3. Kapitel
Ein Hund wäre die einfachere Lösung gewesen, dachte Tyler, als er sein beigefarbenes Hemd zuknöpfte. Für einen Hund hätte er sich nicht rasieren müssen, und eines Hundes wegen würde sich sein Magen nicht vor Aufregung verkrampfen. Es war lächerlich, wegen einer bevorstehenden Verabredung nervös zu werden.
Er verteilte mit den Handflächen Rasierwasser seitlich am Kinn, dann verließ er das Bad. Minuten später saß er in seinem Wagen und machte sich auf den Weg zum Joey’s.
Es war keineswegs so, dass er noch nie verabredet gewesen wäre, aber es war lange her, dass er sich auf ein Kennenlernen eingelassen hatte.
Seine letzte ernsthafte Beziehung lag mehr als zwei Jahre zurück. Nach sechs Monaten war Stacy aus seiner Wohnung ausgezogen und hatte ihn angeschrien, er wäre emotional genauso tot wie die Leichen, mit denen er beruflich zu tun hatte.
Wenn man zu diesem Debakel eine Ehe hinzufügte, die gerade einmal achtzehn Monate gedauert hatte, war es kein Wunder, dass er sich nicht mit Feuereifer in die nächste Beziehung stürzte.
Sein Beruf war Teil des Problems, denn die Scheidungsquote in der Mordkommission war unglaublich hoch. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten und die potenziellen Gefahren belasteten jede Ehe. Hinzu kam die Tatsache, dass Tyler nicht einen guten Polizisten in der Mordkommission kannte, der nicht an einem hochgradigen Kontrollzwang litt und am liebsten Jagd auf Mörder machte.
Eines hatte Tyler außerdem während seiner kurzen Ehe gelernt, nämlich dass es ein Fehler war, über seine Arbeit zu reden, selbst als Vicki, seine Frau, ihn gebeten hatte, ihm mehr von seinen Fällen zu erzählen. Denn je mehr sie von ihm erfahren hatte, desto stärker hatte sie sich zurückgezogen.
Als er sich Riverfront näherte, wappnete er sich innerlich für den Abend, der ihm bevorstand. Wohl wissend, dass Annalise und Danika enge Freundinnen waren, konnte er sich Annalise nur genauso hektisch und energiegeladen vorstellen wie ihre Freundin. Er mochte Danika, obwohl sie ihm recht schnell auf die Nerven gehen konnte. Doch mit seiner heutigen Verabredung würde er sie erst einmal ruhigstellen. Die Frau war so störrisch wie ein Maulesel.
Er seufzte. Ein Hund wäre weiß Gott die einfachere Lösung gewesen.
Tyler kannte sich in Riverfront aus. Früher einmal war dieser Stadtteil für seine hohe Kriminalitätsrate und als Treffpunkt der Obdachlosen in der Stadt berüchtigt gewesen. Das war, bevor die Stadtplaner das Gebiet neu entdeckt hatten. Doch die Obdachlosen waren immer noch präsent, besonders nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Läden und Restaurants geschlossen waren und der Fußgängerstrom verebbte.
Er fand einen Parkplatz nicht weit entfernt von dem Restaurant, blieb aber noch im Wagen sitzen. Was, zum Teufel, tat er da eigentlich?
Aus Erfahrung wusste Tyler, dass er für Frauen nichts taugte, dass die beste Beziehung, die er anstreben konnte, ein One-Night-Stand mit einer Frau war, die nichts von ihm erwartete.
Er stieg aus, straffte die Schultern und beschloss, hineinzugehen und es hinter sich zu bringen. Er war eine Viertelstunde zu früh dran, und das Restaurant war gut besucht.
Nachdem er nach seiner Tischreservierung gefragt hatte, nahm Tyler zunächst an der Bar Platz, von wo aus er die Eingangstür im Auge behalten konnte, und bestellte einen Scotch mit Soda.
