Kapitel 15
Ein wohlgehütetes Geheimnis

Aron kam ungeschoren davon, schließlich war er der rechtschaffene Sohn zweier Engel und Christopher ein von einem dämonischen Schatten beherrschtes Monster.

Wie betäubt ließ ich mich von Naguals Wachen in das unweit des Dogenpalastes gelegene Apartment bringen, das der Rat mir seit meiner bestandenen Engelprüfung zur Verfügung stellte. Erst als die Tür ins Schloss fiel und Aron meinen apathischen Körper zu sich umdrehte, um mich darüber aufzuklären, was gerade eben passiert war, meldete sich mein Widerstand.

»Du hast deine Rolle hervorragend gespielt«, lobte Aron.

»Du hast es darauf angelegt, dass Christopher dich herausfordert?«, zischte ich völlig außer mir.

»Wenn ich dir alles vorher erzählt hätte, wärst du niemals darauf eingegangen.«

Aron kannte mich gut, aber nicht gut genug. Meine Hand klatschte in sein Gesicht. Verblüfft taumelte er zurück. Ein erstickter Laut drängte aus seiner Kehle, als sein Rücken gegen die Wand prallte. Offenbar war der Riss in seinem Flügel doch nicht so harmlos. Allerdings war mir Arons Befinden im Moment ziemlich egal. Entschlossen packte ich ihn an den Schultern und zwang ihn, mich anzusehen.

»Was haben sie mit ihm vor? Wohin hat Nagual ihn gebracht?!« Die Bilder aus meinen schlimmsten Albträumen stürmten auf mich ein. Christophers blutüberströmter Rücken, seine abgeschlagenen Flügel in lodernden Flammen und Sanctifers diabolisches Grinsen, während sein Schwert auf Christophers Herz zielte.

Auf wessen Seite stand Aron eigentlich?

Blind vor Sorge um Christopher und unfähig anzuerkennen, was Aron in den letzten Monaten für mich getan hatte, presste ich ihn gegen die Wand. Er keuchte vor Schmerz – ich drückte weiter.

»Lynn, bitte …«, quetschte Aron zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Lass es mich erklären.«

»Was erklären? Dass du Christopher in Sanctifers Hände getrieben hast?!« Meine Stimme überschlug sich.

»Er ist … in Sicherheit«, röchelte Aron. »An dem einzigen Ort, wo Sancti…fer ihm … nichts tun kann.«

»Und wo soll das sein?«

»In der … Basilika.«

Ich ließ ihn los. Aron kippte nach vorn, stützte sich auf seinen Knien ab und zwang den Schmerz zurück. Ich sah ihm an, dass er litt, aber er würde auch ohne mich zurechtkommen.

Doch Aron war zäh. Seine Augen nahmen einen tiefschwarzen Farbton an, als sich seine Schwingen hinter ihm ausbreiteten. Noch bevor ich die Tür erreichte, blockierte er mir den Weg – mit seinem weißen Engelschwert. Entschlossenheit blitzte in seinem Gesicht auf.

»Wenn es sein muss, kämpfe ich auch zweimal am Tag gegen einen Racheengel. Geh rüber und setz dich aufs Sofa.« Arons Stimme klang rau vor unterdrücktem Schmerz.

»Warum? Damit du mir erzählen kannst, wie du mich benutzt hast, um Christopher in aller Öffentlichkeit bloßzustellen? Den Rat wird das nicht kaltlassen«, antwortete ich bitter.

»Das hoffe ich.«

Arons Antwort nahm mir die Luft zum Atmen. Wie niederträchtig konnte ein Engel eigentlich sein?!

Meine Faust schnellte nach vorn. Aron packte sie und drehte mir den Arm auf den Rücken, während sein Engelschwert gefährlich dicht über meiner Kehle schwebte.

»Und jetzt gehst du bitte ins Empfangszimmer, setzt dich auf das Sofa und hörst mir zu! Ich möchte dir nur ungern weh tun.« Das Licht von Arons Engelschwert verdunkelte sich, als sich für den Bruchteil einer Sekunde der Hauch eines bleiernen Mantels über mir ausbreitete – eine Warnung.

»Nimm dein Schwert von meiner Kehle«, zischte ich trotz seiner Drohung.

