Kapitel 24
Sicher verwahrt

Schwöre mir, keinen Rachefeldzug zu planen«, bat ich Christopher. Die Angst, er könne Hals über Kopf zu Sanctifer stürmen, wog schwer. Doch ich wollte keine Geheimnisse mehr vor ihm haben.

»Heißt das, du vertraust mir nicht?« Christopher verschränkte seine Arme vor der Brust. Im Schneidersitz saß er neben mir auf dem schmalen Bett und wartete auf eine Antwort.

Ich zog die Knie dichter an meinen Körper und schwieg. Wie erbärmlich! Christopher zu gestehen, dass ich an dem Engel zweifelte, dem ich meine Seele anvertrauen würde, fiel mir unsagbar schwer. Doch warum sonst hatte ich nicht ihn, sondern Aron um Hilfe gebeten?!

»Christopher, ich … du … du bist ein Racheengel, und ich muss sicher sein, dass du nichts Unüberlegtes tust.«

»Weil du der vernünftige Engel bist und ich der reizbare Racheengel, der vorschnell handelt?« Christopher kaschierte seinen Ärger mit Spott.

»Nein, weil ich … ich möchte nicht noch mehr Fehler machen«, gab ich zu.

»Und mit der Wahrheit herauszurücken, wäre einer«, mutmaßte Christopher. Er stand auf und begann in der Hütte auf und ab zu gehen. Vermutlich hätte er am liebsten die Wahrheit aus mir herausgeschüttelt. »Lynn, ich muss wissen, was dich dazu gebracht hat, deinem Schatten Macht einzuräumen. Nur dann kann ich dich vor der Dogin und ihrem Rat verteidigen.«

»Du willst nach Venedig? Zum Rat der Engel?« Zu Sanctifer?

Christopher blieb stehen und warf mir einen undefinierbaren Blick zu. Hatte er meinen letzten Gedanken gehört? Meine Angst, ihn an Sanctifer zu verlieren, gespürt?

»Es gehört zu den Aufgaben eines Racheengels, die Obersten Venedigs zu informieren, wenn beim Überschreiten einer für dämonische Wesen unpassierbaren Barriere Flügel in Flammen aufgehen.«

»Und deine Jagdtrophäe bei ihnen abzuliefern.«

»Das auch«, bestätigte Christopher, dass er mich nicht zufällig gefunden, sondern aufgespürt und gejagt hatte. »Allerdings beabsichtige ich, bei dir eine Ausnahme zu machen.«

»Was ich nicht zulassen werde!« Ich war aufgestanden, um mich vor Christopher zu stellen. »Meinetwegen wirst du nicht noch einmal ein Engelsgesetz übertreten.«

»Das brauche ich auch nicht. Du hast bewiesen, dass du ein Engel bist. Doch im Gegensatz zu dir vertraut der Rat meinem Urteilsvermögen.«

»Und im Gegensatz zu mir bist du dem Rat verpflichtet.«

»Falls es dir entfallen sein sollte: Mit dir bin ich weit mehr verbunden als mit dem Rat.« Christophers vorwurfsvoller Blick traf mich – ich funkelte zurück.

»Wie könnte ich jemals vergessen, dass du dich an mich gebunden hast – mir aber eine Bindung verweigerst?!«

»Weil ich dich damit in Gefahr bringen würde.«

»Dann sind wir jetzt wohl quitt«, antwortete ich und wandte mich zur Tür. Ich war ein Engel. Den Nebel zu durchdringen dürfte kein Problem mehr sein.

»Das sehe ich anders.« Christopher hatte mich am Arm gepackt. »Wer hat deinen Schatten heraufbeschworen und dich dann alleingelassen? Aron? Vermutlich nicht. Dann hättest du mich nicht gebeten, zu ihm zu gehen, sondern mich auf ihn gehetzt.«

Christophers Blick durchbohrte mich und hüllte mich in eisige Kälte. Obwohl ich seinem mentalen Angriff standhalten konnte, erkannte er die Wahrheit. Hellstes Jadegrün blitzte in seinen Augen, als sich ein Bild von Sanctifer in meine Gedanken schlich. Doch nicht die Erinnerung, sondern meine Angst hatte mich verraten.

Christopher ließ mich los und kehrte mir den Rücken zu. Seine geballten Hände verrieten, dass er zuerst seinen Zorn zurückdrängen musste, bevor er mich weiter befragen konnte. Ich nutzte die Chance und stürmte aus der Hütte. Coelestin, der Schulleiter und Christophers Mentor, wohnte nur ein paar hundert Meter weit entfernt im Schloss der Engel.

