Kapitel 31
Sanctifers
Armee
Je höher Christophers prächtige Schwingen ihn in den blauen Himmel emporhoben, umso heftiger begehrte der Engel in mir auf. Ich hatte bewiesen, dass ich ein Schwert führen konnte. Ich wollte an seiner Seite sein. Doch für dunkle Engel tödliche Flammen zu weben, wie Aron und sicher auch Christopher es konnten, das hatte ich noch nicht gelernt.
Zwischen wütend auf mich selbst, weil ich ein so unfähiger Engel war, und angestachelt von dem Drang, mich trotzdem zu beweisen, stürmte ich zu Nagual in die Basilika. Er stand vor dem Kraterloch über den Resten des schwarzen Altars und verstärkte die Barriere mit Engelsmagie. Ein schmaler, dunkelhaariger Engel, dessen Hände bläulich schimmerten, schaute ihm zu. Er wirkte erschöpft.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte ich Nagual.
Der Racheengel warf mir einen bösen Blick zu, weil ich ihn in seiner Konzentration gestört hatte. Doch als er erkannte, dass ich es ernst meinte, hellte sich seine Miene ein wenig auf.
»Da alle Eingänge verschlossen sind, Manuel Sanctifers Brut bereits besiegt hat«, er deutete auf den abgekämpften Engel, der neben dem Einsturzloch stand, »und Paul gerade nach dem Mädchen sieht, kannst du die Aufgabe übernehmen, mich auf dem Laufenden zu halten, was draußen vor sich geht.«
»Mehr nicht?!«, begehrte ich auf. Meine Zunge war mal wieder schneller als mein Verstand.
»Doch, klar. Wenn du einen Zauber kennst, mit dem du die Basilika vor Dämonen schützen kannst, damit ich nicht jede Schwachstelle einzeln verstärken muss, darfst du den jetzt gerne anwenden.« Goldauge glühte vor Zorn, doch er hatte Wichtigeres zu tun, als mich mit seinen Klauen in die Schranken zu weisen, wie er es sonst gern machte.
»Magdalena flieht vor einer Sturmfront, Berejide und Liao werden von dunklen Engeln verfolgt und Christopher hat vor, sie aufzuhalten«, fasste ich kurz zusammen.
»Bist du sicher, dass es dunkle Engel sind?«
»Ja, völlig. Oder gibt es noch andere Engel, die mit ihren Flügeln durchs Wasser kraulen können?«
»Und was ist mit der Sturmfront?« Zwei zusammengezogene Augenbrauen warnten mich vor einer weiteren vorlauten Antwort. Auch Goldauges Geduld hatte Grenzen.
Ich zögerte, weil ich mir nicht ganz sicher war, ob es sich bei der Wolkenfront um dunkle Engel handelte, was Nagual dazu veranlasste, mich auf den Balkon der Basilika zu begleiten.
Ich fand Christophers irisierende Flügel sofort. Ein ganzer Ozean voller Angsthormone überschwemmte mich. Er steuerte an Magdalenas Seite auf die tosenden Wassermassen zu. In seinem Rücken die Sturmfront. Sie hatte ihren Kurs geändert und folgte ihnen. Nur der Engel mit den weißen Flügeln hielt weiter auf die Basilika zu.
»Ruf sie zurück!«, beschwor ich Nagual. »Sonst werden sie von Sanctifers Heer eingeschlossen.«
»Wohl kaum.«
Naguals Gelassenheit brachte mich zum Brodeln. »Bist du blind?! Oder macht es dir nichts aus, sie in den Tod zu schicken?«
»Vermutlich weniger als dir.« Nagual schnappte sich meine Hand, die auf dem Weg war, in seinem Gesicht eine sichtbare Spur zu hinterlassen. »Ruhig, kleiner Engel. Dein Zorn stachelt nicht nur meine dunkle Seite an.«
Ich schnappte nach Luft, sah die Gestalt eines Schattens vor meinen Augen und verdrängte Christophers Bild noch in derselben Sekunde. Ich durfte nicht an ihn denken – mal wieder!
