Der Ratssaal im Haus des Fischerkönigs schüchterte Amber ein. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie von ihrem Sitzplatz aus in furchterregende aufgerissene Haimäuler blickte, die an der Wand neben dem Fenster aufgehängt waren, nein, jemand hatte auch viel zu farbige Gemälde von jedem Schiffsunglück der vergangenen zehn Sommer an die Wände genagelt. Amber, Inu und Sabin saßen im Zentrum unzähliger Katastrophen.
Unter den Haimäulern hatten Monis, der Fischerkönig, seine vier Ratgeber und die Gesandten von den Feuerinseln Platz genommen und starrten Amber nicht sehr viel freundlicher an als die Haiköpfe. Nur Sumal Baji, die ganz am Rand der Tafel saß, schenkte ihr ein verhaltenes Lächeln, das Ambers Herz schneller schlagen ließ.
Nervös blickte Amber nach rechts – neben Sabin, auf Tanijens Platz, lag eine weiße Wasserrose als Zeichen der Trauer. Außerdem hatte Sabin Tanijens Lebenstuch auf den Stuhl gelegt. Früher war es rot gewesen, doch nun war es über und über mit weißen Fäden bestickt. Jeder Dantarianer besaß ein solches Tuch. Sabin, Inu und auch Amber trugen weiße Trauergewänder, die noch neu waren und auf der Haut kratzten. Amber fühlte sich unbehaglich. Ihre Wunde pochte unter dem Verband und sie fürchtete sich davor, dass sie ausgerechnet jetzt wieder zu bluten beginnen würde. Noch nie war sie so schwach gewesen wie nach den Tagen auf dem offenen Meer, die sie nur im Fieberschlaf verbracht hatte. Selbst jetzt glaubte sie immer noch die schwankenden Bewegungen der Jontar wahrzunehmen. Inu griff unter dem Tisch nach ihrer Hand und drückte sie. Amber atmete durch und ließ sich ganz auf dieses neue Gefühl ein: aufgehoben und am richtigen Ort zu sein.
Morus schnaubte und beugte sich wieder tief über Lemars Notizbuch. Amber beneidete ihn nicht um seine Aufgabe, für ein ganzes Jahr alle Entscheidungen für eine von Stürmen gebeutelte Stadt zu tragen. Gleichzeitig machte sie sich bewusst, dass Morus es war, der die Todesurteile unterschrieb. Sein schwarzes Haar war zerwühlt, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Seit dem Sturm vor drei Tagen hatte er offenbar nicht geschlafen. Und das, was er vor sich auf dem Tisch sah, verbesserte seine Laune nicht gerade.
»Kolm Amadur und Genus Chilan«, murmelte er nun. »Das waren zwei der Magier aus Dantar, ja. Sie gehörten vor fast zwanzig Sommern dem Kreis der Magier an, die sich unrechtmäßig daran versuchten, die Stürme zu rufen und zu beherrschen – und all das mit der Billigung der damaligen Navigatorengilde.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie einen einzigen dunklen Balken über seinen Augen bildeten. »Wer die Stürme beherrscht, beherrscht Dantar.« Zustimmendes Murmeln antwortete ihm. »Sie sollten hingerichtet werden, aber es gelang ihnen zu fliehen.«
Eine Beraterin räusperte sich hörbar, die anderen versteiften sich sichtlich.
»Es ist nicht bewiesen«, mahnte eine Fischerin. »Die Dokumente sagen, sie sind gehängt worden.«
»Und die Gerüchte sagen, dass sie den Henker bestochen haben und den Strick überlebten. Wie hätten sie sonst zu den Feuerinseln gelangen können? Und dort trafen sie… Wie hieß er? Lemar?«
Die beiden Gesandten von den Inseln – eine zierliche rothaarige Frau und ein Mann, aus dessen gelber Tracht man ein Zelt für vier Personen hätte machen können – nickten.
»Lemar le Hay und Loin Palamar«, sagte die Frau. »Die Sturmrufervögel vor den Inseln waren damals sehr zahlreich und eine Gefahr für einzelne Schiffe. Lemar hatte ebenfalls den Wunsch, den Wind zu beherrschen. Er war talentiert, zweifellos, doch kein Lehrmeister wollte ihn ausbilden.«
»Warum nicht?«, rutschte es Amber heraus. Sofort erinnerte sie sich an Sabins Ermahnung, als Stadtfremde nur zu sprechen, wenn sie gefragt wurde, und biss sich auf die Zunge. Der Rat starrte sie an, als hätte sie etwas Unerhörtes getan.