Doch noch ehe ich den Nebel erreichte, holte Christopher mich ein. Mit ausgebreiteten Flügeln blockierte er meinen Fluchtweg. Helle Blitze durchzuckten seine gigantischen Schwingen.

»Warum hat Aron dich zu ihm gelassen?« Christophers Frage beinhaltete die unausgesprochene Drohung, auch Aron zur Rechenschaft zu ziehen.

»Zu wem?« Ich spielte auf Zeit in der Hoffnung, Christophers Wut würde sich abschwächen. Doch der Hass auf seinen einstigen Lehrmeister stand jenseits aller Grenzen.

»Welche Vereinbarung hat Aron mit Sanctifer getroffen?« Mit vor Wut funkelnden Augen packte Christopher meine Schultern und drängte mich gegen die verwitterte Holzwand der Fischerhütte. Sein malmender Kiefer und seine Grobheit zeigten, dass er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren. Ihn länger hinzuhalten konnte gefährlich werden. Und ich wollte Christophers Zorn nicht noch mehr anheizen.

»Keine. Ich war es, die sich auf ein Abkommen mit Sanctifer eingelassen hat. Aron hat mir nur dabei geholfen, dich herauszuhalten.«

»Weil er wusste, dass ich an deiner Stelle zu ihm gegangen wäre?«

»Ja«, antwortete ich mit einem leisen Schwanken in der Stimme. Christophers drohende Haltung und das Aufblitzen seiner Flügel verunsicherten mich.

Er bemerkte es und ließ mich los. Doch mir war klar, dass Christopher nicht lockerlassen würde, bis er alles herausgefunden hatte: entweder von mir, Aron oder von Sanctifer selbst. Aber so weit durfte ich es nicht kommen lassen.

Ich fand Halt an der Holzwand, schloss die Augen, um Christophers erzürntes Gesicht auszublenden, und begann zu erzählen: von Philippes Entführung, Sanctifers Brief und meiner Rettungsaktion. Von meiner Begegnung mit Nagual und Arons Plan, Christophers Eifersucht heraufzubeschwören, um ihn von mir und Venedig fernzuhalten.

Christopher unterbrach mich kein einziges Mal. Erst als ich ihm von meiner ersten Begegnung mit Sanctifers dunklen Engeln erzählte, bröckelte seine aufgezwungene Gelassenheit.

»Wie viele sind es?«, knurrte er zwischen zwei kurzen Atemzügen hervor.

»Vielleicht zwei Dutzend. Aber es könnten auch mehr sein. Sanctifers unterirdische Palastanlage ist riesig und gut geschützt.«

Christopher nickte. Schmerzhafte Erinnerungen spiegelten sich auf seinen Zügen. Dieses Mal wich ich seinem Blick nicht aus. Christopher würde mich in seine Pläne nur dann mit einbeziehen, wenn er in mir einen Racheengel sah, der wusste, was ihn erwartete, und nicht einen schwächelnden Engelfrischling, der sich blind auf etwas einließ, dem er nicht gewachsen war. Ihn jedoch davon zu überzeugen, mich mitzunehmen, würde mehr brauchen. Also zückte ich meinen Raffael-Trumpf.

»Allerdings weiß ich, wie ich unbemerkt in Sanctifers Palast kommen kann, und kenne jemanden, der sich bestens in seiner Unterwelt zurechtfindet.«

Christophers Gesichtszüge verhärteten sich für einen kurzen Moment, bevor sie sich wieder entspannten und er mir ein herzerwärmendes Lächeln schenkte.

»Du hast vor, mich zu begleiten?«

Die Frage schien harmlos, Christophers Lächeln überrascht – und dennoch spürte ich, dass er mir etwas vormachte. Ihm war es egal, dass ich einen sicheren Zugang zu Sanctifers Palast kannte. Die Furcht in seinen Augen galt nicht seinem einstigen Mentor oder den dunklen Engeln, sondern mir. Doch nicht einmal ein zorniger Racheengel würde mich davon abbringen, Sanctifer einen zweiten Besuch abzustatten. Schließlich mussten nicht nur ein paar unfreiwillige Blutspender gerettet werden. Auch um Raffael machte ich mir Sorgen.

»Ich werde mitkommen, wenn du mich in deine Pläne einweihst und meine Vorschläge mit einbeziehst. Ansonsten werde ich ohne deine Hilfe Sanctifers schmutzige Machenschaften auffliegen lassen.«

»Das dachte ich mir«, antwortete Christopher mit einem bedauernden Seufzer. Er ließ mir keine Chance. Im Bruchteil einer Sekunde umfasste er meine beiden Handgelenke und tackerte mich mit seinem Körper an der Wand fest.

»Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht mitnehmen«, flüsterte er, hauchte mir einen Kuss in den Nacken und schlang ein eisiges, aus Engelsmagie gewobenes Korsett um mich.

Ich wehrte mich nicht. Fest davon überzeugt, dass er die Grenzen nicht überschreiten würde, scharte ich meine Kräfte um meine Engelseele und wartete. Doch Christophers Entschluss stand fest. Unaufhaltsam entzog er mir die Wärme, die er mir geschenkt hatte, und weitete sein frostiges Engelsgespinst aus, bis ich kaum noch atmen konnte.

Der Racheengel in mir rebellierte, drängte mich, Christophers Angriff zurückzuschlagen. Ich hatte das schon einmal getan. Instinktiv hatte ich Christophers Schwachstelle gefunden und ihn mit meinem Gegenschlag aus der Fassung gebracht.

Meine Gedanken fokussierten Christophers Engelseele, bereiteten sich auf einen Angriff vor. Sie war ungeschützt.

Christophers Sturmgewitterduft intensivierte sich und erinnerte mich an die vergangenen Stunden. Überwältigt von meinen Gefühlen schloss ich die Augen und genoss diesen unwiderstehlichen Duft. Ich liebte ihn. Wie konnte ich darüber nachdenken, seine Seele zu verletzen?

Meine Zweifel schwächten mich. Christophers mächtiger Sog verstärkte sich. Schmerzte. Langsam, aber unabwendbar, raubte seine eisige Umarmung mir meine Kräfte. Warum nur hatte ich ihm verraten, wo er Arons Durchhaltekapsel finden konnte?

Viel zu früh erlag mein menschlicher Teil dem Zweikampf. Schwarze Schleier tanzten vor meinen Augen, verdichteten sich und erstickten mich mit ihrer Dunkelheit. Ich konnte nichts dagegen tun, spürte, dass ich längst verloren hatte.

»Ich hasse dich«, waren die letzten Worte, mit denen ich hoffte, Christopher von seinem Plan abzubringen. Doch er wusste, dass ich log, und hielt mich in seiner frostigen Umklammerung gefangen.

Kurz bevor die Ohnmacht mich in ihrer Schwärze verschlang, hauchte er einen Kuss auf meine Lippen und flüsterte: »Und ich liebe dich dennoch.«



Das Loch, in dem ich erwachte, war eng, dunkel und roch nach Fisch. Ich verwünschte Christopher mit den wildesten Flüchen, während ich meine Klauen in die feuchte Wand bohrte und versuchte, meinem Gefängnis zu entkommen. Doch Christopher hatte vorgesorgt. Die Luke in der Decke ließ sich keinen Millimeter weit bewegen. Entweder lag auf ihr ein besonders starker Bann oder etwas ziemlich Schweres. Allein würde ich hier jedenfalls nicht rauskommen.

Frustriert kletterte ich wieder hinunter zu meinem Ruhelager, wo ich in romantischem Kerzenschimmer neben ein paar schnell geschriebenen Zeilen erwacht war.

Bitte verzeih mir. Und bitte bleib im Schloss der Engel.

Ich liebe dich und muss dich in Sicherheit wissen.

Christopher

Trotz oder vielleicht gerade wegen des Liebesschwurs hatte ich den Zettel zerknüllt und in die Kerzenflamme gehalten. Allem Anschein nach sollte mein Aufenthalt in dem ehemaligen Fisch-Frischhaltekeller länger dauern. Christopher hatte Sandwiches und Schokomuffins samt einer Thermoskanne mit Milchkaffee für mich bereitgestellt. Orangensaft gab es natürlich auch. Aber ich hatte weder Hunger auf Brötchen oder Kuchen noch wollte ich mich mit Christophers Hinhaltetaktik abfinden. Doch je öfter ich nach oben kletterte und gegen die Luke hämmerte, umso wütender wurde ich. Der Karzer war allerdings nicht nur dazu geschaffen, Fische frisch zu halten, sondern auch einen tobenden Racheengel festzusetzen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als abzuwarten und mich in Geduld zu üben – eine grausamere Inhaftierung hätte sich Christopher kaum ausdenken können: Die aufgezwungene Passivität weckte meine Fantasie und steigerte meine Angst ins Unermessliche.

War Christopher schon in Venedig? Bei Sanctifer? War Philippe auch dort? Und was hatte der Schlächter mit Raffaels Blut angestellt? Den Gedanken, dass es möglich war, ein dämonisches Wesen an einen Menschen zu binden, wollte ich lieber nicht weiterverfolgen. Dunkle Engel besaßen weder eine Seele noch ein Herz – zumindest kein unversehrtes.

