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Nichts Schriftliches
Gurney kam erst weit nach Mitternacht nach Hause, und der wenige Schlaf, den er fand, war nicht der Rede wert.
Als er am nächsten Morgen mit Madeleine beim Kaffee saß, führte er seine Rastlosigkeit auf seinen Verdacht gegen »Jykynstyl« und die zunehmende Intensität des Falls Perry zurück. Ohne es zu erwähnen, führte er sie auch auf die chemischen Substanzen zurück, die er unwissentlich zu sich genommen hatte.
»Du hättest ins Krankenhaus gehen sollen.«
»Ich bin bald wieder in Ordnung.«
»Vielleicht legst du dich noch mal hin.«
»Viel zu viel los. Außerdem bin ich zu kribbelig zum Schlafen.«
»Was willst du machen?«
»Arbeiten.«
»Du weißt aber, dass heute Sonntag ist.«
»Klar.« In Wirklichkeit hatte er es völlig vergessen. Seine Desorientiertheit machte ihm Angst. Er musste sich mit etwas Konkretem beschäftigen, um Schritt für Schritt einen Weg zur Klarheit zu finden.
»Ruf doch in der Praxis von Dichter an, vielleicht kann er dir heute noch einen Termin geben.«
Er schüttelte den Kopf. Dichter war ihr Hausarzt. Dr. Dichter. Es klang so albern, dass er immer lächeln musste. Nur heute nicht.
»Du sagst doch, dass man dich vielleicht unter Drogen gesetzt hat. Nimmst du das auch ernst genug? Was für eine Droge meinst du denn?«
Er hütete sich, den Geist von Rohypnol zu beschwören. Die sexuellen Assoziationen würden eine Flut von Fragen und Sorgen auslösen, denen er sich derzeit nicht gewachsen fühlte. »Bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich etwas mit Filmrisswirkung, ähnlich wie Alkohol.«
Sie musterte ihn eindringlich, und er fühlte sich völlig nackt.
»Egal, was es war, es hat schon nachgelassen.« Ihm war klar, dass er zu beiläufig klang, zu sehr darauf bedacht, das Thema zu wechseln.
»Vielleicht solltest du ein Gegenmittel nehmen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das besorgt der natürliche Entgiftungsprozess des Körpers. Ich brauche im Moment nur etwas, worauf ich mich konzentrieren kann.« Dieser Gedanke brachte ihn direkt zurück zum Fall Perry, zu dem Telefongespräch mit Hardwick am vergangenen Abend und zu der plötzlichen Einsicht, dass er wegen der Neuigkeiten um Melpomene und Kiki Mullers verwesende Hand ganz den eigentlichen Grund seines Anrufs bei Hardwick vergessen hatte.
Kurz darauf hatte er ihn in der Leitung.
»Skard?«, knarzte Hardwick knatschig. »Ja, der Name ist im Zusammenhang mit Karnala Fashion gefallen. Übrigens haben wir Sonntagmorgen. Verdammte Scheiße, ist das wirklich so dringend?«
Der Umgang mit Hardwick verlief nie reibungslos. Aber wenn man sich auf das Spiel einließ, wurde es einfacher. Ein möglicher Ansatz war, dass man seine Vulgarität überbot. »So dringend, wie wenn dir jemand eine Schrotflinte an die Eier hält.«
Mehrere Sekunden lang schwieg Hardwick, als müsste er überlegen, wie viele Punkte für kunstvolle Ausdrucksweise er vergeben sollte. »Karnala Fashion ist ein komplizierter Laden, kaum festzunageln. Gehört einer anderen Firma, die einer anderen Firma gehört, die einer anderen Firma auf den Kaimaninseln gehört. Verdammt schwer zu sagen, was für Geschäfte die eigentlich betreiben. Aber anscheinend gibt es eine Verbindung nach Sardinien und von dort zur Familie Skard. Und die Skards sollen angeblich ziemlich üble Figuren sein.«
»Angeblich?«
