Fünftes Kapitel
Gestatten Sie dem Gentleman, selbst bei den
alltäglichsten Themen sein Wissen wie seine Fachkenntnis zu
beweisen, auch dann, wenn Sie weit mehr über das jeweilige
Gesprächsthema wissen als er.
Am darauffolgenden Abend hatte Damon Mühe, seine
Ungeduld zu zähmen, als er in der oberen Galerie des Theatre Royal
in Covent Garden auf Eleanors Ankunft wartete. Er hatte nicht die
Absicht, sie allein dem Werben ihres Prinzen zu überlassen, schon
gar nicht, wenn ihre albernen Bemühungen in einer Vermählung
endeten.
Ebenso wenig plante er, sich wieder auf den
Kontinent zu begeben, wie Elle es so spitz anregte. Fürs Erste
hatte er genug von fremden Ländern. Und obwohl er sich noch nicht
endgültig im Klaren darüber war, was er sich von der Zukunft
erwartete, war er doch sicher, dass sie hier in England lag – und
dass sein oberstes Ziel momentan war, Eleanors Romanze mit Prinz
Lazzara zu einem fulminanten Radbruch zu verhelfen.
Deshalb hatte er gestern, nachdem seine Hoheit bei
Gunter‘s erwähnte, er würde Eleanor und ihre Tante heute Abend zur
Benefizveranstaltung begleiten, alles arrangiert, einen ihm
genehmen Platz zu bekommen. Privatlogen gab es im Theatre Royal
nicht, aber seine Gesellschaft bekam eine erstklassige Sitzgruppe
auf der Galerie, nahe der Bühne,
und das dank seiner entfernten Cousine, Tess Blanchard.
Als einer der Organisatoren hatte Tess das Theater
angemietet und das Programm gestaltet, das eine Auswahl an
Darbietungen vorsah, einschließlich Opernarien und englischen wie
italienischen Chören, kleinen Sketchen, dramatischen Rezitationen
und einer Pantomime von dem großartigen Joseph Grimaldi.
Die Veranstaltung galt als so exklusiv, dass sich
die feine Gesellschaft überschlug, hohe Summen für Eintrittskarten
zu zahlen. Prinny selbst sollte anwesend sein, was für Tess ein
veritabler Coup war. Sie verwandte sehr viel Zeit darauf,
Wohltätigkeitsveranstaltungen für Angehörige von gefallenen
Soldaten, Waisenhäuser oder Hospitäler zu planen. Und erst kürzlich
hatte sie sich mit der jüngsten Loringschwester, Lily – heutige
Marchioness of Claybourne – zusammengetan, um ein Heim zu gründen,
in dem gefallene Frauen Zuflucht fanden und eine Ausbildung
erhielten.
Heute Abend hatte Damons Freund, der angesehene
Arzt Otto Geary, einen Ehrenplatz, weil die Erlöse an sein
Krankenhaus Marlebone Hospital gingen, das ihm sehr am Herzen lag.
Entsprechend war es für Damon relativ leicht gewesen, ihn
hierherzuzerren. Auch wenn Otto die Oper hasste, hatte er keine
andere Wahl, als seine Patienten für wenige Stunden allein zu
lassen.
Damon saß nun neben Otto und wartete auf Eleanor
und Prinz Lazzara.
»Ich wünschte, sie würden etwas schneller machen«,
murmelte Otto, der an seiner Krawatte zerrte.
»Ich habe zu viel zu tun, als dass ich hier nutzlos herumsitzen
kann, ohne dass etwas passiert.«
»Es dauert nicht mehr lange«, beruhigte Damon ihn.
»Und du schuldest Miss Blanchard ein Zeichen von Dankbarkeit, also
hör auf, herumzuzappeln.«
Der Arzt schmollte, zwinkerte Damon dann aber zu.
»Wie ich sehe, bist du selbst ein wenig ruhelos, alter Freund. Seit
zehn Minuten starrst du zu den Eingangstüren. Und ich unterstelle,
dass Dankbarkeit gegenüber Miss Blanchard nichts mit dem Umstand zu
tun hat, dass du auf meine Anwesenheit heute Abend hier beharrtest.
