Kapitel
34
Für
immer
Aron, der von der Dogin überraschend schnell wieder zu meinem Tutor berufen worden war, ließ mich mit Philippe allein nach Sulmona reisen. Christopher war aus seinem Heilschlaf noch nicht erwacht, und Coelestin hatte mir versichert, dass er das auch nicht so schnell tun würde.
Nachdem die Anklage gegen mich bis auf weiteres aufgehoben worden war, hatte ich in den letzten beiden Tagen ununterbrochen an Christophers Bett gesessen und ihm einfach nur beim Schlafen zugesehen. Er wirkte so friedlich, als hätte er all die Schrecken der vergangenen Tage vergessen und träumte jetzt einen wunderschönen Traum. Ihn in der Basilika zurückzulassen fiel mir unsagbar schwer, doch Philippe allein nach Hause zu schicken kam nicht in Frage.
Aron hatte Philippes Erinnerungen manipuliert. Meine Aufgabe war es, sie mit Details auszuschmücken, um sie zu festigen. Also erzählte ich Philippe während der Zugfahrt von unseren tollen Badeausflügen an den Lido, unseren Shopping- und Besichtigungstouren durch Venedig und den gemeinsamen Abenden mit Christopher und Lucia.
Philippe wirkte manchmal ein wenig verwirrt oder versuchte, das Thema zu wechseln – vermutlich wollte er nicht zugeben, dass er sich an das eine oder andere nicht mehr erinnern konnte –, glaubte mir aber die Lügengeschichten.
Bei Lucia schied eine Manipulation aus. Sie stand schon zu lange in Sanctifers Diensten – und das freiwillig. Bei ihr wäre höchstens eine mehrjährige Amnesie möglich gewesen. Doch Lucia hatte abgelehnt. Da sie jedoch aufrichtig bereute und schwor, das Geheimnis der Engelswelt zu bewahren, durfte sie dennoch die Welten wechseln. Dass sie unter besondere Beobachtung gestellt wurde, war ihr lieber, als in der Engelswelt zu bleiben. Sie wollte Philippe wiedersehen.
Aron gab mir eine Woche frei. Danach sollte ich ihn in der Einsiedelei über Sulmona treffen. Während meines Aufenthaltes bei Sanctifer hatte er meinen Eltern Postkarten von meinem angeblichen Italientrip mit Christopher geschickt – in Christophers Handschrift, ich schrieb niemals welche. Natürlich hatte er auch meinen ungeplanten Heimatbesuch angekündigt.
Nach allem, was ich erlebt hatte, war es schön, für ein paar Tage einfach nur Lynn zu sein. Meine Freunde zu treffen, mit ihnen loszuziehen, Eis essen zu gehen oder abends Sulmona unsicher zu machen, fühlte sich wunderbar an. Einzig Christopher fehlte mir – jeden Tag ein wenig mehr. Zu wissen, dass ich ihn bald wiedersehen würde, erleichterte mir das Abschiednehmen.
Philippe brachte mich zum Bahnhof. Ich drängte ihm noch im Auto einen schnellen Abschied auf. Er musste nicht mitbekommen, dass ich gar nicht nach Venedig fuhr.
Als er im Verkehrsgewühl verschwunden war, schulterte ich meinen Rucksack und machte mich auf den Weg zur Einsiedelei. Der schmale Pfad führte steil nach oben. Trotz der gleißenden Septembersonne kam ich gut voran. Ich wollte so schnell wie möglich zu Christopher. Hoffentlich hatte Aron keinen längeren Zwischenstopp mit Lerneinheiten in der Eremitage geplant.
Kurz bevor ich die Einsiedelei erreichte, legte ich dort, wo die Bergkante senkrecht nach unten fiel, eine kurze Pause ein. Traumhaft schön in das breite Tal eingebettet, lag Sulmona mir zu Füßen. Genau hier hatte ich zum ersten Mal Flügel bekommen: rosafarbene Plüschflügel. Damals kannte ich noch so wenig von Christophers Welt. Vermutlich hätte ich mich zu Tode gefürchtet, wenn ich gewusst hätte, wie sie in Wirklichkeit war.
