58
Handeln
Um zwei vor elf machte Gurney den zweiten Anruf. Nach dem dritten Läuten wurde abgenommen.
»Hier Jordan.« Die Stimme klang starrer und älter als die Aufnahme.
Gurney grinste. Offenbar war Karnala wirklich das Zauberwort. Dass er es auf Anhieb erraten hatte, löste einen Adrenalinstoß aus. Er fühlte sich, als hätte er Zutritt zu einem Turnier mit hohen Einsätzen bekommen, das sich darum drehte, aus dem Verhalten des Gegners die Spielregeln zu erschließen. Er schloss die Augen und schlüpfte in die Rolle einer Schlange, die sich als harmlos ausgab.
»Hallo Jordan. Wie geht es Ihnen so?«
»Gut.«
Gurney schwieg.
»Was … was wollen Sie?«
»Wissen Sie das nicht?«
»Was? Mit wem spreche ich?«
»Ich bin Polizeibeamter, Jordan.«
»Mit der Polizei rede ich nicht. Das wurde klar und deutlich …«
Gurney schnitt ihm das Wort ab. »Nicht einmal über Karnala?«
Eine Pause entstand. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
Gurney seufzte und saugte gelangweilt an den Zähnen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, wiederholte Ballston.
Wenn das so wäre, dachte Gurney, hätte er das Telefonat längst beendet. Oder es gar nicht erst entgegengenommen. »Also, Jordan, die Sache ist die: Wenn Sie bereit wären, Informationen weiterzugeben, könnte vielleicht was zu Ihrem Vorteil arrangiert werden.«
Ballston zögerte. »Hören Sie, äh, warum sagen Sie mir nicht einfach Ihren Namen, Officer?«
»Das ist keine gute Idee.«
»Bitte? Ich …«
»Ich wollte nur mal die Fühler ausstrecken, Jordan. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Nicht ganz.«
Gurney seufzte erneut, als wäre ihm das Reden eine Last. »Ein offizielles Angebot kann nur gemacht werden, wenn klar ist, dass es dann auch ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Die Bereitschaft zum Weitergeben nützlicher Informationen über Karnala Fashion könnte die Haltung des Staatsanwalts zu Ihrem Fall entscheidend verändern, aber bevor wir uns über die Möglichkeiten unterhalten können, müssen wir den Eindruck gewinnen, dass Sie kooperieren. Das verstehen Sie bestimmt.«
»Nein, überhaupt nicht.« Ballstons Stimme war brüchig.
»Nein?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe noch nie von Caramel Fashion gehört, oder wie das Ding heißt. Deswegen kann ich Ihnen auch nichts darüber erzählen.«
Gurney lachte leise. »Hervorragend, Jordan. Wirklich hervorragend.«
»Ich meine es ernst. Ich weiß nichts über die Firma oder den Namen.«
»Gut zu wissen.« Gurney ließ einen Hauch Reptil in seine Stimme kriechen. »Gut für Sie. Gut für alle.«
Das Reptil schien eine durchschlagende Wirkung zu haben. An Ballstons Ende der Leitung blieb es totenstill.
»Sind Sie noch da, Jordan?«
»Ja.«
»Dann hätten wir diesen Teil schon mal erledigt.«
»Diesen Teil?«
»Diesen Teil der Situation. Aber wir müssen uns noch über mehr unterhalten.«
Wieder zögerte er. »Sie sind gar kein Cop, oder?«
»Natürlich bin ich ein Cop. Warum sollte ich mich als Cop vorstellen, wenn ich keiner bin?«
»Wer sind Sie, und was wollen Sie?«
»Ich will Sie besuchen.«
»Mich besuchen?«
»Ich steh nicht so auf Telefonieren.«
»Ich verstehe nicht, was Sie wollen.«
»Nur eine kleine Unterhaltung.«
»Worüber?«
»Schluss mit dem Quatsch. Sie sind doch clever. Verkaufen Sie mich nicht für blöd.«
Erneut herrschte betroffenes Schweigen. Gurney glaubte ein leichtes Zittern in Ballstons Atem zu hören. Als er wieder sprach, hatte er die Stimme zu einem ängstlichen Flüstern gesenkt. »Hören Sie, ich bin nicht sicher, wer Sie sind, aber … alles ist unter Kontrolle.«
»Gut. Alle werden froh sein, das zu hören.«
»Ganz ehrlich. Alles … ist … unter … Kontrolle.«
»Gut.«
»Dann müssen wir doch nicht mehr …«
»Eine kleine Unterhaltung. Unter vier Augen. Wir wollen bloß sichergehen.«
»Sicher? Aber warum? Ich meine …«
»Wie gesagt, Jordan … ich steh nicht auf diese Scheißtelefoniererei!«
Stille. Ballston schien kaum mehr zu atmen.
