Kapitel
8
Aussichtslos
Aron fand mich. Entkräftet vom Klettern und gequält von Wachträumen saß ich mit geknickten Flügeln und angezogenen Beinen auf dem Boden und beobachtete die erlöschende Glut. Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen, als er meine geschundenen Hände entdeckte. Ich wollte sie nicht vor ihm verbergen. Ich war es leid, ihm etwas vorzumachen.
»Er ist bei ihm. Nicht wahr?«, fragte ich leise.
»Bedauerlicherweise kann ich deinem Gedankengang nicht ganz folgen. Aber falls du Christopher meinst, der lässt sich entschuldigen. Er wurde aufgehalten«, erklärte Aron eine Spur zu ruhig.
»Ich weiß«, antwortete ich und starrte wieder in die Glut.
»Dann bist du besser informiert als ich. Wobei ich mich frage, woher du deine Auskünfte beziehst. Offensichtlich verbirgst du mehr Geheimnisse vor mir, als ich dachte.«
Mein Kopf schnellte hoch. Ich begegnete kalten Augen in einer versteinerten Miene.
»Beim nächsten Mal solltest du deine nassen Kleider und das Wächterband in einem der Kanäle versenken und nicht hinter den Handtüchern im Badschrank verstecken.« Arons Gelassenheit jagte mir Angst ein. Seine Wut brodelte unter einer erstarrten Oberfläche.
»Du wusstest, dass … dass ich weg war – und hast nichts gesagt?« Dass Aron mich nicht schon in Venedig zur Rede gestellt hatte, entsetzte mich mehr, als dass er meine Kleider gefunden hatte. Er hatte mir vertraut, auf meine Ehrlichkeit gesetzt – doch ich war stumm geblieben.
»Dich zu zwingen, mir zu erklären, wo du warst, um die Wahrheit aus dir herauszubekommen, erschien mir falsch. Zumal ein Racheengel mich auch in seiner Engelsgestalt belügen kann – wenn er weiß, was er tun muss«, schränkte Aron ein. Sein durchdringender Blick bohrte sich in mein Gesicht. »Was hast du in Venedig getan, wovon ich nichts erfahren soll?« Seinen stahlgrauen Augen zu entkommen, kostete unglaublich viel Kraft. Doch zuerst musste ich wissen, wo Christopher steckte.
»Was ist mit Christopher passiert?«
»Ich sagte dir doch schon, dass er aufgehalten wurde.«
»Und von wem?«, flüsterte ich. Aus Angst vor der Antwort zog sich gerade meine Kehle zusammen.
»Eher: von was.« Arons dunkle Augenbrauen berührten sich. Er wirkte abgestoßen. »Christopher erfüllt seine Aufgabe als Racheengel. Und das Wesen, dem er hinterherjagt, verdient die Bezeichnung Engel nicht mehr.«
»Sanctifer?«, fragte ich mit vor Panik erstickter Stimme.
»Nein, er hieß Maximilian.«
Arons Züge wurden undurchdringlich, als er mir den Stein vom Herzen nahm und gegen einen kleineren tauschte. Obwohl er mich jetzt ohne Zweifel so lange in diesem Turm festhalten würde, bis er alles aus mir herausgepresst hatte, und Christopher keineswegs in Sicherheit war, atmete ich ein wenig auf. Die größte Gefahr ging von Sanctifer aus. Doch bevor ich Aron Christophers Leben anvertraute, musste ich wissen, ob er bereit war, mir zu helfen.
»Wirst du mir verzeihen, wenn ich dir alles erzähle?«
»Du verlangst einen Blankoschein?!« Arons Wut kochte über. Erschrocken zuckte ich zusammen. Doch egal, wie hart er mich bestrafen würde, Aron musste wissen, in welcher Gefahr Christopher schwebte, weil Sanctifer mich zu sich holen wollte und ich nicht wusste, wie ich das verhindern konnte, ohne dass Christopher sich einmischte.
