Elftes Kapitel
Meiden Sie jedwedes Jammern, Klagen oder
Schelten. Stattdessen sollten Sie ihm Gründe geben, Ihre Gegenwart
zu genießen.
Eine anonyme Dame, Ratgeber …
Sehr zu Eleanors Freude wurde der Ballonaufstieg
nicht abgesagt. Doch obgleich sie von Damons Sorge um sie wusste,
war sie erstaunt, als er am nächsten Morgen in der Barouche von
Prinz Lazzara am Portman Place vorfuhr, wo er Eleanor und ihre
Tante abholte.
Als sie in die Kutsche stiegen, warf Eleanor ihm
einen fragenden Blick zu, den er mit einem rätselhaften Lächeln
beantwortete.
Seine Hoheit schien den gestrigen Vorfall verwunden
zu haben, wie sie erleichtert feststellte. Man könnte sogar
behaupten, er hätte sich vollständig erholt. Allerdings schien er
beschämt, als er sie begrüßte, und nicht überschwänglich wie sonst.
Unterdes war Signor Vecchi charmant und diplomatisch wie immer. Er
dankte Eleanor nochmals für ihren Mut, seinen Cousin aus dem Fluss
zu retten.
Nachdem das für den Prinzen offensichtlich
peinliche Thema abgehandelt war, hob er begeistert an, ihnen die
Geschichte der Ballonfahrt zu skizzieren.
»Vor über dreißig Jahren begannen mehrere
Franzosen, mit Heißluftballons zu experimentieren«, erklärte
Lazzara. »Und bald gelang es ihnen, den Ärmelkanal zu überfliegen.
Nach einigen fatalen Flügen, bei denen der papierbezogene
Seidenstoff
der Ballons Feuer fing, verlegten sich die Aeronauten auf
Wasserstoffgas, das von dem englischen Wissenschaftler Henry
Cavendish entwickelt wurde, weil gasbetriebene Ballons sicherer
sind und weiter fliegen können.«
»Ist der Ballon, mit dem Sie heute fliegen,
gasbetrieben?«, fragte Lady Beldon sorgenvoll.
»Aber natürlich«, antwortete der Prinz. »Mein
Landsmann, Signor Pucinelli, ist ein führendes Mitglied der
italienischen Wissenschaftselite und ein versierter Aeronaut. Er
bemüht sich, seine Leidenschaft einem größeren Publikum
nahezubringen, und gegenwärtig besucht er England auf Einladung
Ihres Prinzregenten.«
Der heutige Aufstieg würde, wie Lazzara hinzufügte,
auf einer freien Wiese nördlich von London stattfinden. Den frühen
Vormittag hatte man gewählt, weil die Winde um die Tageszeit am
schwächsten wären. Und es versprach ein schöner Tag zu werden.
Strahlender Sonnenschein wärmte die kühle Morgenluft, während weiße
Schäfchenwolken über den blauen Himmel zogen.
Eleanor empfand eine kribbelnde Vorfreude, je näher
sie ihrem Ziel kamen. Sogar Beatrix, die lange vor ihrer üblichen
Zeit aufstehen musste, schien enthusiastisch, weil ihr der Ausflug
mehr Zeit in Signor Vecchis Gesellschaft ermöglichte.
Nach einer Weile jedoch konnte Eleanor nicht umhin,
zu bemerken, dass ihnen zwei grobschlächtig aussehende Männer zu
Pferde folgten. Selbst als die Barouche von der Hauptstraße auf
einen Feldweg abbog, blieben die Reiter hinter ihnen.
»Das sind Bow Street Runners«, raunte Damon
ihr zu. »Ich habe sie als Leibwachen für den Prinzen
angeheuert.«
»Weiß er davon?«
»Ja. Ich hatte gestern Abend ein längeres Gespräch
mit ihm.«
Am liebsten hätte sie Näheres gehört, aber dazu
hatte sie keine Gelegenheit, denn nun erreichten sie ihr
Ziel.
Die Kutsche fuhr seitlich auf eine weite Wiese und
hielt an. Eleanor sah bereits den Ballon etwas entfernt. Die
gigantische, grau-rot gestreifte Kugel erhob sich über zwanzig
Meter in die Luft und wippte sanft in der Morgensonne.
