Kapitel
9
Flügelblitzen
Wie jeden Abend erwartete Aron mich in der großen Eingangshalle. Allerdings war er heute nicht allein. Susan stand neben ihm. Ihre strahlend blauen Augen, mit denen sie ihn eindeutig anhimmelte, trübten sich, als sie mich entdeckte. Abneigung, vielleicht auch Verachtung, ganz sicher aber Eifersucht spiegelten sich in ihnen.
Ich murmelte ein »Ich warte draußen« und flüchtete durch die schwere Eichentür in die Dunkelheit der Nacht. In Sachen Liebe wollte ich niemandem im Weg stehen. Ich produzierte schon genügend andere Probleme.
Aron stöberte mich an der Seemauer auf. Der Frühlingswind trieb den Duft von Tulpen, Narzissen und Blaustern zu mir. Brütende Wasservögel raschelten leise im Schilf. Alles hätte so schön sein können, wenn Christopher und nicht Aron mir in die Augen gesehen hätte.
»Komm mit, ich hab eine Lösung für dein Problem gefunden«, forderte er mich auf, ihm zu folgen.
Anstatt wie die letzten beiden Tage wieder ins Verlies führte Aron mich auf den alten Burghügel hinter dem Schloss, wo ich normalerweise mein Kampftraining absolvierte. Wie immer erstarben sämtliche Geräusche, als ich neben Aron in den mit Fackeln erhellten Kreis der Linden trat. Sogar das Quaken der Frösche im Burggraben verstummte. Die abschirmende Wirkung des darunterliegenden Verlieses wirkte selbst hier oben noch.
Angespannt befolgte ich Arons Befehl, setzte mich auf die am Boden ausgebreitete Decke und beobachtete, wie Aron zwischen den Linden hin und her lief.
»Sanctifer weiß, dass Christopher an dich gebunden ist«, begann er. »Außerdem kennt er Christophers Schwachstellen so gut wie kein anderer – deine dagegen kennt er nicht. Dass du nur dann Zuflucht in deinem Schattenwesen suchst, wenn du emotional angegriffen wirst, verschafft dir einen enormen Vorteil.«
Endlose Stunden im Verlies hatte Aron gebraucht, um das herauszufinden. Anfangs hatte er mich gebeten, meine Schattengestalt anzunehmen. Später mir gedroht, mich so lange hier unten einzusperren, bis mir die Verwandlung gelang. Doch weder seine Bitte noch der Versuch, mich wütend zu machen, waren erfolgreich gewesen.
Schließlich hatte er behauptet, Christopher zu holen, um ihn in mein Sanctifer-Problem einzuweihen. Danach war er durch die Schutzbarriere gestürmt, die kein Schattenengel passieren konnte – und ich war endlich ausgerastet: Ich erreichte die Barriere kurz nach Aron. Im Gegensatz zu ihm ließ sie mich nicht mehr durch. Wäre er nicht umgekehrt, um mir zu schwören, lieber selbst zu Sanctifer zu gehen, als Christopher zu ihm zu lassen, würde ich jetzt vermutlich nicht auf dem Burghügel, sondern als Monster im Verlies sitzen.
Christophers Experiment, mir seine Schattenseite zu offenbaren, um mich davon abzuhalten, ein Schattenengel zu werden, hatte funktioniert – mit einer Ausnahme. Abgesehen von meiner ersten und einzigen Verwandlung weigerte sich meine Engelseele, dem dunklen Teil in mir die Kontrolle zu überlassen. Deshalb – und vielleicht auch mangels Übung – konnte ich mich im Gegensatz zu Christopher auch nicht willentlich verwandeln. Nur wenn ich keinen anderen Ausweg sah, weil meine Gefühle mich beherrschten, verspürte ich den Drang, dem dunklen Teil in mir nachzugeben.
»Doch erst wenn es dir gelingt, sowohl deine Träume als auch deine Gefühle zu verschließen, besteht die Chance, dass Christopher nichts davon mitbekommt, wenn Sanctifer versucht, dich in deinen Schatten zu zwingen.«
Aron war stehen geblieben. Ich wich seinem durchdringenden Blick aus. Er wollte, dass ich Christopher hinterging.
