14

Renee lag in Johns Armen und war immer noch völlig überwältigt von dem, was sie soeben erlebt hatte. Nie zuvor hatte sie so intensive Gefühle verspürt, niemals hätte sie gedacht, dass so etwas überhaupt möglich war. In seinen Armen konnte sie beinahe ihre unangenehme Lage vergessen und zumindest für einen Moment so tun, als würden sie ein ganz normales Leben führen und hätten alle Zeit der Welt, die Möglichkeiten ihrer Beziehung zu erkunden.

Wie sehr sie sich wünschte, dass es so wäre!

Vielleicht würde es sogar geschehen. Er wollte ihr helfen. Er hatte bereits festgestellt, dass die Zeugin des Raubüberfalls unglaubwürdig war. Vielleicht fand er weitere Beweise, die die Geschworenen von ihrer Unschuld überzeugten. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und spürte, wie sich ihre Sorgen verflüchtigten. Mit John an ihrer Seite fiel es ihr leicht zu glauben, dass bald alles wieder gut sein würde.

Sie legte eine Hand auf seine Brust, die sich mit sanfter, regelmäßiger Bewegung hob und senkte. War er eingeschlafen?

»John?«, flüsterte sie.

»Ja?«

»Ich wollte nur wissen, ob du schläfst.«

»Nein, ich schlafe nicht.«

Ein längeres Schweigen folgte. Einen Moment lang machte sie sich Sorgen, aber dann wurde ihr klar, dass er vielleicht einfach nur müde war. Genauso wie sie. Nach dem langen Marsch durch den Wald hatte spätestens der Sex mit ihm ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht.

Dann wurde ihr bewusst, wie angespannt er wirkte. Vielleicht auch wütend. Oder beides.

Sie richtete sich ein Stück auf und sah ihn an. Er schloss die Augen und wandte sich ab.

O Gott! Sie hatte etwas falsch gemacht. Aber was?

»John? Was ist los?«

Er antwortete nicht. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Genau davor hatte sie sich die ganze Zeit gefürchtet. Irgendwie hatte sie ihn enttäuscht.

Es war, als wäre ihr mit einem Mal die rosarote Brille heruntergerissen worden, und nun sah sie alles in einem ganz anderen Licht. Ihre Wangen glühten vor Scham. Er hatte ihr so viel gegeben, und sie hatte sich wie eine egoistische Nymphomanin benommen und ihm nichts zurückgegeben.

»Es tut mir Leid, John«, sagte sie und hatte das Gefühl, im nächsten Moment in Tränen auszubrechen. »Beim nächsten Mal werde ich besser sein. Ich verspreche es.«

Ihr wurde sofort klar, dass sie das Falsche gesagt hatte. Er hatte nie davon gesprochen, dass es ein nächstes Mal geben würde. Vielleicht interpretierte sie viel zu viel hinein. Vielleicht hatte er überhaupt nicht die Absicht ...

»Besser?«, fragte er in ungläubigem Tonfall.

»Es ist, wie ich gesagt habe. Ich ... ich weiß nicht, was ich tun muss, um ... du weißt schon ... einen Mann zu befriedigen. Ich weiß, ich hätte irgendetwas für dich tun müssen, aber ich weiß einfach nicht ...«

»Renee.«

Sie verstummte und sah ihn an. Er legte eine Hand auf ihr Gesicht und streichelte es mit dem Daumen.

»Es hätte nicht besser sein können, Schätzchen. Ich habe jede Sekunde genossen, und ich würde es noch tausendmal mit dir tun, wenn ich könnte.«

»Also was ist?«

Er seufzte leise und nahm die Hand von ihrem Gesicht. »Du weißt, dass ich möglicherweise nicht genügend Beweise finde, um dich zu entlasten.«

Renee schloss die Augen. »Bitte, sprich jetzt nicht darüber. Bitte.«

»Wir müssen es tun.«

Nein. Sie wollte nichts davon hören. Sie wollte sich die Ohren zuhalten und ihn anflehen, wenigstens in dieser Nacht kein Wort mehr über die schreckliche Situation zu verlieren, die sie beide zusammengeführt hatte. Nur noch in dieser Nacht wollte sie so tun ...