»Gehst du dann freiwillig und lässt mich erklären, was heute passiert ist?«

»Nein. Ich werde dir zuhören, weil ich wissen will, was für ein Heuchler du bist.«

Aron nickte und gab mich frei. Sein Schwert zielte auf meinen Rücken, als er mich Richtung Empfangszimmer drängte. Offenbar traute er meiner vorgetäuschten Ruhe genauso wenig wie ich seiner. Erst als ich mich auf das edle Plüschsofa setzte, ließ er seine Waffe verschwinden. Er besaß andere Möglichkeiten, mich in Schach zu halten. Flügellos, aber mit verschränkten Armen, hatte er vor der Tür Stellung bezogen, um mir zu zeigen, dass ich hier nicht ohne seine Erlaubnis rauskam.

»Nagual ist im Augenblick für die Sicherheit Venedigs verantwortlich«, begann Aron. »Er wird den Rat bitten, eine Versammlung einzuberufen.«

»Eine Gerichtsversammlung?«, sprudelte es aus mir heraus.

»Genau. Der Rat …« Weiter kam Aron nicht, weil er viel zu beschäftigt war, meine Hände von seinem Hals zu lösen, während ich ihm die wildesten Flüche an den Kopf schleuderte.

»Verdammt, Lynn! Hör erst mal zu, bevor du mir an die Gurgel gehst!«, knurrte er und drängte mich auf das Sofa zurück. »Bleibst du jetzt sitzen, bis ich zu Ende geredet habe, oder muss ich dich dazu zwingen?«

»Ich … ich weiß nicht«, flüsterte ich mit erstickter Stimme. Meine Gefühle hatten mich überrannt und mein dämonischer Teil bot sich gerade an, mir beiseitezustehen.

»Lynn, vergiss nicht, wer du sein willst«, Arons Stimme wurde eindringlich. Seine weißen Schwingen erschienen. »Ich habe versprochen, Christopher und dir zu helfen, und ich halte mein Versprechen, das schwöre ich dir.« Aron hatte sich verwandelt, um mir seine Aufrichtigkeit zu beweisen. Auf einer seiner schneeweißen Schwingen klaffte eine tiefrote Wunde. Es musste schmerzhaft sein, mir seine Flügel zu zeigen. Anscheinend war es Aron wichtig, dass ich ihm glaubte.

Um mich wieder in den Griff zu bekommen, schloss ich für einen kurzen Moment die Augen. Am liebsten hätte ich die ganze Welt ausgeblendet. Christopher musste sich den obersten Engeln stellen und ich Sanctifer – schon übermorgen.

Aron blieb in seiner Engelsgestalt. Er wollte mein Vertrauen zurückgewinnen.

»Nagual wird Christopher der Dogin und ihrem Rat vorführen. Es wird ein Verfahren eingeleitet, um den Fall zu untersuchen. Auch mich wird man zu dem Prozess bitten.« Aron sah mich an. Er würde aussagen müssen, als Engel. »Ich werde die Wahrheit bezeugen. Ich habe Christopher herausgefordert, ihn belogen und ihn bewusst in die Irre geführt, weil ich wollte, dass er wütend wird.«

»Du … du hast riskiert, dass Christopher sich in ein Monster verwandelt?« Mein Kreislauf stand kurz davor, sich auszuklinken. Kraftlos sank ich in die Kissen der Couch. Dass Aron so weit gehen würde, entsetzte mich.

Er warf mir einen besorgten Blick zu, entschied sich aber weiterzureden, anstatt mir eines der Kissen unter die Beine zu schieben. »Abgesehen von Coelestin gibt es niemanden, der Christopher besser kennt als ich. Auch du nicht – noch nicht«, erstickte er meinen Protest im Keim. »Er hätte dich in Gefahr gebracht, wenn er sich verwandelt hätte – und das würde er niemals tun.« Aron strich sich durch seine verwuschelten Haare. Er war nervös.

»Christopher ist nicht der erste Racheengel, der vor Eifersucht brennt. Gabriella, der einstige Racheengel Venedigs, hat einen Engel getötet, der unter dem Schutz eines Ratsmitglieds stand. Sie hat Simon mit dem Mädchen in einem Bett gefunden. Doch Christopher hätte gewusst, wenn Simon sich in eine andere verliebt hätte. Simon war Christophers bester Freund.«

Ich nickte, ich glaubte Aron. Christopher hatte mir von Simon und Gabriella erzählt.