»Allerdings wird mein Plan nur dann funktionieren, wenn du bereit bist, mir zu vertrauen. Und bevor du nachfragst: Sobald es dir gelingt, dich vor mentalen Zugriffen zu schützen, werde ich dich einweihen. Denn das ist es, was du brauchst, um das Jahr bei Sanctifer heil zu überstehen.«
»Und wenn ich das nicht schaffe? Wie willst du Christopher daran hindern, meinen Platz einzunehmen?« In diesem Punkt brauchte ich absolute Sicherheit.
Aron zögerte. »Es gibt nur einen Weg, einen Racheengel zu bändigen.«
»Angekettet und umgeben von einem Schutzwall.« Der Gedanke an das Verlies, in dem Aron mich gefangen gehalten hatte, während ich zu einem Racheengel wurde, ließ mich frösteln.
»Ja«, bestätigte Aron. »Doch es ist nicht dasselbe, ein unfreiwilliger Gast bei mir zu sein, wie als Schatten unter Sanctifers Einfluss zu stehen.«
Mein Herz wurde schwer. Lieber würde ich sterben, als zuzulassen, dass Sanctifer Christopher quälte. »Versprich mir, alles zu tun, falls er … falls Christopher …« Meine Stimme wollte nicht aussprechen, wovor ich mich fürchtete.
»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit er ein Engel bleibt«, schwor Aron.
»Oder wieder wird«, flüsterte ich.
Abgesehen von den Essenszeiten dezimierte sich meine freie Zeit auf nahe null. Um den See laufen mit Christopher, anschließend Frühstück mit ihm und meinen Freunden im Gelben Haus, Intensivlernkurse, gemeinsames Mittagessen, Unterricht oder Abiball-Deko-Teamtreffen ohne Christopher, Krafttraining mit Christopher, Kaffeepause, Lernen im Zimmer, Abendessen. Danach, anstatt Pause, von Aron aufgebrummte Nachhilfe fürs Abi mit Christopher – im Gemeinschaftsraum! – und seit neuestem: Körperverknoten bei Aron selbst. Außer Oktavians MacGyver-Kurs hatte er sämtliche Engelfächer gestrichen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich am Wochenende sicher nicht nur mit Lernen beschäftigt sein würde: ein wenig Fliegen in der Windmühle, ein bisschen fürs Abi lernen und ganz viel Christopher.
Trotz intensiven Nachbohrens hatte Aron den Rest seiner Pläne für sich behalten. Mit dem Argument, ich solle so langsam mal mit dem Vertrauenschenken beginnen, brachte er mich auch am nächsten Abend auf dem alten Burghügel zum Schweigen. Mit einer Körperverknotübung zum Ausharren.
»Deine Aufgabe ist es, dich auf deinen Körper zu konzentrieren und dein Gehirn dabei auszuschalten, nicht, die Übung schlampig zu machen, um besser nachdenken zu können.«
»Aber ich …«
»Lynn, halt endlich die Klappe, und mach, was man dir sagt.«
Aron war mit seiner Geduld am Ende. Ein weiteres Aufmucken, und er würde mich zurück ins Internat schicken. Ich könnte mich in mein Bett kuscheln, meinen verbogenen Körper ausstrecken, ein paar Stunden schlafen, von Christopher träumen …
Erschrocken keuchte ich auf, als hätte Aron mich tatsächlich geohrfeigt. »Was hast du …«
»Wo zum Teufel bist du mit deinen Gedanken? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht denken, sondern fühlen?!«
»Ich hab doch nur …«
»Nur an Christopher gedacht!«
»Woher weißt du …« Dieses Mal brach ich freiwillig ab. Aron hatte das Bild aus meinem Kopf geraubt – unbemerkt! Ohne dröhnendes Klopfen im Kopf, wie ich das von der Totenwächterin kannte. Er hatte mich nicht mal berührt, wie das im Engelsunterricht geübt wurde.