»Ich möchte nur, dass du verstehst, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem ich alles für dich getan habe, was ich tun konnte. Dann musst du dich stellen und auf das Beste hoffen. Wirst du das schaffen?«

Schlagartig wurde Renee klar, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Sie war davon ausgegangen, dass alles gut sein würde, solange John an ihrer Seite war, aber nun klang er so unsicher, dass ihre schlimmsten Befürchtungen zurückkehrten. Die kalte, harte Realität stürzte wieder auf sie ein, die Tatsache, vor der sie die Augen verschließen wollte dass sie immer noch im Gefängnis landen konnte.

Falls sie sich stellte.

»Ich ... ich weiß es nicht, John. Wenn die Zeit kommt...« Sie atmete aus und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es einfach nicht.« Dann sah sie ihn hoffnungsvoll an. »Aber ich glaube nicht, dass es dazu kommt. Wir werden Beweise finden. Davon bin ich überzeugt. Vielleicht finden wir sogar die Person, die es getan hat. Du hast gesagt, es wäre nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin möglich, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht daran.«

»Ich dachte, du wolltest mir helfen!«

»Das will ich auch. Aber meine Möglichkeiten sind ...«

»Verstehst du denn nicht? Ich kann nicht ins Gefängnis gehen, John. Ich kann es einfach nicht!«

»Willst du mir damit sagen, dass du wieder abhauen würdest?«

Sie schluckte, und ihre Stimme war nur noch ein flüsterndes Krächzen. »Willst du mir damit sagen, dass du mich aufhalten würdest?«

Plötzlich herrschte wieder eine angespannte Atmosphäre zwischen ihnen, und die Stille schien ewig anzudauern, während sie auf die Antwort wartete, die sie sich von ihm erhoffte. Doch sie kam nicht. Stattdessen drehte er sich um und nahm die Handschellen vom Nachttisch.

Im ersten Moment begriff sie nicht, was geschah. Dann wurde der zarte Kokon aus Wärme und Geborgenheit, der sie bis eben geschützt hatte, in tausend winzige Fetzen zerrissen.

Unvermittelt setzte sie sich auf. Er griff nach ihrem Handgelenk, aber sie zog ihren Arm zurück.

»Nach allem, was geschehen ist?«, schrie sie. »Nach allem, was in dieser Nacht zwischen uns gewesen ist, willst du mich wieder ans Bett fesseln?«

»Es ist nur zu deinem Besten.«

Der Verrat versetzte Renee einen tiefen, schmerzhaften Stich. »Es ist nur, weil ich dir von meinen Jugendstrafen erzählt habe, nicht wahr? Jetzt glaubst du, dass ich den Überfall doch begangen habe!«

»Nein.«

»Doch! Du würdest es nicht tun, wenn ich es dir nicht gesagt hätte.«

»Hör mir zu, Schätzchen. Ich weiß jetzt, wie viel Angst du vor dem Gefängnis hast und warum du Angst davor hast. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass du nicht abzuhauen versuchst. Nicht weil du schuldig bist, sondern weil du Angst hast. Aber wenn du es tust, ist dein Leben vorbei. Hast du das verstanden?«

»Ich werde nicht abhauen. Ich schwöre, dass ich es nicht tun werde!«

Er packte ihr Handgelenk.

»Tu mir das nicht an, John. Tu es nicht!«

Sie versuchte sich loszureißen, aber er ließ nicht locker.

»Ich habe dir vertraut!«

»Du kannst mir immer noch vertrauen.«

»Den Teufel werde ich tun!«

»Renee«, sagte er sanft. »Bitte.«

Sie wehrte sich verbissen gegen ihn, aber er hielt sie fest, bis sie aufgab. Sobald sie sich entspannte, zog er ihren Arm heran und ließ die Handschelle zuschnappen. Tränen brannten in ihren Augen. »Du Mistkerl!«

Er schloss die Augen, als wollte er abwarten, bis der Schmerz ihrer Beleidigung nachließ, dann öffnete er sie wieder. »Ich möchte nur vermeiden, dass ich morgen früh aufwache und du verschwunden bist.«

Dann hob er zu ihrer Überraschung seinen Arm und schloss die andere Schelle darum.