»Außerdem habe ich nicht vor, mit dir ihre Nachfolger auszuwählen. Aber wenn du dich weniger von deinen Gefühlen blenden lassen würdest und dafür genauer hingeschaut hättest, könntest auch du spüren, dass in der Sturmwolke nicht Sanctifers, sondern Coelestins Engel fliegen. Christopher und die anderen versuchen Sanctifers Horde aufzuhalten, bis sie hier sind und die Dogin ihre Kampftruppen aufgestellt hat.«
»Aber sie sind nur zu viert«, antwortete ich panisch – und hielt die Luft an, um mich und meinen schnellen Herzschlag zu beruhigen, damit Christopher meine Angst nicht fühlen konnte.
»Daragh wird mit dem Vortrupp rechtzeitig bei ihnen sein.« Nagual deutete auf eine Gruppe fliegender Engel. Sie wurde von einer rothaarigen Gestalt angeführt, deren glasklare Flügel das Licht der Sonne brachen wie ein geschliffener Diamant: Daragh.
»Kannst du mit einem Schwert umgehen?«, wandte Nagual sich an mich.
»Ich hatte Kampftraining bei Ekin.«
»Und eines weben?«
»Ich … In der Krypta hat Paul mir geholfen«, gab ich zu. Dass es das erste Schwert war, das ich jemals gewoben hatte, verschwieg ich. Nagual hielt mich auch so schon für ein unbeholfenes Engelküken.
»Dann werde ich ihn zu dir schicken.« Die goldfarbenen Augen meines Gegenübers verengten sich. »Sobald ich die Krypta gesichert habe, beziehe ich Stellung auf dem Dach. Du und Paul, ihr sorgt dafür, dass hier nichts überlebt, das die Barriere durchbrechen kann, falls die Engel der Dogin sich verspäten.«
Ich schluckte, drückte meinen Rücken durch und nickte. Nagual wollte, dass ich gegen Engel kämpfte? Nicht gegen Sanctifers dunkle Bestien, die konnten die Basilika nicht betreten, sondern gegen Engel, die sich Sanctifer angeschlossen hatten. Engel, mit denen ich vielleicht an einem Tisch gesessen, mit denen ich mich unterhalten, gegessen und getrunken hatte. Engel, die sich vielleicht nur für Sanctifer entschieden hatten, weil die Dogin ihnen den Zutritt zur Menschenwelt verweigerte. Warum sie das getan hatte, wusste ich nicht. Dass sie am liebsten auch Christopher und mich für immer getrennt hätte, allerdings schon.
Kurz nachdem Paul auf dem Balkon aufgetaucht war, formierten sich die fünf Racheengel. Sie bildeten den äußeren Kreis, während die zahlenmäßig überlegenen Engel der Dogin in der Mitte blieben – Christopher, geschützt von den Engeln der Dogin, wäre mir lieber gewesen. Dafür, dass dort draußen auf der Lagune gleich ein Kampf losbrechen würde, sah das runde Gebilde am blauen Sommerhimmel viel zu schön aus. Weißbeflügelte Engel innen, saphirblaue, silberne, grüne, diamantene und Christophers unglaubliche Flügel außen.
»Nagual hat mich gebeten, dir zu helfen«, riss Paul mich aus dem aufziehenden Albtraum über der Lagune. Er stand in seiner Gestalt als Engel neben mir und wartete darauf, mir beim Schwertweben zu helfen.
»Danke«, murmelte ich und schenkte ihm ein Lächeln, bevor ich mich selbst in einen Engel verwandelte.
»Übrigens, dass deine Flügel jetzt rot sind, finde ich faszinierend«, kommentierte Paul. »Es verleiht dir etwas Dämonisches.«
»Dann pass bloß auf, dass ich dich mit meinen dämonischen Flügeln nicht zum Frühstück verspeise.«
Paul schenkte mir ein verschwörerisches Grinsen. Normalerweise war er derjenige, der blöde Scherze zu unpassenden Gelegenheiten riss, und nicht ich.
