75
Schließ die Augen

Der Bildschirm zeigte, wie Scott Ashton durch die rückwärtige Tür hinter den Bankgruppen eintrat und sie mit einem dumpfen Schlag schloss. In einer Hand hielt er die kleine Fernbedienung. Die Mädchen hatten fast alle Plätze auf den Bänken besetzt – einige saßen normal, einige seitlich, einige in Yogahaltung mit überschlagenen Beinen, einige knieten. Manche schienen in Gedanken versunken, doch die meisten unterhielten sich angeregt, die einen lauter, die anderen leiser.

Das Überraschende für Gurney war, wie normal alle wirkten. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie die meisten anderen, mit sich beschäftigten weiblichen Teenager auch, und nicht wie die Insassinnen einer mit Stacheldraht abgezäunten Erziehungsanstalt. Die Kamera fing nichts von der Bösartigkeit des Verhaltens ein, das sie hierher gebracht hatte. Wahrscheinlich konnte man erst bei einem genaueren Blick in ihr Gesicht erkennen, dass in diesen Schülerinnen mehr Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit und Sexbesessenheit schlummerte als in gewöhnlichen jungen Frauen. Letztlich war es wie bei Gurneys Mörderporträts: das Bedrohliche, das Eisige lauerte in den Augen.

Dann erst fiel ihm auf, dass die Schülerinnen nicht allein waren. In jedem der Bankdreiecke befanden sich auch ein oder zwei ältere Personen – die wahrscheinlich unter einer Bezeichnung wie Lehrerin oder Beraterin für die Betreuung und Therapie in Mapleshade zuständig waren. Ganz hinten in einem Winkel stand fast unsichtbar im Schatten Dr. Lazarus mit verschränkten Armen und undurchdringlicher Miene.

Als die Mädchen Ashton bemerkten, sank der Geräuschpegel allmählich. Eine etwas ältere, attraktive Schülerin trat auf den Psychiater zu, der am Ende des Mittelgangs wartete. Sie war groß, blond und mandeläugig.

Gurney beobachtete, wie sich Hardwick nach vorn beugte, um das Geschehen auf dem Monitor zu verfolgen.

»Hast du gesehen, ob er sie gerufen hat?«, fragte Gurney.

»Eine kleine Geste vielleicht. Ein angedeuteter Wink. Warum?«

»Bloß neugierig.«

Auf dem superscharfen Bildschirm waren Ashton und die große Blondine klar zu erkennen, bis hin zu ihren Lippenbewegungen, doch ihre Stimmen blieben undeutlich – Worte und Sätze gingen unter in der Unterhaltung einer Gruppe von Schülerinnen, die in der Nähe saß.

Gurney lehnte sich vor zum Monitor. »Hast du eine Ahnung, was sie reden?«

Hardwick konzentrierte sich auf die Gesichter, den Kopf geneigt, wie um seinem Gehör auf die Sprünge zu helfen.

Das Mädchen sagte etwas und lächelte, Ashton sagte etwas und deutete. Dann schritt er zielstrebig durch den Mittelgang und trat auf eine erhobene Stelle, wahrscheinlich der ehemalige Altarbereich. Dort kehrte er der Kamera den Rücken zu, um sich der Versammlung von Schülerinnen zuzuwenden. Das allgemeine Gemurmel erstarb, und bald herrschte Schweigen.

Gurney schaute Hardwick fragend an. »Hast du was verstanden?«

Er schüttelte den Kopf. »Kein Wort. Er kann alles Mögliche zu ihr gesagt haben. Die Geräuschkulisse war einfach zu laut. Vielleicht könnte ein Lippenleser was erkennen. Ich nicht.«

Auf dem Bildschirm sprach Ashton mit natürlicher Autorität, seine Baritonstimme klang seidig weich und beherrscht und – in dem hallenden gotischen Kirchenschiff – tiefer als üblich.

