Kapitel 21
Galgenparty

Sanctifers diabolisches Grinsen verriet ihn. Er hatte sein Ziel beinahe erreicht. Dass er mich weder als Rache- noch als Schattenengel, sondern nur als Lynn vorfand, schien ihm seine gute Laune nicht zu verderben.

»Es tut mir ausgesprochen leid, dass dich meine dunklen Engel hier untergebracht haben«, bemerkte er mit einem angewiderten Rundumblick durch die fensterlose Zelle. »Hoffentlich haben sie dich nicht allzu sehr erschreckt. Ich wollte sie dir eigentlich erst zu einem späteren Zeitpunkt vorstellen – nachdem du ein wenig mehr über mich und deine andere, ausgesprochen wertvolle Seite gelernt hast. Wobei ich mir eigentlich hätte denken können, dass du nicht sehr geduldig bist – wie alle Engel deiner Art.«

Ich unterdrückte ein Schaudern und starrte auf meine krallenlosen Hände, um Sanctifers begehrlichem Blick auszuweichen. Die feinen, dunkelroten Linien an meinen Fingern verrieten, dass meine Klauen durchgebrochen waren. Mehr war nicht von meinem Racheengelanfall zurückgeblieben – zumindest äußerlich. Doch die Erinnerung, wie schnell ich nachgegeben und angegriffen hatte, erschreckte mich noch immer. Ebenso meine Hilflosigkeit danach. Verglichen mit dem dämonischen Schatten war ich ein flügellahmes Entlein – selbst als Racheengel mit Klauen an den Händen.

»Du hättest besser Raffael fragen sollen, dir bei deinem Fluchtversuch zu helfen, anstatt ihn in deinem Zimmer an die Leine zu legen. Anscheinend liegt dir weniger an ihm, als ich angenommen habe.« Sanctifer wartete auf eine Antwort, doch ich verzichtete darauf, ihm zu widersprechen. Es würde Raffael schützen, wenn Sanctifer glaubte, dass ich ihm nicht traute.

»Andererseits scheinst du mehr über meinen Palast zu wissen, als du solltest.« Der durchdringende Blick, mit dem Sanctifer mich musterte, ließ mein Herz schneller schlagen. Wusste er, was Raffael mir verraten hatte? Weil Raffael es ihm freiwillig erzählt oder gezwungenermaßen gestanden hatte? Ich sah beiseite. Raffael war seinem Ziehvater nicht gewachsen.

»Aber ich bin mir sicher, dass du mir bald erzählen wirst, wo du dich bis zum Morgengrauen herumgetrieben hast. Du musst verstehen, dass ich auf deinen kleinen Ausflug … nun, sagen wir … reagieren muss«, erklärte Sanctifer mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel, der Angstwellen in meinem Körper erzeugte: Er sprach von Folter und Bestrafung. »Damit du nicht noch einmal auf die Idee kommst, dich meinen Wünschen zu widersetzen, habe ich mir etwas ganz Besonderes für dich ausgedacht.«

Zu meiner Angst mischte sich Zorn. Sanctifer stand in Reichweite. Er war allein und unvorbereitet, und ich wusste inzwischen, dass meine Klauen ihr Ziel nicht verfehlen würden. Er bemerkte meine Wut – und seine Augen jubilierten. Eisige Kälte überzog mein Gesicht, kroch meinen Hals entlang und schnürte meine Kehle zusammen. Ich schenkte ihm mein bestes Lächeln und hielt seinem Angriff stand. Arons hartes Training zahlte sich jetzt aus.

»Was auch immer du vorhast, der Rat wird davon erfahren«, behauptete ich selbstbewusst.

»Du glaubst das doch selbst nicht. Oder?«, fragte Sanctifer mit maßloser Überheblichkeit.

»Nein, ich glaube das nicht, ich weiß es. Irgendwann wirst auch du einen Fehler machen.« Ich verkniff mir ein Grinsen. Den ersten hatte er bereits begangen. Der Rat wusste also noch nichts von seinen Machenschaften. Sanctifer hatte meine verborgene Anschuldigung nicht abgestritten. Im Gegenteil, seine Arroganz bewies nur, wie überlegen er sich fühlte.