»Damit möchte ich nicht behaupten, dass es da irgendwelche Zweifel gibt. Es gibt nur keinen legalen Beweis dafür. Laut unseren Freunden bei Interpol wurde noch nie ein Mitglied der Familie Skard wegen irgendwas verurteilt. Mögliche Zeugen überlegen es sich jedes Mal anders. Oder sie verschwinden.«
»Karnala Fashion gehört den Skards?«
»Wahrscheinlich. So wie alles bei denen. Was Schriftliches gibt es von ihnen nicht.«
»Aber worum geht es bei Karnala Fashion überhaupt?«
»Das weiß niemand so genau. Wir finden keinen einzigen Stofflieferanten oder Textilhändler, der je mit denen Geschäfte gemacht hat. Sie veröffentlichen zwar Anzeigen für unglaublich teure Frauenmode, aber wir haben keine Beweise entdeckt, dass sie das Zeug auch wirklich verkaufen.«
»Was sagen die Firmenverantwortlichen dazu?«
»Wir können keine Verantwortlichen finden.«
»Verdammt, Jack, wer gibt die Anzeigen auf? Wer bezahlt sie?«
»Läuft alles über E-Mail.«
»Woher kommen die E-Mails?«
»Manchmal von den Kaimaninseln, manchmal aus Sardinien.«
»Aber …«
»Ich weiß. Alles ein einziges Rätsel. Wir sind an der Sache dran. Von Interpol erwarten wir noch Informationen. Auch von der italienischen Polizei. Und von den Kaimaninseln. Heikle Geschichte, weil niemand verurteilt worden ist und die verschwundenen Frauen nicht offiziell vermisst gemeldet sind. Und selbst wenn, würde ihre Verbindung zu Karnala nichts beweisen, und es gibt nichts Schriftliches, was den Zusammenhang zwischen Karnala und den Skards untermauert. Alles nur angeblich, besser wird es nicht. Rechtlich gesehen bewegen wir uns im Nebel durch ein Minenfeld. Dazu kommt, dass der ganze Fall nach deinem Plausch mit dem Bezirksstaatsanwalt gehandhabt wird wie eine Panikattacke.«
»Das heißt?«
»Statt zwei Typen haben wir jetzt gleich ein ganzes Dutzend Leute in diesem Minenfeld, die übereinander stolpern.«
»Das macht dir doch Spaß, Jack, gib’s zu.«
»Du kannst mich mal.«
»Also gut. Dann ist jetzt wohl nicht die richtige Gelegenheit, dich um einen Gefallen zu bitten.«
»Wieso, was schwebt dir vor?« Auf einmal klang er ganz friedlich. In dieser Hinsicht war Hardwick seltsam. Seine Reaktionen waren paradox wie bei einem hyperaktiven Kind, das durch ein Aufputschmittel beruhigt wird. Der beste Zeitpunkt, ihn um einen Gefallen zu bitten, war der, der unter normalen Umständen der schlechteste gewesen wäre, und umgekehrt. Dieses paradoxe Prinzip bestimmte auch sein Verhalten bei Gefahr. Tendenziell betrachtete er sie in jeder Situation eher als positiven Faktor. Im Gegensatz zu den meisten Polizisten, die hierarchisch und konservativ ausgerichtet waren, liebte Hardwick den Nervenkitzel. Er konnte von Glück sagen, dass er noch am Leben war.
»Ein kleiner Regelverstoß.« Zum ersten Mal seit fast vierundzwanzig Stunden hatte Gurney das Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Warum war er nicht schon früher auf Hardwick gekommen? »Man muss vielleicht ein bisschen tricksen.«
»Worum geht es?« Er klang, als wäre ihm gerade ein Überraschungsdessert angeboten worden.
»Sichern von Fingerabdrücken an einem Glas und ihr Abgleich mit der FBI-Datenbank.«
»Aha, lass mich raten: Du willst, dass niemand den Grund für die Sache erfährt, dass keine offizielle Fallakte angelegt wird und dass die Anfrage nicht zu dir zurückverfolgt werden kann.«
»So was in der Richtung.«
»Wann und wo kriege ich das Glas?«
»Wie wär’s in zehn Minuten bei Abelard’s?«
»Gurney, du bist ein arroganter Mistkerl.«