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Heimwärts
»Vielleicht hat er tatsächlich nur Quatsch erzählt«, meinte Becker gedehnt.
Als Gurney aus dem klimatisierten Luxus des chauffierten Mercedes’ auf den kochenden Gehsteig vor dem Flughafen trat, telefonierte er gerade mit dem Detective aus Palm Beach und schilderte ihm so wörtlich wie möglich die Unterhaltung mit Ballston.
»Glaube ich nicht«, erwiderte er. »Ich habe einige Erfahrung mit Psychopathen. Und ich wette, dass bei diesem irren Lachen und dem damit verbundenen Bild enthaupteter Frauen was Echtes aus ihm hervorgebrochen ist. Aber wir haben sowieso keine Zeit, lang darüber zu diskutieren. Ich kann Ihnen nur raten, seine Worte ernst zu nehmen und sofort entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.«
»Damit wollen Sie aber nicht andeuten, dass wir den Atlantik abfischen sollen, oder?«
»Der Scheißkerl hat doch ein Boot! Er muss eins haben. Treiben Sie das gottverdammte Boot auf und setzen Sie jeden Techniker darauf an, den Sie aufbieten können. Gehen Sie davon aus, dass er mindestens zwei Leichen in dem Boot transportiert hat und dass es irgendwo Spurenmaterial gibt – in irgendeiner Ritze oder Ecke. Suchen Sie einfach so lang, bis Sie darauf stoßen.«
»Ich hab Sie schon verstanden. Aber um zumindest ein Minimum an Rationalität zu wahren, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir nicht mal wissen, ob Ballston wirklich ein Boot hat. Wir …«
Gurney unterbrach ihn. »Ich sage Ihnen, er hat eins. Wenn in diesem Staat jemand ein Boot hat, dann Ballston.«
»Wie gesagt, wir haben keine Beweise, schon gar nicht dafür, was für eins es sein könnte, wo es sein könnte, wann dieser angebliche Transport von Leichen stattgefunden hat, wer die Toten waren und ob es überhaupt Tote gegeben hat. Das müssen Sie doch verstehen.«
»Darryl, ich muss weitere Anrufe machen. Also noch ein letztes Mal. Er hat ein Boot. Damit hat er die Leichen von mindestens zwei Opfern transportiert. Suchen Sie das Boot und die Beweise. Sofort. Wir müssen diesen Widerling zum Sprechen bringen. Wir müssen rausfinden, was da läuft, verdammt. Diese Sache ist viel größer als Ballston, und ich habe ein ganz schlechtes Gefühl. Ein sehr dringendes ganz schlechtes Gefühl.« Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dauerte Gurney zu lange. »Sind Sie noch da, Darryl?«
»Ich verspreche nichts. Wir tun, was wir können.«
Auf dem Weg durch die endlose Flughafenhalle wählte er Sheridan Klines Nummer. Er erreichte Ellen Rackoff.
»Er ist den ganzen Nachmittag vor Gericht«, verkündete sie. »Darf absolut nicht gestört werden.«
»Was ist mit Stimmel?«
»Ist wahrscheinlich in seinem Büro. Reden Sie lieber mit ihm als mit mir?«
»Eine praktische Notwendigkeit, keine persönliche Vorliebe.« Gurney war bestimmt nicht scharf auf ein Gespräch mit dem notorisch missmutigen Stellvertreter des Bezirksstaatsanwalts. »Was extrem Wichtiges hat sich ergeben, und wenn Sheridan keine Zeit hat, muss Stimmel das in die Hand nehmen.«
»Okay, wählen Sie einfach noch mal diese Nummer. Wenn ich nicht abhebe, wird es zu ihm weitergeleitet.«
Dreißig Sekunden später war Stimmel in der Leitung und strahlte mit seiner Stimme den Charme eines Sumpfs aus.
Mithilfe einiger wesentlicher Details brachte Gurney seine aktuelle Auffassung zu dem Fall zum Ausdruck: Er war potenziell riesig, er verband rücksichtslose Effizienz mit sexuellem Wahnsinn, Hector Flores, Jordan Ballston und die bekannten Toten waren nur die sichtbaren Teile eines noch verborgenen monströsen Zusammenhangs. Wenn fünfzehn bis zwanzig Mapleshade-Absolventinnen verschwunden waren, war damit zu rechnen, dass sie alle vergewaltigt, gefoltert und enthauptet wurden.