»Und du wirst irgendwann nachgeben. Deine Unerfahrenheit ist geradezu schändlich – aber selbst Christopher musste sich mir fügen.«

Die nächste Kältewelle attackierte meinen Sehnerv. Sanctifer schien zum Greifen nah. Ich konzentrierte meine Kräfte, anstatt mich in einen Racheengel zu verwandeln und meine Klauen in sein Fleisch zu treiben. Denn das war es, was er wollte: dass ich meine Beherrschung verlor. Zuerst würde ich dem Racheengel nachgeben und danach ihm.



Vier seiner dunklen Engel, wie Sanctifer die übelriechenden Wesen mit den ausgefransten Flügeln nannte, holten mich wenig später ab. Ich wehrte mich nicht, als zwei von ihnen mich auf die Beine zerrten, obwohl alles in mir drängte, ihnen meine Klauen zu zeigen. Mein Widerstand galt Sanctifer und nicht diesen Kreaturen. Wovon auch immer sie abstammten, wie ich waren sie Sanctifers Opfer. Hörige Geschöpfe, die seine diabolischen Befehle befolgten. Denn obwohl ich Sanctifers dämonisches Erbe weder spüren noch riechen konnte, war ich mir sicher, dass er außerordentlich viel davon besaß.

Erst im helleren Licht von Sanctifers Audienzzimmer fiel mir auf, dass jeder der vier dunklen Engel einen silbernen Ohrring trug. Entweder liebte Sanctifer es, wenn seine Kuscheltiere einen Knopf im Ohr hatten, oder diese vier durften die Welten wechseln. Mich gruselte bei dem Gedanken, was sie alles in der Menschenwelt anstellen konnten.

Sie bugsierten mich zu den beiden Löwenskulpturen in Sanctifers angrenzendem Museum. Hinter ihnen klaffte ein dunkles Loch. Eine Treppe führte hinab in einen hohen, fensterlosen Saal im unterirdischen Teil des Palastes. Überlebensgroße Zeichnungen von geflügelten Wesen schmückten die Wände. Dazwischen unterbrachen schiefergraue Steintafeln mit strichförmigen Zeichen, in farbenprächtige Ornamente eingerahmt, die Malereien. Wäre ich mir nicht sicher gewesen, dass ich mich noch immer in Italien befand, hätte ich auf Keilschrift in einem babylonischen Grabmal getippt – doch mit altorientalischen Bestattungsriten kannte ich mich nicht besonders gut aus.

Den großen, dunkelhaarigen Typen am anderen Ende des Saals erkannte ich jedoch sofort. Mit hocherhobenem Haupt sah Raffael zu, wie die dämonischen Wesen mich zu ihm und seinem diabolischen Ziehvater schleppten. Sein abweisender Blick verriet mir, dass er sauer auf mich war – was ich ihm nach meiner Knebelattacke wohl kaum verübeln konnte.

Sanctifer saß hinter ihm. Majestätisch ruhte er auf einem fürstlichen Thron, der den Thronsessel der Dogin an Größe und Schönheit bei weitem übertraf. Ein kaum wahrnehmbares Flimmern umgab ihn. Vielleicht hielt er sich mit Hilfe von Engelsmagie seine dunklen Monster vom Leib. Raffael war ihnen schutzlos ausgeliefert. Ich natürlich auch.

»Du solltest die Dogin hierher einladen«, begrüßte ich Sanctifer. »Dein Stuhl würde ihr sicher gefallen.«

»Und du solltest mich nicht länger duzen und nur dann reden, wenn du aufgefordert wirst«, belehrte er mich. »Es wird Zeit, dass du begreifst, warum du hier bist.«

Auf sein Zeichen hin drückten mich meine vier Begleiter auf einen niedrigen, aber sicher wertvollen Stuhl in zweiter Reihe neben Raffael. Obwohl ich damit beschäftigt war, mich gegen meinen rebellierenden Racheengel zu wehren, flüsterte ich ihm ein »Tut mir leid« zu. Er ignorierte es ebenso wie das »Bitte«, das ich hinterherschob. Es brauchte mehr als ein paar geflüsterte Worte, um Raffael umzustimmen.

