Tanijen hatte Fieber bekommen. Es kostete ihn so viel Kraft, dass er kaum sein Zimmer verließ. Jetzt, nach zwei Tagen der Schwäche, wirkte er auf Sabin, als würde ein Feuer in seinem Inneren lodern, das ihn verbrannte. Die Schlaflosigkeit machte ihn gereizt und schweigsam, doch er bestand darauf, weiter nach Anhaltspunkten über die Insel zu suchen, während Inu und Amber sich um das Boot kümmerten und Sabin das Meer erforschte, um die beste Route zu finden, den Sog zu umgehen. Sabin ließ ihn in Ruhe, auch wenn die Sorge um ihn sie kaum schlafen ließ und der Verlust an Vertrautheit schmerzte. Alles war anders geworden. Die Vögel saßen reglos im Hof. Nur ihr träges Blinzeln verriet, dass sie noch lebendig waren. Inu wirkte oft abwesend und schrak zusammen, als hätte er etwas gehört. Amber war davon überzeugt, Gespensterschritte auf den Fluren zu hören. Und Sabin träumte von Satu, als wäre er noch lebendig. Sie konnte sogar seine Gegenwart spüren, bevor sie die Augen aufschlug. Einzig Tanijen beharrte darauf, die Veränderung nicht zu bemerken. Und seltsamerweise machte es ihm nichts aus, in der Wasserburg zu bleiben, während die anderen zum Strand gingen.
Doch Sabins Zufluchtsort war nach wie vor das Meer.
Direkt unter ihr huschten zwei Kupferhaie über den Sandboden. Sie erinnerten an lebendig gewordene, glänzende Metallskulpturen. Sabin hätte sie leicht harpunieren können, aber die Haie hatten sich so an ihre Gegenwart gewöhnt, dass ihre Wachsamkeit nachließ. Und Sabin wäre es heimtückisch erschienen, sie hinterrücks zu erlegen. Außerdem hatte sie einen ganzen Netzbeutel voller Blaukrabben, das würde für zwei Mahlzeiten reichen.
Die Strömung trieb sie im Halbkreis um das Bootsheck über den Abgrund, sie schwamm nach oben, berührte die Timadar und tauchte auf. Es dauerte einige Augenblicke, bis das Wasser von der Brille abfloss und ihr ein klares Bild der oberen Welt zeigte. Vor ihr baumelte die Strickleiter und über ihrem Kopf war ein Streitgespräch in vollem Gang. Sabin kletterte hoch. Die Schwere kehrte in ihre Glieder zurück und mit ihr der Gedanke an Tanijens Fieber und an den Schiffsfriedhof.
Amber hatte mithilfe von Keilhölzern den Mast befestigt. Allerdings war es ein dünner, reichlich krummer Mast, denn die einzigen brauchbaren Bäume, die das Landmädchen gefunden hatte, sahen aus, als wollten sie auf dem Bauch dem Wind davonkriechen. Bei ihrem Anblick wurde der Gedanke an Dantar wieder zur Last. Warum ein Landmädchen?, dachte Sabin missmutig. Von allen Menschen dieser Welt muss es ein Strohhut sein, mit dem wir stranden! Amber erinnerte sie an das Elend: An Satu, an Dantar… und den Schiffsfriedhof. Amber erinnerte sie mit aller Gewalt daran, warum sie zurückmusste, obwohl sie lieber an jeden anderen Ort der Welt gegangen wäre.
Inu stand mit dem Rücken zur Reling und gestikulierte wild. So aufgebracht kannte Sabin ihn nur, wenn ein Seil beschädigt wurde.
»Ich bin eben Seiler«, rief er gerade. »Deshalb!«
»Und ich bin Ziegenhirtin und Holzfällerin«, gab Amber ungerührt zurück. »Na und?«
Amber und Inu stritten also wie immer. In dem zerbrechlichen Alltag, der sich in den letzten Tagen eingestellt hatte, erschien es Sabin wie ein bitteres Echo ihrer eigenen Geschichte – damals, als das Leben noch einfacher gewesen war. Als sie und Tanijen noch tauchten und Satu derjenige war, der mit Inu nie einer Meinung war. Und für einige ärgerliche Momente kam es ihr so vor, als hätte sich Amber sogar in ihre Erinnerungen gedrängt und würde Satu seinen Platz darin wegnehmen.