»Meine Damen.« Er verlieh dem Wort eine fast ehrfürchtige Sanftheit. »Schreckliche Dinge sind geschehen, furchtbare Dinge, und alle sind bestürzt. Wütend, ängstlich, verwirrt und bestürzt. Einige von Ihnen können nicht mehr richtig schlafen. Machen sich Sorgen. Haben schlechte Träume. Und das Schlimmste ist vielleicht, dass wir einfach nicht wissen, was eigentlich los ist. Wir wollen wissen, womit wir es zu tun haben, und niemand sagt es uns.« Ashton strahlte die Aufgewühltheit aus, von der er redete. Er war zum Spiegel der Emotionen im Raum geworden, doch gleichzeitig gelang es ihm, vielleicht durch die fast celloartige Klangfarbe seiner volltönenden Stimme, etwas zutiefst Beruhigendes zu vermitteln.

»Mann, der hat’s drauf.« Hardwick hörte sich an wie ein Nachwuchsgauner, der die Fingerfertigkeit eines überlegenen Taschendiebes bewundert.

»Ein absoluter Profi«, stimmte Gurney zu.

»Nicht so gut wie du, Kumpel.«

Gurney verzog das Gesicht zu einem Fragezeichen.

»Ich wette, der könnte noch was lernen von deinen Auftritten in der Polizeiakademie.«

»Was weißt du denn von …?«

Hardwick zeigte auf den Monitor. »Schsch. Lieber nichts verpassen.«

Ashtons Worte spülten wie klares Wasser über glatte Felsen. »Einige von Ihnen haben nach dem Stand der Ermittlungen gefragt. Wie viel weiß die Polizei, was tut sie, wann wird sie den Schuldigen endlich fassen? Logische Fragen, Fragen, die uns alle bewegen. Bestimmt würde es uns helfen, wenn wir mehr erfahren, wenn wir Gelegenheit haben, unsere Sorgen mitzuteilen, und Antworten auf unsere Fragen bekommen. Deswegen habe ich die für den Fall zuständigen Ermittler gebeten, morgen Vormittag hier in Mapleshade zu erscheinen – um mit uns zu reden, um uns zu erklären, was geschieht und was als Nächstes zu erwarten ist. Sie werden ihre Fragen stellen, und wir werden unsere Fragen stellen. Ich bin sicher, dass es für uns alle ein sehr nützliches Gespräch wird.«

Hardwick grinste. »Wie findest du das?«

»Ich finde, er ist …«

»… aalglatt?«

Gurney zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall versteht er was davon, die Wahrnehmung von Menschen zu lenken.«

Wieder wies Hardwick auf den Bildschirm.

Ashton nahm ein Handy vom Gürtel. Stirnrunzelnd drückte er auf einen Knopf und hielt es sich ans Ohr. Er sagte etwas, doch seine Worte verloren sich im allgemeinen Trubel, weil das Geplapper der Schülerinnen wieder angefangen hatte.

»Kannst du was ausmachen?«

Hardwick beobachtete Ashtons Lippen und schüttelte schließlich den Kopf. »Genau wie vorhin bei der Unterhaltung mit der Blonden. Nicht eine Silbe.«

Nach dem Ende des Gesprächs steckte Ashton das Telefon weg. Weit hinten hob eine Schülerin die Hand. Als Ashton sie nicht sah oder beachtete, erhob sie sich und winkte.

Jetzt nahm er sie wahr. »Ja? Meine Damen … Ich glaube, da will jemand etwas fragen oder anmerken?«

Die Schülerin – es war die mandeläugige Blondine, die Hardwick gerade erwähnt hatte – brachte ihr Anliegen vor. »Ich habe ein Gerücht gehört, dass Hector Flores heute gesehen wurde, hier in der Kapelle. Stimmt das?«

Ashton wirkte ungewöhnlich betroffen. »Was …? Wo haben Sie das her?«

»Ich weiß nicht. Im Haupthaus haben sich auf der Treppe Leute unterhalten – bin mir nicht sicher, wer es war. Ich konnte sie von meinem Platz aus nicht erkennen. Aber eine hat gesagt, dass sie ihn gesehen hat – dass sie Hector gesehen hat. Das macht mir Angst.«

»Wenn es stimmt, wäre das tatsächlich ein Grund zur Angst«, entgegnete Ashton. »Vielleicht kann uns die Schülerin, die meint, ihn gesehen zu haben, mehr darüber erzählen. Schließlich sind wir alle hier. Wer immer das gesagt hat, muss auch hier sein.« In erwartungsvollem Schweigen betrachtete er die Versammlung und ließ lange fünf Sekunden verstreichen, eher er nachsichtig hinzufügte: »Vielleicht macht es manchen Leuten Spaß, furchterregende Gerüchte zu verbreiten.« Dennoch klang er nicht völlig gelassen. »Sonst noch Fragen?«