»Noch kannst du ohne mich nicht mal ein Schwert weben«, schlug er zurück – wir waren beide nervös.
Meine Anspannung wuchs, als mein silberrot funkelndes Schwert erschien. Ich hielt eine Waffe in der Hand, aber war ich auch bereit, einen Engel zu töten? Bei Gabriella hatte ich letztendlich doch versagt.
Ich kam nicht dazu, meinen Zweifeln nachzuhängen. Der Kampf über der Lagune begann. In einem wahren Sturmhagel fielen blau glühende Feuerbälle auf die tosenden Wassermassen unter dem Kreis der Engel. Wie die Fontänen eines gigantischen Brunnens sprudelten Schaum und dunkler Qualm nach oben. Ich wandte mich ab, als mir klarwurde, was schwarzer Rauch bedeutete.
Was war ich bloß für ein Racheengel, dem sich der Magen umdrehte, wenn ein dämonisches Wesen sein Ende fand? Selbst Paul verkraftete das besser. Im Gegensatz zu mir verfolgte er das Geschehen über dem Meer, ohne mit der Wimper zu zucken. Erst als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass auch er mit sich kämpfte. Ich hoffte, dass die Soldaten der Dogin endlich auftauchten oder Coelestins Krieger schnell genug flogen, um Sanctifers dunkle Engel aufzuhalten, bevor sie die Basilika erreichten – uns erreichten.
Ich suchte die Sturmwolke am westlichen Horizont. Meine Zuversicht verblasste. Sie war ein gutes Stück vorangekommen, so dass ich jetzt einzelne Engel erkennen konnte – aber sie waren noch immer viel zu weit weg. Denn trotz des Feuerbeschusses von oben rückte die Front der dunklen Engel unerbittlich näher.
Mein Blick heftete sich wieder auf Christopher. Er wirkte konzentriert, doch Sanctifers dämonische Wesen schwächten ihn. An der Art, wie er agierte, erkannte ich, wie stark er noch unter den Folgen seiner Verwandlung litt. Im Gegensatz zu den anderen Engeln feuerte er keine Salven hinab, sondern schleuderte seine Feuerbälle sparsam und gezielt. Auch der Farbschimmer seiner Geschosse unterschied sich von dem der anderen. Sie schillerten dunkler – vermutlich weil in Christophers Feuerkugeln weniger Engelsmagie steckte. Hoffentlich hielt er durch, bis Coelestin eintraf. Auf seinen einstigen Tutor würde er hören. Und dass Christopher besser neben Nagual auf dem Dach der Basilika gegen Engel anstatt über der Lagune gegen Dämonen kämpfen sollte, erkannte selbst ich.
Ich umklammerte mein Schwert so fest, bis meine Klauen hervordrängen wollten, um hinter dem Schmerz meine Gefühle zu verbergen. Meine Angst würde Christopher nicht helfen.
Mich auf etwas anderes als auf die Lagune zu konzentrieren, schaffte ich dennoch nicht. Irgendwo dort draußen musste Sanctifer sein, um seiner Armee Befehle zu erteilen. Gabriella war nicht länger der Schatten, der das für ihn übernehmen konnte. Und soviel ich von Aron wusste, konnte nur ein Engel, der sich der Seele eines anderen Engels bemächtigt hatte, dieses dunkle Geschöpf lenken. Allerdings traute ich es Sanctifer durchaus zu, dass er sich, anstatt zu kämpfen, lieber auf seiner Insel verschanzte und abwartete, wie erfolgreich seine Streitkräfte waren. Vernichte alles, was sich dir in den Weg stellt, war kein besonders schwieriger Befehl.