»Was es heißt, Ziegen zu hüten, weiß ich nicht«, sagte Inu missmutig. »Aber wir Seiler durchschlagen keine Knoten, wir entwirren sie. Es gibt Regeln! Wir schneiden niemals ein Seil ab – niemals! –, wenn wir stattdessen den Knoten lösen können.«
»Wozu soll das gut sein?«, beharrte Amber. »Es kostet uns nur Zeit und ich will hier so schnell wie möglich weg! Du kannst doch ein neues knüpfen, wenn wir wieder in Dantar sind.«
Inu war rot vor Wut. »Ein neues knüpfen? So einfach machst du es dir? Es ist doch alles verbunden – zieh an einem dünnen Seil und dann sieh, wie das ganze Netz in Bewegung gerät. Wenn du so nicht leben kannst, bist du kein guter Seiler. Seile bedeuten Sicherheit und Rettung.«
»Erstens bin ich kein Seiler«, erwiderte Amber erstaunlich ruhig, »und außerdem binden Seile auch. Fesseln bestehen aus ihnen. Man wäre ein Idiot, sie nicht zu zerschneiden. Dieser Knoten da an der Takelage stört ebenso wie eine Fessel! Ich will den Mast befestigen und weitermachen und das Seil hat sich festgezurrt. Also: ein sauberer Schnitt ist besser.«
»So wie bei dir?« Er deutete auf ihre Schulter, an der die blauen Flecken beinahe verblasst waren. »Durchschlägst du alle Verbindungen, als könntest du jederzeit neue knüpfen? Oder war es jemand anderes, der mit dem Knüppel die Bindung zu dir durchschlagen hat? Wer prügelt dich so grün und blau, dass du seitdem auf der Flucht bist? Warum erzählst du nicht zur Abwechslung einmal etwas über dich, Amber, statt mir vorzuschreiben, wie ich mein Handwerk ausüben soll?«
Sabin sah den weiteren Verlauf des Gesprächs bereits vor sich: Amber würde die Faust ballen und ausholen. Das Landmädchen hatte nicht mehr Beherrschung als ein bluthungriger Klippkrake beim Anblick einer harpunierten Makrele.
Aber Amber biss sich nur auf die Unterlippe. Sie sah aus, als hätte sie eben eine Ohrfeige bekommen. Beinahe tat sie Sabin leid. Beinahe.
»Das geht dich verdammt noch mal gar nichts an«, zischte Amber und wandte sich wieder dem Mast zu.
»Was ist eigentlich los mit dir? Wir schlafen alle schlecht, doch das ist kein Grund, mir wegen eines lächerlichen Seils gleich ins Gesicht zu springen. Aber wenn du meinst, wir haben genug Zeit, ständig alte Knoten zu entwirren, bitte!« Und noch unfreundlicher fügte sie hinzu: »Manchmal könnte man meinen, du willst hier gar nicht weg.«
In Augenblicken wie diesen war Sabin beinahe versucht, das Landmädchen zu mögen. Dafür, dass sie alles daransetzte, die Insel so schnell wie möglich zu verlassen. Und auch dafür, dass sie so stark sein wollte und doch so empfindlich war wie ein Seidenfisch. Doch zum Glück siegte immer wieder die Vernunft.
Inus Augen verengten sich vor Wut. Seine Hand glitt zu seinem Tuch über dem Gürtel. Etwas Kantiges zeichnete sich dort ab, vielleicht ein kleines Messer zum Offnen von Muscheln. Für einen Augenblick erschrak Sabin, so fremd kam er ihr vor. Sie kannte ihn wütend, aber dieser stille, lauernde Zorn war ihr neu und irritierte sie. Inu lauschte auf etwas, doch Sabin hörte nur das Rauschen der Wellen. Werden wir langsam alle verrückt?, schoss es ihr durch den Kopf.