Ein schmaler Typ Mitte zwanzig mit nussbraunen Haaren und treuen Hundeaugen durfte als Nächstes Sanctifers Thron bewundern. Er bekam keinen Sitzplatz, sondern wurde von zwei lederflügeligen Wachen auf die Knie gezwungen.

»Massimo, bitte erzähl uns ein wenig von deinem Problem«, forderte Sanctifer den schlotternden Kerl auf.

Ich bekam schon Mitleid beim Zusehen. Nicht nur, weil ich seine Angst vor Sanctifer nachvollziehen konnte, sondern weil der Engel völlig konfus wirkte. Unsicher huschte sein Blick durch den Saal, verharrte kurz an der Sechsertruppe der Lederflügeligen, die in sicherer Reichweite Sanctifers Thron bewachte, sparte Sanctifer aus und blieb schließlich an mir und meinen Händen hängen.

Ich versteckte sie unter den Armlehnen. Offenbar wusste Massimo, was ich war, oder er ahnte es. Die wachsende Furcht in seinen Augen schob ich seiner misslichen Lage zu – schließlich hatte ich ihm nichts getan. Ich kannte ihn nicht mal. Doch sein plötzlich hektischer Atem und seine geweiteten Pupillen bewiesen das Gegenteil: Ich war der Grund, warum er zitterte. Nicht Sanctifer oder die übelriechenden Miniausgaben des Schattens mit den Lederflügeln, sondern der Racheengel schüchterte ihn ein. Vielleicht spürte er, dass ein Teil von mir Sanctifer am liebsten ins Jenseits befördert hätte.

Ich schenkte ihm ein Lächeln, doch das half nicht, seine Unsicherheit zu vertreiben. Stotternd spuckte er ein paar wenig zusammenhängende Sätze hervor, in denen er etwas von er habe seine Pflicht erfüllt, sei aber dennoch schuld und er hätte es besser wissen müssen erzählte. Er sah dabei nur mich an. Erst als Sanctifer ihm Einhalt gebot, wandte er sich ab, straffte seinen Rücken und fixierte ihn.

»Was auch immer Ihr mit mir vorhabt, freiwillig werde ich mich Euch niemals anschließen.« Außer Sanctifer existierte für Massimo jetzt niemand mehr.

»Das ist mir inzwischen bewusst, und auch wenn ich das bedaure, akzeptiere ich deine Entscheidung«, antwortete Sanctifer mit königlicher Würde, die mir die Galle überlaufen ließ: Sanctifer, König der Engel – das wäre er wohl gern!

Meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Ein bösartiges Gefühl griff nach meiner Seele. Dunkelheit vereint mit Gnadenlosigkeit.

Als wären ihre Reflexe miteinander verbunden, reagierte der Trupp der Lederflügeligen mit unterwürfigem Kopfsenken. Erschrocken starrte ich zu Sanctifer und verpasste beinahe den Auftritt seines Schattenengels.

Wütende Augen suchten nach mir und bohrten sich in meine. Ich hielt ihnen und den Gefühlen, die das dämonische Wesen in mir auslöste, ebenso stand wie Sanctifers Mentalangriff. Er wollte wissen, wie sehr mich der Anblick seiner Bestie aufbrachte, wie mächtig mein Wunsch wurde, sie zu töten. Doch ich war vorbereitet und verbarg mein Entsetzen, als die Kreatur mit atemberaubender Gefährlichkeit – die gebogenen Klauen in Lauerstellung, ihr Körper in Kampfhaltung – den Saal betrat.

Sanctifers Angriff schwächte sich ab, die Kälte verschwand, doch die Verbindung zu ihm und dem Schatten blieb bestehen. Obwohl er nicht sprach, hörte ich klar und deutlich seine wohltönende Stimme. Allerdings rief er nicht mich, sondern Gabriella zu sich.

Gabriella! Meine Vermutung wurde bestätigt. Sie war einst ein Racheengel gewesen. Der Rat hatte sie zum Tode verurteilt, weil sie einen unschuldigen Engel getötet hatte. Offenbar hatte Sanctifer, der Vollstrecker des Rats, seine Aufgabe nicht zu Ende gebracht. Anstatt sie zu richten, hatte er sie gebrochen und in ihre Schattengestalt gezwungen.

