versetzt hatte, rief ich Uri an. Eine Stunde später meldete er sich, er habe mir einen Termin besorgt und komme mich abholen. Wir fuhren zum Doktor, es war alles nicht so schlimm, nichts Ernstes, danach stiegen wir ins Auto, um nach Hause zu fahren. Unterwegs flog aus dem Nichts ein Stein an die Windschutzscheibe. Es tat einen fürchterlichen Schlag. Der Knall fuhr uns durch alle Glieder, und Uri stieg auf die Bremse. Wir saßen schweigend da, wagten kaum zu atmen. Die Straße war leer, keine Menschenseele weit und breit. Wie durch ein Wunder, das begriffen wir erst langsam, war die Scheibe nicht zerbrochen. Das einzige Zeichen war eine geborstene Stelle, groß wie ein Fingerabdruck, fast genau zwischen meinen Augen. Dann entdeckte ich den Stein, sah ihn in der Vertiefung für die Scheibenwischer liegen. Hätte er das Glas durchschlagen, wäre es vielleicht mein Tod gewesen. Mit zitternden Beinen stieg ich aus dem Auto und nahm den Stein. Er füllte meine Handfläche, und als ich die Finger um ihn schloss, passte er genau in meine Faust. Das ist der erste, dachte ich. Der erste Stein zu meinem Grab. Der erste, der sich wie ein Punkt ans Ende meines Lebens setzt. Bald werden die Trauernden Stein um Stein bringen, um den langen Satz, der mein Leben war, an seiner letzten, abgewürgten Silbe zu verankern –
Und da, mein Kind, dachte ich an dich. Ich merkte, wie wenig es mich kümmerte, ob die anderen kommen würden. Dass der einzige Stein, den ich mir wünschte, deiner war, Dov. Der Stein, der einem Juden so vieles bedeuten kann, aber in deiner Hand nur eins bedeuten konnte.
Mein Kind. Meine Liebe und mein Bedauern, die du warst, als du dich das erste Mal meinen Augen dargeboten hast, ein winziges uraltes Männlein, das noch keine Zeit gehabt hatte, seine alten Züge abzustreifen, nackt und missgestaltet in den Armen der Schwester. Dr. Bartov, mein alter Freund, der gegen die Vorschriften verstieß, damit ich dabei sein konnte, wandte sich an mich und fragte, ob ich die Nabelschnur durchtrennen wolle, diese aufgequollene, weißblaue, gewundene Verbindung, so viel dicker, als ich sie mir je vorgestellt hatte, eher wie ein Seil, mit dem man ein Boot festbindet, und ohne nachzudenken, sagte ich ja. Einfach so, sagte er, der es schon tausendmal gemacht hatte. So machte ich es denn, und plötzlich tanzte sie wie eine Schlange in meinen Händen, Blut spritzte durch den Raum, berieselte die Wände wie am Tatort eines Verbrechens, und du öffnetest die Augen, ich schwöre es, du öffnetest deine feuchten kleinen Augen und sahst mich an, als wolltest du dir das Gesicht dessen, der dich von ihr getrennt hatte, unauslöschlich ins Gedächtnis einprägen. In diesem Moment erfüllte mich etwas. Wie unter einem in mich geleiteten Druck, der alles ausdehnte, von innen gegen die Wände drückte, eine Art innere Belagerung, wenn so etwas denkbar ist, und ich hatte das Gefühl, von alledem zu explodieren, von Liebe und Bedauern, Dov, Liebe und Bedauern, wie ich sie nie für möglich gehalten hatte. In dem Augenblick habe ich erstaunt begriffen, dass ich dein Vater geworden war. Es war ein kurzes Staunen, denn gleich darauf begann deine Mutter zu bluten, eine Schwester hob dich hinweg und eilte mit dir davon, während die andere mich aus der Tür schob und im Wartezimmer ablieferte, wo die Männer, die ihre Neugeborenen noch nicht gesehen hatten, auf meine blutigen Schuhe und bebenden Lippen starrend, zu husten und zu zittern begannen.