»Bleib einfach nur heute Nacht bei mir, Renee, und wir werden die Sache irgendwie überstehen. Ich verspreche es.«

Ich verspreche es. Warum wollte er ihr Versprechungen machen? War ihm nicht klar, dass es ihr in der Sekunde, als er nach den Handschellen gegriffen hatte, unmöglich geworden war, ihm auch nur ein einziges Wort zu glauben? Bleib bei mir. Als hätte sie in dieser Angelegenheit irgendeine Wahl!

Er legte den Kopf aufs Kissen. Sie saß immer noch gegen das Kopfende des Betts gelehnt, doch nun zog sie die Decke , über ihren nackten Körper und drehte demonstrativ den Kopf von ihm weg.

»Renee«, flüsterte er. »Leg dich hin.«

»Geh zur Hölle.«

Längere Zeit schwiegen sie. Renee schaute nicht in seine Richtung, aber sie wusste, dass er immer noch wach war. Wie konnte er ihr so etwas antun?

»Ich weiß, dass du es nicht verstehst«, murmelte er. »Aber ich tue es nur, weil du mir so viel bedeutest.«

»Nein. Du tust es, weil du ein Bulle bist, der nicht glaubt, dass ein Mensch sich ändern kann.«

»Wenn du Recht hättest, wärst du in diesem Moment auf dem Weg ins Gefängnis.«

Renee kämpfte hartnäckig gegen ihre Tränen an, weil sie sich ihm gegenüber kein weiteres Zeichen der Schwäche erlauben wollte. Sie hatte sich vor ihm bis auf die Seele entblößt, doch das schien ihm überhaupt nichts zu bedeuten. Plötzlich kam sie sich vor, als wären sie eine Million Kilometer voneinander entfernt, obwohl sie ihm noch vor wenigen Augenblicken näher als irgendeinem anderen Mann gewesen war.

Schließlich legte sie sich doch hin, aber nur, weil es ziemlich unbequem werden würde, die Nacht im Sitzen zu verbringen. Er wollte sie berühren, doch sie stieß seine Hand weg und ging so weit auf Abstand, wie es die Handschellen erlaubten. Er stieß verzweifelt den Atem aus.

»Vertrau mir einfach«, flüsterte er. »Bitte.«

»Ich habe dir vertraut, John. Bis zu dem Augenblick, als du mich wieder in Ketten gelegt hast.« Sie hielt kurz inne. »Aber diesen Fehler werde ich kein zweites Mal machen.«

»Gehen sie denn niemals nach Hause?«, fragte Paula Tom flüsternd, während sie einen weiteren Teller Nachos aus der Mikrowelle holte. »Ich dachte, sie wollten nach dem Spiel aufbrechen. Jetzt ist es schon fast neun Uhr!«

Tom seufzte. »Möchtest du, dass ich etwas zu Steve sage?«

Sie wusste, dass Tom es tun würde, wenn sie es wirklich wollte. Aber wie üblich setzten sofort ihre Schuldgefühle ein. Steve und Rhonda drohten sie in den Wahnsinn zu treiben, aber er war nun einmal Toms Cousin. Es war der einzige Punkt - wirklich der Einzige -, in dem sie und Tom jemals unterschiedlicher Meinung gewesen waren. Aber sie versuchte,. Verständnis voll zu sein. Schließlich war Steve Toms einziger näherer Verwandter.

Und eigentlich war Steve gar nicht so schlimm. Es war sein billiges blondiertes Flittchen, das sie in den Wahnsinn trieb.

Paula seufzte. »Nein. Schon gut. Sie werden bestimmt nicht ewig bleiben, oder?«

»Schaut mal!«, kreischte Rhonda aus dem Wohnzimmer. »Sie zeigen den Schrecken vom Amazonas! Auf dem Großbildschirm kommt der Film bestimmt wahnsinnig gut!«

O nein!