Eine kühle Brise wehte vom Tal herauf. Ein sanftes Kribbeln zog über meinen Rücken und lockte mir ein Lächeln ins Gesicht. Mein Körper wollte sich in die Tiefe stürzen, meine Flügel den Wind spüren. Ich war ein Racheengel – und glücklich darüber.
Als sich in die Brise der Hauch eines Gewittersturms mischte, stockte mir der Atem. Es gab nur einen, der nach Sommerregen roch: Christopher. Er lehnte an der Eingangstür zur Einsiedelei und beobachtete mich mit einem Lächeln, das mich in seine Arme trieb.
Mein Atem ging viel zu schnell, als ich vor ihm stand. Auf seinem Gesicht waren die Spuren des Kampfes noch zu erkennen, doch Christophers Augen strahlten voller Lebensfreude. Als würde er mich zum ersten Mal sehen, glitt sein Blick über mein Gesicht und erforschte jede Kleinigkeit. Vorsichtig, als hätte er mich noch nie berührt, folgten seine Hände, strichen meine Augenbrauen entlang, die Konturen meiner Wangen und schließlich über meine Lippen.
»Als ich dich am Kai stehen sah, dachte ich, sie würden dich in Stücke reißen. Doch stattdessen hast du sie besiegt und mir und vielen anderen das Leben gerettet«, gab er zu, bevor er mich an sich zog, als gäbe es kein Morgen mehr. Und obwohl er mich schon so fest in seinen Armen hielt, drängte ich mich noch dichter an ihn heran.
Christophers Lippen fanden meine Lippen. Stürmisch eroberte er meinen Mund. Seine Sehnsucht nach mir war ebenso groß wie meine nach ihm. Doch nicht nur der Wunsch, nie wieder getrennt zu werden, auch alle unsere Ängste schienen sich in diesem Kuss zu vereinen. Es schmeckte süß und schmerzhaft zugleich. Ein Versprechen auf Unendlichkeit mit dem bitteren Hauch von Vergänglichem. Wir waren Racheengel und bewegten uns auf einem Grat zwischen Gut und Böse. Doch wir kämpften nicht allein – wir hatten uns.
Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit schob Christopher mich ein kleines Stück von sich. In seinen Smaragdaugen lag ein verführerisches Funkeln, das mich schwindelig machte. Und ein wenig Unsicherheit, die mir Sorgen bereitete.
»Ich …« Christopher suchte nach Worten – er war tatsächlich unsicher. »Ich habe mein Versprechen nicht vergessen.«
Ich versuchte, in seinen Augen den Grund für seine Anspannung zu finden. Doch Christopher ahnte, was ich vorhatte, und betörte mich mit einem zärtlichen Kuss.
Bei seinem zweiten Anlauf wirkte er gefasster – und noch tausendmal verführerischer. Meine Knie wurden weich, als er mir verriet, dass Aron in Venedig geblieben war und wir dort erst in zwei Tagen erwartet wurden. Den Halt unter den Füßen verlor ich ein paar Minuten später, als wir in die Engelswelt wechselten und Christopher mit mir zu einem der nahegelegenen Berggipfel flog.
Obwohl es nicht mein erster Flug mit Christopher war, berauschte es mich, mit ihm zu fliegen: den Wind in seinen lichtdurchwirkten Schwingen zu hören, seinen Geruch einzuatmen und sein schnell schlagendes Herz zu spüren. Er war ebenso aufgeregt wie ich.
Die Berghütte, auf die er zusteuerte, stand auf einer zu Fuß unerreichbaren Alm, mitten auf einem breiten Felsplateau. Ihre Wände waren mit Holzschindeln verkleidet, das Dach mit grauen Schieferplatten bedeckt – und sie gehörte uns ganz allein.
Erneut schlich sich ein Zeichen von Unsicherheit bei Christopher ein. Hatte er Angst, die Hütte könnte mir nicht gefallen? Geradezu schüchtern öffnete er die Tür und ließ mich eintreten.