Gurneys Ton wurde wieder samtig weich. »Okay, kein Grund zur Sorge. Wir machen es so. Ich komme zu Ihnen. Wir reden ein paar Takte. Das ist alles. Verstanden? Alles kein Problem. Ganz locker.«
»Wann soll das sein?«
»In einer halben Stunde?«
»Heute Abend noch?« Ballstons Stimme war kurz davor zu brechen.
»Ja, Jordan, heute Abend. Ist doch klar, wenn ich in einer halben Stunde sage.«
Aus Ballstons Wortlosigkeit schlug Gurney die nackte Angst entgegen. Der ideale Moment, um das Gespräch zu beenden. Er unterbrach die Verbindung und legte das Telefon auf den Esstisch.
In der Küchentür stand Madeleine im Schlafanzug. Das Oberteil passte nicht zur Hose. »Was ist los?« Sie blinzelte schläfrig.
»Ich glaube, wir haben einen Fisch an der Angel.«
»Wir?«
Mit einem Anflug von Gereiztheit verbesserte er sich. »Der Fisch in Palm Beach hat anscheinend angebissen.«
Sie nickte nachdenklich. »Und jetzt?«
»Wird er eingeholt. Was sonst?«
»Aber mit wem triffst du dich?«
»Wie?«
»In einer halben Stunde.«
»Ach so, das hast du gehört. Nein, ich treffe mich mit niemandem in einer halben Stunde. Ich wollte Mr Ballston nur den Eindruck vermitteln, dass ich in der Gegend bin. Um seine Unruhe zu schüren. Ich hab gesagt, dass ich zu ihm komme, damit er denkt, ich fahre vielleicht von Manalapan oder South Palm aus hin.«
»Und was ist, wenn du nicht auftauchst?«
»Dann macht er sich Sorgen. Schläft schlecht.«
Madeleine wirkte skeptisch. »Und dann?«
»Das hab ich mir noch nicht so genau überlegt.«
Obwohl das zum Teil zutraf, spürte Madeleine anscheinend, dass seine Bemerkung nicht ganz ehrlich war. »Du hast doch einen Plan.«
»Irgendwie schon.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als mit der Sprache herauszurücken. »Ich muss näher an ihn ran. Es ist klar, dass er eine Verbindung zu Karnala Fashion hat und dass das eine gefährliche Verbindung ist, die ihm Angst macht. Aber ich muss noch viel mehr rausfinden: Was für eine Verbindung das genau ist, worum es bei Karnala geht, wie Karnala und Jordan Ballston mit den anderen Elementen des Falls zusammenhängen. Am Telefon ist das nicht zu schaffen. Ich muss ihm in die Augen schauen, in seinem Gesicht lesen, seine Körpersprache beobachten. Außerdem muss ich die Gunst der Stunde nutzen, solange der Scheißkerl am Haken hängt und sich windet. Im Moment arbeitet seine Angst für mich. Aber das wird nicht so bleiben.«
»Du fliegst also nach Florida?«
»Heute nicht mehr. Morgen vielleicht.«
»Vielleicht?«
»Sehr wahrscheinlich.«
»Dienstag.«
»Genau.« Er überlegte, ob er etwas vergessen hatte. »Haben wir da schon eine andere Verabredung?«
»Was würde das für einen Unterschied machen?«
»Haben wir eine Verabredung?«
»Wie gesagt, was würde das für einen Unterschied machen?«
Eine einfache Frage und doch so schwer zu beantworten. Vielleicht weil Gurney sie stellvertretend für die größeren Fragen hörte, die Madeleine in diesen Tagen offenbar ständig durch den Kopf gingen: Werden unsere gemeinsamen Pläne je eine Rolle spielen? Wird ein Stück unseres gemeinsamen Lebens je bedeutender sein als der nächste Schritt in irgendeiner Ermittlung? Wird unser Zusammensein je mehr Gewicht haben als die kriminalistische Arbeit? Oder wird die Verbrecherjagd immer den Kern deines Lebens ausmachen?