Er hatte erst ein paar Schlucke getrunken, als sie zur Tür hereinkam. Sie trug ein kurzes, blassgelbes Kleid, das ihre wohlgeformten Beine und ihr langes, dunkles Haar gut zur Geltung brachte.
Er wehrte sich gegen den Impuls, sofort aufzuspringen und sie zu begrüßen, und nahm stattdessen die Gelegenheit wahr, sie gründlich zu mustern. Sie war nicht im herkömmlichen Sinne schön, wohl aber ungewöhnlich hübsch mit großen, blauen Augen, einem ovalen Gesicht und dem langen Haar, das ihr sexy über die Schultern fiel.
Sie war schlank, aber nicht dürr, und ihre Haltung bewies ein Selbstbewusstsein, das anziehend wirkte. Wieder verkrampfte sich sein Magen. Doch ihr gutes Aussehen war längst keine Garantie für einen angenehmen Abend.
Sie blickte sich um und hielt offenbar Ausschau nach einem Mann ohne Begleitung, der auf sie wartete. Er stand auf, um ihr entgegenzugehen, damit sie nicht dachte, er hätte dagesessen und sie angestarrt. Obwohl er genau das getan hatte.
Als er näher kam, lächelte sie gerade die Tischanweiserin an, und dieses Lächeln versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube. Es erhellte ihre Züge wie ein warmer Sonnenstrahl, der den düsteren Himmel durchbrach, und einen Moment lang wünschte er sich, in dieser Wärme schwelgen zu dürfen.
»Annalise?«
Sie sah ihn an, und aus der Nähe bemerkte er, dass ihre blauen Augen von dunklen Wimpern umrahmt waren. »Tyler?«
Er nickte. »Hi, schön, Sie kennenzulernen.« Sie schob ihre schmale Hand in seine ausgestreckte Rechte und drückte sie kurz, aber fest. »Ich glaube, unser Tisch steht für uns bereit.« Er sah die Tischanweiserin fragend an.
»Folgen Sie mir«, zwitscherte diese mit jener vorlauten Heiterkeit, die für manche Restaurantangestellte und Grundschullehrerinnen so typisch war.
Als Tyler hinter Annalise zum Tisch ging, nahm er ihren blumigen Duft wahr, der sie dezent umhüllte. Jasmin oder eine andere exotische Note. Nett.
Doch nun folgte der schwierige Teil: Small Talk mit einer Frau, die ihm praktisch fremd war.
»Sie werden gleich bedient«, sagte die Tischanweiserin, bat sie, Platz zu nehmen und ließ sie allein.
»Haben Sie hier schon einmal gegessen?«, fragte Annalise und breitete die Serviette auf ihrem Schoß aus.
»Einmal, vor langer Zeit. Wenn ich mich recht entsinne, war das Essen köstlich.«
»Ich esse sehr oft hier und habe noch nichts auf der Speisekarte gefunden, das nicht köstlich war«, erwiderte sie.
Ein peinliches Schweigen setzte ein, als sie beide nach der Karte griffen und die Auswahl studierten. Tyler war kein guter Unterhalter. Allerdings war es bei den meisten Frauen in der Vergangenheit nicht einen Augenblick lang zu diesem peinlichen Schweigen gekommen. Sie hatten über alles Mögliche geplappert und schienen sich selbst unheimlich gern reden zu hören.
Annalise war offenbar anders. Im Gegensatz zu Danika strahlte sie etwas angenehm Ruhiges, Friedliches aus, doch in diesem Moment wünschte Tyler, sie hätte etwas von Danikas Gesprächigkeit und würde das angespannte Schweigen durchbrechen.
»Können Sie mir etwas empfehlen?«, fragte er in dem verzweifelten Bemühen, etwas zu sagen.
Sie hob den Blick von der Karte, und ihre erstaunlichen Augen sahen ihn mit einer Offenheit an, die er bewunderte. Als Polizist war er daran gewöhnt, dass die Leute seinen Blick mieden, als wollten sie ihre Geheimnisse, die sie im Herzen trugen, vor ihm verbergen.