Als besäße sie keinen eigenen Willen – was vermutlich auch der Fall war –, blieb Gabriella zu Sanctifers Rechten stehen. So deutlich, als würde sie mich umarmen, berührte mich ihr dämonisches Wesen mit all seiner dunklen Macht.

Panik schlug über mir zusammen: Mein dämonisches Erbe wollte, dass ich so wurde wie sie – der Racheengel in mir drängte, ihre seelenlose Hülle zu zerstören, obwohl er spürte, wie gefährlich ein Kampf gegen dieses Monster wäre. Gabriella war mächtig. Wenn Sanctifer es ihr befahl, würde sie mich ohne Zögern töten – sie konnte es.

»Du darfst gehen, sobald du deine Aufgabe erfüllt hast«, sagte Sanctifer zu mir. Mein Wunsch, so schnell wie möglich hier rauszukommen, war mir wohl anzusehen. »Denn heute darfst du den Schiedsspruch fällen und wählen, wer die größere Schuld in sich trägt: Massimo oder Raffael.«

Raffaels Augenlid zuckte, sonst verriet nichts, was in ihm vorging. So ruhig, als hätte Sanctifer ihn zum Eisessen eingeladen, saß er auf seinem Stuhl – immerhin sah er mich jetzt an.

Am liebsten hätte ich ihn geohrfeigt. Wie konnte er nur so ruhig sitzenbleiben, während sein Ziehvater ihn mal wieder als Spielball benutzte? Aber das hätte Sanctifer sicher als Schuldspruch gewertet. Und ich wusste noch nicht mal, was Raffael ausgefressen hatte – abgesehen davon, dass er sich von mir hatte überlisten lassen und ich nicht vorhatte, ein Urteil zu fällen.

»Du als Racheengel besitzt ein Gespür für dämonische Veranlagungen«, klärte Sanctifer mich auf. »Deshalb möchte ich von dir wissen, in welchem der beiden das größere Potential schlummert.«

Ich verweigerte die Antwort. Nahm Sanctifer mich gerade auf den Arm? Massimo war ein im Totenreich geprüfter Engel und Raffael ein heimtückischer Flüsterer, den die Totenwächter vermutlich nicht durchlassen würden.

Mein Versuch, einfach aufzustehen und zu gehen, scheiterte. Vier Hände drückten mich auf meinen Stuhl zurück. Zwei von Sanctifers Schergen standen hinter mir und zwangen mich, sitzenzubleiben.

Doch ich war weder Sanctifers Racheengel noch sonst einer seiner unterwürfigen Lakaien. Ein kurzes Wegducken, danach eine schnelle Drehung, und ich war frei. Kurzzeitig. Gabriella war kampfbereit – und schnell. Und im Gegensatz zu meinen waren ihre Klauen bereits ausgefahren.

Ich schrie, als ihre Krallenhände meine Arme zurückbogen – ihr dämonisches Wesen setzte mir zu. Aber anstatt mir ihre Klauen durch die Haut zu bohren – was sie sicher gerne getan hätte –, wartete sie auf Sanctifers Befehl. Sie hatte sich ihm unterworfen, obwohl sie wusste, dass er sie einst in eine Falle gelockt hatte. War er wirklich so mächtig?

Doch Gabriellas Nähe machte mich nicht nur wütend. Sie war ein Engel gewesen und hatte geliebt. War nichts mehr davon übrig geblieben?

Ich drängte mein Mitleid für den einstigen Racheengel beiseite. Sie war nur noch ein dämonischer Schatten. Das Gefühl, ihr zu gleichen, blieb: Ich hatte Christopher belogen und mich auf Sanctifer eingelassen. Meine Liebe verraten, anstatt ihr zu vertrauen – wie Gabriella. Sie war wie ich und ich wie sie.

Mein Widerstand erlahmte. Anstatt mich aus den Klauen des Schattenengels zu winden, gab ich auf. Gegen Gabriella zu kämpfen erschien mir plötzlich sinnlos. Wie sie würde ich zu einem Schatten werden, wenn ich meiner Wut erlaubte, zu wachsen – und das wollte ich nicht!

