Das tote Schiff
Noch immer mit Höchstgeschwindigkeit schoss die ›Taube‹ auf den zweiten Planeten des unbekannten Systems zu. Trixi sprach wie immer kein Wort und war vollkommen auf die Funktionen des Schiffes konzentriert. Lucy wusste, dass sie versuchte, so viele von den Schäden am Schiff zu beheben wie möglich. Abgesehen von ihrem Hauptproblem, dem fehlenden Sprunggenerator, war sie auch sehr erfolgreich damit gewesen. Lars stand nutzlos neben ihr. Wahrscheinlich hoffte er, ihr dadurch Halt zu geben, obwohl er sie sicher damit eher störte.
Lucy und Gurian standen mit dem jungen Darim zusammen. Der arme Kerl hatte vorher keinen von den anderen an Bord gekannt und war extrem nervös und unsicher. Lucy war sich von Anfang an nicht sicher gewesen, ob es eine gute Idee war, ihn mitzunehmen. Andererseits hätte der ganze Ausflug nur eine einfache Standardoperation sein sollen. In der Situation, in der sie sich jetzt befanden, war es eher eine Katastrophe jemanden dabei zu haben, für den man den Babysitter spielen musste.
Shyringa und Varenia hockten konzentriert an ihren Konsolen und untersuchten den Planeten mit allem, was die Sensoren des Schiffes hergaben.
»Der Planet hat keinen Mond oder ähnlichen astronomischen Begleiter. Seine Oberfläche ist zu heiß für imperianisches oder aranaisches Leben, genau, wie ich es mir gedacht habe«, setzte Shyringa die anderen über ihre entmutigenden Ergebnisse in ihrem typisch kühlen, emotionslosen Tonfall in Kenntnis. »Auch in der Atmosphäre habe ich kein eindeutiges Signal für Leben. Wenn es dort etwas gibt, muss es in einem sehr frühen Stadium der Lebensentwicklung sein. Das können wir mit unseren Instrumenten auf diese Entfernung nicht feststellen.«
»Der Planet erinnert mich an die Venus«, warf Lars ein.
»An was?«, fragte Varenia.
»Ach nichts, nur ein Planet neben Terra«, wiegelte Lars ab. Er sah plötzlich traurig aus.
»Kein Austausch von irgendwelchen Kommunikationen, soweit ich das feststellen kann. Ich habe den ganzen Nahbereich gecheckt. Die Fernkommunikation kann ich natürlich nicht prüfen, dazu bräuchte ich den Sprunggenerator«, sagte Varenia. »Dieses System scheint völlig tot zu sein. Keine Menschenseele, nicht mal primitivstes Leben.«
Sie waren noch immer eine halbe Stunde von ihrem Ziel entfernt, als plötzlich etwas aus dem Schatten des Planeten trat.
»Was ist denn das? Ich dachte der Planet hat keine Begleiter?«, fragte Lucy.
»Das Ding ist wahrscheinlich zu klein, um gemessen worden zu sein«, mutmaßte Lars.
»Wenn das ein kleiner Mond wäre, hätten unsere Instrumente ihn gemessen«, erwiderte Shyringa kühl.
»Mit dem Ding stimmt etwas nicht!«, rief Varenia aufgeregt dazwischen. »Die Instrumente zeigen an, dass es hohl ist.«
»Die Analyse der Oberfläche deutet auf organisches Material hin«, ergänzte Shyringa.
»Einen Moment! Was heißt das?«, rief Lucy.
»Das heißt, dass dieses verdammte Ding ein Raumschiff ist«, knurrte Gurian grimmig.
»Theoretisch könnte das natürlich auch ein Tier sein«, ergänzte Shyringa emotionslos.
»Ein Tier hier im luftleeren Raum?«, knurrte Gurian und grinste mit seinem ganzen entstellten Gesicht Shyringa an.
»Ja doch, ich habe Theorien über Raum-Wale gehört. Vielleicht ist das einer!« Darim sah mit glänzenden Augen auf den Außenschirm.