Paula hatte plötzlich das Gefühl, dass Steve und Rhonda ihre Wohnung niemals verlassen würden, dass sie den Rest der Ewigkeit hier verbringen würden, um sich auf Paulas Sofa zu räkeln, ihren Kühlschrank leer zu futtern und ihre Fernbedienung zu bunkern. Von Zeit zu Zeit stand Rhonda auf, um das Bad aufzusuchen, wo sie sich ihren feuerroten Lippenstift mit Toilettenpapier abwischte, das sie auf der Ablage vor dem Spiegel zurückließ, und sich in einen Nebel aus billigem Parfüm hüllte. Wenn sie zurückkam, warf sie sich wieder aufs Sofa, bis die Prozedur von neuem begann.

»Tut mir Leid«, sagte Tom. »Kannst du sie noch ein wenig länger ertragen?«

Paula resignierte seufzend. »Klar. Ich liebe den Schrecken vom Amazonas. Wirklich!«

Tom lächelte. »Du bist eine schlechte Lügnerin. Aber dafür liebe ich dich.«

Sie nahm den Nacho-Teller in die Hand und kehrte mit Tom ins Wohnzimmer zurück.

Steve hatte sich neben Rhonda auf dem Sofa breit gemacht. Er sah fast so gut aus wie Tom, aber nicht ganz, sein Haar war eher rötlich als blond, und seine Gesichtszüge waren nicht so markant. Aber was den Charakter betraf, lagen die beiden an den entgegengesetzten Enden des Spektrums. Steve war ruhig und grüblerisch, während Tom fröhlich und freundlich war. Trotzdem war Steve ein attraktiver Mann, der sogar noch besser ausgesehen hätte, wenn nicht der blaue Fleck auf einer Seite seines Gesichts, der Schnitt in seiner Wange und die aufgeplatzte Lippe gewesen wären. Als Tom ihn gefragt hatte, wie es dazu gekommen war, hatte er gesagt, er hätte ein paar Schläge einstecken müssen, als er versucht hatte, eine Kneipenschlägerei zu beenden. Paula hätte am liebsten laut geschrien. Wenn er auch nur einen Funken Stolz besäße, hätte er sich einen Job in anständiger Umgebung gesucht und nicht in diesen anrüchigen Clubs. Andererseits ... wenn er auf solche Dinge Wert legen würde, hätte er sich niemals Rhonda als Freundin aussuchen dürfen.

»So«, sagte Paula und stellte mit einem gezwungenen Lächeln die Nachos auf den Couchtisch. »Hier ist der Nachschub.«

Rhonda warf ihr Haar über die Schulter zurück und blickte mit einem angewiderten Schnaufen auf den Teller. »Musstest du diesmal unbedingt Bohnen drauftun?«

Paula stand reglos da. »Ich wusste nicht, dass du keine Bohnen magst.«

»Aber jetzt weißt du es.«

»Komm schon, Rhonda«, sagte Steve, ohne den Fernseher einen Moment aus den Augen zu lassen. »Sei nicht so wählerisch. Iss einfach die verdammten Nachos.«

Sie antwortete mit einem dramatischen Augenrollen. »Gut, dann esse ich sie eben!« Sie nahm einen Nacho und entfernte jede einzelne Bohne davon, die sie in einem kleinen Häufchen auf dem Teller zurückließ, bevor sie sich den halbnackten Nacho in den Mund steckte.

Wutschäumend stürmte Paula in die Küche zurück. Sie fragte sich, ob sie eine schlechte Gastgeberin wäre, wenn sie die Bohnen einzeln in Rhondas Nase schob.

Tom folgte ihr mit beschwichtigend erhobenenen Händen. »Ich weiß, sie kann einem ziemlich auf den Geist gehen. Aber ich glaube, das liegt hauptsächlich am Entzug. Steve sagt, dass sie auf Turkey kommt. Sobald sie das Zeug absetzt ...«

»Entzug? Willst du mich auf den Arm nehmen? Sie hat sich vor zehn Minuten in meinem Badezimmer eine Linie reingezogen!«

Tom sackte resigniert in sich zusammen. »Okay. Dann liegt es vielleicht am Koks, dass sie so unausstehlich ist.«

»Es liegt an ihr, dass sie so unausstehlich ist!«

»Versuch einfach, tolerant zu sein, ja? Steve wird bald wieder zur Vernunft kommen und sie abservieren. Ich weiß es.«

Tom kam näher, schloss Paula in die Arme und gab ihr einen Kuss, der ihre Knie weich werden ließ. Auf einmal war sie nicht nur bereit, alles Mögliche von Rhonda zu tolerieren, sondern hatte sogar gewisse Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wer Rhonda war.