Aron unterbrach mich kein einziges Mal, als ich ihm erklärte, dass ich mich am Tag des Lichtmeerfestes zu Sanctifer geschlichen hatte, um Philippe in Sicherheit zu bringen. Auch bei der Erwähnung von Sanctifers Folterkammer zeigte er keinerlei Regung. Schweigend hörte er sich meine Gründe an, warum ich niemandem von Sanctifers Brief erzählt hatte – selbst für mich klang die Idee, sich auf ein Tauschgeschäft mit Christophers einstigem Mentor einzulassen, inzwischen ziemlich töricht. Am Ende wagte ich es nicht mehr, ihm länger in die Augen zu sehen. Doch Aron ließ nicht zu, dass ich mich aus der Verantwortung zog.
»Hattest du jemals vor, mit der Wahrheit herauszurücken? Oder verdanke ich dein Geständnis nur deiner Gedankenlosigkeit, Sanctifers Namen zu erwähnen?«
»Aron, ich … bitte, ich hab einen Fehler gemacht.«
»Einen?!« Aron wandte sich ab, um seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. Noch nie hatte ich ihn so wütend erlebt. Selbst als ich ihm einen Dolch zwischen die Rippen gestoßen hatte, war er halbwegs gelassen geblieben. Dass ich manchmal ein wenig schwierig war, stellte für ihn kein Problem dar, Unaufrichtigkeit dagegen schon.
Ein feuchter Schleier begann vor meinen Augen zu tanzen. Die Angst, Arons Freundschaft zu verlieren, schmerzte mehr, als ich dachte. Er hatte mir vertraut, hätte mir geholfen, sogar gegen einen so mächtigen Engel wie Sanctifer – doch ich war zu blöd, das zu erkennen.
»Kannst du mich zu ihm bringen?« Entschlossen blinzelte ich meine Tränen weg. Racheengel weinten nicht, sie kämpften.
»Zu wem?«, fragte Aron gefährlich langsam.
»Zu Sanctifer. Schließlich habe ich den Pakt besiegelt und nicht Christopher. Oder siehst du das anders?«
»Nein«, gab Aron zu und begann in der Mühle hin und her zu gehen, um sich abzureagieren. »Sanctifer hat dir die Wahrheit erzählt. Auch wenn du den Pakt nicht gerade freiwillig eingegangen bist, indem du den Dolch angenommen und den Tunnel zum Schloss der Engel genommen hast, wurde er von dir in gewisser Weise bestätigt.« Unvermittelt blieb er vor mir stehen.
»Ich hätte auf Christopher hören sollen. Er hat mich gewarnt, dass Sanctifer nach den Prüfungen nicht aufgeben würde, dein Tutorat anzustreben. Doch ich hätte niemals gedacht, dass du so leichtsinnig sein würdest, dich noch mal auf ihn einzulassen.«
»Er hat gedroht, Philippe zu einem Flüsterer zu machen!«, verteidigte ich mich.
»Und du glaubst, wenn du auf Sanctifers Bedingungen eingehst, wäre dein Freund in Sicherheit?« Aron quittierte mein Schweigen mit einem Kopfnicken und verfiel wieder in sein Auf und Ab. »Solange Sanctifer die Gesetze nur vollzog, bestand kaum die Gefahr, dass die Dogin ihm jemals Gehör schenken würde. Doch inzwischen ist er ein Mitglied des Rats. Bei einer Anhörung stehen seine Chancen hervorragend, den Pakt anerkennen zu lassen – deine dagegen sind gering. Einem Racheengel vertrauen nur wenige.« Arons anklagender Blick schmerzte. Als Tutor und Freund hatte er Ehrlichkeit verdient – doch ich war mit seinen Erwartungen allzu leichtfertig umgegangen.
»Und wenn ich den Rat davon überzeuge, dass Christopher wichtiger ist als eine Racheengelnovizin?«
Aron blieb stehen und stemmte seine Arme in die Hüften. Sein Misstrauen war greifbar. »Wozu sollte das gut sein?«
»Damit ich meine Schuld bei Sanctifer begleiche und nicht Christopher.«
»Was ihm, als an dich gebundenem Engel, durchaus möglich wäre«, bestätigte Aron. Sein Blick wanderte nach innen, rief Vergangenes wach und erstarrte für einen kurzen Moment, bevor er sich abwandte. Offenbar wollte er nicht, dass ich das Entsetzen in seinen Augen sah.