Wie magisch angezogen, wanderte mein Blick zu Sanctifers Insel. Mein Herz pausierte. Sanctifers Wasserheer schwächte Christophers Engelseele, aber was sich dort zusammenbraute, würde ihn töten.
Langsam rotierend, wie ein Kreisel kurz vor dem Umkippen, tauchten über der Insel unzählige Flügelpaare auf und formierten sich zu einer gigantischen Scheibe: Sanctifers Engelsarmee. Doch ich entdeckte nicht nur Engel über der Insel, sondern ein weiteres, noch viel größeres Heer mit Lederflüglern im Wasser. Der Trupp, gegen den Christopher kämpfte, war nur die Vorhut.
Mein Engelinstinkt begehrte auf. Wütend erhob ich mein Schwert, zielte in die Mitte des Kreisels, wo ich Sanctifer vermutete, und schlug ein Loch in die Luft – bevor ich aus lauter Frust wegen meines unbeherrschten Wutanfalls die Waffe in ihre Einzelteile zerfallen ließ. Es waren so viele, und es würde nicht mehr lange dauern, bis Sanctifers Vorhut Christopher und die anderen Racheengel ans Ufer getrieben hatte.
Und ich sollte hierbleiben und zusehen, wie Christopher vor meinen Augen in Stücke gerissen wurde?
Entschlossen, nicht tatenlos abzuwarten, rannte ich zu Nagual auf das Dach der Basilika. Ich hätte besser, ohne ihn zu informieren, Sanctifers Dämonen am Kai begrüßt. Dass Nagual mir sein goldenes Schwert nicht zwischen die Rippen stieß, verdankte ich Aron, der Nachrichten von Coelestin überbrachte. Er war der Engel mit den weißen Flügeln, den ich neben Magdalena gesehen hatte.
Als ihm klarwurde, warum Nagual wütend auf mich war, bildeten sich auch auf seiner Stirn Zornesfalten. »Du hast vom Hüter der Basilika eine Aufgabe erhalten. Ich erwarte, dass du sie ohne Widerspruch erfüllst.«
»Genau genommen hat er mir zwei Aufgaben erteilt«, hielt ich dagegen. »Und vom Dach aus kann ich wesentlich besser erkennen, wenn sich etwas der Basilika nähert.«
»Solange Sanctifers Engelfreunde noch über der Lagune kämpfen, kann sie hierbleiben«, mischte Nagual sich ein. Mit Engelfreunde meinte er nicht die dunklen, sondern die Engel, die ich aufhalten sollte. »Auf der kleinen Kuppel kann Lynn mehr als die beiden Plätze überwachen, und ich erspare mir das Hin-und-Her-Fliegen.« Dass Nagual mich plötzlich verteidigte, überraschte mich. Zumal ich ihm das mit dem Hin-und-Her-Fliegen nicht abnahm.
Ich hakte nicht nach. Und bevor Aron den Bodyguard spielen oder Nagual einen Rückzieher machen konnte, ließ ich die beiden stehen und verschwand im Inneren der großen Kuppel, um den Weg durch das Dachgestühl zu nehmen. Ich wollte mir einen Überblick verschaffen, bevor ich die schützende Barriere der Basilika verließ.
Die kleine Kuppel am vorderen Rand des Dachs bot einen nahezu ebenso perfekten Blick über Venedig wie die große. Unter mir lagen der Vorplatz des Dogenpalastes und der Markusplatz mit dem hohen Glockenturm. Weiter hinten der westliche Teil der Stadt mit seinen zahllosen Palästen, Kanälen, Brücken und Plätzen.
Mein Atem stockte, als mir plötzlich ein ätzender Hauch Dunkler-Engel-Gestank in die Nase stieg. Er kam vom vorderen Ende der Piazzetta. Sanctifers Vorhut hatte die Kaimauer erreicht. Das erste Geschöpf, das dem Beschuss der Racheengel entkommen war, kroch an Land – wo es eigentlich auf die Streitkräfte der Dogin treffen sollte. Doch außer dem kleinen Trupp, der Daragh begleitete, war vom Eingreifen der Dogin nicht viel zu sehen. Und Coelestins Engelskrieger hatten Venedig noch nicht erreicht.