Die rothaarige Gesandte zog pikiert eine Augenbraue hoch. »Weil sein Vater ein Dieb war und gehängt wurde«, antwortete sie knapp. »Nun, die beiden Magier aus Dantar scheinen dagegen gerne Lemars und Loins Lehrmeister geworden zu sein. Doch im Gegensatz zu ihren Schülern, die nur die Vögel bändigen wollten, um die Schifffahrt sicherer zu machen, hatten Kolm Amadur und Genus Chilan ganz andere Pläne.«
»Rache zu nehmen und Dantar zu zerstören«, setzte der beleibte Mann hinzu. »Erst Dantar und dann die Feuerinseln?«
»Das ist Unterstellung«, entgegnete Monis. »Wir wissen es nicht.«
Spannung war spürbar, Blicke kreuzten sich, Unausgesprochenes gefror in der Luft.
Amber versteifte sich unwillkürlich.
»So mag es gewesen sein«, sagte Monis nach einer Weile langsam. Der Fischerkönig wirkte sehr müde. »Wir werden es nicht entscheiden und die Schrift im Notizbuch ist verwischt. Doch wenn die Stürme nun tatsächlich ein Ende gefunden haben, dann ist das Tanijen Calminar Denas, Sabin Satinamal und Inu Taramo zu verdanken.«
»Und dem Landmädchen«, setzte Kapitänin Sumal hinzu und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Ein Sonnenstrahl ließ ihren goldenen Ohrring aufblitzen und brachte ihr Haar zum Leuchten.
Morus schnaubte. »Wir werden die genauen Umstände noch klären.«
Amber atmete noch einmal tief durch. Darauf hatte Sabin sie vorbereitet. Sie war selbst überrascht, dass eine solche Missachtung sie immer noch traf. Doch dann sah sie, wie Sabin ihr flüchtig zulächelte, und beschloss, dass die Wut sich nicht lohnte. Zumindest jetzt noch nicht.
»Was ist mit den Menschen, die der Sturmruferei und Magie angeklagt sind?«, meldete sich Inu leise zu Wort. »Sie können die Stürme nicht verursacht haben, denn diese gingen von der Insel aus. Werden die Urteile aufgehoben? Und wird… die Verordnung über das Verbot der Magie geändert?«
Morus runzelte die Stirn.
»Der Beschluss des Rates ist eindeutig. Die Hinrichtungen finden nicht statt, die Urteile werden vorerst ausgesetzt, alles Weitere aber wird neu verhandelt, sobald wir die Vorgänge auf der Insel geklärt haben. Heute Nachmittag legt das Schiff ab, das die Insel anfahren wird, auf der sich die Sturmrufervögel versammelt hatten. Dann werden wir auch…«
»Eine Frage noch«, unterbrach ihn die rothaarige Gesandte und wandte sich an Sabin. »Tanijen Calminar Denas hat einen fliegenden Dämon befreit, der in dem Becken gefangen gehalten wurde? Von magischen Fesseln? Ist das richtig?«
Sabin zögerte kaum merklich, dann nickte sie.
»Wie konnte er die Fesseln durchschneiden? Hatte er eine besondere Waffe… ein magisches Messer vielleicht?«
Amber hörte, wie Inu neben ihr Luft holte, und wurde ebenfalls nervös. Auf dem Meer hatten sie sich das Versprechen gegeben, Tanijens Andenken nicht den Henkern zu überlassen.
»Ihr meint vermutlich den roten Dolch, den Lemar le Hay in seinen Aufzeichnungen erwähnt?«, sagte Sabin. »Nein. Tanijen besaß nur ein gewöhnliches Messer.«
»War er ein Magier?« Die Stimme der Gesandten wurde schärfer.
»Er war Taucher und Navigator«, erwiderte Sabin mit so fester Stimme, dass Amber sie unwillkürlich dafür bewunderte. »Warum wollt ihr das wissen? Was hat es mit dem Dolch auf sich?«
Die Gesandten tauschten einen raschen Blick.
»Es ist Diebesgut«, sagte die junge Gesandte. »Der Dolch gehörte zu König Berens Thronschatz – doch er wurde gestohlen, vor langer Zeit.«
»Und er war wertvoll, weil man damit magische Fesseln durchschneiden konnte?«, fragte Inu leise.
Die Gesandte kniff die Augen zusammen. »Es ranken sich viele Legenden um König Beren«, lenkte sie dann betont gleichgültig ein. »Nicht alle sind wahr, doch der Dolch gehört zum Erbe der Feuerinseln. Wie auch immer, sollte er auf der Insel sein, werden wir ihn finden.«
Mit diesen Worten stand sie auf und strich sich das gelbe Gewand glatt. Stühlerücken setzte ein, als die anderen es ihr nachtaten, um sich mit einer Verbeugung von den Feuerländern zu verabschieden. Inus Griff lockerte sich um Ambers Hand und sie lächelten sich zu.