Du willst mich nur zu deinem Schutz.«
Damon verkniff sich ein reuiges Schmunzeln. »Was
nicht der einzige Grund ist.«
»Aber dennoch ein Grund.« Otto grinste. »Offen
gesagt weiß ich nicht, ob ich überhaupt in deiner Nähe sein möchte,
wenn Lady Eleanor entdeckt, was du eingefädelt hast. Und so oder so
bin ich sicher, dass Miss Blanchard dich sehr viel besser schützen
kann als ich.«
»Mag sein, aber ich setze lieber auf zahlenmäßige
Überlegenheit.«
Tess wollte sich in Kürze zu ihnen setzen – was ein
Glück war, wie Damon meinte, denn er hoffte inständig, dass seine
Cousine imstande war, die Wogen zu glätten. Eleanor wäre wenig
erfreut, festzustellen, dass sie, ihr Prinz und ihre Tante so nahe
bei ihm saßen.
Er irrte nicht. Als Elle endlich erschien, hatte er
nur Augen für sie und versäumte mithin nicht, dass sie ihre Wut
kaum unterdrücken konnte, als sie begriff,
dass er die Sitzordnung zu seinem Zweck arrangieren ließ.
Gleichzeitig versteifte sich Lazzara neben ihr
misstrauisch, während Eleanors Tante vor lauter Entrüstung nach
Luft schnappte.
Lady Beldon hatte Damon nie vergeben, was er ihrer
Nichte vor zwei Jahren antat. Und so gab sie sich hochnäsiger denn
je, als er höflich aufstand und alle vorstellte. Wenigstens schnitt
sie ihn nicht öffentlich.
Prinz Lazzara war gezwungen, seinen Verwandten,
Signor Umberto Vecchi, bekanntzumachen, einen großen,
silberhaarigen Gentleman, Gesandter aus dem Königreich beider
Sizilien am englischen Hof. In dieser Funktion sollte er den Handel
zwischen beiden Ländern fördern, insbesondere den lukrativen mit
Marsalawein. Und einzig er schien nichts von der plötzlichen
Frostigkeit mitzubekommen, als sie alle für einen Moment dastanden
und höfliche, aber ungeschickte Konversation betrieben.
Zum Glück verflog die Spannung, als die ältliche
Witwe Countess Haviland sich zu ihnen gesellte, die in Begleitung
ihres Enkels, Rayne Kenyon, dem neuen Earl of Haviland,
erschien.
Den Earl kannte Damon gut aus seinen Tagen an der
Universität. Haviland war seinerzeit ein unverfrorener Rebell
gewesen, das schwarze Schaf der Familie. Folglich nahm es wenig
wunder, dass er die Jahre seither dem Kampf gegen Napoleons Streben
nach Weltherrschaft gewidmet hatte. Man munkelte, er wäre ein
brillanter Spion beim britischen Geheimdienst gewesen.
Seine Großmutter und Lady Beldon waren sehr
gut befreundet, weshalb sie rasch ins Gespräch kamen. Als jedoch
eine weitere Runde an Vorstellungen folgte, stellte Damon
überrascht fest, dass Lady Beldon sich dem stattlichen
italienischen Gesandten eindeutig zugetan gab und gar einen
beträchtlichen Teil ihrer aristokratischen Steifheit ablegte, wenn
sie mit ihm sprach. Man konnte es fast als ein verschämtes
Kokettieren bezeichnen.
Was ihn hingegen weniger überraschte, war, dass
Eleanor die allgemeine Ablenkung nutzte, um ihm zuzuflüstern: »Ihre
Listen beginnen, mich über die Maßen zu verärgern, Lord Wrexham.