Arons Grauen schubste mich an den Rand meiner Belastbarkeit. Mein Körper schmerzte von der vergeblichen Kletterei, meine geknickten Flügel malträtierten meinen Rücken und meine geschundenen Nagelbetten brannten, als hätte ich meine Finger mit Schwefelsäure lackiert. Doch verglichen mit der Angst um Christopher und der Reue, die ich empfand, wog der körperliche Schmerz nur wenig.
Eine Träne kullerte meine Wange hinab. Ich wischte sie beiseite. Aron mit Tränen zu überzeugen fühlte sich mies an. Doch ich brauchte ihn, wenn ich Christopher davon abhalten wollte, zu Sanctifer zu gehen.
»Sanctifer wird ihn in seine Schattengestalt zwingen, um sich zu rächen, weil Christopher ihn als Tutor zurückgewiesen hat – und weil er weiß, wie schwer es Christopher fällt, ein Monster zu sein«, begann ich, Aron zu überzeugen, lieber mich zu schicken.
»Und zu bleiben«, ergänzte Aron. »Nach einem Jahr in seiner Gewalt würde Christopher nicht wieder zurückfinden. Schon beim letzten Mal hatte er Mühe, sich wieder in einen Engel zu verwandeln, obwohl er seine Menschlichkeit nur für ein paar Stunden aufgegeben hatte.«
Christophers Schattengestalt zeichnete sich vor meinen Augen ab. Ich würde ihn verlieren, ein diabolisches Monster aus ihm machen. Verzweifelt verbarg ich mein Gesicht in den Händen, um meine Tränen aufzufangen.
Warum hatte ich Sanctifers Dolch genommen? War ich so blind, dass ich die Konsequenzen übersah? So naiv? Oder einfach zu verliebt? – Zu selbstsüchtig?
Arons Hände legten sich auf meine Schultern. »Was bist du bereit, zu tun?«, fragte er, nachdem er mich zu sich umgedreht hatte.
»Alles!«
Dieses Mal hielt ich seinem forschenden Blick stand. Meine Seele vor Aron zu entblättern beunruhigte mich nicht mehr. Außer ihm und Christopher gab es niemanden, dem ich das jemals erlauben würde. Ich vertraute Aron ebenso sehr wie dem Engel, den ich über alles liebte.
»Wenn ich dir gestatte, zu Sanctifer zu gehen, muss ich sicher sein, dich als Engel wiederzusehen. Dass deine Seele unverletzt bleibt, kann ich dir allerdings nicht versprechen. Sanctifer wird sich wohl kaum nur mit deiner menschlichen Seite zufriedengeben. Doch das Risiko, deine Schattengestalt anzunehmen, musst du eingehen, wenn du Christopher retten willst.«
»Weil du glaubst, du könntest dich seinem Befehl widersetzen. Aber wirst du das auch, wenn Sanctifer dich in deinen Schatten zwingt? Wenn er dich quält? Wenn er droht, dich zu foltern, falls du dich weigerst?«
Grauenhafte Bilder stürmten auf mich ein. Schmerzverzerrte Schreie hallten durch ein düsteres Gefängnis. Die Bilder, wie Sanctifer Christopher in seine Schattengestalt zwang, waren wieder da. Aron wusste so gut wie ich, dass ich mich Sanctifers Willen beugen würde.
»Ich weiß nicht, was er mit dir vorhat, wo er doch Christopher haben könnte, allerhöchstens …« Aron erstarrte. Fassungslosigkeit breitete sich auf seinem Gesicht aus. Schnell – aber nicht schnell genug – wandte er sich ab. Ich stürzte ihm nach und klammerte mich an seinen Arm.
»Was? Sag es mir!«, flehte ich. Arons Entsetzen machte mir Angst.
