Kapitel
14
Geküsst
Mit tränenreichen Umarmungen, weil es Zeit wurde, sich zu verabschieden, und freudestrahlenden Augen, endlich das Abi in der Tasche zu haben, verließ die Abschlussklasse am nächsten Morgen die Internatsschule. »Wir bleiben in Kontakt«, »Wir hören voneinander« und »Ich komm dich besuchen« waren die meistgehörten Versprechen. Ich verabschiedete mich mit einem »Ich werde dich vermissen«, weil ich vielleicht keinen von ihnen wiedersehen würde.
Gemeinsam mit meinen Eltern flog ich nach Italien zurück. Um ihren forschenden Blicken zu entkommen, gab ich vor, müde zu sein, und schloss die Augen.
Christophers zorniges Gesicht erschien sofort. Wären gestern nach Sanctifers Abgang nicht ein paar kampferprobte Engel und so viele Menschen im Foyer gewesen, als Aron mein Erscheinen in der Eremitage angeordnet hatte, hätte sich Christopher vermutlich in einen Engel verwandelt und auf Aron gestürzt.
Immerhin gönnte mein Tutor mir zwei Tage, um meine italienischen Freunde zu begrüßen und meinen Eltern zu erklären, dass Christopher und ich schon früher als geplant zu unserer Italientour aufbrechen wollten. Meine Freunde zeigten mehr Verständnis als meine Eltern. Schließlich tröstete sich meine Mutter mit dem Gedanken, dass sie ihre frischgebackene Studentin spätestens zu Semesterbeginn in Venedig besuchen würden. Ich heuchelte Überraschung und Vorfreude – es würde für mich kein Studium geben und für sie keinen Venedigtrip.
Am schwersten fiel es mir, mich von Christopher zu verabschieden. Schließlich durfte ich es mir nicht anmerken lassen, dass wir länger als ein paar Tage voneinander getrennt sein würden. Natürlich gelang mir das nicht mal ansatzweise.
»Lynn, was ist los?« Christopher löste meinen Kopf von seiner Schulter. Das Mondlicht, das in mein Zimmer fiel, genügte ihm, um zu erkennen, dass ich mit den Tränen kämpfte. »Bist du traurig, weil deine Schulzeit zu Ende ist?«
Ich schwieg – und nickte, obwohl ich ihm am liebsten mein Herz ausgeschüttet hätte. Christopher zu belügen schmerzte wie eine sich stetig vertiefende Wunde. Ich liebte ihn – doch genau deshalb musste ich schweigen.
Anstatt der Wahrheit brachen Tränen aus mir heraus. Ich schloss die Augen, damit Christopher sie nicht sehen konnte. – Doch wem wollte ich damit eigentlich etwas vormachen?
Christopher nahm mich wieder in seine Arme und hielt mich fest, strich mir zärtlich die Haare aus der Stirn und küsste meine Tränen fort. Warum konnte die Welt nicht einfach stillstehen? Warum nur war sie gegen uns?
»Hat Aron dir eigentlich verraten, dass er für uns zwei Karten für Dornröschen im schönsten Theater der Welt besorgt hat?«, versuchte Christopher mich aufzumuntern.
Ich schüttelte den Kopf und kuschelte mich an seine Brust, um meine sich widerstreitenden Gefühle zu verbergen. Also damit hatte Aron ihn ruhiggestellt. Mit dem Versprechen, dass er mich in Venedig treffen durfte. Im Ballett. Bei Dornröschen – wie überaus romantisch!
Was genau plante Aron? Bisher hatte er mich entweder vertröstet oder getriezt, sobald ich nachgefragt hatte, wie er Christopher erklären wollte, dass ich für ein Jahr von der Bildfläche verschwinden würde.
Wollte er ihm weismachen, dass mein Unterricht meine ununterbrochene Gegenwart in der Eremitage voraussetzte? Oder im Schloss der Engel, das Christopher nicht mehr betreten durfte? Das würde Christopher ihm bestimmt nicht abkaufen! Doch die Alternative, dass Aron ihn in einem von Schutzwällen umgebenen Gefängnis einsperrte, gefiel mir noch viel weniger. Vielleicht hatte Aron deshalb geschwiegen.
Ein leiser Schluchzer entkam meiner Kontrolle. Christopher zog mich dichter an sich heran.