»Sicher kannst du dir denken, in wessen Palast Gabriella die beiden entdeckt hat.«

»Bei Sanctifer«, mutmaßte ich.

»Ja, aber er hat nicht nur ihr eine Falle gestellt. Er rechnete mit Simons Widerstand und damit, dass Christopher seinem Freund helfen würde. Es ist Sanctifer allerdings nicht gelungen, Christopher so weit zu bringen, das Gesetz zu übertreten.« Aron blieb stehen. Dunkler Zorn verfinsterte seine Miene.

»Christopher steht nicht zum ersten Mal vor Gericht. Doch die Dogin kann es sich im Augenblick nicht leisten, innerhalb so kurzer Zeit auf einen weiteren Racheengel zu verzichten. Darum kam Christopher auch nur mit einer Verwarnung davon, als er dir geholfen hat, aus dem Reich der Totenwächterin zu entkommen. Dass er mich in der Oper nicht in seiner Schattengestalt angegriffen hat, wird auch dieses Mal das Urteil mildern.«

»Obwohl er dir fast einen Flügel abgetrennt hat?« Warum bloß glaubte ich Aron nicht?

»Das wissen nur wir beide. Und bis zur Verhandlung wird nichts mehr davon zu sehen sein. Ich werde den Rat und ihr Oberhaupt bitten, Christopher für die Dauer eines Jahres den Zutritt nach Venedig zu verwehren, weil ich dich hier ausbilden möchte.«

»Und warum sollte er deinem Vorschlag zustimmen? Hast du vergessen, dass auch Sanctifer im Rat der Engel sitzt?«

»Ganz und gar nicht.« Aron grinste – ein verschlagenes Grinsen. »Seitdem Sanctifer dir den Ring mit dem geflügelten Löwen Venedigs gegeben hat, bin ich mir jedoch ziemlich sicher, dass die Dogin und ihr Rat meine Bitte annehmen werden. Sie suchen schon lange nach einer Möglichkeit, wie sie Christopher von dir fernhalten können, nachdem ihr den Rat ausgetrickst und euch in der Menschenwelt getroffen habt. Vermutlich haben sie deshalb auch Sanctifers Flüsterer damit beauftragt, dich und Christopher zu beobachten.«

Arons Argumente leuchteten mir ein – nicht zuletzt, weil Raffael mir erzählt hatte, dass er im Auftrag des Rats handelte.

»Und da Sanctifer seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren will, wird er sich für dich einsetzen. Schließlich hat er dem Rat vorgeschlagen, dich zu Gabriellas Nachfolgerin zu ernennen.«

»Also schlägst du Sanctifer mit seinen eigenen Waffen.«

»Der Rat und die Dogin wollten Venedig als Treffpunkt für dich und Christopher bereits bei ihrem letzten Beschluss ausklammern. Doch der Zirkel der Racheengel hatte Bedenken angemeldet, da die Markusbasilika der einzige Ort ist, wo Racheengel sich einigermaßen zivilisiert beraten können. Mit meinem Antrag gebe ich dem Rat einen hervorragenden Grund, wenigstens einen von euch eine Zeitlang aus Venedig zu verbannen. Von Sanctifer habe ich nur die Idee mit dem eifersüchtigen Racheengel geklaut.«

»Die nicht gut ausgegangen ist«, erinnerte ich Aron.

»Weil Gabriella die Beherrschung verlor. Christopher hat das nicht getan – und dir wird das auch nicht passieren.« Aron spielte auf meinen Aufenthalt bei Sanctifer an. »Wenigstens bleiben mir so noch ein paar Tage Zeit, um dich auf deinen Besuch bei Sanctifer vorzubereiten.«

»Und wie kommst du darauf, dass er mich nicht wie geplant abholen lässt?«

»Weil der Rat nicht nur mich als Zeugen laden wird«, erklärte Aron. Die Querfalten auf seiner Stirn verdeutlichten, wo er den Schwachpunkt seines Planes sah.

Ich ließ mich tiefer in das weiche Polster sinken, zog meine Knie an und schloss die Augen. Ich würde Christopher wiedersehen, als Zeugin der Anklage. Das würde ich niemals durchstehen.