»Das sind Geschichten für Kinder! So etwas gibt es nicht!« Varenia lächelte ausnahmsweise einmal nicht, sondern sah Darim tadelnd an.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendwo in der Galaxie Leben außerhalb eines schützenden Planeten entwickelt haben könnte, ist nach unserem heutigen Erkenntnisstand tatsächlich nahezu null«, schloss Shyringa die Diskussion über frei im Raum lebende Tiere ab.
»Also ist das ein Schiff«, sagte Lucy nachdenklich. Sie hatte schon das Bremsmanöver eingeleitet.
»Alle Mann auf Kampfstation. Fahrt die Waffensysteme hoch«, kommandierte sie. »Shyringa, Analyse des Schiffes! Varenia, überwache die Waffensysteme und Kommunikation des fremden Schiffs!«
»Vom biologischen Aufbau ist das Schiff imperianischer Herkunft«, berichtete Shyringa.
»Ein Imperiumsschiff?«, fragte Lucy nach.
»Es sendet keine Kennung«, ergänzte Varenia mit gerunzelter Stirn. »Die Waffensysteme sind nicht aktiviert. Es reagiert nicht einmal darauf, dass wir unsere Waffen aktiviert haben.«
»Lebt das Schiff noch?«, fragte Trixi besorgt.
»Das kann ich so nicht feststellen«, erwiderte Varenia.
»In dem Schiff existiert eine Sauerstoffatmosphäre. Die Temperatur liegt bei dreiundzwanzig Grad«, warf Shyringa die Daten mit ihrer emotionslosen Stimme in den Raum.
»Dann sind die Lebenserhaltungssysteme noch funktionsfähig«, kommentierte Varenia nachdenklich. »Das Schiff muss noch leben, aber es reagiert nicht.«
»Das Schiff schläft«, sagte Trixi leise.
Hoffentlich würde Lars jetzt nicht wieder ausrasten, dachte Lucy. Aber die Situation war zu spannend. Lars schien ausnahmsweise nicht auf Trixis Ausdrucksweise zu achten.
»Die haben ihre Waffen noch immer nicht aktiviert«, brummte Gurian. »Da stimmt was nicht. Wenn wir wollten, könnten wir die selbst mit unserer Bewaffnung erledigen.«
»So denken nicht alle«, kommentierte Trixi leise, aber keiner beachtete sie.
»Varenia, versuche Kontakt aufzunehmen«, kommandierte Lucy. Sie war jetzt vollkonzentriert. »Shyringa, taste das Schiff nach allem ab, woran man es erkennen könnte. Vielleicht stimmt es ja mit irgendeinem der verloren gegangenen Schiffe überein.«
»Ich habe mit allem gefunkt, was wir haben, und auf allen Kanälen. Das Schiff meldet sich nicht«, berichtete Varenia nach wenigen Minuten.
»Versuch es weiter. Sag ihnen, dass wir in friedlicher Absicht kommen und ihre Hilfe brauchen«, sagte Lucy. Nervös trommelte sie auf ihrer Konsole.
Ein paar Minuten später sagte Shyringa: »Mit großer Wahrscheinlichkeit habe ich das Schiff identifiziert. Es handelt sich um die ›Garjomus Bartin‹. Den Namen hat es von einem Mann, der vor etwa 342 Jahren für acht Jahre Präsident des Imperiums war. Es ist ein imperianisches A-Klasse-Schiff. Es wurde mit allem ausgerüstet, was das Imperium an Forschungseinrichtungen zu bieten hatte, aber auch mit der neusten Waffentechnologie. Vor 312 Jahren brach es zu einer Forschungsreise in den unbekannten Teil der Galaxie auf. Schon nach dem ersten Sprung hat es keinen Kontakt mehr gegeben. Man hat nie wieder etwas von dem Schiff gehört.«
»Bis heute«, flüsterte Lars. Er sah blass aus. Alle Jugendlichen ließen ihre Augen ängstlich über die Schirme wandern.
»Wenn das Schiff hier gelandet ist, ist hier wahrscheinlich auch die Gefahr«, flüsterte Darim. Er sah mehr als ängstlich aus.