Je länger ich in dem düsteren Loch feststeckte, umso lebendiger wurden meine Tagträume. Schwarze Schatten krochen aus ihren Verstecken, fesselten mich und stürzten sich auf Christopher. Umwoben ihn mit ihrem boshaften Netz und verschlangen seine Seele, bis er schließlich selbst ein Schatten war.

Ich stand kurz davor, dem Wahnsinn zu verfallen, als mich Arons Stimme erreichte. Ein Blick genügte ihm, um zu wissen, welche Gefühle in mir tobten. Trotz ausgefahrener Klauen zog er mich in seine Arme, bis ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.

Mit einem Boot und Paul am Ruder brachte Aron mich auf die andere Seite des Sees ins Schloss der Engel. Während der Überfahrt verlor er kein Wort. Stattdessen beschränkte er sich auf das Beobachten meiner Klauen. Erst nachdem er die Tür zu meiner Kammer unterm Dach verriegelt und mich auf den blauen Sitz niedergedrückt hatte, brach er sein Schweigen.

»Wann hat Christopher die Insel verlassen?«

»Das kann ich dir leider nicht sagen, weil ich nicht weiß, wie lange ich ohnmächtig war. Ich war so blöd, Christopher von der Kapsel zu verraten«, gestand ich.

»Er hätte dich auch mit ihr bezwungen. Gegen Christopher zu bestehen liegt jenseits deiner Möglichkeiten. Ihm zu verraten, wo er dich finden kann, allerdings nicht.« Arons scharfer Tonfall erschreckte mich. Er war mehr als sauer. »Ich habe dir alles beigebracht, um Sanctifer zu widerstehen, weil ich dachte, dass deine Liebe zu Christopher stark wäre. Doch anscheinend habe ich mich in dir getäuscht.«

»Aron, ich …« Er ließ mich nicht zu Wort kommen. Breitbeinig baute Aron sich vor meinem Sessel auf und stützte seine Hände auf die Armlehnen, so dass sein Gesicht keine Handbreit von meinem entfernt war.

»Was hat dich dazu veranlasst, Christopher deine Gefühle zu offenbaren? Deine Sehnsucht?« Arons spöttischer Tonfall stachelte meine Wut an – doch seine Wut auf mich war größer. »Warum wolltest du, dass Christopher dich findet? Was hat Sanctifer dir versprochen, damit du ihn verrätst?!«

Nichts hätte mich mehr verletzen können als Arons Anschuldigung. Meine Gefühle schäumten hoch, meine Krallen wollten sich in sein Engelfleisch bohren.

Statt in Arons grub ich sie in mein Arme. Zu spüren, wie gefährlich sie waren, sollte mir helfen, meinen Zorn zu bändigen. Doch anstatt mich zur Vernunft zu bringen, führte der Schmerz mich an die Grenzen meiner Leidensfähigkeit. Verbissen bekämpfte ich meine Gefühle: die Angst, Christopher an Sanctifer zu verlieren. Aber vor allem den Wunsch, Aron so sehr zu verletzen, wie er mich verletzt hatte.

»Lynn?« Arons Stimme drang zu mir durch. »Lynn, sieh mich an!« Sein Befehl schreckte mich auf.

Ich verschloss mich vor ihm. Arons Schuldzuweisungen standzuhalten, während ich meine dämonische Seite niederrang, überforderte mich. Doch Aron ließ nicht locker. Seine Hände umklammerten mein Gesicht, seine Finger drängten meine Augenlider auseinander und zwangen mich, ihn anzusehen, bis er sicher sein konnte, dass ich wusste, wer vor mir stand.

»Lynn, es tut mir leid. Bitte, verlier dich nicht! Es war erbärmlich, dir vorzuwerfen, du hättest Christopher verraten. Aber ich … ich war so wütend und …« Aron stockte. Seine Verzweiflung klang echt. »Lynn, bleib, wer du bist. Vertraue deiner Engelseele. Sie ist nicht weniger mächtig als dein Schatten. Christopher braucht dich. Und ich schwöre dir, ich werde ihn finden, wo auch immer er steckt. Ich werde ihn dir zurückbringen – als Engel!«

Christopher braucht dich! Arons Worte brannten sich unheilverkündend in mein Herz. Christopher war mir in allem überlegen. Er würde nur in einem Fall Hilfe brauchen: um wieder ein Racheengel zu werden. Denn auch ein Schatten war ein Engel.