Ein heller, freundlicher Raum mit einfachen, aber ausgesuchten Möbeln empfing mich. Eine kleine Küche mit einer Theke, ein offener Kamin, ein Badezimmer und ein Schlafzimmer, oben auf der Galerie unter dem Dach, vervollständigten die Einrichtung.
»Und, gefällt es dir?« Christopher hatte mich keine Sekunde aus den Augen gelassen.
»Ja, sehr«, antwortete ich und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Inzwischen war ich mindestens genauso verunsichert wie er. Selbst Christophers Kuss half nicht, dieses Gefühl zu vertreiben. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen.
»Wa…s« – ich vernuschelte das Warum zu einem Was. Zu fragen, warum er mich hierhergebracht hatte, hätte die romantische Stimmung ruiniert – »was verheimlichst du vor mir?«
Christopher löste sich aus meinen Armen. Auf seiner Stirn erschien die senkrechte Falte, die mir verriet, dass etwas nicht stimmte. Schließlich wandte er sich von mir ab, um sich anstatt mit mir mit dem Verstauen meines Rucksacks zu beschäftigen. Meine Frage blieb unbeantwortet. Ein eisiger Regenguss hätte nicht schlimmer sein können. Irgendetwas musste passiert sein. Vielleicht wieder so ein dämliches Gesetz von der Dogin und ihrem Rat. Als ich jedoch das Band in Christophers Händen aufblitzen sah, verschwand meine Angst, nur mein Herz hörte auf zu schlagen.
»Du …« Christopher atmete tief durch. »Du musst nicht, wenn du nicht willst«, begann er so verlegen, dass ich gar nicht anders konnte, als dahinzuschmelzen.
Unsere Blicke fanden sich. In seinen Augen spiegelte sich unendliche Liebe. Er war dabei, mir das größte Geschenk zu machen, das er mir geben konnte. Vorsichtig, als hätte er Angst, ich würde schreiend davonlaufen, kam er auf mich zu.
»Aber ich hoffe, dass du möchtest«, flüsterte er sanft, als er vor mir stand und mir die schmale Spange mit den silbernen Engelsflügeln entgegenhielt, die seinem eigenen Wächterband glich wie ein zierlicher Zwilling.
Christopher, der Engel, der geglaubt hatte, niemals wieder lieben zu können, legte mir sein Herz zu Füßen. Er war bereit, seine Gefühle zu teilen und mir zu erlauben, die Bindung zu erwidern, mit der er an mich gefesselt war.
Überwältigt vor Glück schlang ich meine Arme um seinen Hals, und mit einem unendlichen Kuss versicherte ich ihm, dass ich nichts lieber wollte, als an ihn gebunden zu sein.
Die beiden Tage mit Christopher wurden die schönsten meines Lebens. Spüren zu können, was er fühlte, während er mich ansah, küsste und wir uns liebten, war unglaublich. Die Intensität seiner Gefühle berührte mein Herz und meine Seele – und Christopher erging es nicht anders.
Wir zögerten den Zeitpunkt unserer Abreise so lange wie möglich hinaus. Ein heftiger Gewitterregen kam uns zu Hilfe. Schließlich hatte ich noch nicht gelernt, wie ich mich mit Engelsmagie vor der Nässe schützen konnte. Leider tauchte die Sonne wieder auf. In warmen Orangetönen färbte sie den abendlichen Himmel über den Abruzzen. Wir standen am Rand des Felsplateaus und beobachteten, wie sie sich den Berggipfeln näherte.
Ich schloss die Augen, obwohl ich mich an der Almwiese mit ihrem zarten Blütenmeer und dem Panorama kaum sattsehen konnte, und versuchte, meinen Lieblingsduft in mich aufzunehmen. Er wirkte berauschend, doch das doppelte Sommergewitter überforderte meine Sinne. Christopher bemerkte, dass ich schwankte, und schlang seine Arme fester um meine Taille.