»Was habe ich falsch gemacht?«
»Nichts. Ich kenne nur deine Schwächen. Abgesehen davon bin ich der Tutor eines Racheengels, falls du das vergessen hast. Deshalb weiß ich, wie ich dich am besten … beeinflussen kann.«
»Du manipulierst mich?! Ohne dass ich davon etwas mitbekomme?« Arons Fähigkeit entsetzte mich.
»Wenn du es so nennen willst, ja.«
»Und wie machst du das?«
»Mit einem Trick«, gab Aron zu. »Ich versuche es nicht, während du wach bist, weil du das sofort spüren würdest, sondern versetze dich in eine Art Sekundenschlaf.«
»Einfach so?«
»Nein. Aber genau das sollst du ja herausfinden, damit du lernst, wie du dich dagegen wehren kannst. Also: Lass das Denken sein und hör auf deinen Körper.«
Das Ausführen eines neuen Körperknotens, ein bequem angewinkeltes Bein auf dem Boden und ein unangenehm gewinkeltes an meinem ebenfalls gebeugten Ellbogen, beanspruchte meine ganze Konzentration. Die Position zu halten war einfach. Meine Gedanken nicht abschweifen zu lassen, wesentlich schwieriger. Als Christophers Bild in meinem Kopf auftauchte, vernichtete Aron erneut mein Phantasiegespinst.
»Nein, bleib so, wie du bist. Wir probieren’s gleich noch mal.« Doch auch die nächsten Versuche endeten bei Christopher und einer gedanklichen Ohrfeige.
»Kannst du nicht wenigstens ein paar Minuten lang nicht an ihn denken? Das wird komplizierter, als ich dachte«, seufzte Aron und warf mir seinen sandfarbenen Pullover zu.
»Und was bitte soll ich damit?«
»Ihn anziehen, was sonst?«, erklärte Aron mit einem Schulterzucken.
»Um mich zu wärmen? Mir ist nicht kalt.«
»Dann stell dir eben vor, zwischen den Linden würde noch Schnee liegen.«
»Aber …«
»Und streich das Aber aus deinem Wortschatz! Zieh ihn an, solange du deine Muskeln dehnst. Danach kannst du ihn mir zurückgeben und ins Internat verschwinden.«
Zum Abschied strich Aron mir noch eine Strähne, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinters Ohr. Warum er das mit dem Pullover und den Haaren getan hatte, wurde mir schnell klar.
Christophers Nasenflügel bebten für den Bruchteil einer Sekunde, als er mich kurz nach Mitternacht auf dem Weg in mein Zimmer abfing. Mit seinem geschärften Geruchssinn erkannte er sofort, dass Aron mir näher gekommen war als sonst. Er fragte nicht nach, sondern zog mich stattdessen in seine Arme. Doch das Grün seiner Augen funkelte beängstigend hell.
Der Gedanke, dass es zu Arons Plan gehören könnte, Christophers Eifersucht heraufzubeschwören, hielt mich die halbe Nacht wach. Kein Wunder, dass es mir am nächsten Tag schwerfiel, meine Müdigkeit zu verbergen. Nach den langen Nächten im Verlies und dem anstrengenden Sekundenschlaftraining fühlte ich mich wie ausgebrannt. Aber als Engel konnte ich an Schlafmangel ja nicht sterben, sondern nur mich hundeelend fühlen. Zum Glück war morgen Freitag.
Während des Unterrichts schaffte ich es gerade so, nicht einzuschlafen. Dass ich am Abend beim Biolernen auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum neben Christopher ungewollt ein Nickerchen hielt, konnte ich allerdings nicht verhindern.
»Wenn Aron dich schon die halbe Nacht im Schloss behält, sollte er dir auch ein paar Stunden Schlaf gönnen«, grummelte Christopher, als ich aufwachte.
»Wollten wir nicht Bio lernen? Warum hast du mich nicht geweckt?«, murmelte ich schlaftrunken.