»Es wird leichter werden«, versprach er mir. »Ich habe mich lange mit Coelestin unterhalten. Er will mit Aron reden. Auch er ist der Meinung, dass dein Tutor dir zu viel abverlangt. Er wird ihn dazu bewegen, dir abends und an den Wochenenden freizugeben.« Der Hauch eines Kusses streifte meine Schläfe. »Schließlich kannst du auch von mir etwas lernen«, flüsterte Christopher. »Fliegen zum Beispiel.« Seine Lippen wanderten weiter. »Oder dich gegen Engelsmagie zu wehren.« – Oder gegen Sanctifer!
Christophers Mund fand den meinen. Sanft, aber viel zu schnell, huschte er über meine Lippen hinweg. Ich zog ihn zurück.
»Küss mich!«, drängte ich. Lieber wollte ich in Christophers Armen das Bewusstsein verlieren, als daran zu denken, vielleicht nie wieder von ihm festgehalten zu werden.
Mit unbewegter Miene klopfte Christopher an die hölzerne Tür der Einsiedelei, die wie ein uneinnehmbares Adlernest hoch über Sulmona thronte. Er ließ sich nicht anmerken, was in ihm vorging, als er mich bei meinem Tutor ablieferte. Erst kurz bevor sich die Tür hinter mir schloss, zeigte er, wie verbittert er war. Gut, dass er nicht wusste, dass ich die Enttäuschung in seinen Augen gesehen hatte, als er sich abwandte.
Aron hielt mich fest, damit ich nicht zur Tür stürmen und mich in Christophers Arme werfen konnte.
»Du musst stark sein, wenn du ihn retten willst«, trichterte Aron mir ein, während seine Hände wie zwei Schraubstöcke meine Taille umschlossen. »Er liebt dich. Auch in einem Jahr noch, wenn du zurückkommst.«
»Und wenn ich nicht zurückkomme? Was, wenn ich versage?« Meine Stimme brach.
»Das wirst du nicht. Dazu liebst du Christopher viel zu sehr.«
Aron ließ mir keine Zeit, mich in meinem Kummer zu verlieren oder mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was mich bei Sanctifer erwartete. Neben endloser Körperverknotmeditation in einer kleinen, spartanisch eingerichteten Zelle tief im Inneren des Berges, triezte er mich zwei Tage lang mit Traumbilderabwehren. Ich hielt ihnen stand, bis er am dritten Tag begann, sein Training zu verschärfen. Als sein aus Himmelslichtern gewobener Umhang sich wie vereiste Säure auf meinen verknoteten Körper legte, knickte ich ein und verlor mal wieder das Bewusstsein.
»Trink etwas. Für heute reicht das«, hörte ich Arons Stimme, als er versuchte, mir Orangensaft einzuflößen. Er klang genauso angegriffen, wie ich mich fühlte. Doch in seiner Stimme lag ein weiterer Beigeschmack: Zweifel mit einer Prise Besorgnis.
Unter Für heute reicht das eine Pause zu verstehen, erwies sich als falsch. Immerhin verzichtete Aron den Rest des Tages darauf, mich zu dem gefühllosen Superengel machen zu wollen, der ich offenbar werden sollte. Unterricht bekam ich trotzdem. Erfolgloses Flugtraining, bei dem Aron mir das Starten beibringen wollte, und anschließend ein wenig Waffenkunde.
»Du weißt, dass du aus Himmelslichtern eine Waffe weben kannst. Ich habe den Raum hier angereichert, damit du sie leichter findest«, erklärte Aron geduldig.
»Du willst, dass ich eine Waffe webe?!« Die Bilder von Susan, wie sie drohend über mir stand und danach mit ihrem Schwert meinen Rücken aufschlitzte, waren mir gut in Erinnerung geblieben.
»Ja.« Aron verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Dass er vor der Tür des fensterlosen, mit Trainingsmatten ausgelegten Raums stand, war sicher kein Zufall. Hier drinnen knisterte es geradezu vor Engelsmagie.
»Und wenn ich ausflippe, dich angreife und nach draußen stürme, um meine Waffe auszuprobieren?«
»Dann werde ich eben schneller sein müssen als du«, erwiderte Aron gelassen.