Du sollst wissen, dass ich es nie aufgegeben habe, dein Vater zu sein, Dovik. Manchmal, wenn ich zur Arbeit fuhr, habe ich laut mit dir gesprochen. Dir Begründungen vorgetragen und mit dir diskutiert. Oder mich mit dir über einen schwierigen Fall beraten. Oder dir einfach von der Plage mit den Blattläusen auf meinen Tomaten erzählt, von dem Omelett, das ich mir eines Morgens in aller Frühe machte, bevor deine Mutter aufgewacht war, und allein in der heiteren Stille unserer Küche aß. Und als sie krank wurde, warst du es, mit dem ich sprach, während ich auf harten Plastikstühlen wartete, bis sie aus irgendeiner Tür von der nächsten Untersuchung, der nächsten Behandlung, dem nächsten Test erschien. Ich machte dich zu meinem kleinen Mann im Kopf und redete, als könntest du mich hören. Beim zweiten Sprengstoffanschlag auf einen Bus der Linie 18 war ich nur zwei Straßenecken weit entfernt. Blut, so viel Blut, Dovi. Die Reste waren überall verstreut. Ich sah, wie der Sondertrupp der Orthodoxen eintraf, wie sie begannen, die zerfetzten Toten einzusammeln, Winzigkeiten mit Pinzetten vom Gehsteig kratzten, auf Leitern stiegen, um einen Fetzen Ohr von einem hohen Ast zu nehmen, den Daumen eines Kindes von einem Balkon zu holen. Danach konnte ich mit niemandem darüber sprechen, nicht einmal mit deiner Mutter, aber ich sprach mit dir. Chesed schel emet, wahre Güte, nennen sie sich, diejenigen, die in Kippot und gelben Leuchtwesten herbeieilen, immer als Erste da, um die Sterbenden während ihres Hinscheidens in der Schockstille zu halten, um das Kind ohne Gliedmaßen zu bergen. Wahre Güte, weil die Toten ihnen diesen Liebesdienst nicht danken können. Ja, mit dir habe ich gesprochen, wenn ich aus Albträumen erwachte. An dich das Wort gerichtet, wenn ich mich beim Rasieren im Spiegel anschaute. Ich fand dich überall, an den unwahrscheinlichsten Orten versteckt, und obwohl ich mich anfangs fragte, wieso, habe ich es bald genug gemerkt: Ich glaubte, dass ich von dir, von deinem Beispiel etwas lernen konnte. Von dir, der du immer so begabt darin warst, aufzugeben, loszulassen, leichter und leichter zu werden, weniger und weniger, um einen Freund nach dem anderen weniger, einen Vater weniger, eine Frau weniger, und jetzt hast du sogar dein Richteramt aufgegeben, es ist fast nichts mehr da, was dich an die Welt bindet, du kommst mir vor wie eine Pusteblume, der nur ein oder zwei Flugschirme geblieben sind, wie einfach wäre es für dich, mit einem kleinen Huster, einem kleinen Seufzer auch den letzten wegzupusten –
Plötzlich wird mir angst, Dov. Mich fröstelt, eine Kälte zieht mir ins Blut. Diesmal glaube ich ausnahmsweise zu verstehen. Was ich verstehe? Ist es möglich, dass du gekommen bist, um dich noch einmal zu verabschieden? Dass du zu guter Letzt ein Ende setzen willst?
Warte, Dovik. Geh nicht. Erinnere dich, wie ich dich abends ins Bett brachte, und immer wolltest du noch eine Frage? Wohin geht die Sonne in der Nacht? Was fressen die Wölfe? Warum gibt es mich nur einmal?
Noch eine Frage, Dovik. Noch ein Lied. Noch fünf Minuten.
Was würde sie tun?
Wo bist du? Dein ganzes Leben habe ich danach gefragt.
Ich ziehe meine Schuhe an. Ich falle auf die Knie. Ich werde es nie mehr erwähnen.
Ich werde tun, was deine Mutter getan hätte. Ich rufe sämtliche Krankenhäuser an.