Den Ballon umgab ein Netz aus Seilen, an denen
unten ein Korb hing, der seinerseits mit kräftigen Tauen am Boden
befestigt war. Der Korb war groß, etwa drei mal viereinhalb Meter,
und ähnlich geformt wie Eleanors Kupferbadewanne.
Es hatte sich schon eine kleine Menge versammelt,
die das Spektakel ansehen wollte, und als Prinz Lazzara ihnen
voraus über die Wiese schritt, rief ein dunkelhaariger Gentleman
einer Gruppe von Arbeitern Befehle auf Italienisch zu. Die Männer
machten sich eifrig an Unmengen Fässern, Flaschen und Metallrohren
zu schaffen.
Sowie er den Prinzen erblickte, unterbrach der
Gentleman seine Kommandos und kam herbeigelaufen. Nachdem sich alle
einander vorgestellt hatten, begrüßte Signor Pucinelli Damon mit
einem strahlenden Lächeln und sagte ein paar Worte auf Italienisch
zu ihm, von denen Eleanor glaubte, dass sie hießen, »Lord Wrexham,
wie schön, Sie wiederzusehen.«
Anscheinend kannten sie sich, was sie eigentlich
nicht überraschen sollte, denn immerhin hatte Damon die letzten
zwei Jahre in Italien verbracht.
Sie unterhielten sich einen Moment, dann wandte der
Italiener sich erneut an die gesamte Ausflugsgesellschaft und
erklärte in gebrochenem Englisch die Grundregeln der
Wasserstoffgasherstellung, des Mischens von Eisenspänen und
Vitriolöl – Schwefelsäure, um genau zu sein – sowie die
komplizierte Gerätschaft, die er entworfen hatte, um die
Seidenkugel mit Gas zu füllen. Sie bestand hauptsächlich aus einem
Blechschlauch, der auf die untere Öffnung des Ballons gerichtet
war.
»Das Befüllen ist beinahe abgeschlossen«, sagte der
Ballonfahrer. »Wir können zwei Passagiere nebst meiner Wenigkeit
aufnehmen.«
»Sie wollen aber nicht über die Wiese hinaus
fliegen, nicht wahr?«, fragte Damon.
»Nein, nein, Mylord«, versicherte Pucinelli. »Meine
Arbeiter halten die Gondel an den langen Tauen fest. Sie führen uns
auf dem Feld herum und helfen bei der Landung. Ich gehe davon aus,
zehn, höchstens zwanzig Minuten in der Luft zu bleiben. Alles ist
vollkommen gefahrlos.«
»Es ähnelt dem Schleppen einer Barkasse auf der
Themse«, fügte der Prinz fachmännisch hinzu, »oder dem Ziehen einer
güterbeladenen Gondola auf den Kanälen in Venedig. Einzig werden in
diesem Fall Männer am Boden verhindern, dass der Ballon fortfliegt,
so dass eine Landung auf sicherem, offenem Gelände erfolgen kann.«
Er wandte sich an den Aeronauten. »Donna Eleanora kann es nicht
erwarten, die Freuden des Fliegens zu erleben, Signor.«
Pucinelli strahlte sie an. »Es freut mich
außerordentlich, eine solch furchtlose junge Dame kennenzulernen.
Wenn Sie bitte hier entlang mitkommen wollen …«
Als er zum Ballon zeigte, begab Eleanor sich in
Begleitung von Prinz Lazzara und Damon näher zu dem Fluggerät,
während ihre Tante und Signor Vecchi zurückblieben. Sie wollten aus
einiger Entfernung zuschauen.
»Bist du schon einmal mit einem Ballon geflogen?«,
fragte sie Damon neugierig.
»Ja, und zwar bei meinem letzten Aufenthalt in Rom,
mit Pucinelli.«
Eine Weile standen sie wartend da, während
Pucinelli seine Mannschaft überwachte, die Schläuche abhakte und
Klappen an der Ballonöffnung schloss, bevor sie die Fässer und die
Befüllapparatur sicher verstauten.
Dann endlich winkte er ihnen zu, an Bord zu
steigen, woraufhin Damon Eleanor zu den Holzstufen führte, über die
sie in den Korb steigen sollte. »Du erlaubst, Mylady?«, murmelte
er.