»Riechst du es auch?«, fragte ich ihn.
»Das Gewitter?« Christopher wirkte ein wenig irritiert.
»Es riecht genauso unbeschreiblich wie du. Ich habe noch keinen Engel getroffen, dessen Geruch so gut zu ihm passt wie deiner zu dir.«
»Was nur daran liegt, dass du deinen eigenen Duft nicht wahrnehmen kannst.«
»Ich habe einen eigenen Engelsduft?«
Christophers Mund verzog sich zu einem spitzbübischen Grinsen. Seine Nase streifte meine Haare entlang, schnupperte an meinem Gesicht und zog weiter, bis zu meinem Hals. Dort nahm er einen tiefen Atemzug, als müsste er sich noch einmal versichern, bevor er mir antwortete.
»Du duftest wie der Honigtau einer frisch erblühten Feuerlilie«, flüsterte er, bevor er mein Nach-Luft-Schnappen mit einem innigen Kuss erstickte, bis mir schwindelig wurde.
Als ich die Augen wieder aufschlug, wurde mein Gleichgewichtssinn erneut auf die Probe gestellt. Unbemerkt hatte Christopher mich bis zur Felskante bugsiert.
»Was hast du vor?«, fragte ich außer Atem.
»Hast du vergessen, dass du ein Engel bist?«
»Nein – und auch nicht, dass ich nicht besonders gut fliegen kann.«
»Dann wird es Zeit, das zu ändern«, antwortete Christopher, breitete seine Flügel aus und machte einen Schritt über die Kante. Auffordernd streckte er mir seine Hände entgegen. »Du weißt, was du tun musst, du bist schon einmal geflogen«, erinnerte er mich an meinen ersten und bislang einzigen Start in der Windmühle. Allerdings hatte er mich damals mehr oder weniger überrumpelt. Jetzt wollte er, dass ich einen Schritt nach vorn machte.
»Hast du kein Vertrauen zu mir?«, neckte Christopher mich. Wäre sein Lächeln nicht so voller Wärme gewesen, hätte ich ihn einfach stehenlassen und mich in die Hütte verkrümelt. Engel, die sich über meine Flugunfähigkeit lustig machten, gab es genug. Aber Christopher schenkte mir nicht nur ein Lächeln, sondern ließ mich auch an seinen Gefühlen teilhaben. So intensiv, als würden nicht seine, sondern meine Flügel oszillieren, spürte ich die Energie, mit der er sie zum Schwingen brachte.
Ich schloss die Augen und wagte den Schritt über die Kante. Christopher würde mich auffangen, falls ich versagte. Doch noch bevor ich den Boden unter den Füßen verlor, entfalteten sich meine scharlachroten Schwingen. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, nahmen sie die Schwingung von Christophers Flügeln auf und begannen selbst zu pulsieren.
Christophers Pupillen weiteten sich, als purpurfarbene Blitze durch sie hindurchzuckten. Der Blick, mit dem er mich betrachtete, überschwemmte nicht nur meinen Körper mit Glücksgefühlen, sondern auch meine Flügel.
Kurz bevor wir die Eremitage erreichten, spürte ich, wie Christophers Muskeln sich anspannten. Beunruhigt sah ich zur Einsiedelei hinüber.
Aron stand neben der Tür und erwartete uns. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als wir vor ihm landeten. Ich wandte mich ab, damit er nicht sah, wie ich rot anlief – meine Flügel blitzten noch immer.
»Wie ich sehe, hast du Lynn auch ein wenig Ruhe gegönnt«, wandte er sich an Christopher. »Hoffentlich genügend.«
Arons Nachsatz ließ mich aufhorchen. Sein Grinsen war verschwunden. Stattdessen bildeten sich Querfalten auf seiner Stirn. Ich sah zu Christopher. Er wirkte alarmiert, und als ich seinem Blick folgte, erkannte ich auch, warum.
Während ich versucht hatte, meine Röte zu verbergen, hatte Aron ein zusammengerolltes Pergament hervorgeholt. Eine Nachricht der Dogin. Nur sie verwendete goldfarbene Siegel.