»Weil Schlafen noch ein paar Jahrzehnte für dich notwendig bleiben wird.« Schlagartig war meine Müdigkeit verschwunden. Christophers scharfer Tonfall und sein grimmiges Gesicht erschreckten mich. Als er meine Reaktion bemerkte, zwang er sich zu einem Lächeln. Die senkrechte Stirnfalte blieb.
»Rede mit ihm. Bitte Aron, dir ein wenig mehr Freiraum zu lassen. Auch ein Racheengel hat Grenzen.«
Christopher sprach nicht von mir. Er würde das Gesetz übertreten und ins Schloss der Engel gehen, um meinen Tutor zur Rechenschaft zu ziehen, falls Aron zu weit ging.
Ich verzichtete darauf, Aron um mehr freie Zeit zu bitten. Er quälte mich nur, damit ich das Jahr bei Sanctifer überstehen konnte. Und obwohl ich noch immer müde war, hielt ich ein paar Stunden später meine verschlungene Position mit höchster Konzentration.
Aron saß mir gegenüber auf einer Decke, die er zwischen den Linden ausgebreitet hatte, und beobachtete mich. Meine Augenlider fühlten sich schwer an. Langsam klappten sie zu. Christopher stand vor mir. Ich verscheuchte ihn und sammelte meine Gedanken. Mir war klar, dass Aron mich beeinflusste. Ich musste nur herausfinden, wie.
Ein leichter Hauch kitzelte meinen rechten Arm entlang, verschwand und kehrte wieder. Hoffnungsvoll stürzte ich mich auf diese Empfindung. Etwas Kaltes umspülte meine Stirn, ließ die Haare in meinem Nacken kribbeln. Ein wenig erinnerte mich dieses Gefühl an die Kälte, die ich in Sanctifers Refugium im Kerker des Dogenpalastes gespürt hatte. Vielleicht hatte auch er versucht, mich in einen Sekundenschlaf zu versetzen. Hatte ich ihn deshalb beinahe mit Ihr angesprochen, obwohl ich mir vorgenommen hatte, beim Du zu bleiben? Je intensiver ich darüber nachdachte, umso schwerer fiel es mir, konzentriert zu bleiben. Schließlich erschien Christophers Bild wieder vor meinen Augen, gefolgt von einem derben imaginären Tritt.
»Noch einmal!«, befahl Aron im Sklaventreiberton. Als ich zusammenzuckte, setzte er deutlich milder hinzu: »Ich habe gespürt, dass du etwas wahrnehmen konntest. Du bist nicht mehr weit davon entfernt.«
Trotz Arons Aufmunterungsversuch scheiterte ich erneut. Die Angst vor Sanctifer erdrückte mich. Aron ließ mich weiterüben, weil er davon überzeugt war, dass ich kurz davorstand, die Lösung zu finden. Im Morgengrauen gab auch er sich geschlagen. Gut, dass endlich Freitag war. Ein Wochenende in der Windmühle mit Christopher hatte ich bitter nötig.
Nach der letzten Schulstunde packte ich in Höchstgeschwindigkeit meine Reisetasche. Ganze zweieinhalb Tage nur Christopher und ich!
Mein Freudentaumel endete an der Zimmertür. Christopher sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen verwundert an.
»Was hast du vor?«
»Warum?«, fragte ich verunsichert. Hatte er etwa unser Mühlenwochenende vergessen?
»Hat Aron dir nicht gesagt, dass du dieses Wochenende auf dem Internat bleiben sollst?«
»Nein« – das hatte er wohl vergessen. Vermutlich bestrafte er mich mit Christopherentzug, weil ich es nicht schaffte, diesen Engel aus meinem Kopf zu bekommen.
Frustriert ließ ich meine vollgepackte Tasche fallen, obwohl ich sie am liebsten gegen die Wand gedonnert hätte. Oder gegen Aron – aber das konnte ich ja später noch tun.
Christopher sah mich fragend an. Natürlich spürte er, dass ich sauer war. Ich riss mich zusammen. Schließlich wollte ich nicht, dass er die Grenzen überschritt und sich mit Aron anlegte.