Im nächsten Moment hob er sie hoch, stieg mit ihr
in den Armen die vier Stufen hinauf und ließ sie in den brusthohen
Korb hinunter. Zu ihrer Verwunderung schwang er sich als Nächstes
in den Korb.
»Ich dachte, Prinz Lazzara wäre der zweite
Passagier«, sagte Eleanor, die sah, wie seine Hoheit zu ihrer Tante
und seinem Cousin zurückging.
»Nicht bei diesem Aufstieg«, antwortete Damon
seelenruhig.
Indes bemerkte sie jenes Funkeln in seinen Augen,
das sich immer zeigte, wenn er etwas Unmögliches
vorhatte, und wurde misstrauisch. »Was führst du im Schilde,
Damon?«
»Ich konnte Lazzara überzeugen, am Boden zu
bleiben.«
»Du hast ihn überzeugt …?«
»Ich sagte dir bereits, dass ich nicht
beabsichtige, dich in seine Nähe zu lassen, es sei denn in meiner
Begleitung. Falls jemand ihm Schaden zufügen will, könnte die
Ballonfahrt eine perfekte Gelegenheit für einen Angriff auf ihn
sein.«
Eine plötzliche Böe bewirkte, dass der Ballon an
seinen Tauen zerrte und der Korb ins Schwanken geriet. Eleanor
hielt sich an der Korbkante fest und biss die Zähne zusammen. Damon
war zweifellos um ihre Sicherheit besorgt, aber sie wusste nicht
recht, ob sie seiner Erklärung vertrauen konnte.
»Ist das dein einziger Grund, den Platz des Prinzen
einzunehmen? Oder hegst du nach wie vor die Absicht, seinem Werben
um mich ein Ende zu setzen?«
Damon grinste. »Ich gestehe, dass auch dies eine
Rolle in meinen Überlegungen spielte. Schließlich möchte ich nicht,
dass du ihn heiratest, Elle.«
Verärgert angesichts seiner Nonchalance, sah
Eleanor ihn vorwurfsvoll an. »Wenn Prinz Lazzara nicht mitfliegt,
brauchst du um meine Sicherheit nicht besorgt zu sein, was wiederum
bedeutet, dass du mich ebenso wenig begleiten musst. Um die
Wahrheit zu sagen, ich würde lieber allein mit Signor Pucinelli
aufsteigen.«
Damon neigte den Kopf zur Seite. »Diese
Entscheidung ist nicht mehr verhandelbar, Kleines. Sollte dir meine
Anwesenheit widerstreben, bleiben
wir beide sicher am Boden. Ich kann dich genauso leicht aus dem
Korb heben, wie ich dich hineinhob.«
Sie zögerte. Was Sturköpfigkeit betraf, stand Damon
ihr in nichts nach. »Das wird nicht nötig sein«, sagte sie
schließlich. »Ich möchte die Chance auf einen Ballonflug nicht
versäumen.«
»Das dachte ich mir.«
Der Korb ruckelte noch einmal, so dass Eleanor fast
die Balance verlor. Beide Hände an den Korb geklammert, glaubte
sie, noch eine Windböe hätte den Ballon erfasst und bewirkte, dass
er leicht anstieg. Dann jedoch fiel ihr auf, dass sich der Boden
unter ihnen immer weiter entfernte.
Als Nächstes vernahm sie Damons leisen Fluch,
gefolgt von Signor Pucinellis erschrockenem Ruf. Sie brauchte einen
Moment, ehe sie begriff, was vor sich ging: Der Korb war irgendwie
aus den Tauverankerungen gelöst worden, und nun hielt niemand mehr
die Führleinen. Damon und sie stiegen auf, nur sie beide, ohne
jemanden, der den Ballon lenkte.
Pucinelli kam mitsamt seinen Männern hinter der
aufsteigenden Gondel hinterhergelaufen, doch sie waren zu spät.
Obwohl einer der Arbeiter noch einen waghalsigen Sprung vollführte,
um eines der Taue zu greifen, und es auch tatsächlich packen
konnte, musste er aufgeben, nachdem er mehrere Meter weit über den
Boden geschleift worden war. Als ihm das Tau aus den Händen
gerissen wurde, schoss der Ballon nach oben und flog ins
Blaue.