Sanctifer erkannte seine Niederlage. Mit einem zornigen Funkeln in seinen hellen Augen befahl er seinem Schatten, mich loszulassen. Gehen durfte ich nicht. Sanctifer erwartete eine Entscheidung von mir.

»Wen von beiden soll ich nun deiner Meinung nach bestrafen? Raffael oder Massimo?«, hakte er noch einmal nach.

»Keinen von beiden!« Während Massimos Blick trotz Freispruch ängstlich zwischen mir und Gabriella hin und her huschte, verzog Raffael keine Miene, als ich mein Urteil sprach.

»Das geht leider nicht«, erklärte Sanctifer. »Schließlich muss jemand die Schuld für deine Flucht auf sich nehmen.«

»Das werde ich sein«, antwortete ich selbstbewusst, nachdem ich den Kloß geschluckt hatte, der mir die Kehle zuschnüren wollte. Ich konnte unmöglich zulassen, dass jemand meinetwegen bestraft wurde.

Sanctifer erhob sich von seinem Thron und kam auf mich zu. Als wären wir die besten Freunde, legte er seinen Arm um meine Schultern und nahm mich beiseite. Ich hielt still – Gabriella stand hinter uns.

»Die Schuld auf dich nehmen. Das tust du doch schon«, erklärte Sanctifer geduldig. »Aber wenn du dich nicht entscheiden willst, kann ich auch beide bestrafen.«

Ich zuckte zusammen. Sanctifer lächelte und führte mich zu dem braunhaarigen, noch immer knienden Massimo, was mir die Gelegenheit bot, seiner Umarmung zu entkommen. Der süße Marzipanduft des knienden Engels war alles andere als dämonisch.

»Massimo sollte die Insel überwachen – und hat dich aus den Augen verloren. Raffael hingegen war für deine Sicherheit verantwortlich – und ließ sich von deinem Charme fesseln. Wem soll ich nun die Schuld geben? Dem Engel oder meinem Sohn?«

Ich warf Raffael einen entsetzten Blick zu. Sanctifer nannte ihn seinen Sohn. Doch in Raffaels dunklen Augen spiegelte sich weder Überraschung noch Abscheu – für ihn hatte Sanctifer in dem Moment die Vaterrolle übernommen, als er ihn aus dem Feuer gerettet hatte.

»Und, was meinst du?« Sanctifer schlug den Gutmütiger-Onkel-Ton an. »Wer von den beiden besitzt den größeren Dämonenanteil?«

»Ich wüsste nicht, was das mit meinem kleinen Ausflug zu tun haben sollte«, wehrte ich ab.

»Zugegeben, nur wenig«, gestand Sanctifer. »Aber da ich mich auf Gabriellas Urteilskraft leider nicht immer verlassen kann, fällt es mir manchmal schwer, die richtige Entscheidung zu treffen. Und wenn ich schon einen auf dämonische Wesen spezialisierten Racheengel zu Gast habe, würde ich gerne wissen, ob ich die richtigen Engel um mich versammelt habe.«

Sanctifer fasste in die Haare des vor ihm knienden Engels und zog seinen Kopf nach hinten, damit ich Massimo besser in die Augen sehen konnte.

»Massimo ist übrigens der Schutzengel deines italienischen Freundes«, erklärte Sanctifer selbstgefällig.

Massimo hatte Philippe verraten?! Mit einem Schlag war die heftige Wut wieder da.

»Dann scheint es wohl eine Gewohnheit von ihm zu sein, seine Aufgaben zu vernachlässigen.«

»Du meinst also, dass ich Massimo bestrafen soll?« Sanctifer ließ nicht locker. Er wollte, dass ich das Urteil fällte.

»Ja«, bestätigte ich, obwohl ich wusste, dass ich besser nein gesagt hätte.

Noch bevor einer von Sanctifers dunklen Engeln reagieren konnte, sprang Massimo auf, riss Raffael aus seinem Stuhl und legte ihm eine Hand um die Kehle.