»Wie weit seid ihr?«, fragte sie laut und wuchtete das Netz mit den Krabben auf das Deck. Inu zuckte überrascht zusammen und legte die Hand auf das Tuch, als wollte er das Muschelmesser vor ihrem Blick schützen, obwohl sie es ohnehin nicht sehen konnte.
»Wir brechen übermorgen auf«, sagte Amber trotzig an den Mast gewandt. »Und wenn ich die Seile heimlich durchnagen muss.«
Übermorgen! Sabin atmete auf. Beim Gedanken daran, die Insel endlich hinter sich zu lassen, wurde ihr warm.
»Das Leck ist abgedichtet«, fuhr Amber fort. »Sobald wir das restliche Wasser aus dem Rumpf geschöpft haben, könnten wir das Schiff sogar schon ins Meer ziehen. Und wie sieht es mit den Strömungen aus?«
Schon wieder dieser herrische Unterton in ihrer Stimme! Sabin trat an die Reling und ließ sich mit der Antwort Zeit. Ein schnelles Glitzern unter der Wasseroberfläche zeigte ihr, wo der Schwarm dieser schnellen Fische mit den Flossenflügeln schwamm. Wellen klatschten gegen den Rumpf.
»Wenn wir Glück haben, bringen wir die Timadar durch die Meerenge zwischen den zwei Felsen dort«, sagte sie schließlich und deutete auf zwei dolchartige Spitzen, die wie Zähne aus dem Wasser ragten. »Der Sog ist nicht gleichmäßig – aber an dieser Stelle ist er nur selten zu spüren. Trotzdem, wir werden Glück brauchen!«
Zufrieden bemerkte sie, dass Amber in ihrer Arbeit innehielt. Kein Zweifel: Dem Landmädchen war das Meer nicht geheuer.
»Sabin! Unter dir!« Inus Stimme, warnend und laut.
Sabin sprang zurück in der Erwartung, eine Dschellar oder einen Dornrachen zu sehen, mindestens aber einen springenden Hai. Doch es war nur ein Naj. Er trieb einige Längen von der hinteren Bordwand entfernt und betrachtete das Schiff mit dem kritischen Gesichtsausdruck, der so typisch für alle Naj war. Sabins Herz machte einen Satz. Endlich! Es gab also doch noch anderes auf der Insel als verhexte Vögel und Gespenster!
Der Naj tauchte so schnell ab, als hätte ein Zauberer ihn weggeschnippt. Sabin kletterte über die Reling und stieß sich mit aller Kraft ab. Wie eine Klinge tauchte sie in das Wasser ein. Luftbläschen wiesen ihr den Weg. Sie sah schimmernde Hautschleier, die sich entfernten. Der Naj schwamm direkt auf die Horizontlinie und die runden Felsen zu, die die Sand tragende Strömung zu pilzförmigen Gebilden geschliffen hatte. Ohne dass Sabin sich anstrengen musste, wurde sie schneller, ganz von selbst zog die Strömung sie hinaus und wurde zu einem Sog, der ihr Haar erfasste und es ihr vor die Augen trieb. Sandwolken wallten Sabin entgegen, eine seltsame milchige Helligkeit, die ihr unter Wasser das Sehen erschwerte. Sie trudelte im Sog, streifte schmerzhaft einen Felsen und tauchte instinktiv tiefer. Eine neue, noch stärkere Strömung zog sie nach unten. Wo kam sie plötzlich her? Gestern war das Wasser an dieser Stelle so ruhig wie ein See gewesen. Sabin hatte nur die Möglichkeit, unter der Strömung hindurchzutauchen, aber dann würde sie den Naj verlieren! Also machte sie sich schmal und ließ sich auf die Strömung ein. Mühelos schoss sie unter Wasser dahin. Für einen Moment schloss sie die Augen und streckte die Hand nach Satu aus.