»Dann eben ein gemeinsames Wochenende im Internat«, tröstete ich mich.
»Allerdings nicht mit mir«, klärte Christopher mich auf. »Ich wurde gebeten, mein Zimmer im Schloss zu räumen.«
Coelestin hatte ihm bis Sonntagnachmittag Zeit gegeben, um sich von seinen Schülern und Freunden zu verabschieden. Dass ich Christopher im Schloss der Engel nicht begegnen durfte, verstand sich von selbst. Doch darin lag nicht das Problem. Christopher hatte den größten Teil seines Lebens im Schloss der Engel verbracht, Sicherheit gefunden, Vertrauen aufgebaut und Freundschaften geschlossen. Und obwohl er mir mehrfach versicherte, dass ich ja schließlich nicht dieses neue Gesetz geschrieben hatte, fühlte ich mich mies – Christopher musste meinetwegen sein Zuhause verlassen.
»Wenigstens kannst du so ein wenig Schlaf nachholen«, versuchte Christopher mich aufzumuntern, als er sich von mir verabschiedete.
Ich stellte mich vor meine Zimmertür, um ihn am Gehen zu hindern. Wenn ich schon das ganze Wochenende auf ihn verzichten musste, wollte ich zum Abschied mehr als ein paar tröstende Worte – bis zu meinem nächsten Treffen mit Aron wäre mein Energiedefizit längst wieder aufgefüllt. Doch mehr als den Hauch eines Kusses konnte ich Christopher nicht entlocken. Er nahm Arons Drohung eindeutig ernster als ich. Aber Christopher wusste ja auch nicht, wie wenig Zeit uns noch blieb.
Ich beschloss, meinen Frust nicht an meinen unschuldigen Freunden auszulassen, sondern mich neben Bio und Mathe auch um das Juliane-Raffael-Problem zu kümmern. Juliane, die wie die meisten Abiturienten die Wochenenden während der Intensivlernwochen auf dem Internat blieb, zwang ich gleich nach Christophers Abreise ein Vieraugengespräch auf – erfolglos. Ihr klarzumachen, was für ein mieser Kerl ihr angeblicher Freund doch war, erwies sich als schwierig. Auch der Versuch, Marisa zu überreden, mich zu unterstützen, scheiterte. Aus irgendeinem Grund – der wahrscheinlich mit Raffaels Fähigkeiten als Flüsterer zusammenhing – mochte sie ihn. Florian und Max hatte er jedoch nicht betört.
Mit freundschaftlicher Fürsorge kümmerte sich Florian am nächsten Tag beim Klettern um Juliane. Zwar konnte er Raffael in puncto Aussehen nicht das Wasser reichen, aber gutgebaut, sympathisch und um einiges menschlicher war er allemal – und blaue Augen konnten ja auch ganz anziehend sein.
Um unseren Lungen ein wenig frühlingslauen Sauerstoff aufzuzwingen, damit wir anschließend erfrischt lernen konnten, sollten wir ein paar Stunden in einem nahe gelegenen Klettergarten verbringen. Schon die Erwähnung von Sanctifer genügte, um Raffael an meine Seite zu locken. Dass ich dann ein wenig länger brauchte, um den passenden Helm zu finden, Florian es so einfädelte, dass er mit Juliane eingeteilt wurde und Raffael mit mir das Schlusslicht unseres Sechserteams bildete, kam mir außerordentlich gelegen.
»Was willst du?«, flüsterte Raffael, als wir unten an der Leiter warteten, bis Marisa und Max, unsere Teammitte, das Ende der Strickleiter erreichten und Florian nach Juliane endlich die sonnenbeschienene Plattform verließ.
»Dass du endlich von hier verschwindest«, zischte ich ebenso leise zurück.
»Das geht leider nicht.«
»Warum? Weil du Juliane nicht verlassen willst?«, stichelte ich.