»Lass mich gehen, oder er stirbt!« Gemeinsam mit Raffael, den er wie einen Schutzschild vor sich her zerrte, drängte sich Massimo an Sanctifer und mir vorbei Richtung Treppe. »Pfeif deine Monster zurück«, brüllte er und wies auf Gabriella und die Meute dunkler Engel, die in Lauerstellung auf Sanctifers Befehl wartete. Anscheinend konnten oder durften auch die lederflügeligen Engel in Sanctifers Gegenwart keine eigenen Entscheidungen treffen – vermutlich beides. Sanctifer würde sich niemals den Gefahren unberechenbarer Kreaturen aussetzen, höchstens er kontrollierte sie.

»So eigenwillig«, seufzte Sanctifer mit Blick auf Massimo. »Ein Wesenszug, der leider verlorengeht.«

Bring ihn mir! Sanctifers stummer Befehl erreichte auch mich.

Mit einem Sprung stand ich vor Raffael. In Gabriellas seelenlosen Augen glomm eine Bösartigkeit, die nicht nur mir galt. Meine Flügel drängten hervor, ich hielt dagegen und erlaubte nur meinen Klauen, sich zu zeigen. Der Schmerz war erträglich. Viel schwieriger war es, die dunkle Wut in mir in den Griff zu bekommen. Sanctifer hatte Gabriella nicht nur die Seele geraubt, sondern ihr alles genommen. Der Schatten vor mir besaß weder ein Gewissen noch einen eigenen Willen – er war bloß noch eine von Sanctifers skrupellosen Marionetten.

Raffael reagierte, bevor ich die Entscheidung fällen konnte, ob ich meine Klauen in Sanctifers oder Gabriellas Herz schlagen sollte. Mit einem Tritt befreite er sich aus Massimos Umklammerung und schob mich auf die zwei geflügelten Steinlöwen zu, die den unteren Zugang zur Treppe flankierten.

Massimo setzte nach, doch Gabriella war schneller und versperrte ihm den Weg. Sein einziger Fluchtweg führte an mir vorbei.

Seine Angst vor dem Schatten war größer als die vor mir. Trotz meiner Klauen stürzte sich Massimo auf mich – ich war die Geisel in Greifweite. Sanctifer war unerreichbar. Bestens geschützt von seinen dunklen Engeln, verfolgte er Massimos Fluchtversuch. Erst als ich genauer hinsah, bemerkte ich, wie viel Konzentration ihm seine Geschöpfe abverlangten. Als Puppenspieler zu agieren, der einen Schatten in den Kampf schickt, anstatt selbst Hand anzulegen, und nebenbei noch sechs dunkle Engel um sich schart, schien anstrengend zu sein. Wenn ich fliehen wollte, dann musste ich jetzt handeln, solange Sanctifer mit Massimo beschäftigt war.

Ich versuchte, den einstigen Schutzengel abzuschütteln, ohne ihn mit meinen Klauen zu verletzen. Massimo drückte nur noch stärker zu und drängte mich zum Ausgang. Sein Klammergriff raubte mir den Atem.

»Richte ihn!« Sanctifers Stimme dröhnte bösartig durch den farbenprächtigen Saal.

Schlammgrüne Augen glühten auf. Gabriellas Gier verstärkte sich. Eisige Kälte begleitete sie. Ihre Dunkelheit erreichte mich – und ihr Verlangen, etwas zu töten, wurde meines.

Massimo schrie, als schwarze Klauen seinen Körper durchbohrten. Gabriella war mir zuvorgekommen. Ich knurrte vor Wut und stellte mich ihr entgegen. Raffael stieß mich beiseite. In seinen Augen lag blankes Entsetzen.

Teilnahmslos sank Massimo in sich zusammen. Angst und Schmerz lähmten ihn. Gabriellas Klauen steckten noch immer zwischen seinen Schultern, und auch ich spürte die Macht, mit der sie ihm seine Engelsmagie entzog. Er stöhnte gequält, als seine Flügel durchbrachen. Rein und weiß wie frischer Schnee warfen sie einen hellen Schimmer auf Gabriellas fahlgraues Gesicht.

Mein Racheengel krümmte sich und machte dem dunklen Teil in mir Platz. Gabriellas Macht berauschte meine dämonische Seite. Doch im Gegensatz zu ihr würde Sanctifer mich niemals unterwerfen. Der einzige Engel, der Zugang zu meiner Seele gefunden hatte, war Christopher.