Glaubte Nagual ernsthaft, dass ich hierblieb und zusah, wie Christopher seine Seele verlor? Oder hatte er mich gerade deshalb hierhergeschickt, weil er erwartete, dass ich das Gegenteil machte? Nagual einzuschätzen war schwierig. Aber im Grunde war es egal. Mein Entschluss stand fest. Ich musste mir nur noch von Paul ein neues Schwert weben lassen.
Blöderweise landete Aron neben mir auf der Kuppel, bevor ich verschwinden konnte. Und obwohl er offiziell nicht mehr mein Tutor war, drängte mich mein Gewissen, ihn um Erlaubnis zu fragen.
»Ich möchte lieber mit als ohne deine Zustimmung Naguals Befehl ignorieren«, begann ich.
»Und dich abschlachten lassen?! Hast du vergessen, dass du mit einem Schwert keines dieser Wesen töten kannst?« Aron war stocksauer. »Nagual scheint dich zu mögen, sonst hätte er dich genau dorthin geschickt, wo es dich hinzieht. Trotz allem, was du erlebt hast, bist du noch zu jung, um gegen so viel Dunkelheit zu bestehen. Dein Wunsch, mächtig zu werden, würde dich in deine Schattengestalt treiben – und da Christopher an dich gebunden ist, ihn gleich mit!«
Ich erblasste. Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Nagual hat mir erzählt, was in der Krypta passiert ist. Christophers Risiko ist auch so schon hoch genug, ohne dass …«
Der angstverzerrte Todesschrei eines Engels ließ Aron verstummen – mir sträubten sich die Nackenhaare. Beinahe gleichzeitig lehnten wir über dem Geländer, um auf den Platz vor dem Dogenpalast hinunterzusehen. Schwarzgekleidete Gestalten mit blutroten Masken, wie die Dogin eine bei Gericht getragen hatte, traten aus den Schatten der Säulen, um sich Sanctifers dunklen Engeln zu stellen. Über dem ersten schlugen gerade tödliche Flammen zusammen.
»Die Schergen der Dogin«, klärte Aron mich auf.
Ich nickte und wandte mich ab. Der üble Gestank der brennenden Kreatur, aber vor allem ihr markerschütterndes Geheul setzte mir zu. Auch sie hatte einst eine Engelseele besessen.
Mein Blick huschte über die Lagune und eilte zu Christopher. Mein Herz versteinerte – ich wusste genau, wohin er wollte. Die Gruppe der Racheengel hatte sich aufgeteilt. Mit Berejide an der Spitze folgten Magdalena, Liao und die Engel der Dogin Sanctifers Vorhut Richtung Dogenpalast, während Christopher und Daragh auf die Insel zusteuerten.
Das Meer unter den beiden Engeln färbte sich schwarz. Sanctifers Geschöpfe waren überall. Wo hatte er bloß die vielen dunklen Engel versteckt? Wie eine zähe Masse überschwemmten sie die Lagune. Die aufschäumenden Lücken, die Christophers und Daraghs Engelsfeuer auf ihrem Weg zu Sanctifers Insel rissen, schlossen sich so schnell, wie sie entstanden. Immerhin gelang es den Soldaten der Dogin gemeinsam mit der Kampftruppe um Berejide, die Monster aufzuhalten, die versuchten, an der Kaimauer aus dem Wasser zu klettern.
Doch Sanctifers Geschöpfe krochen nicht nur vor dem Dogenpalast an Land. Ein Teil von ihnen drängte in den Canal Grande. Bald würden sie die kleinen, sich verästelnden Kanäle überfluten und die Stadt der Engel mit ihrem Gestank überziehen wie einst die schwarze Pest das Menschenvenedig.