Tom liebkoste ihren Nacken, und ihr liefen kleine Schauder des Entzückens über den Rücken. »Warum machen wir nicht im Schlafzimmer weiter?«

»Jetzt? Während sie noch hier sind?«

»Sie werden kaum bemerken, dass wir eine Zeit lang verschwunden sind.«

Er nahm Paula an der Hand und führte sie ins Wohnzimmer zurück. »He, Steve. Paula und ich gehen jetzt ins Bett. Ihr könnt euch anschauen, was ihr wollt. Lasst später einfach die Tür ins Schloss fallen.«

Rhonda schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen, da sie immer noch damit beschäftigt war, systematisch die Bohnen von den Nachos zu entfernen. Steve brummte nur.

Tom führte Paula ins Schlafzimmer, und sie machte die Tür hinter sich zu. »Wieso muss ich ständig daran denken, dass sie mich nur wegen meines Großbildfernsehers lieben?«

»Komm schon, Paula«, sagte Tom lächelnd. »Was ist plötzlich los mit dir? Sonst entscheidest du doch immer im Zweifelsfall für den Angeklagten. Selbst wenn es um schäbige, drogenabhängige Klugscheißer wie Rhonda geht.«

Paula musste unwillkürlich zurücklächeln. Er hatte Recht. Sie hatte immer zu den exzessiv optimistischen Menschen gehört, die versuchten, in jeder Lebenslage etwas Gutes zu sehen. Aber in letzter Zeit, seit Renees Verhaftung, hatte sie das Gefühl, dass sich die Dinge vielleicht doch nicht immer zum Besten entwickelten.

»Weißt du noch, wie wir im letzten Sommer die Spiele der Rangers gesehen haben?«, fragte sie Tom. »Du und ich und Steve und Renee?«

»Ich erinnere mich sehr gut daran.«

»Damals hatte ich mir vorgestellt, wir vier würden für immer Zusammensein.« Sie seufzte bedauernd. »Schade, dass es nicht funktioniert hat. Nicht dass ich mir gewünscht hätte, Renee wäre immer noch mit Steve zusammen, aber ...« Paula brach ab, dann stieß sie verzweifelt den Atem aus. »Tut mir Leid, Tom. Ich wollte Steve nicht herabsetzen, aber ...«

»Schon gut. Ich weiß, dass Steve Fehler hat. Ich hoffe nur, er begreift eines Tages, dass jemand wie Renee besser für ihn ist als jemand wie Rhonda.«

Paula seufzte. »Ich vermisse Renee so sehr. Meinst du, sie hat es bis New Orleans geschafft?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ruft sie bald wieder an.«

»Aber sie kann nie mehr zurückkommen. Sie ist für mich wie eine Schwester gewesen. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen soll.«

»Hörst du endlich auf, ständig an Renee zu denken? Damit machst du dich nur verrückt.«

Tom setzte sie aufs Bett und holte seine Gitarre aus einer Ecke des Schlafzimmers. Sie lehnte sich gegen die Kissen und seufzte vor Vergnügen, als Tom für sie sang. Seine Stimme war so wunderbar, und jedes Mal, wenn er sie nur für sie erklingen ließ, kam sie sich wie die glücklichste Frau der Welt vor. Sie schloss die Augen und ließ sich von seiner Stimme umspülen wie von einer sanften Welle an einem einsamen Strand, die all ihre Sorgen fortwusch ...

»He! Könnt ihr da drinnen vielleicht etwas leiser sein? Wir versuchen hier draußen einen Film zu sehen!«

Paula schlug die Augen auf. Rhonda hatte mit voller Lautstärke gebrüllt.