Mein Herz sprang mir in die Kehle, als ich am nächsten Morgen in meinem Empfangszimmer den dunkelhaarigen Flüsterer auf mich warten sah. Er war gekommen, um mich zu holen. Selbst bei Aron, der einen Arm um meine Taille gelegt hatte – schließlich waren wir ja offiziell ein Paar –, konnte ich einen Hauch von Unsicherheit spüren. Dass Aron und ich zusammen waren, hatte Raffael uns beim Abiball nicht abgekauft. Dass er das nach der Auseinandersetzung zwischen Christopher und Aron inzwischen anders sah, konnte ich nur hoffen.

Raffael wirkte ernst, als er mir das zusammengerollte Pergament mit dem blutroten Siegel überreichte. Ich hätte einen triumphierenden Blick erwartet, aber vielleicht wusste er nicht, was in dem Brief stand. Also setzte wenigstens ich ein Grinsen auf, um von meiner Unsicherheit abzulenken, während ich das Schriftstück entrollte. Mein Lachen gefror in stummem Entsetzen. Aron hatte recht behalten. Der Rat erwartete mich morgen zu Christophers Gerichtsverhandlung. Sanctifers morbider Humor, mir ausgerechnet Raffael als Boten zu schicken, war unübertroffen.

»Übrigens«, begann Raffael, als ich zu Ende gelesen hatte. »Ich soll dir ausrichten, dass Sanctifer außerordentlich betrübt ist, dich erst später als geplant in seinem Heim begrüßen zu können. Um dich für deine Geduld zu entschädigen, möchte er dir einen unvergesslichen Empfang bereiten. Deshalb soll ich dich nach deiner Lieblingsfarbe fragen.«

»Rosa«, antwortete ich spontan, weil diese Farbe mich an Hannah und ihr in Barbie-Rosa eingerichtetes Zimmer erinnerte. Mich bei Sanctifer wohl zu fühlen, war das Letzte, was ich wollte. »Und richte ihm aus, dass ich es kaum erwarten kann, ihm gegenüberzutreten …«

»Ein Empfang«, unterbrach Aron. »Welche Ehre für einen Racheengel.«

Bevor ich meine Drohung doch noch mit dem Zusatz Um das Dämonische deines Herrn und Meisters zu enttarnen vollenden konnte, schnappte Aron sich Raffael und komplimentierte ihn zur Tür hinaus.

»Lynn!« Aron hatte seine Tadelstimme aufgesetzt als er zurückkam. »Denk nach, bevor du einem Boten der Dogin eine Drohung mit auf den Weg gibst. Beim nächsten Mal werde ich vielleicht nicht in deiner Nähe sein.«

Ich kehrte Aron den Rücken zu, damit er nicht sah, wie verloren ich mich fühlte, schob den weißen Vorhang beiseite und starrte zum Fenster hinaus. Die tiefblaue, von der Sonne beschienene Lagune gaukelte eine trügerische Friedlichkeit vor, die es für mich nicht mehr gab.

»Ein Jahr, danach bleibt euch die Ewigkeit«, tröstete mich Aron. Ihm etwas vorzumachen war schwer.

»Und wenn …«

»Es wird kein wenn geben«, fiel er mir ins Wort.

»Aber wenn ich zum Monster werde? Was, wenn Sanctifer mich …«

Erneut ließ Aron mich nicht ausreden. Mit finsterer Miene zerrte er mich in das für mein Training eingerichtete Zimmer. Hanteln samt Bank, ein Laufband, ein Rudergerät und diverse Kraftmaschinen belebten den ansonsten kargen, mit Parkett ausgelegten Sportraum. Selbst einen Boxsack gab es, damit ich mich austoben konnte.

Aron ließ mich vor einem der raumhohen Fenster auf einer Yogamatte Platz nehmen. Er selbst setzte sich mir gegenüber.

»Der Rat hat dich als Zeugin berufen, nicht als Angeklagte. Beantworte nur die Fragen, die dir gestellt werden – und das am besten so einfach wie möglich. Stelle keine Vermutungen auf oder irgendwelche Behauptungen – geschweige denn Drohungen. Halte dich an das, was in der Oper passiert ist. Wenn du dir unsicher bist, stell dich blöd oder lüge. Aber das Wichtigste: Du wusstest, dass Christopher dich im Ballett erwartet hat, aber nicht, dass ich ihm eine Falle gestellt habe. Hast du das verstanden?«