Raffaels Miene verdüsterte sich. »Sie weiß, dass unsere Freundschaft nur auf Zeit ist, da ich nach dem Abi zurück nach Italien gehen werde.«
»Wie menschlich von dir, sie über deine Pläne zu informieren.«
»Wie interessant, so etwas aus deinem Mund zu hören«, konterte Raffael und erklomm die erste Sprosse. »Aber selbst so etwas wie ich kann Mitleid empfinden.«
Ich schluckte. Schließlich war er, im Gegensatz zu mir, tatsächlich ein Mensch. Vielleicht empfand er doch etwas für Juliane. Ich verdrängte den Gedanken und kletterte ihm hinterher. Raffael hatte mich in Sanctifers Folterkammer verschleppt.
Es war mein erster Ausflug in einen Klettergarten. Dank Arons Slackline-Training kam mir das Ganze jedoch ziemlich bekannt vor. In ein paar Metern Höhe verbanden Stahlseile einen Baum mit dem anderen. Allerdings gab es hier eine Sicherung, damit niemand abstürzen konnte, falls er das Gleichgewicht verlor – und zahlreiche Hindernisse.
Die erste Aufgabe führte uns über eine Reihe wackeliger Holzbalken. Ein Geländer aus geknoteten Stricken sorgte für den nötigen Halt. Ich wartete, bis Max und Marisa das Plateau verlassen hatten, hakte mich vor Raffael am Sicherungsseil ein und versperrte ihm den Weg.
»Und warum bist du sonst noch hier? Weil du deinem Pseudovater petzen musst, was ich hier so treibe?«
»Das ist ihm egal, solange du die Regeln einhältst. Aber wenn du’s unbedingt wissen willst: Ich bin hier, um herauszufinden, ob du allein oder in Begleitung den Putzraum betrittst.«
»Du mieser Schnüffler! Das geht dich einen feuchten Dreck an!«, fauchte ich, kurz davor, Raffael von der Plattform zu schubsen. Er stellte mir nach mit dem Ziel, Christopher zu verraten.
»Da irrst du dich. Der Rat höchstpersönlich hat mir diese wichtige Aufgabe anvertraut.«
»Der Rat? Offenbar verwechselst du Sanctifer mit dem Rat!«
»Keine Sorge. Ich kenne den Unterschied«, flüsterte Raffael. Demonstrativ strich er sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sicher, damit ich sehen konnte, dass sich seine Maske kein Stück weit bewegte.
Anscheinend war er von Sanctifers Aufrichtigkeit durch und durch überzeugt. Aber warum sollte ein Engel, der sich einen Flüsterer hielt, nicht auch in der Lage sein, seinen verlogenen Lakaien zu hintergehen?
Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der Raffael sich vor mich gedrängt hatte, betrat ich die schwankende Brücke. Es lagen noch genügend Stationen vor uns, um ihn auszuhorchen und aus Julianes Umkreis zu vertreiben.
Zwei Plattformen und ein auf zwei Stahlseilen montiertes Skateboard weiter, auf dem Raffael eine wesentlich bessere Figur abgab als ich, packte ich seinen Arm und zwang ihn, sich zu mir umzudrehen. Nicht dank irgendwelcher Engelskräfte, sondern aufgrund der Frage, die ich ihm stellte.
»Seinen Ziehsohn zu quälen, ihn dem Tod auszusetzen und von einem Racheengel retten zu lassen scheint dann wohl ganz nach Sanctifers Geschmack zu sein?«
Trotz meiner Anspielung auf Raffaels Lockvogelaufgabe während meiner Engelsprüfungen blieb er gelassen. »Ich war niemals in Gefahr.«
»Warum? Weil deine zarte Haut für Dämonenstaub undurchlässig ist?«
»Meinen Glückwunsch! Endlich kommst du dahinter. Manchmal ist es von Vorteil, einen entstellten Körper zu besitzen, der von Engelsmagie umgeben ist, so dass ihm selbst Dämonenstaub nichts anhaben kann.«
Verwirrt ließ ich Raffael los und beobachtete, wie er formvollendet über die wackeligen Trommeln balancierte, ohne sich an dem dafür vorgesehenen Seil festzuhalten. Als sich dann auch noch Sanctifers Bild von dem eines unbarmherzigen Folterknechts zu dem eines nachsichtigen Vaters zu verändern begann, weigerte ich mich, weiterzudenken. Raffael log. Er war ein ausgezeichneter Blender. Engelsmagie konnte Dämonenstaub nicht aufhalten – dass meine Flügel genau das getan hatten, zählte nicht.