Ich wünschte, Sie würden aufhören, mich auf absurdeste Weise zu
verfolgen.«
Damon zog eine Braue hoch. »Ich verfolge dich wohl
kaum.«
»Nein? Und wie nennen Sie dies?« Sie
schwenkte eine Hand, um auf die Platzverteilung zu weisen. »Gestern
haben Sie unseren Ausflug schon gestört, und jetzt dies.«
»Ich würde meinen, du freust dich, eine solch
exzellente Sicht auf die Bühne zu haben. Miss Blanchard hat sich
auf meine Bitte hin größte Mühe gegeben. Aber wenn du wünschst,
kann ich sie bitten, dir und deiner Begleitung andere Sitzplätze
zuzuteilen.«
Sie seufzte. »Sie wissen sehr wohl, dass es viel zu
spät ist, uns umzusetzen. Und ich möchte keine Unruhe verursachen.
Aber seien Sie gewarnt! Ich werde nicht zulassen, dass Sie mir
meine Aussichten bei Prinz Lazzara verderben.«
Also forderte sie ihn offen heraus, aber Damon sah
davon ab, sie weiter zu provozieren. Ohnehin traf
nun Tess mit ihrer altjüngferlichen Freundin, Miss Jane Caruthers,
ein. Tess begrüßte ihn herzlich, bevor sie die anderen willkommen
hieß.
Dann nahmen alle ihre Plätze ein. Tess saß neben
Damon, der sich hinter Eleanor und ihren Verehrer gesetzt
hatte.
Damon freute sich, Tess’ Gesellschaft zu genießen.
Sie war eine dunkelhaarige Schönheit mit einer vornehm ernsten
Ausstrahlung. Soweit er wusste, war sie eine Cousine vierten Grades
– eine seiner wenigen verbliebenen Verwandten und von ihm sehr
hochgeschätzt. Allerdings war Tess so ausgefüllt von ihrem
wohltätigen Engagement, dass sie seit seiner Rückkehr nach England
kaum miteinander gesprochen hatten.
»Es ist sehr schön, dich wiederzusehen, Damon«,
flüsterte sie ihm zu.
»Das kann ich nur erwidern, meine Liebe. Heute
Abend hast du dich selbst übertroffen.«
Ihr Lächeln war gleichermaßen erleichtert wie
stolz. »Ich hoffe, alles verläuft reibungslos. Wenn der Prinzregent
nur bald käme, könnten wir anfangen, ehe das Publikum unruhig
wird.«
Letzteres bestand aus den Spitzen der Gesellschaft,
so dass man edle Gewänder und nicht minder edles Geschmeide
erblickte, wo immer man hinsah.
Unterdessen genoss Damon den Blick auf Eleanors
Nacken und ihre zierlichen Schultern, als sie sich näher zu ihrem
Begleiter beugte, um mit ihm über das Programm zu sprechen.
Der erste Auftritt würde auf Englisch sein, ein
Chor aus Mozarts Don Giovanni, gefolgt von einer
italienischen Arie von Gioacchino Rossini und einer
Auswahl von Stücken Georg Friedrich Händels sowie des irischen
Komponisten Thomas Cooke.
Damon hörte, wie Eleanor den Prinzen zu Opernmusik
befragte – zweifellos einem Rat aus dem verdammten Buch folgend.
Ihre Ermunterung gestattete seiner Hoheit, sich mit den überlegenen
Beiträgen seines Landes zur Weltkultur zu brüsten.
»Ich bin ehrlich verwundert«, erklärte der Prinz,
»dass einige Ihrer Opern auf Englisch gesungen werden. Die Wirkung
kann nur vernichtend sein.«
Hier konnte Damon nicht anders, als sich
vorzulehnen und in das Gespräch einzumischen. »Ganz im Gegenteil,
Hoheit. Für den Engländer im Allgemeinen ist der Reiz der Oper
ungleich größer, wenn er die gesungenen Worte versteht.«
Lazzara blickte sich missbilligend zu ihm um.