Toms Finger erstarrten auf den Saiten. Dann lächelte er Paula an, und trotz Rhondas Störung lachten sie laut auf. Tom stellte die Gitarre ab, nahm Paulas Hand und zog sie herum, bis sie rückwärts auf die Matratze fiel. Dann küsste er sie, wie nur Tom sie küssen konnte, und sie fragte sich, wie sie ein Leben ohne Tom ausgehalten hatte.

Aus dem Wohnzimmer drang der Lärm des Schreckens vom Amazonas und Rhondas gelegentliche theatralische Angstschreie.

»He!«, rief Tom. »Könnt ihr da draußen vielleicht etwas leiser sein? Wir versuchen hier drinnen Sex zu haben!«

»Tom!«, sagte Paula.

Er grinste frech.

»Du bist wirklich das Letzte!«

»Nein, ich bin der Beste! Soll ich es dir beweisen?«

Dann küsste er sie wieder, und sie spürte, dass er kein bisschen übertrieben hatte. Doch als ihre Berührungen intimer wurden, musste Paula wieder an ihre alten Zweifel denken. Auch wenn sie sich bestens verstanden, hatte sie stets Renees Warnungen im Hinterkopf.

Er betrügt dich. Wach endlich auf!

Tom hatte Renees Anschuldigungen immer mit einer vernünftigen Erklärung zurückweisen können - ein Freund hatte ihn besucht, oder irgendeine Frau hatte sich in der Apartmentnummer geirrt. Und Paula glaubte ihm. Sie liebte ihn. Wie konnte sie an ihm zweifeln?

Wann will er dir das Geld zurückzahlen, das du ihm geliehen hast? Niemals?

Paula wollte nicht mehr daran denken. Schließlich hatten sie erst vor wenigen Tagen darüber gesprochen, nicht wahr? Und was hatte Tom da gesagt?

Ich habe das bestimmte Gefühl, dass ich schon sehr bald zu Geld kommen könnte.

Paula wusste nicht genau, was er damit gemeint hatte, aber er hatte nicht vergessen, dass er ihr Geld schuldete, und er wollte es ihr auf jeden Fall zurückgeben. Und das war schließlich das Einzige, worauf es ankam.

Als Renee am nächsten Morgen aufwachte, war sie zunächst desorientiert, und es dauerte einen Moment, bis sie wieder wusste, wo sie war. Dann drehte sie sich um und sah John. Sein Kopf lag auf dem Kissen, er hatte Bartstoppeln auf Wangen und Kinn, und sein dunkles Haar war im Schlaf zerzaust. Schlagartig erinnerte sie sich, was gestern zwischen ihnen geschehen war, an die unglaublichen Gefühle, die sie noch nie zuvor erlebt hatte.

Kurz bevor alles wieder kaputtgegangen war.

Sie betrachtete ihre aneinander gefesselten Handgelenke, und sie musste schlucken und die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu weinen. Wie hatte er ihr so etwas antun können? Wie hatte er mit ihr schlafen können, um ihr dann wieder Handschellen anzulegen, als wäre das, was geschehen war, ohne jede Bedeutung?

Weil er nicht an ihre Unschuld glaubte. Er behauptete zwar, er würde es tun und dass alles nur zu ihrem Besten war, aber letztlich hatte er seine Meinung über sie grundlegend geändert, als sie von ihren Jugendstrafen erzählt hatte. Zweifellos würde sie im Gefängnis landen, bevor dieser Tag vorbei war.

Sie legte sich auf das Kissen zurück und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie sah, wie das Sonnenlicht glitzernd durch die Jalousien drang, und fragte sich, ob dies der letzte Sonnenaufgang war, den sie in Freiheit erlebte. Dann blickte sie auf den Nachttisch.

Und sah den Schlüssel.

Sie starrte ihn mehrere Sekunden lang an und konnte es zunächst nicht fassen. Der Schlüssel für die Handschellen lag tatsächlich in Griffweite da.

Sie sah wieder John an, der immer noch schlief.

Beim nächsten Atemzug erkannte sie, was sie tun musste, und ihr Herz schien Purzelbäume zu schlagen.