Ich vertraute darauf, dass er das war, breitete meine Flügel aus und überließ mich meinen Instinkten. Lauschte dem sanften Pulsieren und wartete, bis sich mir das Geheimnis der Engelsmagie enthüllte. Und obwohl ich die winzigen Sterngebilde sehen konnte, gelang es mir nicht, sie zu etwas Greifbarem zu verdichten. Immer wieder entschlüpften mir die flüchtigen Partikel.
»Fühle den Takt der Himmelslichter. Zwinge sie nicht, deinem Rhythmus zu folgen, sondern folge ihrem«, leitete Aron mich an.
Ich schloss die Augen und hörte, fühlte, versuchte meinen Atem dem Pulsieren anzupassen. Doch je mehr ich mich bemühte, umso sanfter pulsierten die Himmelslichter. Schließlich erlosch der letzte Schimmer.
»Du weißt, warum du versagst?« Aron sah mich prüfend an.
Ich nickte und wich seinem Blick aus. Ja, das wusste ich ganz genau. Das irisierende Leuchten der Himmelslichter erinnerte mich viel zu sehr an Christopher. Seine Flügel besaßen denselben außerirdischen Schimmer – und wie so oft waren meine Gedanken zu ihm gewandert.
»Weißt du, wie es Christopher geht?«
Arons Miene verdunkelte sich. Ein »Gut« kam ihm über die Lippen, das ich ihm nicht abnahm.
»Was meinst du mit gut?«
»Er ist unterwegs«, antwortete Aron vage.
»Und was genau bedeutet unterwegs?«
»Nichts Ungewöhnliches für einen Racheengel.«
»Und das wäre?!« Meine Gelassenheit verabschiedete sich. Arons Versuch, mich zu beschwichtigen, bewirkte das genaue Gegenteil. Inzwischen stand ich meinem Tutor direkt gegenüber.
»Dass er seinem Jagdtrieb nachgeht.« Aron legte mir eine Hand auf die Schulter. Sicher, damit ich nicht aus der Einsiedelei stürmte, um Christopher zu suchen. »Aber ich bin mir sicher, dass Coelestin ihn wieder zur Vernunft bringen wird.«
»Ein ganzes Jahr lang? Wie willst du Christopher davon abhalten, wenn er, anstatt Monster zu jagen, versucht, mich aufzuspüren?«
»Das verrate ich dir, sobald du es schaffst, meinem Angriff zu widerstehen, ohne das Bewusstsein zu verlieren.«
Wie ich das zustande bringen sollte, erklärte Aron mir allerdings nicht. Dass es von enormer Wichtigkeit war, bekam ich an den folgenden Tagen zu spüren.
Anstatt sich zurückzunehmen und mir eine Chance zu geben, intensivierte Aron seine schmerzhaften Übergriffe. Doch sosehr ich mich auch dagegen wehrte, es gelang mir nicht, dem Blackout zu entkommen.
Am Tag, bevor Aron mich nach Venedig bringen wollte, brach er schließlich das Training ab.
»Genug. Es ist sinnlos, dich ein weiteres Mal in die Ohnmacht zu treiben.« Er klang frustriert – und ziemlich besorgt. Sein Plan setzte auf Widerstand, nicht auf Ohnmacht.
»Und wie soll ich dann …«
»Sanctifer widerstehen? Das sage ich dir, sobald es an der Zeit ist.«
Obwohl ich mich nach Arons Dauerangriff wie zweimal verstorben fühlte, erreichte ich die Tür vor ihm. Mich noch länger hinzuhalten, würde Aron nicht gelingen.
»Zeit habe ich keine mehr. Wir fahren morgen nach Venedig. Oder hast du das vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht. Und gerade deshalb solltest du dich heute noch ein wenig ausruhen. Christopher hat einen Blick für dunkle Schatten unter den Augen. Wenn er dich zu Gesicht bekommt, wird er es dir kaum abnehmen, frisch verliebt zu sein.«
Ich wurde hellhörig. Der Zusatz frisch beunruhigte mich. »Was genau meinst du mit frisch verliebt?!«
»Das erkläre ich dir auf der Fahrt.«
Angriffsbereit blockierte ich die Tür, obwohl ich wusste, dass ich in meiner miesen Verfassung keine Chance gegen Aron hatte. Doch ich hatte in letzter Zeit mehr gelitten, als ich ertragen konnte, hatte mich Arons Führung untergeordnet, ihm vertraut, dass er das Richtige tat, so schmerzhaft es auch war. Ich hatte mir immer und immer wieder eingetrichtert, es für Christopher zu tun – für uns. Doch jetzt war meine Geduld am Ende.