Raffaels herausfordernder Blick veränderte sich, als ich mich ungeschickt über die tellergroßen Wackeltrommeln hangelte. Ich ignorierte seinen Anflug von Sorge und stürzte mich auf die nächste Station. Sein Mitleid sollte er sich für Juliane aufheben.
Schließlich war er es, der mich am Weitergehen hinderte. »Was willst du? Und sag nicht, dass Florian zufällig mit Juliane klettert und ich mit dir.«
»Dir etwas vorzumachen ist wirklich schwer«, seufzte ich theatralisch. »Aber da du schon fragst: Ich will, dass du Juliane in Ruhe lässt!«
»Mal wieder? Und wenn sie etwas anderes möchte?«
»Etwas anderes, als belogen und betrogen zu werden?«, fragte ich spöttisch.
»Ich habe ihr nie etwas vorgemacht.«
»Sie glaubt, dass du sie liebst!«
»Das habe ich nie behauptet. Liebe und Verliebtsein sind nicht dasselbe, das weiß auch Juliane. Sie mag mich. Mehr nicht. Und wenn du dich mit deiner Freundin ein wenig öfter beschäftigen würdest, wüsstest du, warum sie mit mir zusammen ist.«
»Und das wäre?«
»Sie sucht Anerkennung. Und die bekommt sie als meine Freundin.«
»Eingebildet bist du ja gar nicht.«
»Außerdem hat sie schon seit Jahren panische Angst, auf ihrem Abiball mit einem Partner tanzen zu müssen, den sie sich niemals ausgesucht hätte«, verriet Raffael mir Julianes bestgehütetes Geheimnis.
Wieder starrte ich ihm hinterher und sah zu, wie er sich anmutig in das Spinnennetz stürzte. Raffaels geballtes Mitleid überforderte mich. Vielleicht sah ich in letzter Zeit ja wirklich Gespenster, und Juliane drohte keine Gefahr, von Raffael nach Venedig verschleppt zu werden.
Mein Ausflug in luftiger Höhe wurde schwieriger als erwartet. Raffael war nur eines meiner Probleme. Kaum hatte ich mich an der Rolle eingeklinkt, die mich, am Stahlseil hängend, ins Spinnennetz katapultierte, drängten meine Flügel hervor. Nichts als Luft und Tiefe unter meinen Füßen zu spüren weckte den Engel in mir. Aron würde mich massakrieren, wenn er von meinem Ausflug erfuhr.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich aufs Flügelzurückdrängen. Dass ich dabei vergaß, rechtzeitig meine Beine auszustrecken, um nicht wie ein blindes Insekt in das Spinnennetz zu klatschen, endete schmerzhaft – und mit lautem Gegröle.
Die beiden Gruppen hinter uns, Hannahs Anhänger, ließen mit ihrem schallenden Gelächter Partystimmung im Wald aufkommen. Selbst meine Freunde kicherten – nur Raffael nicht. In seinem Gesicht stand helles Entsetzen. Ich ignorierte ihn und kletterte das Spinnennetz entlang. Er wollte mich nur verunsichern. Außer einer verunglückten Landung gab es nichts zu sehen – zumindest nichts Engelhaftes.
Sören – ein kleiner Arnold-Schwarzenegger-Verschnitt und Hannahs aktuelle Begleitung – landete neben mir im Spinnennetz. Mit allem, was er an Kraft aufzubieten hatte, versetzte er das Netz in Schwingung. Offenbar beabsichtigte er, mich abzuschütteln.
Ich presste meine Lippen aufeinander und krallte meine Finger in das Netz. Dass meine Flügel nicht dort bleiben wollten, wo ich sie gerne gehabt hätte, damit hatte ich allerdings nicht gerechnet – Aron würde toben.