»Ja«, sagte ich und nickte. »Und wenn der Rat mich zwingt …«

»Zeugen werden bei Gericht nicht manipuliert – Racheengel schon gar nicht!« Aron packte meine Hände und zwang mich, ihn anzusehen. »Lynn, dass du mich in der Oper nicht in Stücke gerissen hast, zeigt mir, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe. Sanctifer wird es niemals gelingen, dich in deinen Schatten zu zwingen.«

»Ach nein? Das glaubst du ja wohl selbst nicht!«, antwortete ich zynisch. Aron hatte mich auf mein Jahr bei Sanctifer vorbereitet. Bei Bewusstsein zu bleiben, während er mir meine Grenzen aufzeigte, war mir allerdings nicht gelungen. Warum das wichtig war, hatte Aron mir zwar nicht erklärt, aber dass es etwas mit meinem Schatten zu tun hatte, lag auf der Hand.

»Doch, genau das tue ich«, antwortete Aron. »Aber falls Sanctifer jemals erfahren sollte, was ich dir beibringe, wird er sich Christopher holen. Also spiel deine Rolle perfekt, wenn du bei ihm bist!«

Arons Blick wurde eindringlich. Ohne Vorwarnung legte sich sein Zwangskorsett um meinen Körper. Erschrocken schnappte ich nach Luft, nur um festzustellen, dass ich nicht mal mehr meinen Brustkorb ausdehnen konnte – wimmern vor Schmerz ging noch.

»Wehr dich!«, forderte er mich auf. »Der Mantel besteht aus Engelsmagie.«

Arons Zusatz erleichterte es mir, eine Entscheidung zu treffen: Meine Engelskräfte gegen seine – er gewann schneller, als ich mir das vorgestellt hatte.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Aron, während ich Halt an seinen Schultern suchte, um nicht umzukippen.

»Ähnlich schlapp, wie wenn Christopher mich küsst.«

»Das dachte ich mir.« Aron grinste. »Was hast du gemacht?«

»Meine … na ja, irgendwie versucht, deine Zwangsjacke loszuwerden.«

»Indem du mit deinen Engelskräften all die Stellen bekämpft hast, an denen du den Mantel spüren konntest«, half Aron mir zu erklären, wie ich seinen Angriff abgewehrt hatte. »Und genau wie beim Küssen hat dich deine Kraft verlassen.«

»Ja, so in etwa«, gab ich zu.

»Gut, dann lass uns weitermachen.«

»Aber … normalerweise dauert es eine Weile, bis ich … bis ich Christopher wieder …« Dieses Mal brach ich freiwillig ab. Die Erinnerung an Christopher schnürte meine Kehle zu. Wo auch immer er im Augenblick gefangen gehalten wurde, er war meinetwegen dort.

Erneut stiegen in meinem Kopf die düsteren Bilder auf, die mich seit gestern verfolgten. Festgekettet in einem eisernen Käfig kauerte Christophers entstellter Körper auf dem kalten Boden. Seine Augen matt und getrübt, seine Seele gebrochen.

Verzweifelt zog ich meine Beine an und verbarg das Gesicht zwischen den Knien. Christopher litt. Meinetwegen!

Aron fuhr mir tröstend über den Rücken. Ich stieß ihn weg – Trost hatte ich nicht verdient.

»Ich weiß, was du fühlst, aber …«

»Du hast nicht den geringsten Schimmer«, zischte ich. »Du sitzt hier, lässt dir die Sonne ins Gesicht scheinen …«

»Und offenbare einem Racheengel ein Geheimnis, das mich beide Flügel samt meinem Herzen kostet, falls jemals herauskommt, dass ich dir verraten habe, wie wir die Kontrolle über euch behalten.«

»Das … das ist nicht wahr!« Alles in mir weigerte sich, Aron zu glauben, obwohl ich mir sicher war, dass er die Wahrheit sagte. Er hatte sein Leben auf den Kopf gestellt, nur um mir zu helfen. Doch so falsch es auch war, Aron meine Wut spüren zu lassen: Als Böser, der Christophers Gefangennahme mit verschuldet hatte, gefiel er meinem Gewissen im Augenblick viel besser.

»Dann ist es wohl das Vernünftigste, wenn wir unseren Unterricht beenden.«

Ich widersprach ihm nicht. Selbst als er aufstand und aus dem Raum ging, blieb ich sitzen. Erst als mir klar wurde, dass er nicht nur von heute sprach, erkannte ich das Problem. Aron würde mich niemals zu etwas zwingen, das Vertrauen erforderte – weder meine Schattengestalt anzunehmen noch etwas anderes zu lernen.