»Wenn Christopher jemals erfährt, dass du mit Sanctifer einen Pakt geschlossen hast und bei ihm bist, um ihn einzulösen, wird er alles tun, um dich dort rauszuholen. Kein Gesetz könnte Christopher davon abbringen, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen, um dich zu befreien. Allein der Zirkel der Racheengel wäre mächtig genug, ihn aufzuhalten.«
»Was bedeuten würde, dass er …« Meine Stimme versagte. Ein Engel, der die Gesetze übertrat und tötete, war zum Sterben verurteilt. Nagual und die anderen Racheengel würden Christopher jagen, um ihn dem Rat auszuliefern. Und Sanctifer, der Scharfrichter der Dogin, könnte ihm ungestraft seine Flügel nehmen und sein Herz zerstören.
Egal, ob Christopher die Gesetze übertrat oder meine Stelle einnahm und zu einem Schattenengel wurde, Sanctifer würde ihm seine Seele rauben.
Eine Träne entkam meiner Kontrolle. Es gab nur eine Möglichkeit, wie ich verhindern konnte, dass Christopher starb oder für ewig ein Monster sein würde. Denn eines hatte Sanctifer übersehen: Ohne mich war der Pakt hinfällig.
Arons granitgraue Augen versteinerten, als ich ihn bat, mir das Leben zu nehmen. Sein Entsetzen stand seiner darauffolgenden Wut in nichts nach, als mir eine weitere Träne entschlüpfte. Seine Hände malträtierten meine Arme, während er mich festhielt, damit ich seinem mörderischen Blick nicht ausweichen konnte.
»Du egoistisches Stück Racheengel! Wie soll ich dir dein Herz nehmen, wenn du gar keines besitzt?! Offenbar habe ich mich völlig in dir getäuscht. Du bittest mich, dir deine Seele zu nehmen? Mit Tränen im Gesicht, damit ich Mitleid mit dir habe?!« Aufgebracht wandte er sich von mir ab.
»Nein, das … Aron, wenn du … Ich kann auch einen anderen Engel darum bitten.«
»Untersteh dich!« Arons Stimme hallte zwischen den Wänden der Mühle wider. Mit zu Fäusten geballten Händen kehrte er mir den Rücken zu und starrte ins Feuer. Seine angespannte Körperhaltung verriet, dass er seine verbale Lektion am liebsten mit einem spürbaren Zeichen unterstrichen hätte. Dass er seine Beherrschung behielt, verdankte ich entweder seiner guten Erziehung oder seiner ausgeprägten Menschenkenntnis.
»Hast du nicht an die Konsequenzen gedacht?! Oder ist es dir egal, was du mit deinem Tod auslöst?«
Vor meinem inneren Auge zeichnete sich Christophers Gestalt ab. Leblose Augen in einem gebrochenen Körper. Er würde mit mir sterben. Vielleicht nicht körperlich, doch die Liebe in seinem Herzen würde erlöschen.
»Christopher würde lieber für immer zum Monster werden, als dich zu verlieren«, vertiefte Aron die frisch geschlagene Wunde. »Aber das wäre nur das Problem eines Einzelnen. Der Machtkampf, wer den nächsten Racheengel ausbilden darf, würde die bestehende Ordnung gefährden. Dein Tod würde nicht nur Christopher schwächen, sondern alle, die auf seiner Seite stehen. Sanctifers Einfluss, von dem er als Mitglied des Rats ohnehin schon viel zu viel besitzt, würde weiter steigen. Die Folgen wären unabsehbar.«
Aron brachte mich am nächsten Tag zu Christopher ins Internat zurück. Ihn dort vor der alten Mauer am See unversehrt vor mir stehen zu sehen schnürte mir das Herz zusammen. Sanctifers Pakt zu akzeptieren würde mir alles nehmen, was ich brauchte. Doch gleichzeitig würde es das Leben schützen, das mir diese Sicherheit gab.
»Was hast du?« Christopher schob mich ein wenig von sich. Die alte Steinmauer in meinem Rücken schenkte mir Halt. Er kannte mich viel zu gut, um sich etwas vormachen zu lassen. Sein Blick fiel auf meine Hände und die künstlichen Fingernägel, die Aron – neben meiner desolaten Gemütsverfassung – den halben Sonntagvormittag aufpoliert hatte.