»Warum lebt das Schiff, rührt sich aber nicht? Wenigstens die automatischen Abwehrsysteme müssten doch reagieren«, sagte Lucy.
»Was heißt, neuste Waffentechnik? Können die Waffen von vor dreihundert Jahren uns heute noch gefährlich werden?«, fragte sie und sah dabei Gurian direkt an.
»Die Technik hat sich zwar weiterentwickelt und gegen ein modernes A-Klasse-Schiff hätte es sicher keine Chance, aber um uns in Schutt und Asche zu legen, würden die Waffen sicher noch ausreichen, wenn sie denn noch funktionieren«, brummte Gurian.
»Das Schiff scheint noch zu leben, aber es gibt kein Anzeichen für anderes Leben auf diesem Schiff«, meldete sich Shyringas emotionslose Stimme. »Wir sind jetzt so nah dran, dass die Sensoren in das Schiff sehen können. Ich sehe dort zwar eine Reihe von C-Klasse-Schiffen im Hangar stehen, es gibt auch ein paar kleinere Jäger, aber ansonsten ist da nichts. Auf dem Schiff scheint es keine Mannschaft zu geben.«
»Ein Schiff, dessen Überlebenssysteme funktionieren, das aber keine Mannschaft hat? Das ist ja gruselig«, kommentierte Lars.
»Na ja, wenn es vor 300 Jahren dort Menschen gegeben hat, sind sie alle mittlerweile tot, selbst wenn sie nicht durch ein Unglück oder einen Angriff umgekommen sind. So alt wird kein Imperianer«, stellte Varenia klar.
Lucy wollte gerade anmerken, dass es ja Nachkommen geben könnte, biss sich aber noch rechtzeitig auf die Zunge. Imperianer zeugten Nachkommen nicht mehr auf natürlichem Weg. Der genetisch optimierte Nachwuchs wurde von biologischen Robotern ausgetragen und geboren. Erstaunlicherweise war es dann Varenia, die genau diesen Gedankengang aussprach.
»Hatten die damals nicht schon Geburtsroboter an Bord? Shyringa, steht da was in den Unterlagen?«, fragte sie.
»Dieses Schiff hatte tatsächlich einige dieser Roboter an Bord«, antwortete Shyringa sachlich. »Sie sollten für den Fall, dass das Schiff stranden sollte, die Besiedlung eines fremden Planeten ermöglichen.«
»Das scheint dann ja nicht funktioniert zu haben«, knurrte Gurian.
»Oder die Mannschaft hat das Schiff verlassen«, mutmaßte Varenia.
»Wo? Hier?«, fragte Lars ironisch. »Die Planeten hier sind ja wohl nicht gerade für eine Besiedlung geeignet!«
»Sie können das Schiff ja auch woanders verlassen haben«, gab Varenia nachdenklich zu bedenken.
»Und wie ist das Schiff dann hierher gekommen, ohne Mannschaft?«, knurrte Gurian.
»Am Besten wir sehen einfach nach«, mischte sich Lucy entschlossen ein. »Gibt es eine Möglichkeit, die ›Taube‹ in den Hangar zu fliegen?«
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, knurrte Gurian. »Das ist ein leeres Geisterschiff. Wer weiß, was uns darauf erwartet.«
»Das ist doch gerade gut«, sagte Trixi leise. »Das ist nur ein Schiff. Es sind keine Menschen dort, die uns etwas tun könnten. Und dort haben wir alles, was wir brauchen, um wieder zurückzukommen. Ich versuche eine Möglichkeit zu finden, den Hangar des Schiffes von außen zu öffnen.«
»Super! Dann alle an die Arbeit!«, sagte Lucy optimistischer als sie sich fühlte. »Varenia und Shyringa versucht noch, so viel wie möglich, über dieses Schiff herauszubekommen.«
»Ich werde mich um die Überwachung der Waffensysteme kümmern«, knurrte Gurian.
Es war mehr als deutlich, dass er der Sache nicht traute. Lucy konnte ihn gut verstehen. Sie hatte auch ein mulmiges Gefühl.