Von unten drangen entsetzte wie überraschte Rufe zu
ihnen, und Eleanor meinte, die echauffierte Stimme ihrer Tante zu
erkennen. Ihr eigenes Erstaunen über den plötzlichen Aufstieg wurde
hingegen von
einem bestimmten Verdacht gezähmt. »Was ist das, Damon, eine
Entführung?«
Seine Miene degradierte ihre Frage jedoch sogleich
in die Riege gänzlich unsinniger Bemerkungen, bevor er wieder nach
unten sah. »Warum zum Teufel sollte ich deine Sicherheit gefährden,
indem ich eine Entführung dieser Art inszeniere? Ich habe nichts
damit zu tun, Eleanor. Eher würde ich vermuten, dass jemand die
Verankerung löste.«
Als er abermals leise fluchte, blickte Eleanor
hinab und wurde sich der Gefahr inne. Sie waren mindestens
fünfunddreißig Meter über dem Boden, eingefangen in einem
geflochtenen Korb und gehalten von einer Stoffblase, die schon bald
erschlaffen dürfte. Weit unter ihnen sahen die umherirrenden Leute
wie eine Ameisenkolonie aus, während die Wiese, von der sie
aufgestiegen waren, rasch vorüberglitt.
Eleanor wurde auf einmal schwindlig, und ihr Magen
drehte sich. Gleich darauf gaben ihre Knie nach, so dass sie auf
den Boden des Korbs sank und die Stirn gegen die angewinkelten Knie
stützte.
»Du wirst mir jetzt hoffentlich nicht ohnmächtig«,
sagte Damon, der sich halb neben sie kniete.
»Ich glaube, genau das werde ich«, murmelte
sie.
»Tja, nimm dich zusammen, Elle, denn ich brauche
deine Hilfe, wenn wir uns aus dieser misslichen Lage befreien
wollen.«
Ihr fehlte die Kraft, ihm etwas Spitzes zu
erwidern, aber seine Worte halfen ihr. Sobald ihr Magen sich
beruhigt hatte und ihr Schwindelgefühl nachließ, nahm sie Damons
Hand und richtete sich wieder auf.
Vorsichtig lugte sie über den Korbrand und
erblickte London unter sich, mit der Themse, die sich durch die
große Stadt zum Meer schlängelte wie ein hingeworfenes Band. Vor
ihnen lag das Panorama der englischen Landschaft: ein
Flickenteppich aus Wäldern, Feldern und Äckern, der sich bis zum
Horizont erstreckte.
»Gütiger Himmel«, hauchte sie ehrfürchtig. »Was für
ein prachtvoller Ausblick.«
»Ja«, pflichtete Damon ihr bei.
Eleanor atmete langsam aus. Das Gefühl des Fliegens
war anders, als sie erwartet hätte. »Es ist so still«, sagte sie.
»Es fühlt sich an, als würden wir in der Luft hängen.«
»Tun wir nicht. Die Luftströmungen tragen uns
nordwärts. Wir können es bloß nicht fühlen, weil sich der Ballon
mit ihnen bewegt.«
Eleanor lockerte ihren Klammergriff am Korbrand ein
wenig und atmete tief ein. »Nun gut, was soll ich deiner Meinung
nach tun?«
»Hilf mir, einen geeigneten Landeplatz zu
finden.«
»Können wir den Ballon landen?«
»Ich glaube, ich kann die Ventile bedienen...«
Damon griff nach einem der beiden Seile oben, die wie Glockenzüge
aussahen. »Siehst du diese Taue? Sie betätigen die Klappen oben am
Ballon, über die das Gas entweicht. Ich werde eine von ihnen
öffnen, so dass wir langsam an Höhe verlieren. Die Gefahr besteht
darin, dass wir zu schnell sinken, aber dafür sind die Sandsäcke
da. Sie dienen als Ballast.« Er wies auf die vier Ecken des Korbs,
und erstmals bemerkte Eleanor die kleinen Leinensäcke, die dort
aufgestapelt waren.
»Woher weißt du so viel übers Ballonfahren?«,
fragte sie verwundert.