»Was meinst du mit frisch verliebt?!«, wiederholte ich. Meine Stimme bebte vor Zorn.
»Du legst es auf eine Auseinandersetzung an? Obwohl du kaum noch geradeaus schauen kannst?«
Ich nickte. Ja, ich war mehr als entschlossen, endlich eine Antwort aus meinem Tutor herauszuquetschen.
»Wie du willst.« Aron presste seine Lippen zu einem geraden Strich zusammen. Was er mir zu sagen hatte, gefiel ihm nicht. Dennoch lenkte er ein. »Setz dich, dann erzähle ich dir, wo und wie ich Christopher erklären werde, warum du ihn nicht mehr sehen willst.«
Das Opernhaus war einzigartig. Selbst der Name La Fenice – der Phönix – passte zu diesem magischen Ort. Ähnlich wie sein mehrfach abgebranntes Ebenbild im Venedig der Menschen lag es im Herzen der Stadt, in der Nähe des Dogenpalastes.
Obwohl ich wusste, dass Christopher nicht hier war, stand ich mit feuchten Händen und Herzrasen in meiner dunkelrot ausgeschlagenen Loge und suchte das Theater nach ihm ab. Verschnörkelte, mit weißen Büsten und Gold verzierte Balkone und Decken – wie das bei den Engeln offenbar Standard war – schmückten den hohen, von einer flachen Kuppel überspannten Raum. Filigrane Wandleuchten aus Glas zwischen den abgetrennten Logen und ein gigantischer Deckenlüster erhellten den Saal mit ihrem warmen Licht.
Vergeblich versuchte ich, in jede der unzähligen, über fünf Geschosse verteilten Logen einen Blick zu werfen. Christopher war nicht hier. Aron war klug genug, ihm in einer anderen Welt mitzuteilen, dass ich mir lieber mit ihm bei den Engeln Otello als mit Christopher im Menschenvenedig Dornröschen ansah.
Ursprünglich wollte Aron mich mitnehmen. Dass sein Plan bei mir nicht besonders gut ankam und er mehrere Stunden brauchte, um mich wieder zu beruhigen, hatte ihn umdenken lassen. Offenbar war er zu dem Schluss gekommen, dass ich mich an Christopher geklammert hätte, anstatt mit ihm in die Welt der Engel zurückzukehren. Ich sah das anders, weil ich nicht vorhatte, in letzter Sekunde einzuknicken. Doch Arons Entscheidung stand fest, und ohne Wächterband blieb mir nichts anderes übrig, als hierzubleiben.
Der schwere Samtvorhang erhob sich, die Vorstellung begann. Ich ließ mich auf einen der beiden brokatbezogenen Sessel sinken. Aron hatte eine Loge nur für uns beide reserviert. Sicher, damit alle sehen konnten, wie schnell ich meine Liebhaber wechselte, wenn er zurückkam und hier mit mir Händchen hielt.
Otello betrat die Bühne, sein Volk jubelte ihm zu. Eine Schlacht war gewonnen, doch sein größter Kampf stand ihm noch bevor. Unfähig, der Liebestragödie von Otello und Desdemona meine volle Aufmerksamkeit zu schenken, geschweige denn dem dramatischen Auf und Ab der Musik, ließ ich meine Gedanken schweifen. Desdemona klang in meinen Ohren wie Dämonin. Gut möglich, dass der Verfasser des Stückes ein Engel war oder zumindest ihre Welt gut kannte. Doch der Name bedeutete auch die vom Schicksal verfolgte. Am Ende würde sie sterben, erdrosselt von ihrem Liebsten, angestachelt vom Bösewicht der Geschichte. Würde auch ich sterben? Bei Sanctifer?
Ich schob den Gedanken beiseite und widmete mich wieder Otello. Jago, der heimtückische Ränkeschmied, trällerte gerade sein Credo des Bösen – wie passend. Genervt und noch beunruhigter, als ich das sowieso schon war, verließ ich die Loge. Aron wollte spätestens zu Beginn der Vorstellung hier sein. Was war so kompliziert daran, Christopher zu erklären, dass ich ihn nicht mehr liebte?