Dann kam er zum Schluss: »Entweder Sie oder Kline müssen sich in der nächsten Stunde mit dem Bezirksstaatsanwalt von Palm Beach in Verbindung setzen, um zwei Dinge zu erreichen. Erstens, dass die dortige Polizei sofort genügend Leute abstellt, um Ballstons Boot aufzutreiben und es mit einem Mikroskop abzusuchen. Zweitens, dass der Bezirksstaatsanwalt von Palm Beach voll kooperiert. Sie müssen ihm klarmachen, dass der größere Teil des Falls hier im Staat New York wartet – und dass man möglicherweise irgendeine Abmachung mit Ballston treffen muss, damit wir an Karnala Fashion oder die Organisation herankommen, die hinter dem Ganzen steckt.«
»Meinen Sie, der Bezirksstaatsanwalt in Florida lässt Ballston laufen, bloß um Sheridan das Leben leichter zu machen?« Stimmels Ton ließ erkennen, dass er diese Idee für absurd hielt.
»Ich rede nicht von Laufenlassen. Ballston muss klargemacht werden, dass ihm mit absoluter Sicherheit eine tödliche Injektion winkt, wenn er nicht mitspielt. Und zwar sofort.«
»Und wenn er mitspielt?«
»Wenn er die volle Wahrheit sagt, könnte vielleicht auch ein anderer Ausgang in Betracht gezogen werden.«
»Das wird schwierig.« Stimmel war anzumerken, dass er mit schwierig eigentlich unmöglich meinte.
»Tatsache ist«, antwortete Gurney, »dass Ballstons Geständnis vielleicht unsere einzige Chance ist.«
»Chance worauf?«
»Mehrere junge Frauen sind verschwunden. Wenn wir Ballston nicht knacken, werden wir wahrscheinlich keine von ihnen mehr lebend finden.«
Auf dem zweiten Teil des Heimflugs holten Gurney die schnell wechselnden Belastungen des Tages ein, und sein Gehirn schaltete allmählich ab. Während die Motoren wie weißes Rauschen in seinen Ohren dröhnten und seinen Bezug zur Gegenwart lösten, driftete er durch unangenehme Szenen und zusammenhanglose Momente, die ihm seit über zehn Jahren nicht mehr eingefallen waren: seine Besuche in Florida, nachdem seine Eltern von der Bronx in einen gemieteten Bungalow in Magnolia gezogen waren, eine kleine Stadt, die wie der Inbegriff von Trostlosigkeit und Verfall erschien; eine braune, mausgroße Kakerlake, die unter das verschimmelte Laub auf der Bungalow-Veranda krabbelte; Leitungswasser, das wie recycelte Jauche stank, aber nach Meinung seiner Eltern völlig geschmacklos war; die bitteren, tränenreichen Klagen seiner Mutter über ihre Ehe, über seinen Vater, über den Egoismus seines Vaters, über ihre Migräne, über ihre sexuelle Frustration.
Verstörende Träume, dunkle Erinnerungen und zunehmende Deyhdrierung versetzten Gurney im weiteren Verlauf des Flugs in einen Zustand angespannter Depression. Gleich nach der Landung in Albany kaufte er eine Literflasche Wasser zum überhöhten Flughafenpreis und trank sie noch auf dem Weg zur Toilette halb leer. In der relativ geräumigen, für Rollstuhlfahrer ausgelegten Kabine zog er Jeans, Polohemd und Mokassins aus. Schnell nahm er seine ursprünglichen Kleider aus der Giacomo-Schachtel und schlüpfte hinein. Die schicken Klamotten stopfte er in die Schachtel und warf sie nach dem Verlassen der Kabine in einen Mülleimer. Am Waschbecken spülte er sich das Gel aus den Haaren. Nachdem er es grob mit einem Papiertuch getrocknet hatte, vergewisserte er sich mit einem Blick in den Spiegel, dass er wieder der Alte war.
Auf der Uhr des Parkschalters war es exakt 18.00 Uhr, als er die Gebühr von zwölf Dollar entrichtete und der gelb gestreifte Schlagbaum nach oben ging. Während er den Weg zur Route 88 einschlug, schien gleißend die späte Sonne durch seine Windschutzscheibe.
Als er die Abfahrt zur Landstraße erreichte, die durch die nördlichen Catskills nach Walnut Crossing führte, war eine Stunde vergangen, er hatte die Flasche ausgetrunken und fühlte sich wieder besser. Es überraschte ihn immer wieder, dass ihn eine einfache Sache wie Wasser so beruhigen konnte. Allmählich schritt seine emotionale Wiederherstellung voran, und als er auf die kleine Straße bog, die sich durch die Hügel hinauf zu seinem Farmhaus wand, war er schon fast wieder normal.