Aron legte mir eine Hand auf die Schulter, um mich aus meiner Schockstarre zu befreien. Mit der anderen deutete er auf ein Heer schwarz gekleideter Engel mit roten Masken, die auf den Dächern des Dogenpalastes standen. Alle mit Schwertern ausgerüstet, aber auch viele, in deren Händen blaue Engelsmagie schimmerte.
Aber nicht nur hier, überall erschienen plötzlich Engel. Wie auf ein geheimes Zeichen hin strömten die Einwohner Venedigs auf die Straßen, Plätze und Dächer, um ihre Stadt zu verteidigen. Engel, Putten, selbst gezähmte Irrlichter entdeckte ich. Sie trugen Messer, Schwerter oder Lanzen mit sich – doch damit würden sie das schwarze Herz eines dunklen Engels niemals vernichten.
»Du solltest zu Paul gehen. Die Engel erheben sich – nicht nur die der Dogin.« Arons ruhiger Tonfall erschreckte mich. Er klang besorgt, aber nicht überrascht. Doch erst als ich auf einem der Dächer zwei kämpfende Engel entdeckte und einen Flügel fallen sah, wurde mir klar, was Aron meinte.
Nicht alle Bewohner der Engelstadt logierten in Palästen oder wurden zu den Bällen der Dogin eingeladen. Etliche lebten in den heruntergekommenen Vierteln, in die ich mich bei meiner Engelsprüfung verirrt hatte. Anscheinend hatte Sanctifer damit gerechnet, dass sie mit ihm gegen die privilegierten Engel Venedigs kämpfen würden – oder gezielt darauf hingearbeitet, was einem Blender wie ihm sicher nicht schwerfiel.
Als einer der auf dem Dach kämpfenden Engel sein Leben verlor, brach in den Gassen Venedigs die Hölle los.
Aron zerrte mich von der Kuppel – die hasserfüllten Schreie und das diabolische Gebrüll hörte ich dennoch. Er brachte mich durch das Kirchengestühl hinunter zu Paul. Anscheinend wollte er sicherstellen, dass ich auch dort ankam.
Paul stand an der Brüstung. Wie gebannt starrte er auf die Lagune. Ich folgte seinem Blick – und glaubte zu ertrinken.
Christopher und Daragh hatten sich Coelestins Kriegerengeln angeschlossen. Doch während die meisten von Coelestins Engeln Sanctifers Armee Richtung Venedig trieben, versuchten die beiden Racheengel, sich mit einem kleinen Stoßtrupp in ihre Mitte vorzukämpfen. Denn dort, gut geschützt von einem dichten Netz bewaffneter Engel, befehligte Sanctifer seine dämonischen Kreaturen. Die einzige Chance, ihn und seine Armee aufzuhalten, lag darin, ihn zu töten – und genau das hatte Christopher vor.
»Ich muss gehen. Pass auf sie auf und sorge dafür, dass sie hinter der Sicherheitsbarriere der Basilika bleibt«, hörte ich Aron zu Paul sagen. Ich war viel zu gefangen von dem, was über der Lagune passierte, um ihm zu widersprechen – oder zu erkennen, was Aron vorhatte, und ihn aufzuhalten. Denn anstatt sich den Engeln auf der Piazzetta anzuschließen oder um Sanctifers Armee einen Bogen zu fliegen und Coelestins Krieger zu unterstützen, eilte Aron direkt auf Christopher zu.
Meine Finger verkrampften sich, meine Klauen brachen hervor und bohrten sich in die steinerne Brüstung – auch die verletzten. Ich spürte den Schmerz nicht. Christopher hatte sich zu Sanctifer vorgekämpft, und nur Daragh und ein paar von Coelestins Engeln hielten ihm den Rücken frei. Nicht Aron, ich sollte Christopher zur Seite stehen.
Pauls Griff um meine Taille wurde eisern. Entschlossen zerrte er mich von der Balkonbrüstung weg.