»Ich lese viel. Und wie du weißt, ist dies nicht
meine erste Ballonfahrt.«
»Dennoch bin ich von deinem Wissensschatz
beeindruckt.«
Damon grinste. »Spar dir dein Lob auf, bis wir
sicher am Boden sind. Ich bezweifle, dass unsere Landung sanft sein
wird.«
Deutlicher musste er ihr nicht erklären, in welcher
Gefahr sie schwebten. Sollte er zu viel Gas entweichen lassen,
könnten sie einfach herunterfallen. Und selbst wenn es ihnen
gelang, die Geschwindigkeit ihres Abstiegs zu kontrollieren,
könnten sie immer noch in die Baumwipfel eines Waldstücks stürzen
oder auf ein anderes Hindernis wie beispielsweise ein
Bauernhaus.
Den Blick konzentriert nach unten gerichtet, zog
Damon an einem der Ventiltaue. Außer einem leisen Pfeifgeräusch
über ihnen schien sein Handeln nichts auszurichten. Aber dann
bemerkte Eleanor, dass der Ballon zumindest nicht mehr
aufstieg.
Damon zog nochmals vorsichtig an dem Seil. »Wenn
wir zu schnell absteigen, möchte ich, dass du einen Sandsack
rauswirfst, sobald ich es dir sage.«
Eleanor nickte und bewegte sich seitlich, bis sie
nahe genug an den Leinensäcken war, um sie jederzeit zu
greifen.
Es folgte eine längere Stille, in der Damon zu
ermessen versuchte, wie sich ein Zug an dem Ventilseil auf ihre
Flughöhe auswirkte. Obgleich es Eleanor vorkam, als würden sie
träge dahintreiben, wurden sie von einer konstanten Brise getragen.
Trotzdem
hatte dieses Schweben etwas Feierliches und Friedliches, beinahe
Beruhigendes – sah man davon ab, dass Eleanor sich allmählich
fragte, wie sie überhaupt in dieses Dilemma geraten konnten.
»Warum sollte jemand die Verankerungen gelöst
haben?«, fragte sie Damon prompt. »Der Prinz ist nicht einmal
hier.«
»Eine exzellente Frage«, antwortete er ernst. »Ich
kann mir keinen Grund ausmalen, es sei denn, der Saboteur hielt
mich für Lazzara. Zwar habe ich nicht gesehen, wer es getan hat,
aber ich würde vermuten, dass es einer von Pucinellis Arbeitern
war. Ein Außenseiter wäre zu sehr aufgefallen.«
Eleanor krümmte sich innerlich bei dem Gedanken,
sie könnte in dieser Situation mit dem Prinzen gefangen sein. Bei
seinem großen Wissen über Ballonfahrt, hätte sich seine Hoheit
womöglich als ebenso einfallsreich erwiesen wie Damon, aber sie
fühlte sich bei Letzterem viel sicherer.
Sie erschauderte. Ihr war etwas kühl, obwohl sie
eine Pelisse über ihrem Musselinkleid trug.
»Hätte ich gewusst, dass wir so lange in der Luft
bleiben«, bemerkte sie trocken, »ich hätte mir eine wärmere Pelisse
übergezogen.«
Damon nickte gen Korbboden. »Da ist eine Decke für
Passagiere in der Ecke hinter dir. Leg sie dir um die
Schultern.«
»Nein, ich möchte nicht behindert werden, wenn ich
die Sandsäcke werfen muss.«
Vom anderen Ende des Korbes aus sah er sie an.
»Pucinelli hatte Recht. Du bist eine furchtlose junge Dame. Die
meisten Damen wären ohnmächtig oder hätten einen Herzanfall
bekommen.«
»Ich zähle für gewöhnlich nicht zu denen, die
ohnmächtig werden, obgleich ich gestehe, dass ich eben einen Moment
der Schwäche hatte.«
»Ich weiß.«
Als er ihr zulächelte, musste Eleanor zurücklächeln
und fühlte sofort eine Wärme, die sie beim besten Willen nicht
erklären konnte, hatte sie doch in der augenblicklichen Gefahr, in
der sie sich befanden, gar nichts verloren.