»Vermutlich verlangt sie nach deiner Gesellschaft«, sagte Aron und reichte mir das Schriftstück.
Ich reagierte nicht. Es war mir egal, dass sie der oberste Engel war. Ich würde nicht kommen. Bei meinem letzten Besuch hatte sie mich in ihr Privatverlies gesperrt.
»Soll ich ihn für dich öffnen?«, fragte Aron.
»Meinetwegen kannst du ihn ungelesen verbrennen. Ich werde ganz bestimmt nicht freiwillig zu ihr gehen.«
»Sie ist …«
»Ich weiß, wer sie ist«, fiel ich Aron ins Wort. »Aber bevor ich mich von ihr noch einmal einsperren lasse, gehe ich lieber in meine alte Welt zurück. Dann bleiben mir wenigstens noch ein paar Jahre in Freiheit.«
»Oder Stunden«, erinnerte mich Aron daran, wie mächtig die Dogin war. Sie würde nicht davor zurückschrecken, mein menschliches Dasein zu beenden.
»Vielleicht solltest du erst einmal nachsehen, was sie von dir will«, versuchte Christopher, mich zu beruhigen. »Danach kannst du immer noch entscheiden, was du tun wirst.«
Sein Vorschlag klang vernünftig. Dennoch zitterten meine Finger, als ich das Pergament entrollte. Christopher legte seine Hände auf meine Schultern, um mich zu beruhigen – und mitzulesen.
»Eine kluge Entscheidung, dich nicht nach Südamerika oder Asien zu schicken«, kommentierte er.
»Vermutlich weil sie wusste, dass du dich niemals damit abgefunden hättest, wenn sie so weit weg von dir wäre«, fiel Aron ihm ins Wort.
»Allerdings finde ich es noch ein wenig zu früh, einen so jungen Engel wie Lynn zur Hüterin Venedigs zu ernennen.« Das Unerfahren hatte Christopher zu einem Jung abgemildert – die andere Variante kannte ich von Aron.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder lieber weinen sollte. Die Dogin wollte mich nicht in ihr Verlies sperren, sondern übermorgen zum Racheengel Venedigs küren. Obwohl ich Venedig toll fand – zumindest so, wie es einmal ausgesehen hatte –, wäre ich gern ins Schloss der Engel zurückgekehrt.
Christopher spürte meine Unsicherheit und drehte mich zu sich um. »Doch nach allem, was du erlebt hast, bist du bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Auch wenn ich mich erst noch an den Gedanken gewöhnen muss, dass du mir den Zutritt zur Basilika verweigern kannst.« Christopher schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Das warme Smaragdgrün in seinen Augen vertiefte sich. »Ich hatte gehofft, dass du es werden würdest, auch wenn der Vorschlag von Sanctifer stammt.«
Ein Frösteln rieselte durch meinen Körper. Christopher zog mich in seine Arme und vertrieb die düsteren Erinnerungen.
Weder Aron noch Christopher hielten es für eine gute Idee, mich nach Venedig fliegen zu lassen. Also fügte ich mich den Anweisungen meines Tutors – der Aron trotz meiner zukünftigen Position noch ein paar Jahre bleiben würde –, wechselte mit Christopher in die Menschenwelt und nahm den Zug.
Christopher bemühte sich, mir die wesentlichen Dinge des Ernennungsrituals zu erklären, damit ich wusste, was ich wann machen musste, zu welchem Zeitpunkt ich etwas sagen sollte und wann ich etwas bekommen würde. Doch je näher wir der Stadt der Engel kamen, umso nervöser wurde ich.
Schließlich gab Christopher auf und zog mich auf seinen Schoß. »Ich werde die ganze Zeit bei dir sein«, beruhigte er mich. »Hauptsache, du lehnst bei der Zeremonie den Ring nicht ab.«
Der Siegelring, den Sanctifer mir bei meiner Abifeier gegeben und den Aron an sich genommen hatte, symbolisierte die Macht, die den Racheengel Venedigs auszeichnete. Auch wenn er nur für die Stadt und die Lagune verantwortlich war, besaß dieses kleine Gebiet größte Bedeutung. Denn hier, in Venedig, schlug das Herz der Engelswelt.