»Du solltest dir das nicht ansehen«, sagte er und verstellte mir die Sicht. »Überlass Aron das Helfen. Du würdest Christopher nur schaden.«
»Geh mir aus dem Weg!«, schrie ich und schnappte mir Pauls Schwert. Für Diskussionen war ich gerade wenig empfänglich – Paul schien das nicht zu stören. Er rührte sich keinen Fingerbreit.
»Krieg dich wieder ein!«, schnauzte er mich in bester Aron-Manier an. »Christopher ist an dich gebunden. Wie soll er sich auf den Kampf konzentrieren, wenn er auch noch gegen dein Gefühlschaos ankämpfen muss?!«
»Aber …« Ich verstummte. Paul war im Recht. Meine Engelseele schmerzte vor Wut – und mein Herz vor lauter Angst.
Mein Schwert erblasste zu mattem Rosa, als hätten Pauls Worte mir sämtliche Kraft geraubt. Ich würde Christopher ins Verderben ziehen, wenn ich das nicht schon längst getan hatte.
Wegsehen konnte ich dennoch nicht, nur meine Gefühle für mich behalten. Doch Christopher durch die Hölle gehen und gegen Sanctifer kämpfen zu sehen führte mich an die Grenzen meiner Selbstbeherrschung.
Sanctifer befand sich deutlich im Vorteil. Er kämpfte mit Schwert und blau leuchtenden Feuerkugeln, während Christopher sich nur auf sein Schwert verließ. Hatte er gegen die dunklen Engel schon zu viel Kraft verloren, um weitere Feuerbälle weben zu können?
Ich umklammerte meine Waffe und erstickte diesen erschreckenden Gedanken. Daragh, Aron und Coelestins Engelkrieger schützten ihn mit ihrem Feuerbeschuss vor Sanctifers gieriger Meute. Und Christopher kannte die Schwächen seines einstigen Lehrmeisters wie kein anderer. Alle weiteren Überlegungen wie Rache oder Vergeltung verdrängte ich. Vermutlich hätte ich sonst ein Boot geklaut oder Paul gezwungen, mich zu Christopher zu fliegen.
Sanctifers größtes Problem war vermutlich Gabriellas Tod. Außer ihm gab es jetzt niemanden mehr, der seine dämonischen Geschöpfe befehligen konnte. Doch so viele Engel allein zu lenken, musste kraftraubend sein – auch das half Christopher.
Ein weißes Paar Flügel schreckte mich auf. Paul stürzte ans andere Ende des Balkons. Sein hell schimmerndes Schwert blitzte. Ein Engel landete gerade auf der Brüstung – einer, der sich von Sanctifers Armee abgespalten hatte.
Ich riss mich los von Christopher, Sanctifer und seinem Heer, das von Coelestins Kriegern dezimiert und in die Arme der Soldaten der Dogin getrieben wurde, und eilte Paul zu Hilfe.
Wie schon bei den Engelsprüfungen erwies sich Paul als versierter Kämpfer. Nicht umsonst wurde er zu einem Wächterengel ausgebildet. Noch bevor ich ihn erreichte, hatte er seinem Gegner die Flügel gestutzt und ihn von der Brüstung auf den Markusplatz hinuntergestoßen, wo er von rotmaskierten Soldaten in Empfang genommen wurde. Entsetzt wandte ich mich ab, als schwarzer Rauch aus dem Herzen des getöteten Engels quoll.
Er blieb nicht der einzige Engel, der versuchte, die Basilika zu stürmen. Paul und die Engel der Dogin vertrieben sie alle. Und während die Paläste um die Basilika in einem blauen Kugelhagel aus himmlischem Feuer versanken, kämpfte Christopher über der Lagune um sein Leben und das Überleben der Engelstadt. Nur ich hinterließ weder auf dem Leib noch auf den Flügeln eines Engels meine Spuren. Denn bei mir fügte sich gerade ein Steinchen auf das andere.