»Jetzt bist du an der Reihe«, flüsterte er.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Räte und Morus wieder Platz genommen hatten, bis die Bücher und Notizen von den Tischen geräumt worden waren und Stille eingekehrt war.
Morus sah sie lange an. Das Gewicht der ganzen Stadt lastete auf seinen Schultern.
»Steh auf, Landmädchen.«
Amber gehorchte. Ihre Wunde pochte, ihr war schwindlig vor Aufregung.
»Du heißt?«
»Amber.«
»Und wie weiter?«
»Ich komme aus den Bergen und habe keinen zweiten Namen.«
»Warum willst du in Dantar leben?«
»Weil ich der Stadt einen Dienst erwiesen habe und denke, ich habe mir das Bürgerrecht verdient. Ich möchte hier arbeiten.«
»Wenn wir uns dafür entscheiden würden, dir ein Aufenthaltsrecht zu geben, wer bürgt für dich?«
»Ich«, sagten Inu und Sabin wie aus einem Mund und standen auf.
Amber musste ein Lächeln unterdrücken. Die Räte raunten sich etwas zu.
»Zwei Bürgen also«, knurrte Morus schließlich. »Eine Taucherin und ein Seiler, angesehene Leute, Dantarianer seit frühester Generation. Umso deutlicher muss ich darauf hinweisen, was ihr auf euch nehmt. Ihr wisst, was es heißt, Bürgen zu sein? Wenn Amber in Dantar ein Verbrechen begeht, verurteilt wird und flieht, werdet ihr an ihrer Stelle bestraft.«
»Darüber sind wir uns im Klaren«, sagte Sabin.
»Was wisst ihr über sie? Wie hat sie vorher gelebt? Warum verlässt sie das Land? Wurde sie verbannt oder ist sie eine entflohene Sklavin? Was, wenn sie eine Mörderin ist und sich in Dantar vor ihren Häschern verbergen will? Wenn morgen jemand an eure Tür klopft und ihr Leben fordert, dann kann Dantar euch nicht mehr schützen und liefert euch aus.«
Amber schluckte. Langsam verstand sie, warum es so schwer war, einen Bürgen zu finden. Gleichzeitig fühlte sie sich mehr denn je als Teil dieser Stadt. Sie war nicht mehr allein, sondern Teil des Netzes. Sie würde gehalten werden – aber auch die Lasten tragen müssen.
»Wir wissen alles über ihr Leben in den Bergen, was wir wissen müssen«, sagte Sabin. »Sie ist ehrlich. Und sie klettert gut.«
»Wenn jemals ein Häscher an die Tür klopft, wird er sich Ambers Leben von uns holen müssen«, sagte Inu freundlich. »Und wir werden es ihm sehr teuer verkaufen.«
»Hat sie denn Geld?«, warf eine Fischerin aus dem Rat streng ein. »Wovon wird sie leben? Wir haben schon genug Gesindel auf dem Schiffsfriedhof!«
»Sie wird ausreichend Geld für eine eigene Bleibe haben«, meldete sich plötzlich Sumal Baji zu Wort. »Sabins Gruppe wird ihre Belohnung für das Auffinden der Jontar bekommen.«
Morus stand auf. »Also schön«, meinte er. »Du wirst vorerst bis zum nächsten Sommer eine Genehmigung erhalten, als Gast in unserer Stadt zu sein. Wenn du dich bis dahin bewährst und Arbeit findest, wirst du deinen zweiten Namen bekommen und Bürger unserer Stadt sein.«
Inu stieß Amber verstohlen in die Seite und sie begriff, dass sie an der Reihe war zu antworten.
»Danke«, war alles, was sie herausbrachte, während die Räte und Morus sich schon von ihr abwandten und dem Ausgang zustrebten. Es gab offenbar Wichtigeres zu tun in der Stadt.
Sabin zog sie an sich und umarmte sie, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass ihre Schulter noch schmerzte. Inu nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Dann blickten sie alle zu Tanijens Platz. Amber sah, wie Sabin schluckte. Nichts war vorbei, die Wunden bluteten noch. Sie dachte an Tanijens Augen, sein Lachen und seine Stimme und wurde traurig. Sie gehörte zu Dantar, ja, doch war das der Preis? Inus Hand glitt zu der Ledertasche mit Tanijens Aufzeichnungen, die er dem Rat und Morus nicht vorgelegt hatte.
»Es ist Zeit«, sagte er heiser. »Ich bringe die Notizen zu den Navigatoren. Ich bin gespannt, was sie mir über seine Ausbildung zum Navigator erzählen werden.«
»Ich komme mit«, sagte Amber. Doch Sabin schüttelte den Kopf und überraschte sie wieder einmal.
»Du begleitest mich, Amber. Ich brauche deine Hilfe.«