Nervös lief ich in meinem Apartment von einem Zimmer zum anderen. Doch weder hier drinnen noch draußen auf der Lagune hatte sich etwas verändert – vielleicht stand die Sonne ein wenig höher. Ein wunderschöner, wolkenloser Tag erwartete mich. Abgesehen davon wollte die Dogin mich heute zum Racheengel Venedigs küren. Wenn wenigstens Christopher hier gewesen wäre oder Aron. Doch Christopher war in der Basilika. Und Aron brachte gerade den Siegelring, dessen Wächterbann Coelestin am Morgen erneuert hatte, in den Dogenpalast. Immerhin hatten zwei Puttenengel meine Haare bereits zu einer atemberaubenden Frisur aufgetürmt, und in mein Kleid war ich auch schon geschlüpft. Es war so ausladend wie die Röcke zu Zeiten von Marie Antoinette, mit reichlich Spitzen besetzt – und weiß! Als würde ich nicht zu einer Ernennungszeremonie gehen, sondern zu einer Hochzeit – zu meiner Hochzeit. Wenigstens musste ich keinen Schleier tragen.
Schließlich kam Paul, um mich abzuholen. Er sollte mir helfen, falls ich beim Treppensteigen mit dem Rock Probleme bekam. Dass Paul mich anstarrte, als hätte er mich noch nie gesehen, verkraftete ich ja noch einigermaßen. Als er mir jedoch anbot, die Rolle des Bräutigams zu spielen, ließ ich ihn einfach stehen. Mit meinem Rock kam ich auch ohne ihn zurecht.
Noch bevor er reagieren konnte, öffnete ich die große Fenstertür vor dem Empfangszimmer und trat auf den Balkon. Eine sanfte Brise wehte vom Meer herüber und kühlte mein überhitztes Gesicht. Fast von selbst breiteten sich meine Flügel aus. Paul konnte nur noch zuschauen, wie ich abhob.
Als ich jedoch die vielen Engel entdeckte, die auf der Piazzetta vor dem Dogenpalast warteten, rutschte mir das Herz in den Rockschoß. Mir war klar, dass meine Ernennung nicht still und heimlich erfolgen würde. Aber dass so viele zusehen würden, damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich nahm all meinen Mut zusammen – unbemerkt würde ich sowieso nicht bleiben – und entschied, die Basilika als Engel zu betreten. Sie und der Dogenpalast erstrahlten bereits wieder in ihrem alten Glanz. Die Gebäude um die Piazzetta und den Markusplatz dagegen waren von Sanctifers Angriff und der Feuersbrunst noch schwer gezeichnet. Die größte und im Moment einzige Lücke vor der Basilika hatte der fehlende Campanile hinterlassen, und genau darauf steuerte ich zu.
Auf den Überresten des Glockenturms zu landen war nicht einfach. Die losen Ziegelsteine gaben nach. Ich rutschte mit ihnen ein paar Meter weit nach unten – und lächelte dennoch. Schließlich wurde ich beobachtet. Auch von Christopher. Als ich ihn entdeckte, schlug mein Herz gleich dreimal so schnell. Der Blick, mit dem er mich ansah, ließ mich die vielen Engel um mich herum vergessen. Er steckte voller Liebe und Zärtlichkeit, Bewunderung und Anerkennung.
Obwohl das Ritual der Ernennung nicht vorsah, dass der zukünftige Racheengel Venedigs an der Seite eines anderen Racheengels die Basilika betrat, kam Christopher mir entgegen. Wie die anderen Engel des Zirkels trug er einen langen schwarzen Umhang, der ihn größer wirken ließ, als er ohnehin schon war.