Genauso wie in der Hütte, als sie Johns Autoschlüssel erspäht hatte, wusste sie, dass sie diese Chance jetzt nutzen musste, bevor noch mehr Sonnenlicht ins Zimmer fiel und ihn weckte.

Sie nahm vorsichtig den Schlüssel vom Nachttisch, drehte sich herum und wartete, während sie ihn in der geschlossenen Hand hielt. John schlief immer noch.

Sie sah sich im Raum um und entdeckte ihre Jeans und ihr Sweatshirt. Mit der Unterwäsche musste sie sich nicht aufhalten. Sie brauchte nur etwas, um sich zu bedecken, bevor sie die Stadt verlassen konnte. Sie plante die günstigste Reihenfolge, wie sie sich die Kleidungsstücke schnappen würde. Als ihre Strategie feststand, schob sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Das folgende Klicken klang in ihren Ohren wie eine Explosion, aber John wachte nicht auf. Langsam, ganz langsam zog sie ihre Hand aus der Schelle, während ihr Herz wie ein Presslufthammer ratterte.

Sie legte die Schelle neben sein Handgelenk auf das Kissen, als er sich neben ihr rührte.

Nein, nein, nein ...

Er drehte sich zu ihr herum, so dass er ihr nun das Gesicht zuwandte. Seine Augenlider zuckten. In Panik griff sie nach der Handschelle. Er wachte auf. Sie würde es nicht mehr schaffen. Er würde sehen, wie sie zu fliehen versuchte.

John blinzelte. Er war noch benommen und konzentrierte sich nicht sofort auf sie. Hastig tat sie das Einzige, was ihr einfiel. Sie legte die Handschelle um den Bettpfosten und ließ sie zuschnappen.

Nun riss John die Augen auf. Er wollte sie packen, aber sie war schneller und sprang nackt aus dem Bett, bis sie mit dem Rücken zur Kommode stand.

»Renee! Komm sofort zurück!«

Schnell hob sie Jeans und Sweatshirt auf und drückte die Sachen an sich. Er starrte völlig fassungslos auf die Handschellen und zerrte ein paarmal heftig daran. Als sie kein Stück nachgaben, fuhr er wieder zu ihr herum.

»Renee. Du darfst nicht abhauen. Damit löst du keins deiner Problem!«

»Doch! So komme ich nicht ins Gefängnis.«

»Du wärst für immer auf der Flucht. Willst du das wirklich?«

»Wenn es bedeutet, dass mir der Knast erspart bleibt, ja! Dann will ich es so!«

Er ließ verzweifelt den Kopf hängen und riss ihn sogleich wieder hoch. »Hör mir zu. Du hast die Chance, heil aus der Sache rauszukommen, wenn wir nur noch ein paar Beweise ausfindig machen können, die für dich sprechen.«

»Aber du willst mir nicht helfen. Jetzt nicht mehr. Nachdem du mich für schuldig hältst.«

»Das habe ich nie gesagt!«

»Richtig. Du hast stattdessen die Handschellen sprechen lassen.«

John hob beschwichtigend eine Hand. »Ich weiß, dass du große Angst hast, Schätzchen. Aber ich habe dir gesagt, dass ich dir helfe, und ich werde es auch tun.«

»Du hältst mich für schuldig! Sonst hättest du mich letzte Nacht nicht gefesselt!«

»Das ist nicht wahr, Renee! Verdammt! Würdest du mir vielleicht mal zuhören?«

»Ich muss jetzt gehen.«

Sie zwängte sich in die Jeans, hielt die Luft an und zog den Reißverschluss zu. Dann schlüpfte sie ins Sweatshirt und nahm die Autoschlüssel aus seiner Jeans.

»Renee. Du wirst nicht ins Gefängnis kommen. Ich werde alles tun, um es zu verhindern. Mach mich los, dann reden wir über alles.«

Sie ging zur Tür.