Doch vielleicht interpretierte er einfach zu viel in eine mürrische Bemerkung hinein, in eine flüchtige Laune mitten in der Nacht. »Sag mir einfach, ob ich für morgen was ausgemacht habe, was mir entfallen ist, dann kann ich dir deine Frage beantworten.«
»Du bist immer so vernünftig.« Sie mokierte sich über seinen Ernst. »Ich geh wieder ins Bett.«
Nachdem sie verschwunden war, fühlte er sich ganz durcheinander. Er trat zu dem unbeleuchteten Sitzbereich zwischen Steinkamin und Holzofen. Die Luft roch nach kalter Asche. Er ließ sich in den dunklen Ledersessel sinken. Er war verunsichert, ohne festen Halt. Ein Mann ohne Anker.
Dann schlief er ein.
Um zwei Uhr morgens wachte er auf. Er schob sich aus dem Sessel, streckte Arme und Rücken, um die Verspannungen loszuwerden.
Seine gewohnten Gedankengänge hatten sich wieder eingestellt und anscheinend alle Zweifel über seine Pläne für den kommenden Tag beseitigt. Mit seiner Kreditkarte in der Hand setzte er sich an den Computer im Arbeitszimmer und tippte »Flüge von Albany nach Palm Beach« in die Suchzeile.
Während sein Ticket für Hin- und Rückflug zusammen mit einem Reiseführer für Palm Beach ausgedruckt wurden, stellte er sich unter die Dusche. In einer Notiz versprach er Madeleine, am Abend gegen sieben wieder zu Hause zu sein, und fünfundvierzig Minuten später war er nur mit Brieftasche, Handy und seinen Ausdrucken auf dem Weg zum Flughafen.
Während der knapp hundert Kilometer langen Fahrt auf der Route 88 führte er vier Telefongespräche. Zuerst mit einem rund um die Uhr geöffneten, hochwertigen Limousinenservice, um sich in Palm Beach von einem passenden Wagen abholen zu lassen. Als Nächstes mit Val Perry, weil er seine Absicht, ihr Geld für teure, aber notwendige Besorgungen auszugeben, dokumentieren wollte, wenn auch nur mithilfe einer in den frühen Morgenstunden hinterlassenen Mailbox-Nachricht.
Sein dritter Anruf um 4.20 Uhr galt Darryl Becker. Erstaunlicherweise meldete sich Becker und klang hellwach – oder zumindest so hellwach, wie jemand mit Singsang für nördliche Ohren klingen konnte.
»Bin gerade auf dem Sprung zum Fitnessstudio. Was gibt’s?«
»Ich habe gute Nachrichten, und Sie müssen mir einen großen Gefallen tun.«
»Wie gut und wie groß?«
»Ich hab Ballston einen schweren Haken verpasst und anscheinend eine empfindliche Stelle getroffen. Bin unterwegs zu ihm, um zu sehen, was passiert, wenn ich ihm weiter zusetze.«
»Er redet nicht mit Cops. Wie sind Sie denn zu ihm durchgedrungen?«
»Lange Geschichte, aber der Schweinehund geht schon in die Knie.« Gurney klang viel zuversichtlicher, als er es in Wirklichkeit war.
»Bin beeindruckt. Und was ist das für ein Gefallen?«
»Ich brauche zwei große Kerle, Sie wissen schon, so richtig fiese Kleiderschränke, die bei meinem Auto stehen, solange ich in Ballstons Haus bin.«
Becker klang perplex. »Haben Sie Angst, dass es geklaut wird?«
»Ich möchte eine bestimmte Wirkung erzielen.«
»Und wann soll diese Wirkung erzielt werden?«
»Heute gegen Mittag. Übrigens ist die Bezahlung ziemlich gut. Sie kriegen pro Nase fünfhundert Dollar für eine Stunde Arbeit.«
»Dafür, dass sie beim Auto stehen?«
»Dafür, dass sie beim Auto stehen und wie Mafiaschläger aussehen.«
»Für fünfhundert die Stunde lässt sich das arrangieren. Sie können sie in meinem Fitnessstudio in West Palm abholen. Ich geb Ihnen die Adresse.«