Eine kalte Wasserwand spülte sie so abrupt nach oben, dass ihre Lungen unter dem Druck schmerzten. Sie konnte nichts tun, außer sich der Welle zu fügen. Felsen tauchten unter ihr auf, der Mast eines versunkenen Schiffes zeigte wie ein mahnender Zeigefinger zur Wasseroberfläche. Doch Sabin folgte der wirbelnden, glänzenden Gestalt des Naj, bis er plötzlich mit einem einzigen Sprung aus dem Wasser verschwand. Sabin stemmte sich gegen das Wasser, ihre Muskeln schmerzten, als sie mit aller Kraft nach oben paddelte. Endlich tauchte sie auf, schnappte nach Luft – und fand das Meerwesen nicht weit entfernt auf einem flachen, schrägen Felsen. Interessiert musterte der Naj sie von oben herab. Seine Kiemenhäutchen pochten, als wäre auch er außer Atem. Die silbrigen Augen glänzten.
»Ich grüße dich in Dantars Namen«, japste Sabin. Die fremden Worte der Najsprache waren ungewohnt. Seit sie ein Kind war, hatte sie, wie alle Taucher, einige Sätze der Najsprache gelernt, doch trotz der vielen Jahre Übung war ihr bewusst, dass sie für das Wasserwesen nur eine Stammlerin war und auch nie mehr als das sein würde. Der Naj öffnete und schloss die schmalen Hände mit den Schwimmhäuten. Angewidert beobachtete er, wie sie sich am Felsen festklammerte. Sie musste ihm vorkommen wie eine lächerlich verletzliche Kreatur, hilflos im Wasser, ebenso hilflos an Land.
»Hier ist nicht Dantar«, bemerkte er. Ein heller Morgennebel umwehte ihn, und Sabin fragte sich für einen Augenblick, ob sie nicht soeben ertrunken war und die lichte Grenze überschritten hatte.
Zu dem Meerwesen auf den Felsen zu klettern wagte sie nicht. Nur schemenhaft erkannte sie die Insel und den Strand. Als der Nebel an einer Stelle verwehte, sah Sabin die Timadar. Dieses törichte Landmädchen stand immer noch an der Reling und starrte mit offenem Mund zu ihnen herüber.
»Nein, aber wir kommen aus Dantar«, wandte sich Sabin wieder an den Naj. »Vor einigen Tagen sind wir hier gestrandet. Hast du… kennst du diese Insel? Wo liegt sie? Hier ist nichts so, wie es sein sollte: Aale schlüpfen aus Bäumen. Die Vögel bringen Wind, doch sie fliegen nur selten, als würden sie auf etwas warten. Auf der Insel müssten Spuren von Menschen sein – zumindest Gräber, aber wir sind allein. Was ist mit den Menschen passiert?«
Der Naj zischte und fächelte sich mit einer nachlässigen Geste Wasser mit seiner Hand zu. Sein schuppiger, mit einer Fleckenzeichnung geschmückter Arm schimmerte im Nebel.
»Warum sollte ich dir auch nur eine Antwort geben?«, fragte er in der rauschenden, singenden Najsprache. »Du wirst bald selbst tot sein. Dann wirst du es wissen.«
Sabin fror plötzlich im Wasser.
»Tot?«, flüsterte sie. »Sie wurden also getötet? Von… wem?«
»Von menschlicher Dummheit«, sagte der Naj und betrachtete seine Finger, bewegte sie und ließ die Schwimmhäute schimmern.
»Waren sie… Magier?«
»Magie nennt ihr das?«, sagte der Naj verächtlich. »Ich nenne es Menschenspiele für Landkriecher wie dich.«
Sabin kniff die Lippen zusammen und verbiss sich eine scharfe Antwort. Einen Naj zu beleidigen war kein guter Gedanke.
»Schön«, meinte sie. »Dann gib mir wenigstens einen Hinweis. Was geht hier vor? Bitte, sag es mir!«
So weit war es mit ihr gekommen – sie bettelte einen Naj an!
»Bist du wirklich so dumm oder tust du nur so?«, sagte der Naj und gab ein schnalzendes, glucksendes Geräusch von sich. In der Najsprache war das ein Lachen. Vermutlich ein herablassendes. »Es gibt einen Grund, warum ihr Menschen nie die Hüter von unsterblichen Dingen sein solltet. Euer Gedächtnis ist zu kurz, eure Gier maßlos. Ihr sterbt und lasst uns mit dem zurück, was ihr angerichtet habt. Stein passt nicht auf Muschel – und Feder nicht auf Tropfen.«
»Was?«, rief Sabin verzweifelt. »Was bedeu…«
Er schnellte so plötzlich nach vorne, dass Sabin nicht einmal ihre Harpune hochreißen konnte. Was ohnehin nicht viel genützt hätte. Muränenstarke Arme ergriffen sie und zogen sie so schnell in die Tiefe, dass der Druck in ihren Ohren schmerzhaft anschwoll.