»Ich esse am liebsten das Kalbgericht. Die Soße ist unheimlich gut.«
Er klappte die Karte zu und lächelte sie an. »Dann nehme ich das Kalbfleisch.« Bevor er sich Gedanken über das nächste Gesprächsthema machen musste, kam ein Kellner, um ihre Bestellung aufzunehmen.
Doch als er wieder gegangen war, senkte sich erneut das Schweigen über sie. Small Talk, du Idiot, flüsterte seine innere Stimme. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ den Blick durch das Restaurant schweifen, als suchte sie nach etwas oder jemandem, der sie von seiner Gegenwart erlöste.
Wann hatte er die Fähigkeit, sich mit einer schönen Frau zu unterhalten, verloren? Er erinnerte sich nicht einmal daran, was Danika ihm über Annalises Beruf erzählt hatte. Er wollte sie gerade fragen, als sich ihr Blick wieder auf ihn richtete.
Annalise spürte ein nervöses Flattern in der Magengegend, während sie sich im Restaurant umsah, bemüht, den Mann, der ihr am Tisch gegenüber saß, nicht anzustarren.
Herrgott, er war ein Adonis. Vom ersten Augenblick an hatte das verrückte Flattern in ihrem Bauch eingesetzt. Körperlich war er genau ein Mann nach ihrem Geschmack. Groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Seine scharfgeschnittenen Gesichtszüge verliehen ihm ein leicht gefährliches Aussehen. Seine Augen waren dunkelgrau, fast schwarz, und im Moment sah er sie an, als wäre er an jedem anderen Ort lieber als hier.
Bisher war das bisschen Unterhaltung, das sie zustande gebracht hatten, gezwungen gewesen, und zwischen ihnen herrschte eine unbehagliche Spannung. Vielleicht wäre alles einfacher gewesen, wenn er nicht so gut ausgesehen hätte, wenn ihr Herz nicht jedes Mal, wenn sie ihn ansah, ein bisschen zu schnell geklopft hätte.
»Meine letzte Verabredung liegt schon so lange zurück, dass ich wohl vergessen habe, wie es geht«, sagte er.
Seine Worte überraschten sie und schafften es, die Spannung ein wenig zu lockern. »Wenn Sie hoffen, dass ich die Führung übernehme, muss ich Sie leider enttäuschen. Meine letzte Verabredung liegt wahrscheinlich genauso lange zurück.«
Das Lächeln, das er ihr schenkte, ließ seine Augen aufleuchten und seine Züge weicher erscheinen. »Blind Dates sind die schlimmsten, nicht wahr?«
»Ja, schrecklich«, pflichtete sie ihm bei. »Und ich habe diesem Blind Date nur zugestimmt, weil mich Danika sonst in den Wahnsinn getrieben hätte.«
Er lachte, und beim Klang dieses leisen, sexy Lachens spürte sie erneut ein heißes Flattern in der Magengegend, und die Verlegenheit zwischen ihnen verflüchtigte sich.
Als der Kellner ihre Bestellungen brachte, diskutierten sie das Elend der Partnersuche für Menschen, die nicht mehr ein- oder zweiundzwanzig waren.
»Ich habe gelesen, dass die meisten Beziehungen am Arbeitsplatz beginnen, bin aber selbst der Meinung, dass das überhaupt keine gute Idee ist.«
»Danika hat erwähnt, dass Sie Unternehmerin sind, aber ich glaube, sie hat mir nicht genau erklärt, was Sie tun.«
»Ich stelle Puppen her.«
Er nahm sich ein Stück warmes Brot aus dem Körbchen auf dem Tisch. »Hört sich interessant an.«
Sie lachte. »Ich habe bisher noch keinen einzigen Mann getroffen, der Puppenmachen interessant findet. Es war das Geschäft meiner Mutter, bis sie vor drei Jahren starb. Da habe ich es übernommen.«
»Lebt Ihr Vater noch?«
Sie nickte und gab sich Mühe, keinerlei Gefühle in ihrem Tonfall mitschwingen zu lassen.