Ungleich leichter zu verstehen war die Erregung,
die sie überkam. Natürlich lag es an der aufregenden Ballonfahrt,
und auch die Gefahr, in der sie schwebten, übte eine eindeutig
erregende Wirkung auf sie aus. Noch dazu war es einfach ein
wunderschöner Morgen.
Die Hauptursache für ihre überaus gute Stimmung wie
vermutlich auch für die unerklärliche Freude, die sie empfand,
dürfte Damon sein. In seiner Nähe fühlte sie sich stets so
lebendig, so frei, als könnte sie mit ihm an ihrer Seite die ganze
Welt erobern.
So bedrohlich ihre Lage auch sein mochte, war
dieser Flug ein einmaliges Erlebnis, und sie war froh, es mit Damon
teilen zu können.
Als er sich wieder den Ventilen widmete,
beobachtete Eleanor ihn. Nie hätte sie erwartet, dass sich die
Ereignisse so entwickeln würden. Damon erwies sich als ihr Ritter
in schimmernder Rüstung, genau wie sie ihn vor zwei Jahren gesehen
hatte.
Seit sie ein Mädchen war, träumte sie davon, ihren
Ritter zu finden, der sie verzauberte und ihre Einsamkeit beendete.
Und was könnte romantischer sein, als mit ihm durch den Himmel zu
schweben?
Eleanor wandte das Gesicht ab und lächelte vor sich
hin, wobei sie sich wunderte, dass sie in einer solchen Situation
amüsiert sein konnte.
»Wie weit sind wir geflogen?«, fragte sie, um sich
abzulenken.
»Das ist schwer zu sagen. Ich würde schätzen, es
sind zehn Meilen, vielleicht etwas mehr.«
Weitere Minuten vergingen, in denen sie tiefer und
tiefer sanken. Als sie sich den Baumwipfeln näherten, schloss Damon
das Ventil.
»Sieh dort, Elle. Da ist eine Wiese hinter der
Ulmenreihe. Ich möchte versuchen, dort zu landen.«
Auf der Weide graste eine kleine Schafherde, aber
gewiss würde Damon versuchen, ihnen auszuweichen. Dann jedoch fiel
der Ballon noch weiter ab, so dass sie beinahe die Bäume
streiften.
»Wir sind zu tief. Wirf Ballast ab, Elle …«
Rasch hievte sie einen der Leinensäcke über den
Korbrand. Sogleich stieg der Ballon wieder ein kleines Stück auf
und schwebte über die Baumgruppe hinweg, ehe er erneut zu sinken
begann.
»Noch einen. Wir gehen zu schnell runter.«
Der zweite Ballastsack zeigte bessere Wirkung, und
sie gingen deutlich langsamer zu Boden.
»Und nun mach dich bereit, Elle«, wies Damon sie
an. »Wenn wir auf dem Boden aufsetzen, musst du versuchen, den Stoß
mit den Knien abzufedern.«
Während sie sich am Korbrand festhielt, legte er
von hinten einen Arm um sie und griff mit der freien Hand die
Ballonseile.
Der Boden schien ihnen entgegenzurasen, und Eleanor
hielt den Atem an.
Die Landung war wirklich hart, erschütternd,
genau wie Damon vorausgesagt hatte. Der Korb schlug auf dem Gras
auf, neigte sich seitlich und holperte über die Wiese, denn der
Ballon zog ihn noch gute zehn Meter weiter. Dann wurde er von einer
Böe erfasst, die das Stoffgebilde nochmals anhob, worauf sich der
Korb wieder aufrichtete und abrupt stehen blieb.
Eleanor und Damon wurden zur Seite geschleudert,
und Damon warf sich im letzten Moment unter Eleanor, so dass sie
auf ihm, statt auf dem harten Korbboden landete.
Regungslos lagen sie da, Damons Arme um Eleanor,
während der Ballon über ihnen erschlaffte.
Damon sah Eleanor stumm an. Sie fühlte seinen
Herzschlag an ihrer Brust, sah die Erleichterung in seinen Augen,
dass sie heil unten waren, doch vor allem erkannte sie an seinem
Blick, dass seine Sorge ihr gegolten hatte, nicht ihm selbst.