»Welche Kenntnis sollten Sie über derlei besitzen, Sir? Sie
scheinen mir nicht der Mann, der eine gute Oper zu schätzen
wüsste.«
»Dann trügt Sie der Schein, denn ich genieße die
Oper sehr. Wie es der Zufall will, hatte ich das Vergnügen,
Rossinis Premiere vom Barbiere di Siviglia letztes Jahr in
Rom zu sehen.«
»Ach wirklich?«, fragte Lazzara erstaunt.
Damon lächelte. »Ja, und da es sich um die Art
Komödie handelt, die wir Engländer gemeinhin schätzen, würde mich
nicht wundern, sollte die Oper bald schon hier in London auf
Englisch aufgeführt werden.«
Lazzara erschauderte elegant und rümpfte die
königliche Nase angesichts des unverzeihlichen Angriffs auf seine
Empfindlichkeiten, während Eleanor Damon bitterböse
anfunkelte.
Damon wiederum war zufrieden, dass er sie immerhin
auf die kulturellen Gräben aufmerksam gemacht hatte, die zwischen
ihr und ihrem Erwählten klafften.
Neben ihm beobachtete Tess alles höchst
interessiert. Im nächsten Moment aber wurde ihre Aufmerksamkeit
abgelenkt, als allgemeine Unruhe auf der gegenüberliegenden Galerie
entstand. Das Publikum erhob sich, um seine königliche Hoheit, den
Prinzregenten, zu begrüßen. Damon glaubte zu fühlen, wie viel
leichter seine Cousine atmete, nachdem Prinny mitsamt Entourage
endlich eingetroffen war und sich gesetzt hatte, so dass die
Vorstellung beginnen konnte.
Eleanor hingegen war die erste Darbietung vergällt,
weil sie leider nur daran denken konnte, dass Damon unmittelbar
hinter ihr saß. Bei Gott, in seinem schwarzen Abendrock und der
weißen Seidenkrawatte sah er umwerfend aus! Es hatte sie
übermenschliche Kraft gekostet, ihn nicht fortwährend
anzustarren.
Zum Glück machte ihre Verärgerung es ihr ein wenig
leichter, ihn zu ignorieren. Der lästige Unhold plante
offensichtlich, bei all ihren Verabredungen mit dem Prinzen zu
erscheinen, betrug sich unglaublich und trieb sie in die
Verzweiflung.
Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass allein seine
Nähe all ihre Sinne gefangennahm. Ohne Frage war Damon der
geistreichste, interessanteste Mann, den sie kannte, sofern man
kluge, gebildete Köpfe mochte, was auf sie leider zutraf. Sie hätte
ihn gern mehr über seine Reisen gefragt, was sich naturgemäß
verbot, denn um keinen Preis würde
sie eine solche Vertrautheit zwischen ihnen fördern.
Trotzdem war sie aufrichtig erfreut, Damons Freund
kennenzulernen, den hervorragenden Arzt, Mr Geary. Sie hatte schon
viel von Geary gehört, dem es gelungen war, Patienten, die von
jedem anderen aufgegeben wurden, zu heilen. Angeblich war sein
Hospital einzigartig, weil Geary auf absolute Sauberkeit bestand –
ein Anspruch, den die meisten seiner Kollegen für übertrieben
erachteten, der sich aber doch allmählich durchzusetzen begann.
Eleanor bewunderte Wissenschaftler und insbesondere solche, die von
ihrer Sache überzeugt genug waren, um sich gegen den Strom zu
bewegen.
Genauso wie sie Damons Cousine für ihr wohltätiges
Engagement bewunderte. Eleanor hatte Tess Blanchard in den letzten
Monaten bei mehreren Anlässen getroffen, weil sie eng mit den
Loringschwestern befreundet war und mit ihnen an der Akademie für
junge Damen unterrichtete, ebenso wie auch Jane Caruthers, die sich
um die alltäglichen Verwaltungsbelange der Akademie kümmerte.
Und erst kürzlich hatte Eleanor sich an Miss
Blanchard gewandt und gefragt, was sie beitragen könnte, die Armut
und das Elend der weniger Glücklichen zu lindern.