Ich fand ihn vor dem Fenster im Empfangszimmer. Die sanften Wellen und das Glitzern der Sonne auf dem Blau der Lagune zu beobachten, beruhigte offenbar nicht nur mich.

»Aron, ich … Christopher braucht deine Unterstützung.«

»Dein erster Ansatz gefiel mir besser«, sagte Aron, bevor er sich zu mir umdrehte. »Versteh mich bitte nicht falsch. Ich würde alles dafür geben, an deiner Stelle das Jahr bei Sanctifer ableisten zu können. Und ich möchte auch nicht, dass du mich anflehst. Aber solange du zweifelst, kann ich dir nicht helfen. Es erfordert gegenseitiges Vertrauen, wenn ich dir zeigen soll, wie du einem Engel widerstehen kannst, der gelernt hat, einen Racheengel zu unterwerfen. Frage dich, warum du es mir nicht entgegenbringen kannst.«



Mit untergeschlagenen Beinen saß ich auf einem Sessel in dem prunkvollen Apartment vor dem Fenster und beobachtete, wie sich die Sonne dem Horizont näherte. Aron hatte die Wohnung verlassen, ich den letzten Ankerpunkt verjagt, der mir in der Welt der Engel geblieben war. Morgen würde ich Christopher wiedersehen. Den Dolch, den Aron und ich ihm ins Herz gestoßen hatten, noch ein wenig tiefer treiben. Ich konnte das – ich musste es.

Jenseits aller Zeit starrte ich auf das tiefschwarze Meer. Erst als Aron mir eine Hand auf die Schulter legte, bemerkte ich seine Anwesenheit.

»Und? Hast du gefunden, wonach du suchen solltest?«

Anstatt zu antworten, schüttelte ich den Kopf. Arons Loyalität in Frage zu stellen, erschien mir lächerlich. Er würde weder mich noch Christopher verraten. Er war mein Tutor und unser allerbester Freund. Ich zweifelte nicht an ihm, sondern an mir. Daran, ob ich den Rat belügen konnte, während ich in Christophers Augen sah.

Aron rückte den zweiten Sessel ans Fenster und drehte meinen so, dass wir uns gegenübersaßen. »Was siehst du?«

»Einen Freund?« Ich war mir nicht sicher, ob Aron das auch so sah.

»Gut. Gib mir deine Hände«, bat er mich.

Das eisige Feuer der Himmelslichter, das meine Arme entlangflammte, überwältigte mich. Tränen schossen mir in die Augen. Ich wehrte mich nicht, sie Aron zu zeigen. Der Schmerz in meinem Inneren war tausendmal größer.

»Das zu tun, was deinem Naturell am wenigsten entspricht, ist die einzige Möglichkeit, einen Engelsangriff zu überstehen. Anstatt dich zu widersetzen – was ein aufgebrachter Racheengel zwangsläufig tun würde –, musst du Ruhe bewahren. Deine Energie in deinem Inneren konzentrieren und sie nicht in einem Gegenangriff vergeuden. Denn solange deine Seele geschützt ist, kann dich höchstens ein Racheengel besiegen und in deinen Schatten zwingen. Ein normaler Engel wäre niemals stark genug.«

Aron forcierte die Intensität der Energie, bevor er sie über meine Arme hinausschickte. Ich schrie vor Schmerz, kämpfte, um seinem Griff zu entkommen. Doch anstatt mich freizugeben, drückte er mich tiefer in den Sessel. Die Ohnmacht, in die ich mich flüchten wollte, vertrieb er mit dem Duft von Zuckernüssen auf Panna cotta.

»Konzentriere deine Energie«, wiederholte er, als mein Dämonenerbe erwachte.

»Wo?«, flüsterte ich, unfähig, meine Stimme zu erheben.

»An der Stelle, die ein Racheengel normalerweise nicht mehr spüren kann: dort, wo es weh tut, wenn du an Christopher denkst.«

Es war einfach, diesen Punkt zu finden. Augenblicklich verschwand Arons eisiges Himmelsfeuer. Meine Tränen blieben. Ich ließ es zu, dass Aron mich in die Arme nahm. Wer sonst, außer einem guten Freund, konnte ein gebrochenes Engelsherz trösten?