Tränen stahlen sich in meine Augen. Entschlossen wischte ich sie weg. Ich war ein Racheengel. Ich sollte nicht weinen, sondern daran glauben, dass Christopher mir verzieh, wenn ich zurückkam und ihm die Wahrheit erzählte.
Doch würde er das? Konnte er mir diesen Verrat jemals verzeihen?
Noch mehr Tränen drängten hervor. Die Tür einer der Logen öffnete sich, weitere folgten. Der zweite Akt war zu Ende. Ich versteckte mich in einer der Toiletten und wartete, bis die Pause vorbei war, bevor ich mich wieder auf meinen brokatbezogenen Logenplatz verkrümelte.
Otello strebte dem Höhepunkt seiner Eifersucht entgegen. Ich schloss die Augen und dachte an Christopher. Seine wütende Stimme schreckte mich auf.
»Das soll sie mir selbst sagen!« Mit hell blitzenden Augen stieß er die Tür auf und stürmte in die Loge, dicht gefolgt von Aron.
Erschrocken kauerte ich mich tiefer in den Sessel. So wütend hatte ich Christopher selten gesehen. Seine Kiefer malmten vor unterdrücktem Zorn, tiefe Falten standen auf seiner Stirn. Doch das Schlimmste waren seine Augen: flammende Jade.
Mit einem gezielten Griff riss er mich aus dem Stuhl. Seine Finger an meinem Handgelenk schmerzten, doch ich wehrte mich nicht. Christopher hatte jeden Grund der Welt, eifersüchtig zu sein.
»Ist es wahr? Liebst du ihn?«
»Ich … wir … Aron und ich …«, verloren suchte ich nach den richtigen Worten.
Aron kam mir zu Hilfe, befreite meine Hand aus Christophers Klammergriff und stellte sich schützend vor mich.
»Du tust ihr weh! Lass sie in Ruhe, sie hat sich entschieden. Akzeptier’s endlich und geh!«
Doch Christopher war alles andere als bereit, meinen Verrat zu akzeptieren. Er wollte es hören – von mir!
Aron fühlte, wie mein Körper sich verkrampfte, spürte, dass ich kurz davorstand, mich in Christophers Arme zu werfen, und handelte. Besitzergreifend drückte er mich an sich. Atemberaubend intensiv presste er seinen Mund auf meine Lippen, während er mich drohend anblitzte. Ein falsches Wort, eine unbedachte Geste, und Christopher würde meine Stelle bei Sanctifer für sich beanspruchen.
Ich schloss die Augen und ließ mich fallen. Am liebsten wäre ich in Ohnmacht gefallen, aber davon war ich weit entfernt. Aron küsste meisterlich, doch das Wichtigste fehlte: Ich liebte ihn nicht.
Otellos wütender Tenor beherrschte die Bühne. Wegen eines Taschentuchs warf er seiner Desdemona vor, ihn zu hintergehen. Ein verlorenes Taschentuch, wie lächerlich im Vergleich zu einem sündigen Kuss, wie Aron ihn mir gerade aufzwang.
»Lass sie los! Ich will ihr in die Augen sehen.« Christophers Stimme übertönte Otello. Entrüstetes Gemurmel und Zischen aus den benachbarten Logen war die Folge. Doch anstatt den aufgebrachten Racheengel zu beschwichtigen, warf Aron ihm ein triumphierendes Lächeln zu – und widmete sich erneut meinen Lippen.
Ich biss ihm auf die Zunge. Es war nicht nötig, Christophers Wut auf die Spitze zu treiben.
Aron presste kurz seine Augenlider zusammen, ignorierte den Schmerz und küsste weiter. Besser, er hätte aufgehört und sich zu Christopher umgedreht. In seiner herrlichen Gestalt als Racheengel stand er hinter ihm, bereit, ihn in winzig kleine Stücke zu zerfetzen.
Erschrocken stemmte ich mich gegen Arons Körper. Doch er rührte sich keinen Millimeter. Nur Christopher bewegte sich. Langsam, mit erhobenem Schwert, näherte er sich Arons ungeschützter Rückseite. Meine Augen weiteten sich. Christopher zuckte zurück. Überraschung lag auf seinem Gesicht.
Endlich spürte auch Aron, dass etwas nicht stimmte, und ließ mich los. Während ich in eine der Ecken zurücktaumelte, verwandelte auch er sich zum Engel und zückte seine schneeweiße Waffe.