Ich schloss die Augen, fassungslos angesichts dessen, was um mich herum passierte, und zutiefst entsetzt von meinen eigenen Gefühlen. Gleich würde Gabriella Massimos Flügel nehmen und sein Herz zerstören – und ein Teil von mir konnte es kaum erwarten.

»Flieh!«, flüsterte Raffael. Er drängte mich von Massimo weg und drückte mir eine Kette mit gravierten Münzen in die Hand – ein Wächterband. »Damit kannst du im alten Kanal die Welten wechseln. Nimm den Weg durch den Lüftungsschacht im Brunnen. Sie können dir nicht folgen, weil die Schächte für ihre Flügel zu schmal sind. Im alten Kanal steht ein Boot. Du kennst den Weg. Aber halte dich von Venedig fern. Dort wird Sanctifer als Erstes nach dir suchen.«

Ich blieb apathisch, weil ich mich davor fürchtete, in die Wirklichkeit zurückzukehren und so zu werden wie Gabriella.

»Jetzt! Solange sie nicht mitbekommen, was um sie herum passiert«, trieb Raffael mich an und schob mich weiter auf die Tierstatuen zu. Doch erst Massimos Schrei befreite mich aus meinem Schockzustand.

Die dunklen Engel hatten einen Kreis um ihn gebildet, Gabriellas Klauen sein Herz durchbohrt. Massimo lebte noch, doch inzwischen kniete er nicht mehr vor Gabriella, sondern vor Sanctifer. Sie stand hinter ihm und hielt seinen kraftlosen Körper, während Sanctifers hell aufglühende Hände Massimos Gesicht umschlossen. Das Herzstück seiner Engelseele gehörte nicht seinem Schatten, sondern ihm.

Mein dämonischer Teil drängte mich, Massimos Seele zu nehmen. Sie würde mich stärken, mir Unbesiegbarkeit schenken. Ich musste sie haben – unbedingt! Was aus Massimo wurde, war mir egal.

Raffael stieß mich zwischen die steinernen Löwen. »Sieh nicht hin!« In seinen Augen spiegelten sich Sorge und Abscheu.

Ich wehrte mich, hinterließ blutende Spuren auf Raffaels Körper. Doch er ließ nicht locker, packte meine Taille und zerrte mich an den Tierskulpturen vorbei. Vor der Treppe versperrte er mir mit seinem breitschultrigen Körper die Sicht auf Sanctifers diabolischen Initiationsritus.

»Lynn! Geh, bevor es zu spät für dich ist!«

Raffaels Stimme rüttelte etwas Verborgenes in mir wach, erinnerte mich daran, dass ich ein Engel und kein Schatten sein wollte. Und erst jetzt begriff ich, dass ich kurz davorstand, einer zu werden.

»Und was wird aus dir?«, flüsterte ich mit einer Stimme, die nicht mehr meine war.

»Ich überlebe – wie immer«, antwortete Raffael.

Der Schmerz in seinen Augen traf mich völlig unvorbereitet. Doch Raffael ließ nicht zu, dass ich nachhakte. Entschlossen drängte er mich die Treppe hinauf. Als ich die oberste Stufe erreicht hatte, wandte er sich ab und kehrte zu Sanctifer zurück.

Niemand bemerkte, dass ich umdrehte, hinter einer der beiden Tierskulpturen stehenblieb und mit mir kämpfte. Erst als Sanctifer Raffaels Arm festhielt und mit einem silbernen Dolch seine Haut aufschlitzte, um dem dunklen Engel, der einst Massimo war, Raffaels Blut aufzuzwingen, rannte ich los. Davor hätte ich am liebsten neben Massimo gestanden, um an Sanctifers Stelle die Verwandlung zu vollenden.

Unerbittlich hatte Gabriella den gebrochenen Engel in ihre Dunkelheit gehüllt, während seine Flügel allmählich ihren Glanz verloren. Schon bald würden sie schwarz sein und zerfetzt wie sein zerstörtes Herz. Das hatte Sanctifer ihm gelassen. Nur seine Seele hatte er ihm geraubt – eine Seele, die meine hätte sein sollen.