Ich hatte ihm geschworen, Christopher nichts von meinem Treffen mit Sanctifer und dem Pakt zu verraten – zumindest vorerst nicht. Auch er war der Meinung, damit Christopher auf dem schnellsten Weg in die Arme seines einstigen Mentors zu treiben. Doch schon jetzt quälte mich mein schlechtes Gewissen. Vor Christopher ein Geheimnis zu verbergen, das ich einem anderen Engel anvertraut hatte, fiel mir unendlich schwer.
»Nichts«, log ich, entzog meine Finger Christophers kritischer Begutachtung und kuschelte mich wieder an ihn. Einen kurzen Moment gestattete er mir, Zuflucht in seinen Armen zu finden, bevor er mein Kinn anhob, damit er mir in die Augen schauen konnte.
»Und warum bebst du dann vor Anspannung?«
»Ich bebe nicht, ich zittere! Du hast mich in dieser blöden Windmühle eingeschlossen und behauptet, du wärst gleich wieder da! Abgesehen davon, ist es hier unten am See ziemlich frisch.« Streiten war einfacher als lügen, auch wenn ich Christophers Blick dabei ausweichen musste.
»Dich in der Mühle zu lassen war vernünftig. Dort war es am sichersten für dich.« Behutsam ließ Christopher eine Hand durch meine Haare gleiten.
»Und du glaubst, ein paar Streicheleinheiten würden genügen, um mich zu beruhigen? Aron hat mir erzählt, was dich aufgehalten hat. Doch im Gegensatz zu ihm hältst du es offenbar nicht für nötig, auch mir die Wahrheit zu erzählen.«
Eigentlich hätte ich an meinem letzten Satz ersticken müssen, doch er half, um Christopher von mir und meinen kaschierten Nägeln abzulenken. Seiner Miene nach zu urteilen, gefiel es ihm überhaupt nicht, dass ich über seinen Ausflug Bescheid wusste. Dennoch ging er auf meinen Vorwurf ein.
»Was genau möchtest du wissen? Wie ich es aufgestöbert, überlistet oder zur Strecke gebracht habe?« Seine Augen leuchteten in hellstem Jadegrün, als er begann, zwischen dem Ufer und der Seemauer auf und ab zu gehen. Der Rest von ihm blieb ruhig und gelassen – und gerade das verursachte mir Gänsehaut. Ich kannte Christophers kämpferische Seite, doch der Racheengel, der im Auftrag der Dogin handelte, war mir fremd.
Christophers Kiefermuskeln zeichneten sich in seinem kantigen Gesicht ab – wie jedes Mal, wenn ihm wieder einfiel, dass sein Kuss mich zum Racheengel gemacht hatte. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen, um ihm zu versichern, dass ich kein Problem mit dem kriegerischen Teil meiner Engelseite hatte. Doch Christopher wusste, dass das nicht stimmte. Also entschied ich mich für ein Ablenkungsmanöver.
»Es ist mir egal, wie du es besiegt hast. Ich will nur wissen, was du bekämpft hast.«
Christophers Kiefer malmte weiter. Offenbar gefiel ihm diese Frage auch nicht besser. »Was genau hat Aron dir erzählt?«
»Warum? Beeinflusst mein Wissensstand die Art deiner Antwort?«
»Nein, nur die Ausführlichkeit.« Christophers Stimme klang rau. Es widerstrebte ihm, mir zu erzählen, was er die letzten beiden Tage gemacht hatte, weil auch ich das eines Tages tun sollte. »Er war noch keine hundert Jahre alt. Eine ungewöhnlich kurze Zeitspanne für einen Engel, um seine Seele zu verlieren.«
»Hast du ihn gekannt?«
»Ja. Er war einst Schüler hier im Schloss. Deshalb hat Nagual mich gebeten, ihn zu unterstützen.«
Nagual, der Racheengel mit den goldenen Augen, hatte Christopher um Hilfe gebeten? Selbst für mich hörte sich das wenig überzeugend an. Dennoch hatte Christopher nicht gezögert, seiner Bitte nachzukommen.