Eleanor dankte dem Himmel, als Madame Giuditta
Pasta auftrat, die sie von Damon ablenkte, indem sie eine Arie aus
Rossinis Barbier von Sevilla anstimmte, »Una voce poco
fa.«
Die italienische Sopranistin hatte erst vor kurzem
ihr Londoner Debüt gegeben, und obwohl die Kritiken
bisher nicht eben wohlmeinend ausfielen, hatte Eleanor sich gleich
von den ersten Noten an bezaubert gefühlt. Heute saß sie da,
während Madame Pastas Stimme sie in ihrer unvergleichlichen
Brillanz überschwemmte, und als die letzte Note verklang, hatte
Eleanor Tränen in den Augen. Kaum wischte sie sich die Augen,
reichte Damon ihr stumm sein Taschentuch.
Als Eleanor sich umdrehte und ihm »Danke«
zuflüsterte, begegneten sich ihre Blicke, was sie sofort bereute.
Denn sie erkannte einen Anflug von Zärtlichkeit, der sie an die
intimsten Momente erinnerte, die sie einst gemeinsam
erlebten.
Zudem war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, dass er
sie beobachtet hatte.
Rasch sah sie wieder zur Bühne, brauchte jedoch
eine Weile, um ihr Herz zu beruhigen und sich auf die Darbietungen
zu konzentrieren.
Als mit der Pantomime das Programm endete, glaubte
Eleanor trotzdem, dass sie sich hinreichend gefasst hatte.
Bis sie mit der Menge der Besucher nach draußen
strömten. Lady Beldon bestand darauf, sofort zu gehen, weil sie das
größte Kutschengedrängel vorm Theater meiden wollte.
Als sie eilig den Korridor entlang und die breite
Treppe hinuntergingen, schirmte Prinz Lazzara Eleanor vor den
anderen ab und Signor Vecchi deren Tante.
Sie waren beinahe unten angekommen, als der Prinz
plötzlich nach vorn kippte und mit einem Aufschrei die letzten drei
Stufen herabfiel, wobei er Eleanor fast mitgerissen hätte.
Letzteres konnte Damon gerade noch verhindern,
indem er sie beim Arm packte und zurückzog.
»Gütiger Himmel!«, rief Lady Beldon.
Nachdem Eleanor sich von ihrem Schrecken erholt
hatte, entwand sie sich Damon und eilte dem Prinzen nach, der
schwer atmend auf dem Teppich lag.
Sie kniete sich neben ihn. »Hoheit, sind Sie
verletzt?«
Stöhnend rollte er sich auf die Seite und hielt
sich das linke Knie.
Er ächzte etwas auf Italienisch, was nach einem
Fluch klang, wirkte allerdings sogleich beschämt, als Signor Vecchi
ihn in derselben Sprache barsch zurechtwies.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und schaute zu
den Damen auf.
Andere Gäste standen in einigem Abstand um sie
herum und blickten schweigend auf den ausländischen Adligen. In der
Stille hörte Eleanor, wie Damon sich leise an seinen Freund
wandte.
»Otto, kannst du ihm helfen?«
»Ich sehe nach, was ich tun kann.«
Während er das Bein des Prinzen untersuchte,
schüttelte dessen älterer Verwandte betrübt den Kopf. »Ich fürchte,
Don Antonio hatte schreckliches Pech.«
»Es war kein Pech, Don Umberto!«, jammerte der
Prinz beleidigt. »Ich wurde gestoßen!«
Eleanor blickte sofort zu Damon. Könnte er den
Sturz verursacht haben? Schließlich war er hinter ihnen gewesen,
gleich neben Signor Vecchi. Und es hätte lediglich eines kleinen
Schubses bedurft, damit der Prinz …
Sie trat zu ihm und fragte leise: »Hast du den
Prinzen zu Fall gebracht?«
Für einen Moment starrte Damon sie an. »Wie
bitte?«
»Er hätte schwer verletzt werden können.«
Damons Wangenmuskel zuckte. »Ja, hätte er und du
ebenfalls, denn du gingst an seinem Arm. Aber nein, ich habe ihn
nicht gestoßen«, sagte er streng.