»Ja. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs war, und Dad hat noch einmal geheiratet und hat einen Sohn. Und Ihre Eltern?«
»Miteinander verheiratet und quicklebendig. Ich bin ihre größte Enttäuschung, weil ich nicht verheiratet bin und ihnen noch keine Enkel geschenkt habe.«
»Und warum ist das so?« Sie konnte sich nicht vorstellen, warum er nicht verheiratet war. Er war eindeutig attraktiv, und nachdem das Eis gebrochen war, stellte er sich auch als liebenswürdig heraus.
Er lehnte sich mit versonnenem Blick auf dem Stuhl zurück. »Ich war vor sieben Jahren kurz verheiratet. Es hat nicht geklappt, und ich habe nie wieder das Bedürfnis gehabt, mich in eine neue Ehe zu stürzen. Und Sie? Waren Sie schon mal verheiratet?«
»Nein. Ich stand einmal knapp davor, erkannte aber im letzten Moment, dass er nicht der Richtige für mich war.« Sie lächelte.
Er beugte sich vor, und bei dem Leuchten in seinen Augen stockte ihr der Atem. Sein dunkler Blick glitt von ihren Augen zu ihren Lippen und blieb dort haften. »Was? Was amüsiert Sie?«, fragte Tyler.
»Ach, nichts. Ich dachte gerade an den Moment, als mir klarwurde, dass Allen nicht der Mann meiner Träume war.«
»Und wann war das?«
Er schien aufrichtig interessiert zu sein, deshalb fuhr sie fort. »Wir waren essen gegangen, und ich bekam einen Anruf, dass eine Lieferung fehlerhafter Puppenbeine eingetroffen war. An jedem Fuß befanden sich tatsächlich sechs Zehen. Ich war wütend, weil ich wusste, dass wir nun eine neue Lieferung brauchten und uns das Zeit kosten würde. Allen sagte, ich solle mich nicht aufregen, es wären ja schließlich nur Puppen, und die Kinder würden den Fehler ohnehin nicht bemerken.«
Tyler grinste. »Allen war anscheinend nicht sehr klug.«
Sie lachte, wurde dann aber wieder sachlich. »Ich erwarte ganz bestimmt nicht, dass der Mann meines Lebens Anteil an meiner Arbeit nimmt, aber dass er sie respektiert, kann ich durchaus verlangen. Und apropos Arbeit: Ihre muss faszinierend sein.«
Das Leuchten in seinen Augen erlosch abrupt. »Meine Arbeit ist nicht das, worüber man beim Abendessen sprechen möchte.«
Verbotenes Terrain. Augenscheinlich wollte er überhaupt nicht über seine Polizeiarbeit reden, wie ihr sein abweisender Blick verriet.
»Was treiben Sie so in Ihrer Freizeit?«, fragte sie und hoffte damit zu verhindern, dass sich wieder ein unangenehmes Schweigen ausbreitete.
»Ich besuche das Fitness-Center in der Nähe meiner Wohnung. Und ich lese gern. Ich fürchte, mein Privatleben ist ziemlich langweilig.«
Irgendwie glaubte sie ihm nicht. In ihm schwelte eine so starke Energie, dass sie sich kaum vorstellen konnte, irgendetwas an ihm langweilig zu finden.
»Und Sie? Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?«, fragte er.
»Ich bin die Langweilerin, denn wie es aussieht, arbeite ich ununterbrochen.«
»Das ist nicht gut.« So, wie er sie jetzt anlächelte, flirtete er eindeutig mit ihr. »Sie wissen doch, Arbeit allein macht nicht glücklich.«
Beim Dessert sprachen sie über Verabredungen in der Vergangenheit, die schiefgelaufen waren, und brachten einander zum Lachen.