Bei seiner Ankunft in der Küche nahm Madeleine gerade einen Bräter aus dem Rohr. Sie stellte ihn auf den Herd und betrachtete Gurney mit hochgezogener Augenbraue. »Das ist jetzt ein Schock.«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen.«
»Möchtest du was essen?«
»Ich hab dir doch geschrieben, dass ich rechtzeitig zum Abendessen wieder da bin, und hier bin ich.«
»Gratuliere.« Sie nahm einen zweiten Teller aus einem Hängeschrank und stellte ihn neben den auf der Arbeitsplatte.
Er kniff die Augen zusammen. »Vielleicht fangen wir noch mal von vorn an. Soll ich rausgehen und wieder reinkommen?«
Sie antwortete mit einer ausgedehnten Parodie seines Blicks, dann wurden ihre Züge weicher. »Du hast recht. Du bist hier. Nimm dir Messer und Gabel raus, dann essen wir. Ich hab Hunger.«
Sie häuften sich gebratenes Gemüse und Hähnchenschenkel auf die Teller und trugen sie zum runden Tisch an der Terrassentür.
»Es ist bestimmt warm genug, um aufzumachen.«
Er folgte ihrer Anregung.
Als sie sich setzten, wehte süß duftende Luft herein. Madeleine schloss die Augen, und langsam zog ein Lächeln über ihr Gesicht. Gurney glaubte, in der Stille das leise Gurren von Tauben aus den Bäumen hinter der Wiese zu hören.
»Herrlich, herrlich, herrlich«, flüsterte Madeleine. Dann schlug sie mit einem zufriedenen Seufzen die Augen auf und fing an zu essen.
Mindestens eine Minute verging, bis sie wieder redete. »Also, wie war dein Tag?« Sie musterte ein Stück Pastinake an der Spitze ihrer Gabel.
Stirnrunzend überlegte er.
Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
Schließlich stellte er die Ellbogen auf den Tisch und hakte die Finger vor dem Kinn ineinander. »Mein Tag. Na ja. Der Höhepunkt war, wie sich der Psychopath vor Kichern nicht mehr halten konnte, weil ihm was Lustiges eingefallen ist. Was Lustiges, bei dem es um zwei Frauen ging, die er vergewaltigt, gefoltert und enthauptet hat.«
Sie presste die Lippen zusammen.
Nach einer Weile fügte er hinzu. »Ja, so ein Tag war das heute.«
»Hast du erreicht, was du dir vorgenommen hattest?«
Langsam fuhr er sich mit dem Knöchel des Zeigefingers über den Mund. »Ich glaube schon.«
»Heißt das, du hast den Fall Perry gelöst?«
»Es ist wohl ein Teil der Lösung.«
»Eine gute Nachricht.«
Lange herrschte Schweigen.
Dann stand Madeleine auf und sammelte Teller und Besteck ein. »Sie hat heute angerufen.«
»Wer?«
»Deine Klientin.«
»Val Perry? Du hast mit ihr gesprochen?«
»Sie hat gesagt, dass du sie angerufen hast, dass sie aber nur deine Festnetznummer hat und nicht die vom Handy.«
»Und?«
»Sie wollte dir ausrichten, dass du sie wegen dreitausend Dollar nicht extra informieren musst. ›Er kann ausgeben, so viel er will, Hauptsache, er findet Hector Flores.‹ Ein wörtliches Zitat. Klingt nach einer idealen Klientin.« Scheppernd ließ sie das Geschirr in die Spüle gleiten. »Mehr kann man sich doch gar nicht wünschen. Ach übrigens, weil wir gerade von Enthauptung reden …«
»Was?«
»Der Mann in Florida, der Frauen enthauptet … das hat mich daran erinnert, dass ich dich nach der Puppe fragen wollte.«
»Welche Puppe?«
»Die oben.«
»Oben?«
»Ist das ein Echospiel?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ich meine die Puppe auf dem Bett im Nähzimmer.«
Kopfschüttelnd kehrte er die Hände nach außen.
Ihre Augen flackerten beunruhigt. »Die Puppe. Die kaputte Puppe. Auf dem Bett. Du weißt nichts davon?«
»Du meinst so eine Puppe für kleine Mädchen?«
Ihre Stimme wurde lauter. »Ja, David! Eine Puppe für kleine Mädchen!«
Hastig steuerte er auf die Treppe zu, und nach wenigen Sekunden stand er in der Tür des Gästezimmers, das Madeleine für Handarbeiten benutzte. Die Abenddämmerung warf nur noch einen trüben, grauen Schein über das Doppelbett. Er drückte auf den Schalter, und eine helle Bettlampe bot ihm die nötige Beleuchtung.
An einem Kissen lehnte in sitzender Haltung eine unbekleidete Puppe, die nichts Ungewöhnliches an sich hatte bis auf die Tatsache, dass ihr Kopf nicht auf den Schultern saß, sondern einen halben Meter davor auf der Bettdecke, den Blick auf den Körper gerichtet.