»Mir erscheint es seltsam, dass dem Prinzen ein
Missgeschick nach dem anderen widerfährt, wann immer du in der Nähe
bist.«
Damon lachte ungläubig. »Du glaubst doch nicht
allen Ernstes, dass ich etwas mit seinen Unfällen zu tun
hatte.«
»Warum nicht? Ihm geschah nichts, bis du nach
London zurückkehrtest. Und du warst jedes Mal zugegen.«
»Genau wie du«, ergänzte Damon ruhig. »Du könntest
diese unglücklichen Zwischenfälle inszeniert haben, um dich als
heldenhafte, mitfühlende Helferin zu zeigen. Steht es nicht in
deinem Buch?«
»Nein«, entgegnete Eleanor, die Mühe hatte, leise
zu sprechen. »Eigentlich rät es zum Gegenteil. Ich soll möglichst
oft hilflos erscheinen.«
Nun schmunzelte Damon und sah zum verletzten
Prinzen. »Lazzara wirkt deutlich hilfloser, würde ich
meinen.«
»Was du offenbar genießt.«
Er wurde wieder ernst. »Traust du mir zu, seine
Kutsche manipuliert zu haben und deine Sicherheit, ja, dein Leben
aufs Spiel zu setzen?«
Seinem Tonfall nach machten ihre Anschuldigungen
ihn wütend, was die ihrerseits erzürnte Eleanor
nicht bremste. »Ich schließe es jedenfalls nicht aus, denn du bist
zweifellos entschlossen, das Werben des Prinzen um mich zu
stören.«
»Und was war gestern? Ich war nicht einmal in der
Nähe, als Lazzara auf der Straße umgestoßen wurde.«
»Du hättest den Taschendieb anheuern können, damit
er ihn angreift. Und jetzt eben warst du in einer hervorragenden
Position, ihn zu Fall zu bringen.«
Beide sahen sich erbost an. »Da gäbe es indes noch
ein Problem, meine Liebe. Ich hatte keinerlei Einfluss auf die
Unglücke, die ihm widerfuhren. Du wirst also einen anderen
Schuldigen suchen müssen.«
»Selbstverständlich leugnest du«, konterte sie. »Du
würdest es auch dann tun, wenn du schuldig wärst.«
»Zweifelst du etwa an meinem Wort?«, fragte Damon
mit einem gefährlichen Unterton.
Eleanor bemerkte, dass sie Aufmerksamkeit erregten,
weshalb sie die Stimme senkte. »Ich weiß nicht, ob ich dir glaube
oder nicht. Allerdings würde ich dir durchaus zutrauen, mir nicht
die Wahrheit zu sagen.«
»Eleanor«, unterbrach ihre Tante das Gespräch.
»Komm, meine Teure, wir fahren nach Hause.«
Damon betrachtete sie nach wie vor mit glühenden
Augen. »Dies ist ohnehin nicht der angemessene Ort, um zu
streiten«, raunte er. »Wir sollten die Unterhaltung in einem
privateren Rahmen fortsetzen.«
»Wir sollten überhaupt nicht miteinander reden«,
zischte sie und trat von ihm weg. Im selben Moment beendete Mr
Geary seine Untersuchung.
»Ich kann keine Knochenbrüche feststellen, Hoheit«,
sagte der Arzt. »Aber Sie haben sich anscheinend das Knie übel
verstaucht, daher rate ich Ihnen, einige Tage Bettruhe zu halten
und es behandeln zu lassen. Wenn Sie wünschen, übernehme ich die
weitere Behandlung.«
Sogleich mischte sich Lady Beldon ein: »Ich lasse
meinen Arzt rufen, Mr Geary. Es ist unnötig, dass Sie sich damit
belasten.«
Der Arzt schien nicht angetan. »Wie Sie meinen. Es
wäre gut, wenn Sie kalte Umschläge auf das Knie legen, Hoheit. Und
natürlich dürfen Sie es für eine Weile nicht bewegen.«
»Wir kümmern uns um sein Wohlergehen, Mr Geary«,
sagte Lady Beldon.