Insgeheim verfluchte sie ihren Leichtsinn. Wie dumm war sie, einen Naj zu belästigen? Diese Insel hatte ihr jeglichen Verstand geraubt!
Schleier aus Häuten umwallten sie. Luftblasen sprudelten daraus hervor und glitten über ihre Haut. Blitzartig berechnete sie die Zeit, die ihr noch blieb, bevor ihr die Luft ausgehen würde. Jetzt verlor die Vernunft und Sabin stemmte sich mit aller Kraft gegen den Griff des Naj. Mit all den Hautschleiern, die ihn umwallten, war er viel größer als sie. Zum ersten Mal hatte sie im Wasser mehr Angst als an Land. Was hatte er vor?
Der Widerstand wich so plötzlich, dass sie durch das Wasser trudelte. Der Naj hatte sie von sich gestoßen. Anmutig bewegte er sich in seinem eigentlichen Element. Auge in Auge trieben sie im Wasser einander genau gegenüber. Der Sog einer leichten Strömung hielt Sabin in der Schwebe. Eine Weile sahen sie sich nur an. Nach und nach beruhigte sich ihr Herzschlag. Er wollte sie nicht töten, zumindest nicht jetzt. Stattdessen betrachtete er sie ebenso interessiert wie sie ihn. Sabin konnte gar nicht anders, als fasziniert zu sein. Nicht viele Taucher kamen in ihrem Leben dazu, einem Naj unter Wasser so nahe zu kommen. Er wirkte majestätisch, die Hautschleier umgaben ihn wie ein prächtiger Mantel. Unter Wasser war sogar das fremdartige Gesicht mit den silbrigen Augen von eigentümlicher Schönheit. Sie entdeckte eine Zeichnung auf seiner Stirn, die wie ein Perlenband wirkte, und staunte. War ihr eine solche Zeichnung bei den Naj vor Dantar bisher nur noch nie aufgefallen? Oder unterschieden sich Naj in ihrem Aussehen vielleicht doch voneinander wie Menschen? Aber nein, sie hatte gelernt, dass sie wie Fische waren – identisch und ohne eigene Züge. Während sie ihn fasziniert musterte, geschah etwas Seltsames: Die Angst wich endgültig einem anderen Gefühl, dem kurzen Aufblitzen des Glücks, zu schweben. Und einen weiteren Moment lang wünschte sie sich so brennend wie nie zuvor, ein Naj zu sein, ein Geschöpf der Ewigkeit, das keinen Schmerz und keine Trauer empfand.
Zu ihrer Überraschung legte der Naj den Kopf schief, als hätte er ihre Gedanken gehört, und betrachtete sie aufmerksam. Er sagte einen Satz, den sie unter Wasser nicht verstand, und versetzte ihr einen überraschend sanften Stoß. Sabin trudelte um ihre eigene Achse. Und befand sich mit einem Mal mitten in einer Wolke aus blitzenden Körpern. Schuppen glitten an ihrem Bein entlang. Sie bewegte die Arme und der Fischschwarm – diese schnellen Fische mit den flügelartigen Flossen –, löste sich auf. Die Fische stoben in alle Richtungen davon, formierten sich wieder zu einem silberblitzendem Strom und verschwanden in der nachtdunklen Tiefe unter ihr. Ein Wasserwirbel ergriff sie wie eine gewaltige Wasserhand und drehte sie um ihre eigene Achse.
Was wollte der Naj ihr damit zeigen? Das Blut begann in ihren Schläfen zu pochen, sie musste auftauchen! Mit zwei kräftigen Beinschlägen hatte sie sich aus der Strömung befreit und blickte dem Schwarm nach. Unbewusst streckte sie nach alter Gewohnheit die Hand aus.