Ihr eigenes Herz beruhigte sich nach und nach, und
Eleanor atmete auf. Sie hatten die Gefahr unbeschadet
überstanden.
Keiner von ihnen sagte etwas. Dann schlang Damon
die Arme fester um sie und küsste sie.
Vor lauter Überraschung stockte ihr aufs Neue der
Atem, während ihr ganzer Körper auf die sinnliche Attacke
reagierte. Sein Kuss war eindringlich und ungestüm, befeuert von
jener Erleichterung, die sie zuvor in seinem Blick gesehen
hatte.
Damons Zunge glitt zwischen ihre Lippen, nahm sie
in Besitz und entzündete ein Feuer in ihr, das sie beinahe
schwindlig machte. Sie erwiderte seinen Kuss mit derselben
Leidenschaft.
Zu ihrem Verdruss beendete Damon die wilde
Umarmung, wenn auch mit sichtbarem Widerwillen. Er löste den Kuss,
wich zurück und sagte heiser: »So gern ich dies auch bis in alle
Ewigkeit fortsetzen würde, wäre es unehrenhaft von mir,
Elle.«
»Ja, wäre es wohl«, murmelte sie unglücklich.
Aus seiner Miene schloss sie, dass er ebenso
schmerzlich erregt war wie sie und nur um ihretwillen
aufhörte.
»Wir müssen eine Farm oder ein Dorf finden, wo wir
uns eine Kutsche leihen können.«
»Ja«, sagte Eleanor matt, denn sie wollte noch
nicht weg von ihm oder gar nach Hause. Lieber würde sie Damon um
mehr von seinen göttlichen Küssen bitten, ihn anflehen, die
Sehnsucht zu stillen, die er in ihr geweckt hatte.
Als sich ein Schatten über sie legte, sahen sie
beide auf. Der Ballon war inzwischen weitestgehend in sich
zusammengefallen, und nun sank meterweise schwere Seide auf den
Korb hinab, die das Sonnenlicht aussperrte und sie wie in einem
Kokon einfing.
Eleanor kam es vor wie ein Wink des
Schicksals.
»Damon … können wir nicht noch ein wenig
bleiben?«
Mit glühenden Augen sah er sie an, so dass sie
dahinschmelzen wollte. Ein Kribbeln durchfuhr sie beim Anblick
solch maskuliner Besitzgier.
Zugleich regte sich ein primitives, wildes
Verlangen in ihr, das ihren gesamten Körper ergriff. Ihre Brüste
wurden schwer, und in ihrem Bauch wie zwischen ihren Schenkel
setzte ein heißes Pochen ein.
Kaum hatte Damon sie herumgedreht, so dass er halb
auf ihr lag, hob sie ihm den Kopf entgegen und streifte seine
Lippen mit ihren, einmal … zweimal …
Ihre Hoffnung erfüllte sich, denn Damon stöhnte und
küsste sie abermals.
Der Kuss war weniger ungeduldig, nicht aber minder
leidenschaftlich als der vorherige. Ihre Zungen begegneten sich
reibend, streichelnd und tanzend. Unweigerlich stieß Eleanor ein
leises Wimmern aus, das ihr Verlangen und ihre Wonne verriet. Eine
Vielzahl von Empfindungen überwältigte sie, angeführt von derselben
berauschenden Freude, die sie vor langer Zeit erstmals durch Damon
kennenlernte. Sie begehrte ihn mit einer Intensität, die beinahe
unerträglich war.
Viel zu lange schon war ihr Verlangen ungestillt,
was sich hier und jetzt ändern würde, wie Eleanor sich schwor. Sie
tauchte die Finger in sein Haar und hauchte: »Damon, bitte, nimm
mich.«
Er hob den Kopf und sah sie ernst an, als suchte er
in ihrem Gesicht nach einer Bestätigung ihrer Worte.
Atemlos wartete Eleanor, bis Damon anscheinend
gefunden hatte, was immer er suchte, denn ein sanftes Lächeln trat
auf seine Züge.
Es wärmte sie wie Sonnenschein, der durch
Gewitterwolken bricht.
»Ja«, sagte er schließlich, und in seiner rauen
Stimme schwang ein Versprechen mit, dass ihre kühnsten Träume wahr
würden.