Signor Vecchi half dem Prinzen auf, der sich auf
die Schulter seines Verwandten stützte und mit schmerzverzerrtem
Gesicht weiterhumpelte.
»Du bist in der Kutsche des Prinzen hergekommen,
nicht wahr?«, fragte Damon Eleanor. »Falls nötig, könnte ich dich
und deine Tante nach Hause bringen.«
»Danke, aber das ist nicht nötig, Mylord. Du
hast heute Abend schon mehr als genug getan. Und ich wäre dir
dankbar, wenn du dich künftig von uns allen fernhieltest.«
Mit diesen Worten wandte Eleanor sich um und folgte
dem Prinzen.
Ihre Wut auf Damon linderte sich nicht, als sie in
die Kutsche des Prinzen einstieg, und noch bei der
Ankunft am Portman Place war Eleanor sehr aufgebracht.
Vielleicht hatte sie Unrecht, Damon solch
schändlicher Taten zu bezichtigen, dachte sie, während sie ihre
Tante nach oben begleitete. Er mochte ein Filou sein, aber das
bedeutete nicht, dass er einem Unschuldigen schaden wollte, nur
weil er ihr den Hof machte – vor allem nicht, weil er selbst gar
kein Interesse an ihr hatte.
In dem Augenblick, in dem Eleanor mit ihrer Tante
allein in deren Salon war, machte Lady Beldon ihrem Ärger
Luft.
»Mir gefiel ganz und gar nicht, dass du mit diesem
furchtbaren Wrexham gesprochen hast, Eleanor«, beschwerte sich
Beatrix. »Du darfst ihm nicht mehr Beachtung schenken, als die
Höflichkeit verlangt.«
»Du hast Recht, Tante. Ich werde künftig mein
Bestes tun, jeden Kontakt zu ihm zu vermeiden.«
»Gut. Schließlich möchtest du dem Prinzen keinen
Anlass geben, gering von dir zu denken. Vielmehr solltest du ihn
ermutigen, wann immer du kannst, und Wrexhams Anwesenheit könnte
das Werben des Prinzen empfindlich stören.«
»Dessen bin ich mir wohl gewahr, Tante.«
Beatrix schürzte die Lippen und sah Eleanor prüfend
an. »Ich schätze, es ist nur fair, dir zu erzählen, was Signor
Vecchi sagt.«
»Und was wäre das?«
Ihre Tante verzog das Gesicht. »Dass der Prinz sich
den Damen gegenüber bisweilen nicht sehr zuverlässig zeigte. Signor
Vecchi deutete unmissverständlich an, dass seine Hoheit dir
eventuell kein guter Gemahl wäre. Andererseits messe ich solchen
Warnungen keine allzu große Bedeutung bei. Prinz Lazzaras Familie
und Erziehung sind makellos, und sein Vermögen ist beachtlich. Was
seine persönlichen Angelegenheiten betrifft … nun, er ist wohl kaum
schlimmer als viele andere Adlige.«
Eleanor hatte den Klatsch gehört, dass der Prinz in
dem Ruf stand, ein Schwerenöter zu sein, ihn jedoch nicht beachtet.
Zum einen gab sie nicht viel auf Gerüchte, und zum anderen ließen
sich laut Fanny Irwin manche Wüstlinge durch wahre Liebe bekehren.
Also wollte Eleanor den Prinzen vorerst nicht als hoffnungslosen
Fall verdammen. Es könnte doch sein, dass es einzig der richtigen
Frau bedurfte, damit er seine wilden Affären beendete.