»Sehr ungewöhnlich, dein Auftritt«, flüsterte er, während er mit mir durch die sich teilende Menge schritt. »Aber es ist wichtig, dass sie in dir nicht nur ein junges Mädchen sehen, sondern den Racheengel, der du bist – und ziemlich mutig«, fügte Christopher mit einem Lächeln hinzu, das mir den Atem raubte.
Als ich die mit einem purpurfarbenen Umhang bekleidete Dogin in den Reihen ihres schwarzgekleideten Rats entdeckte, wurde mir klar, was er damit meinte. Ihre Augen sprühten Funken. Racheengel, die ihre Gesetze umgingen und Bräuche änderten, standen offenbar nicht auf der Liste ihrer Günstlinge. Doch das war mir egal. Ich hatte nicht vor, mich bei ihr einzuschmeicheln. Sie würde sich mit mir arrangieren müssen – der Rat hatte sie überstimmt und mich zum Racheengel Venedigs gewählt.
Die Zeremonie in der wiederhergerichteten und mit einem neuen Altarstein geschmückten Basilika dauerte eine halbe Ewigkeit. Unter den Augen der Dogin, des Rats und einer unüberschaubaren Engelschar wurde ich von Nagual mit einem nicht enden wollenden Vortrag über meine Rechte und Pflichten als vollwertiges Mitglied in den Zirkel der Racheengel aufgenommen. Danach beteuerten mir die Racheengel ihre Loyalität und ich ihnen meine – was bedeutete, dass zuerst geredet werden musste, bevor gekämpft werden durfte. Und schließlich wurde ich von ihnen der Reihe nach geküsst. Berejide, Magdalena und Daragh hauchten mir einen schnellen Kuss auf die Wange. Daragh schenkte mir dabei sogar ein Lächeln. Christopher ließ es sich natürlich nicht nehmen, mich richtig zu küssen. Dass ich dabei bis über beide Ohren rot wurde, schien er, im Gegensatz zu Nagual, nicht zu bemerken.
Goldauge, der als ehemaliger Hüter der Basilika als Letzter mit dem Küssen dran war, grinste diabolisch, als ich vor ihm stand. Doch anstatt es Christopher gleichzutun, wie ich befürchtet hatte, ließ er seine Lippen nur etwas länger auf meiner Wange liegen, damit er mir ein »Willkommen, kleiner Engel. Mit dir als Hüterin und ihr als Dogin wird es hier sicher sehr interessant werden« ins Ohr raunen konnte. Ich flüsterte »Ich hoffe, du stehst auf meiner Seite« zurück und erhielt ein beruhigendes »Wo sonst?!« als Antwort.
Nach der Aufnahme in den Zirkel der Racheengel folgte meine Ernennung. Falls eine Maus aufgetaucht wäre, hätte jeder ihr Trippeln gehört, so still war es in der überfüllten Basilika, als die Dogin mir den Siegelring überreichte und mich zur Hüterin der Stadt ernannte.
Der Ring wog schwer an meiner Hand, als sie ihn mir überstreifte. Ein geflügelter Löwe, das Wahrzeichen Venedigs, zierte das silberne Schmuckstück. Es diente als Siegelring und zum Wechseln der Welten innerhalb Venedigs. Vielleicht lag es an der Erinnerung, den Siegelring von Sanctifer erhalten zu haben, dass mich sein Gewicht so belastete.
Schließlich krönte mich die Dogin mit einem huldvollen Kuss auf die Stirn. Tosender Jubel erfüllte das Kirchenschiff, als sie mich freigab. Die Zeremonie war zu Ende und ich ziemlich erleichtert, dass es vorbei war. Und während sich die Gäste aufs Büfett stürzten, stürzte ich mich in die Arme meines Racheengels.
»Muss ich hierbleiben?«, fragte ich leise.
»Willst du dich nicht feiern lassen?«, flüsterte Christopher zurück.
»Nein, ich will lieber mit dir allein sein.«
Christopher schenkte mir ein unwiderstehliches Lächeln und bugsierte mich zu Aron.