Sie mochte ihn. Abgesehen davon, dass sein bloßer Anblick ein köstliches Prickeln in ihr auslöste, gefiel ihr, dass er intelligent war und zuließ, dass sich ihr Kennenlernen zwanglos entwickelte. Außerdem mochte sie seinen Sinn für Humor und sein ansteckendes Lachen, das sexy zugleich war.
Der Kellner hatte ihnen gerade eine zweite Tasse Kaffee eingeschenkt, als Tylers Handy klingelte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und zog das Mobiltelefon aus der Tasche. »King«, bellte er hinein.
Seine Gesichtszüge verhärteten, und seine Augen wurden schmal, als er der Stimme des Anrufers lauschte. »Gib mir eine Viertelstunde.« Er beendete das Gespräch und sah sie entschuldigend an. »Ich muss los. Eine der Schattenseiten meines Berufs besteht leider darin, dass ich nie weiß, wann ich gebraucht werde.«
»Bitte, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich verstehe schon«, antwortete sie.
Er stand auf. »Kommen Sie allein nach Hause?«
»Gewiss«, versicherte sie.
»Ich begleiche die Rechnung auf dem Weg nach draußen. Ich habe unser Abendessen sehr genossen, Annalise. Darf ich Sie anrufen?«, fragte er.
Sie lächelte. »Ich würde mich freuen.«
Er war kaum zwei Schritte gegangen, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte und sie ansah. »Übrigens, Gelb steht Ihnen hervorragend.«
Freudig errötend blickte sie ihm nach. Ob er sie wirklich anrufen würde? Sie hoffte es. Es war lange her, dass sie sich so angeregt gefühlt hatte wie jetzt. Und es war lange her, dass sie einem Mann begegnet war, den sie gern näher kennenlernen wollte.
Als der Kellner an ihren Tisch kam, ließ sie sich die Reste des Desserts zu denen des Kalbgerichts einpacken, nahm den Plastikbeutel an sich und stand auf.
Sie wollte die Reste des Hauptgangs am nächsten Tag zum Mittagessen verzehren, und sie hatte den Verdacht, dass das übrig gebliebene Stück Käsekuchen verschwunden sein würde, bevor sie zu Bett ging.
In Gedanken an Tyler verließ sie das Restaurant und trat in die warme Nachtluft hinaus. Sie hatte schon mehrere endlos erscheinende Verabredungen überstanden, die Danika arrangiert hatte, in der Überzeugung, dass Annalise nichts dringender brauchte als jemanden, den sie lieben konnte. Der Abend mit diesem Mann war aber mehr als nur angenehm gewesen.
Die Rasenflächen waren menschenleer, als sie den Park durchquerte. Trotz der nächtlichen Dunkelheit hatte sie keine Angst. In dieser Gegend hatte sich Annalise noch nie gefürchtet.
Als sie sich ihrer Wohnung näherte, bemerkte sie eine dunkle Gestalt, die auf den Stufen der Feuerleiter hockte. Sie erkannte den Mann, der nun aufstand, auf Anhieb und ging auf ihn zu.
»Hi, Max«, sagte sie und wusste, dass die Reste ihrer Mahlzeit es nicht bis in ihre Wohnung schaffen würden. Wie Max mit Nachnamen hieß, wusste sie nicht und vermutete, dass er sich selbst nicht mehr daran erinnerte. Max war einer der Obdachlosen, die in dieser Gegend lebten. Er war Alkoholiker, nannte eine Holzkiste sein Zuhause und ließ sich ungefähr einmal pro Woche in der Nähe des Blakely Dollhouse blicken.
Annalise wusste nicht, ob er sich um den Verstand getrunken hatte oder welches Leid ihn in den Alkoholismus getrieben hatte. Sie wusste nur, dass er ein armer Kerl war, einer von den vielen, die bei Einbruch der Dunkelheit aus ihren Verstecken krochen.