»Renee! Bleib hier!«

Sie drehte sich noch einmal um und verfluchte die Tatsache, dass sie ihre einzige Fluchtmöglichkeit nutzen musste. Und sie verfluchte John, seinen wunderbaren nackten Körper, die lebensgroße Erinnerung daran, wie schön es letzte Nacht mit ihm gewesen war. Sie war überzeugt, dass sie das Richtige tat, aber trotzdem kamen ihr Tränen, trotzdem verspürte sie ein so tiefes Bedauern, dass es ihr das Herz zu zerreißen drohte.

»Nein, John«, sagte sie mit zitternder Stimme. »So ist es besser. Für uns beide. Du musst dich nicht mit der Frage herumquälen, ob du mich ausliefern solltest. Ich habe dir die Entscheidung aus der Hand genommen. Du kannst mir die Schuld zuschieben, dass ich abgehauen bin, so dass du kein schlechtes Gewissen haben musst.«

»Verdammt, Renee! Tu es nicht!«

Sie wäre so gerne geblieben. Sie stand kurz davor, jedes Wort zu glauben, das er zu ihr sagte, weil sie sonst nichts hatte, woran sie glauben konnte. Aber das ging nicht, Die Handschellen, die sie in dieser Nacht getragen hatte, bedeuteten, dass er nicht an ihre Unschuld glaubte, ganz gleich, wie sehr er sie vom Gegenteil zu überzeugen versuchte.

Wenn sie doch nur die kostbaren Augenblicke zurückholen könnte, die sie letzte Nacht miteinander geteilt hatten, als die übrige Welt verschwunden war und er ihr gezeigt hatte, wie wunderbar Sex sein konnte. Sie hatte es vorher nicht gewusst. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass es so sein konnte. Anschließend hatte sie sich nur gewünscht, an seiner Seite einzuschlafen, um an diesem Morgen aufzuwachen und sich erneut von ihm bestätigen zu lassen, dass er an sie glaubte und ihr helfen würde, dass sie vielleicht, nur vielleicht, doch noch eine Zukunft hatte.

Dann hatte er alles zerstört, als er ihr die Handschellen angelegt hatte.

»Ich werde dich nicht hilflos zurücklassen«, sagte sie. »Später rufe ich Sandy an und sage ihr, dass sie dich befreien soll.«

John schloss die Augen. »Ich bin begeistert!«

»Ich sage ihr, dass wir uns wegen irgendwas gestritten haben und ich so wütend war, dass ich dich gefesselt habe und gegangen bin. Sie wird es glauben.«

»Nein, das wird sie nicht. Sie mag dich, Renee. Sie wird kein einziges Wort ...«

»Ich werde dafür sorgen, dass sie mir glaubt. Und es tut mir Leid wegen deines Wagens, aber ich muss ihn mitnehmen. Ich weiß, dass das Autodiebstahl ist, aber mir bleibt keine andere Wahl. Du wirst ihn bald wiederbekommen. Irgendwie. Das verspreche ich dir.«

Sie ging zur Tür hinaus.

»Renee.«

Diesmal war seine Stimme sanft und flehend, und sie drang mühelos bis zu ihrem Herzen vor. Sie blieb stehen, mit dem Rücken zu ihm, eine Hand am Türrahmen, und wünschte sich, Gott hätte für diese Geschichte ein anderes Ende vorgesehen.

»Bedeutet es dir gar nichts, was letzte Nacht zwischen uns war?«, sagte er.

Tu mir das nicht an, bat sie ihn stumm, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Lass mich einfach gehen und vergiss, dass du mir jemals begegnet bist.

Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, dann drehte sie sich um und blickte ihm noch einmal in die Augen.

»Es hat mir mehr als alles andere bedeutet, John. Ich wünsche mir nur, es hätte auch dir etwas bedeutet.«

Dann verließ sie das Schlafzimmer. Sie hörte, wie er laut fluchte und mit der Faust gegen den Bettrahmen schlug. Dabei zuckte sie zusammen und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen, weil sie nicht wusste, ob sie sich auf den Beinen halten konnte. Sie atmete tief und zitternd ein, dann wappnete sie sich und legte den Schlüssel für die Handschellen auf den Küchentisch.

Sie musste zu Paula fahren, sich etwas Geld borgen und dann ganz schnell aus der Stadt verschwinden.