»Ich möchte deine Schülerin entführen, wenn du nichts dagegen hast«, bat er, zu meiner und Arons Überraschung, um Erlaubnis.
Aron versuchte ernst zu bleiben, was ihm sichtlich schwerfiel. »Da du endlich erkannt hast, dass du bestehende Regeln nicht einfach außer Kraft setzen kannst, Racheengel« – er meinte Christopher – »gestatte ich dir, sie mitzunehmen, wenn du meiner Schülerin zeigst, welche Aufgabe sie erwartet.«
Paul, der zugehört hatte, brach in schallendes Gelächter aus. Ich grinste nur, als ich Aron umarmte und ihm ein »Danke« auf die Wange hauchte. Er schob mich beiseite und zog eine schmale Papierrolle aus der Innentasche seines Festgewands.
»Ein Geschenk zu deiner Ernennung«, sagte er feierlich und reichte mir das mit Gold versiegelte Schriftstück.
Meine Finger zitterten, als ich das Siegel brach. Die säuberliche Handschrift der Dogin verschwamm vor meinen Augen.
»Sie ist darauf eingegangen?«, fragte Christopher fassungslos. Er hatte mitgelesen.
»Ihr blieb nichts anderes übrig, nachdem ich ihr erklärt habe, welche Probleme auf sie zukommen, wenn die beiden Racheengel, die für das Gebiet verantwortlich sind, auf dem sie lebt, sich ständig in der Menschenwelt aufhalten.«
Dieses Mal riss meine Umarmung Aron beinahe um.
Er hatte die Dogin dazu gebracht, Christophers Verbannung aus Venedig aufzuheben und die Bestimmung außer Kraft zu setzen, die es Christopher und mir verbot, uns in der Engelswelt zu treffen.
»Danke … für alles«, stammelte ich mit Freudentränen in den Augen.
»Du bist ein wahrer Freund!«, ergänzte Christopher.
»Und Lynns Tutor! Sieh zu, dass du sie wieder heil zurückbringst.«
Aron sagte das in einem scherzhaften Ton. Doch statt eines Grinsens legte sich tiefe Entschlossenheit auf Christophers Miene. Er würde nicht nur dafür sorgen, dass meiner äußeren Hülle nichts passierte, sondern auch, dass meine Seele unversehrt blieb.
Während Aron und Paul uns vor den Blicken der anderen abschirmten, verschwand ich mit Christopher durch einen Nebenausgang aus der Basilika.
»Die Zeremonie war anstrengend für dich. Aron hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich dir erst morgen zeige, was dich erwartet«, begann Christopher.
»Weil es morgen nicht mehr so schlimm sein wird?«
Christopher zog mich in seine Arme. Sorge spiegelte sich in seinen Augen, als er mir zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht strich. »Es wird morgen nicht viel anders aussehen als heute. Aber du musst dir nicht ausgerechnet am Tag deiner Ernennung anschauen, was Sanctifer angerichtet hat.« Bitterkeit schwang in Christophers Stimme mit. Er liebte mich und war bereit, mich vor der ganzen Welt zu beschützen – so wie ich ihn. Wobei ich mir sicher war, dass er sich daran erst noch gewöhnen musste.
Ich vertrieb Christophers Hass auf Sanctifer mit einem zärtlichen Kuss, den er leidenschaftlich erwiderte. Noch während wir uns küssten, breitete ich meine Flügel aus.
»Flieg mit mir«, flüsterte ich leise.
Christopher zögerte keine Sekunde, umschlang meine Taille und entführte mich in den Himmel über Venedig. Als ich das Ausmaß der Zerstörung unter uns sah, beschloss ich, den silbernen Ring mit dem geflügelten Löwen nicht nur heute zu tragen. Er würde mich daran erinnern, dass Sanctifer ihn mir gegeben hatte und wovor ich die Engel Venedigs beschützen musste. Doch mit Christopher an meiner Seite fürchtete ich mich nicht vor der Aufgabe, die dieser dämonische Engel mir hinterlassen hatte.