Eine der jüngeren Schülerinnen hob die Hand. »Wie lang müssen wir noch hier in der Kapelle bleiben?«

Ashton lächelte wie ein liebevoller Vater. »Solange es uns hilft und keine Minute länger. Ich hoffe, dass Sie sich in allen Gruppen über Ihre Gedanken, Sorgen und Gefühle austauschen – vor allem über die Befürchtungen, die Savannahs Tod natürlich ausgelöst hat. Ich möchte, dass Sie sich rückhaltlos aussprechen und die Hilfe in Anspruch nehmen, die Ihnen Ihre Betreuerinnen und Mitschülerinnen bieten können. Dieser Prozess funktioniert. Das wissen wir alle. Vertrauen Sie darauf.«

Ashton verließ das Podium und wanderte durch den Raum, um den Gruppengesprächen auf den Bänken zuzuhören und hier und da ein ermutigendes Wort einzuwerfen. Manchmal schien er aufmerksam zu lauschen, dann wieder in die eigenen Gedanken zu versinken.

Je länger Gurney das Ganze beobachtete, desto stärker fiel ihm wieder das Merkwürdige der Szenerie auf. Auch wenn es säkularisiert war, das Gebäude sah aus, klang, roch und fühlte sich an wie eine Kirche. Ein beunruhigender Gegensatz zu der wilden, hemmungslosen Energie der derzeitigen Mapleshade-Bewohnerinnen und den unwägbaren Möglichkeiten eines komplexen Mordfalls.

Inzwischen setzte Ashton seine gemächliche Runde zwischen den Schülerinnen und Betreuerinnen fort, doch Gurney achtete nicht mehr darauf.

Mit geschlossenen Augen drückte er den Kopf an die samtige Rückenlehne des Stuhls. Er konzentrierte sich ganz auf das Gefühl des Atems, der durch die Nase ein- und ausströmte. So gut es ging, löste er sich von dem unüberschaubaren Wirrwarr in seinem Geist. Fast wäre es ihm gelungen, doch eine kleine Sache wollte nicht verschwinden.

Eine kleine Sache.

Eine Bemerkung von Hardwick, die unbewusst an ihm genagt hatte. Es war die Antwort auf Gurneys Frage, ob er erkennen konnte, was Ashton zu der Blondine sagte, die nach seiner Ankunft in der Kapelle zu ihm getreten war.

Hardwick hatte erwidert, dass Ashtons Worte im allgemeinen Stimmengewirr in der Kapelle nicht zu verstehen waren.

Er kann alles Mögliche zu ihr gesagt haben.

Diese Worte hatten Gurney nicht losgelassen.

Und jetzt kannte er den Grund.

Sie hatten eine Erinnerung ausgelöst, zunächst nur schemenhaft.

Doch jetzt stand sie ihm lebhaft vor Augen.

Ein anderes Mal, an einem anderen Ort. Scott Ashton in ernstem Gespräch mit einer jungen Blondine auf einer ausgedehnten, gepflegten Rasenfläche. Ein Gespräch, das niemand mithören konnte. Ein Gespräch, dessen Worte im Lärm von hundert anderen Stimmen unterging. Ein Gespräch, bei dem Scott Ashton alles Mögliche zu Jillian Perry gesagt haben konnte.

Alles Mögliche. Und damit wurde alles möglich.

Hardwick musterte ihn. »Geht’s dir gut?«

Gurney nickte leicht, als könnte jede heftigere Bewegung die unendlich zarte Kette von Alternativen in seinem Kopf zerreißen.

Er konnte alles Mögliche gesagt haben. Niemand wusste, was er gesagt hatte, denn die Worte waren ungehört verhallt. Was könnte er also gesagt haben?

»Egal, was passiert, gib keine Antwort.«

»Egal, was passiert, mach die Tür nicht auf.«

»Ich hab eine Überraschung für dich, schließ die Augen.«

Gott im Himmel, und wenn er genau das gesagt hatte? »Das wird die größte Überraschung deines Lebens, schließ die Augen.«

Schließe deine Augen
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