Mein entsetzter Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf uns. Einen Livekampf, anstatt auf der Bühne in einer der Logen, gab es sicher nicht bei jeder Vorstellung zu sehen.
Christophers Schwert zielte auf Arons Flügel. Gekonnt wich Aron dem aggressiven Hieb aus. Christopher setzte nach, doch Aron kannte ihn gut genug, um seinen Schlägen rechtzeitig zu entkommen. Christopher änderte seine Taktik und trieb seinen Gegner zur Brüstung hinüber. Aron reagierte mit einem schnellen Konter, der Christopher ein Stirnrunzeln entlockte. Er nutzte Christophers Überraschung und stieß einen der Sessel zwischen sich und seinen Angreifer. Doch Christopher ließ sich nicht aufhalten, sprang über den Stuhl und drängte Aron in meine Richtung.
Ich hoffte auf die Vernunft meines Tutors, darauf, dass er kapitulierte. Aber Aron dachte nicht daran, sich geschlagen zu geben. Verbissen hieb er auf Christophers Schwert ein.
Beißender Dunst stieg auf und hinterließ ein Brennen in meiner Nase. Starr vor Angst, Arons Schwert irgendwo in Christophers Körper stecken zu sehen, huschte mein Blick über den Racheengel. Er war unverletzt. Ein Stein fiel mir vom Herzen, bevor es sich schmerzhaft zusammenzog: Anstatt in Christopher klaffte in Arons Flügel ein langer, hässlicher Riss. Rote Dunstschleier entwichen der Wunde. Ein weiterer Schlag, und Arons Flügel würde fallen.
Ich schaute zu Christopher und begegnete seinen Augen. Sie glühten vor Wut. Sein Schatten drängte ihn, die Kontrolle zu übernehmen. Doch so weit durfte ich es nicht kommen lassen. Entschlossen, einzugreifen, stemmte ich mich mit zitternden Beinen aus der goldverzierten Ecke.
Christopher ahnte, was ich vorhatte. Seine Bewegungen gerieten für einen viel zu langen Moment ins Stocken. Mein Herz setzte aus und meldete sich schließlich mit einem panischen Hämmern zurück. Ich musste handeln, jetzt, bevor Aron die Chance ergriff und sein Schwert doch noch in Christophers Körper rammte.
Nicht zum ersten Mal mischte ich mich in den Streit zweier kampfwütiger Engel. Doch niemals zuvor fühlte ich mich so verwundbar wie in dem Moment, als ich zwischen den beiden stand. Der Blick in Christophers Gesicht brach mir das Herz. Maßlose Enttäuschung spiegelte sich in ihm. Er liebte mich, doch er glaubte, mich verloren zu haben. In seinen Augen beschützte ich nicht ihn, sondern Aron. Sein nächster Hieb hätte ihm den Sieg gebracht. Die Konsequenzen, seinen Freund zu verletzen, während Desdemona auf der Bühne ihre letzten Worte hauchte, weil ihr Geliebter sie erdrosselte, waren für Christopher bedeutungslos – für Aron allerdings nicht.
Krachend schlug die Tür gegen die Rückwand der Loge. Arons Flügel verschwanden. Ein Trupp bewaffneter Engel drängte auf den schmalen Balkon. Allen voran Nagual, der Racheengel mit den goldfarbenen Augen. Böse schaute er auf mich herab, während die anderen Engel Christopher entwaffneten.
»Offenbar habe ich mich in dir geirrt. Ich hielt dich für ehrenhaft«, blaffte er mich an.
Aron drängte sich zwischen uns und schob mich aus Naguals Reichweite. Der Riss in seinem Flügel war wohl doch nicht so schlimm, wie ich angenommen hatte. Sonst wäre es ihm wohl kaum gelungen, seine Schwingen so schnell einzuziehen, ohne ein Zeichen von Schmerz auf seinem Gesicht zu hinterlassen.
»Es ist nicht unehrenhaft, einen Irrtum zu erkennen und sein Herz einem anderen zu schenken«, zischte er laut genug, damit auch Christopher es hören konnte.
Christophers Blick fand mich. Ich wandte mich ab und suchte Schutz bei Aron. Christopher zu täuschen und ihm dabei in die Augen zu sehen, schaffte ich nicht. Er hätte erkannt, dass ich nicht ihn, sondern mich selbst betrog.