»Und … und wie hat er seine Seele verloren?«
»Indem er sie zerstört hat. Obwohl normale Engel einen wesentlich kleineren Teil als wir Racheengel besitzen, können auch sie ihrem dämonischen Erbe erliegen.«
Christopher blieb stehen. Sorgenfalten erschienen auf seiner Stirn. »Was ihn jedoch dazu verleitet hat, sich an mehr als zwei Menschen zu binden, kann ich dir nicht sagen. Er wusste, dass jede weitere Bindung seine Seele gefährden und ihn in den Wahnsinn treiben würde. Am Ende hat er nicht nur ihr Blut, sondern auch ihr Leben genommen.«
Christopher wandte sich ab und starrte über den See. Seine Gedanken weilten bei dem Engel, der einst ein Engelschüler gewesen war. Doch in mir rief seine Erklärung eine andere Erinnerung wach. Auch wenn es Raffael war, der den vergifteten Gedanken gepflanzt hatte.
»Warum ist es ebenso gefährlich, nur an einen Menschen gebunden zu sein, wie an zu viele?«
»Weil Engel sich nur dann an einen Menschen binden dürfen, wenn sie bereit sind, mindestens einen von ihnen in seiner Welt zu beschützen.«
»Was sie verletzbar macht, weil sie ihre Engelskräfte nicht einsetzen dürfen«, folgerte ich.
»Ja und nein.« Deutlich spürte ich Christophers Unbehagen. »Wir können in der Welt der Menschen Engelsmagie nur sehr begrenzt weben. Deshalb ist es uns auch nicht möglich, dort Engelswaffen zu erschaffen. Aber wir können uns durchaus einem Messer in den Weg stellen, um unseren Protegé zu beschützen.«
Langsam begann ich zu verstehen, worauf das hinauslief. »Also ist er so eine Art Schutzengel zum Anfassen, der nicht nur spürt, wenn sein Protegé etwas Dummes tut, sondern sich auch für ihn aufopfert.«
»Das war der Grundgedanke«, räumte Christopher ein.
»Und weil ein Engel ja nicht sterben kann, solange er noch Flügel hat …« Ich verstummte. Christophers Miene verriet mir, dass ich falschlag.
»Stirbt der Protegé, stirbt auch der an ihn gebundene Engel, falls er sich zu diesem Zeitpunkt in der Menschenwelt aufhält und nur an einen Menschen gebunden ist. Denn dann gibt es nichts mehr, das dort seine Seele am Leben erhält«, bestätigte Christopher meinen Verdacht.
Obwohl ich gegen meine Eifersucht ankämpfte, war der Satz über meine Lippen, bevor ich ihn zurückdrängen konnte. »Und, kenne ich deinen zweiten Schützling?«
Christopher presste für einen kurzen Moment seine Lippen zu einem schmalen Strich – ich hätte besser nicht nachgefragt. »Nein. Und du wirst ihn auch niemals kennenlernen. Ich bin kein Schutzengel und hatte niemals vor, mich an mehr als einen Menschen zu binden.«
»Du stirbst, wenn mir etwas passiert?!« Mein Blut stockte in Sekundenschnelle, als ich begriff, was das bedeutete. Kalte Angst kroch meine Kehle empor. Christopher bei mir zu haben war viel zu gefährlich. Er musste zurück in die Welt der Engel – dorthin, wo wir uns nicht sehen durften.
»Hast du vergessen, dass du ein Engel bist?«, antwortete er mit seiner sanften Einlullstimme, als er meine Furcht bemerkte.
»Nein, aber …« Mein Verstand raste weiter und fand endlich die Lücke. »Aber als ich noch menschlich war …«
»Doch das bist du nicht mehr«, fiel Christopher mir ins Wort, bevor er mich in seine Arme nahm und mit dem Daumen die Falten auf meiner Stirn nachzog. Dieses Mal hielt ich ihn auf Abstand. Seine Antwort erklärte nicht, warum er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
»Warum bist du keine zweite Bindung eingegangen? Du gehörst nicht unbedingt zu den Engeln, die keine Feinde haben.«
»Kannst du dir das nicht denken?«, fragte er leise, während er die Konturen meines Gesichts nachzeichnete und mir beim Begreifen zuschaute: Es hätte ihm nichts ausgemacht, mit mir zu sterben.