»Mülltonnen sind schlecht heute«, sagte er, und als er näher an sie herantrat, drang der Geruch von verfaultem Obst, saurem Körperschweiß und billigem Fusel zu ihr herüber. Wie üblich trug er alles, was er besaß, am Körper: eine schmutzige Jeans und trotz der warmen Nacht ein dunkelblaues Sweatshirt unter dem völlig verdreckten Tweedmantel.
»Heute Nacht sieht’s nicht gut aus in den Mülltonnen, Anna. Kleingeld wäre nett.«
»Du weißt, dass es kein Geld gibt, Max«, tadelte sie mild. Max tauchte immer dann auf, wenn er kein Geld für Schnaps hatte, und in solchen Nächten beklagte er sich über den Mangel an Lebensmittelresten in den Mülltonnen, in der Hoffnung, sie würde ihm etwas Geld zustecken.
»Max hat Hunger«, rief er und rieb sich mit seiner großen Hand den Bauch.
Sie hielt ihm den Beutel mit den Speiseresten entgegen. Er schnappte ihn sich und hielt ihn an die Brust gepresst, als er in das nächtliche Dunkel davonhuschte.
Im letzten Winter hat sie den Sozialdienst auf Max aufmerksam gemacht, in der Hoffnung, dass man eine Unterkunft für ihn fand oder ein Familienmitglied ausfindig machte, das sich seiner annahm, doch es war vergeblich gewesen. Max hatte eine Winternacht in einem Obdachlosenasyl verbracht, war aber kurz darauf wieder auf die Straße geflüchtet, die er als sein Zuhause ansah.
Als Annalise die Ladentür aufschloss, wurde ihr bewusst, dass sie und Max etwas gemeinsam hatten. Obwohl sie ihr Loft liebte, hatte sie sich im Grunde dort nie zu Hause gefühlt. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht viel Zeit in der Wohnung verbrachte, vielleicht aber auch daran, dass sie niemanden hatte, der sie mit ihr teilte.
Sie lachte gezwungen und schalt sich innerlich für ihre Albernheit. Als sie in den zweiten Stock hinaufstieg, fragte sie sich, ob Tyler anrufen würde. Sie hoffte darauf, denn zum ersten Mal seit Jahren wurde ihr klar, dass es ihr vielleicht nicht genügte, allein den Traum ihrer Mutter am Leben zu erhalten.
Als Tyler in seinem Wagen vom Restaurant fortfuhr, kreisten seine Gedanken noch um die Frau, die er dort zurückgelassen hatte. Er fand sie intelligent, überaus humorvoll und inzwischen beinahe atemberaubend schön. Er hatte fast vergessen, dass solche Frauen existierten.
Auch körperlich sprach sie ihn eindeutig an. Einen Moment lang hatte er sich mitten im Gespräch vorgestellt, wie es wäre, den Reißverschluss ihres Kleids zu öffnen und es ihr von den schmalen Schultern zu streifen. Und als er ihr beim Essen zusah, fragte er sich, wie sie wohl schmecken würde.
Es war ein angenehmes Zwischenspiel gewesen, doch der Anruf hatte ihn brutal ins wirkliche Leben zurückgerissen, in ein Leben, das wenig Zeit für Angenehmes bot.
Die Gedanken an Annalise verflüchtigten sich, als er zwei Streifenwagen am Straßenrand sah. Die Scheinwerfer waren auf etwas im Graben gerichtet, und Tyler wusste, dass es sich bei diesem Etwas um eine Leiche handelte.
Er stieg aus dem Wagen und näherte sich dem Tatort. Dem jungen Streifenpolizisten, der ihn zurückhalten wollte, zeigte er seine Dienstmarke.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Ein anonymer Notruf, dass eine Leiche im Straßengraben liegt. Wir sind hergekommen, um nachzusehen. Es ist tatsächlich eine Leiche.«
Bevor Tyler antworten konnte, fuhr ein ihm bekannter Wagen vor, und seine Partnerin Jennifer Tompkins sprang heraus. »Hey, was ist hier los?«, rief sie und lief auf Tyler und den Polizisten zu.