Könnte sie diese Frau sein? Wenn sie es schaffte,
dass Prinz Lazzara sich in sie verliebte, würde er womöglich um
ihretwillen seinen Lebenswandel ändern. Hätte Damon sie vor zwei
Jahren wirklich geliebt, wäre er gewiss nicht so kurz nach der
Verlobung zu seiner Mätresse zurückgekehrt …
Dieser schmerzliche Gedanke wurde von ihrer Tante
unterbrochen. »Zumindest wirst du nächste Woche bei meiner
Hausgesellschaft Gelegenheit haben, sein Werben zu fördern. Und zum
Glück kann Wrexham dir nicht nach Rosemont folgen.«
Dem konnte Eleanor nur zustimmen.
»Ich wünsche mir inständig, dass alles gut
verläuft«, sagte Beatrix.
»Sicher wird es das. Deine Hausgesellschaften sind
immer großartig.«
»Signor Vecchi sagte, dass er sich schon sehr
darauf freut.«
Als Eleanor lächelte, färbten sich Beatrix‘ Wangen
zartrosa. Sie wirkte Jahre jünger, wenn sie von dem italienischen
Gentleman sprach.
»Denkst du, es ist falsch von mir, seine Avancen zu
dulden?«, fragte Beatrix unsicher.
»Aber nein, liebste Tante! Ich denke, du hast jedes
Recht dazu.«
»Er ist ein sanftmütiger Mann, wie mir scheint,
anders als Beldon, der unerträglich sein konnte, wenn er …« Beatrix
brach mitten im Satz ab und machte sich gerade. »Aber genug von
meinem verstorbenen Gemahl. Würdest du bitte nach meiner Zofe
läuten, Eleanor? Ich schwöre, ich bin vollkommen erschöpft nach dem
dramatischen Unfall des Prinzen.«
Eleanor spürte, dass es ihrer Tante peinlich war,
ihre Gedanken preisgegeben zu haben, läutete und wünschte ihr eine
gute Nacht. Dann ging sie in den Ostflügel zu ihrem eigenen
Schlafgemach.
Ihre Tante war einsam, auch wenn sie es selten
zeigte, und Eleanor fände es sehr schön, die distanzierte, kühle
Viscountess zu sehen, wie sie sich erstmals verliebte oder
wenigstens einen Gentleman fand, dessen Freundschaft sie genießen
konnte.
Was auch geschah, dachte Eleanor, als sie ihre Tür
hinter sich schloss, sie wünschte ihrer Tante von ganzem Herzen,
dass sie glücklich würde.
Angesichts der späten Stunde verzichtete sie
darauf, Jenny zu rufen und kleidete sich allein zur Nacht um. Kaum
kehrten ihre Gedanken zu dem Abend im Theater zurück, wurde sie
aufs Neue maßlos wütend, weil Damon anscheinend wild entschlossen
war, sie um die Chance auf wahre Liebe zu bringen.
Aber sie würde ihm nicht erlauben, sich weiterhin
einzumischen, schwor Eleanor sich, während sie ihr Nachthemd
anzog. Sie wollte Prinz Lazzara weiterhin subtil ermutigen, und
sollte Damon es noch einmal wagen, sich zwischen sie und den
Prinzen zu drängen … nun, sie brauchte einfach einen Plan, wie sie
ihn ein für alle Mal loswurde.
Sie saß halbaufgerichtet im Bett, um eines der
Kapitel in Fannys Buch nachzulesen, als sie ein leises Geräusch vom
Fenster vernahm.
Ihr Herz drohte auszusetzen, denn beim Aufblicken
sah sie Damons Gesicht am offenen Fenster.
Sprachlos vor Schreck beobachtete sie, wie er die
Beine übers Fensterbrett schwang und in ihrem Schlafzimmer
landete.
Er trug noch seine elegante Abendgarderobe, wie sie
feststellte, doch das war es nicht, was sie starr vor Entsetzen
machte. Sie schockierte, dass er nach Mitternacht zwei Stockwerke
hinauf zum Schlafgemach einer Dame geklettert war. Etwas Dreisteres
hatte sie in ihrem Leben nicht erlebt.
»Damon!«, hauchte sie. »Was zum Teufel tust du
hier?«
»Ich glaube, wir hatten unser Gespräch noch nicht
beendet«, antwortete er ruhig und kam zu ihrem Bett.