Ein weiterer Hannah-Fan kam Sören zu Hilfe, während der Rest ihrer Truppe mit spöttischen Kommentaren um sich warf. Am liebsten hätte ich ihnen gezeigt, was wirklich in mir steckte. Doch das hätte wesentlich üblere Konsequenzen nach sich gezogen als eine Standpauke von meinem Engeltutor.
Also rang ich mir ein Lächeln ab, konzentrierte mich aufs Flügeleinziehen und hangelte mich das Spinnennetz entlang. Irgendwann würde ich schon auf der nächsten Plattform ankommen.
Was Hannah ihren männlichen Anhängern versprach, damit ich mein Ziel nicht erreichen sollte, bekam ich nicht mit. Dass sich auch der Rest ihrer Freunde in das Spinnennetz stürzte, bemerkte ich jedoch ziemlich schnell. Angefeuert von Hannahs Mädchenschar, damit die Jungs einen gemeinsamen Takt fanden, gaben sie alles, um mich zum Abstürzen zu bringen. Dass es dabei auch zwei von ihnen erwischte, spielte keine Rolle. Wozu gab es eine Sicherungsleine?
Mir dagegen brach trotz Sicherung der Schweiß aus, als meine Klauen hervordrängten. Meine Spangen waren am Anschlag, meine Nerven zum Zerreißen gespannt. Ein falscher Tritt, und meine Flügel würden hervorbrechen.
»Gib mir deine Hand!«
Raffaels plötzliches Auftauchen riss mich aus meiner Konzentration. Panisch klammerte ich mich an das Netz. Einer meiner falschen Fingernägel löste sich, zwei weitere folgten. Kaum freigelegt, durchschnitten meine Monsterkrallen das Hanfseil, an dem ich mich festhielt. Ich rutschte ab, suchte Halt mit den Händen – und zerschnitt ein Seil nach dem anderen, während ich nach unten sackte.
Totenstille begleitete meinen Fall – nur mein unterdrücktes Keuchen war zu hören. Meine durchbrechenden Flügel zurückzudrängen war schmerzhaft. Kurz bevor ich endgültig in die Tiefe stürzte, weil es demnächst nichts mehr zum Festhalten gab, setzte endlich mein Verstand wieder ein – und anstatt mit den Händen versuchte ich mich mit einem Arm in eines der Löcher einzuhaken.
Meine Finger und mein Rücken brannten höllisch. Ich biss die Zähne zusammen. Noch steckte ich in diesem Spinnennetz fest – viel zu hoch über dem Boden. Abgesehen davon hatte meine Schlitzattacke ein großes Loch in die Konstruktion gerissen.
Die Jungs, die mit mir in den Seilen hingen, suchten gerade die nächste Plattform auf. Ich musste erst zur Seite und anschließend nach oben klettern, um mich in Sicherheit zu bringen. Doch ich schaffte es gerade mal so, mich festzuklammern.
»Nimm deinen Arm aus der Schlinge, ich halte dich.« Raffael war zu mir heruntergeklettert. Er meinte es ernst. In seinen dunklen Augen lag mehr als ein Funke Sorge.
Gehörte es auch zu seinen Aufgaben, mich zu beschützen? Damit ich meinen Dienst bei Sanctifer unversehrt antreten konnte? Doch im Augenblick war es mir ziemlich egal, warum er mir helfen wollte. Beistand hatte ich dringend nötig.
Eine Hand um meine Taille geschlungen, kletterte Raffael neben mir das Netz entlang, damit er mich auffangen konnte, falls ich die Kontrolle verlor. Pfiffe und anzügliches Gejodel begleiteten uns. Ich schaute zu Juliane hinüber. Angespannt beobachtete sie, wie ich mit ihrem Freund das Spinnennetz überwand. Angst war alles, was ich in ihrem blassen Gesicht erkennen konnte, Eifersucht nicht. Entweder war sie die gutmütige Freundin, die ich niemals sein würde, oder sie war tatsächlich nicht in Raffael verliebt, sondern nur von ihm verzaubert.