»Ich bin selbst gerade erst angekommen. Einzelheiten weiß ich noch nicht«, erwiderte Tyler. Er holte Einmalhandschuhe und eine Taschenlampe vom Rücksitz. Ein Paar Handschuhe warf er Jennifer zu, dann sah er den Polizisten an. »Ist die Spurensicherung schon informiert? Der Gerichtsmediziner?«
»Müssten jeden Moment eintreffen«, antwortete dieser.
Tyler blickte Jennifer an. »Sehen wir uns die Sache mal an.«
Im Licht der Taschenlampe entfernte er sich vorsichtig vom Straßenrand und stieg die Böschung hinunter zu dem Graben, in dem das Opfer lag.
»Ach, herrje«, flüsterte Jennifer. Die Betroffenheit in ihrer Stimme rührte Tyler tief in seinem Inneren.
Das Opfer war einmal sehr attraktiv gewesen. Trotz des frühen Stadiums der Verwesung war leicht zu erkennen, dass sie eine schöne, junge Frau gewesen war. »Schau dich mal um, ob du eine Handtasche oder sonst etwas findest, damit wir sie identifizieren können«, wandte sich Tyler an Jennifer.
Er hockte sich neben die Leiche und machte sich an eine erste Einschätzung. Sie war nicht einfach an dieser Stelle abgeladen worden. Jemand hatte die Leiche sorgfältig hingelegt, die Beine dicht nebeneinander, die Arme ordentlich an den Seiten ausgestreckt. Ihr hellblondes Haar war zu perfekten Korkenzieherlocken frisiert, jedes einzelne Haar saß an seinem Platz.
Nein, man hatte sich ihrer nicht bloß entledigt. Man hatte sie hierhergetragen und sorgfältig zurechtgelegt, und zwar in einer Gegend, in der sie mit Sicherheit bald entdeckt wurde.
Blut war nirgends zu sehen, das makellose Weiß ihres Brautkleids wies keinen einzigen Schmutzflecken auf; doch an ihrem Finger steckte kein Ring als Hinweis darauf, dass tatsächlich eine Hochzeit stattgefunden hatte. Ihre Fingernägel waren nicht eingerissen, sondern sahen frisch manikürt aus.
»Hier liegt ein Handy«, rief Jennifer von irgendwo in der Nähe.
»Eintüten und etikettieren«, erwiderte Tyler, ohne den Blick von dem Mordopfer zu wenden. Er strahlte mit der Taschenlampe den Hals der Frau an, an dem dunkle Hämatome unter dem Kragen des Kleids zu erkennen waren. Er musste den offiziellen Bericht des Gerichtsmediziners abwarten, vermutete aber aufgrund seiner Erfahrungen, dass sie erwürgt worden war.
War dies auf dem Weg zum wichtigsten Ereignis ihres Lebens geschehen? Oder hatte man sie umgebracht und dann als Braut gekleidet, um die Phantasie eines Perversen zu beflügeln? Das herauszufinden war Tylers Beruf.
Dieses Mädchen mit dem schönen, blonden Haar und dem tragischen Ende war jetzt die neue Frau in seinem Leben. Er spürte ihre Not, spürte, dass sie nach ihm verlangte, ihn anflehte, ihrem frühen Tod Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Er richtete sich auf, als er noch mehr Dienstfahrzeuge kommen hörte. Jennifer trat zu ihm. »Ich habe keine Handtasche gefunden, auch sonst nichts, was sie identifizieren könnte. Wo fangen wir an?«, fragte sie leise.
»Mit den Vermisstenmeldungen«, antwortete er. »Wir sehen nach, ob irgendwo da draußen ein Bräutigam seine Braut vermisst.« Er richtete den Blick wieder auf die Frau im Graben.
Das Essen mit Annalise schien weit, weit zurückzuliegen.