Und Satu ergriff sie.
Für einen Augenblick wollte sie es glauben – die flüchtige Berührung ihrer Hände, das Zeichen zum Auftauchen. Ihre Sehnsucht spielte ihr wieder einen Streich. Doch die Berührung verschwand nicht. Sabin fuhr herum und blickte in das Gesicht ihres Bruders. Einen Augenblick setzte ihr Herzschlag aus.
Satus langes, helles Haar, das dem ihren so ähnlich war, umschwebte sein Gesicht. Er lächelte. Sabins Augen brannten, ihre Brille beschlug von innen und hüllte Satus Bild in einen Nebel. Mit aller Kraft klammerte sie sich an seine Hand. Die Luft wurde knapp, aber sie dachte gar nicht daran aufzutauchen. Sie blinzelte und… sah den Naj, bedrohlich nahe. Mit einem Schrei, der sie in einen Mantel aus Luftbläschen hüllte, prallte sie zurück. Wie auf einen unsichtbaren Befehl schossen plötzlich die Fische aus der Tiefe empor und an ihr vorbei, wirbelten um sie herum und nahmen ihr die Sicht. Sabin stieß mit der Harpune in den Schwarm und die Fische gaben ihr wieder die Sicht frei. Ein Sog ergriff sie und ließ ihr keine Möglichkeit zu reagieren. Als sie wieder wusste, wo oben und unten war, war der Schwarm verschwunden. Und auch der Naj war nirgends zu sehen.
Sabin nahm ihre Kräfte zusammen und schwamm. Das Blut dröhnte in ihren Ohren, die Brust schmerzte. Der Sog wollte sie ins Meer zurückziehen, aber sie tauchte unter der Strömung hindurch, die Beine unbehaglich kribbelnd in der Erwartung, dass der Naj zurückkehrte und sie doch ertränkte. Mit einem gurgelnden Schrei tauchte sie auf und schnappte nach Luft.
Sie warf sich in die Fluten und schwamm.
Der Sog war verschwunden, stattdessen schien das Meer sie nun vor sich her zu tragen. Inu und die Bergländerin standen am Strand neben der Timadar und starrten ihr entgegen. Sie schlug sich ein Knie an einem Felsen blutig, stolperte weiter, rannte an Land und warf die Harpune in den Sand. Sie ließ sich auf den Knien nieder und atmete, atmete einfach, während ihre Zähne immer noch vor Entsetzen klapperten.
Dann war Inu bei ihr und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Was ist passiert?«, fragte er sanft.
»Satu«, flüsterte sie. »Ich habe Satu gesehen. Satu… er war da draußen!«
Inu runzelte besorgt die Stirn. »Satu ist tot«, sagte er leise.
»Ach wirklich?«, schrie sie. »Ich habe seinen Leichnam nie gesehen, du etwa?«
»Weil er in den Bergen begraben wurde, Sabin. Aber er ist tot. Du weißt es.«
Sabin presste die Lippen zusammen und riss sich die Maske von den Augen. Ein leichter Wind kühlte die Tränen auf ihren Wangen. Am liebsten hätte sie selbst geglaubt, was sie eben im Wasser gesehen hatte. Doch Inus mitleidige Miene holte sie endgültig in die Wirklichkeit zurück.
Das Landmädchen stand einige Schritte von ihnen entfernt und betrachtete die Szene mit blassem Gesicht. Heute konnte Sabin ihren Anblick weniger denn je ertragen. »Was starrst du mich so an, Landkröte?«
Amber schluckte, doch sie antwortete nicht. Verlegen blickte sie weg, als Sabin sich die Tränen vom Gesicht wischte.
Sabins Blick fiel auf die Harpune. An der Spitze zuckte einer der fremdartigen Fische, die sich gerne im Sog mitziehen ließen und die sie noch nie hatte erbeuten können. Schlaff hingen die Flossen nach unten. Sie griff nach der Harpune und riss den Fisch von der Spitze. Fischblut tropfte von ihrer Hand. An der Stichstelle standen die Schuppen in einem seltsamen Winkel vom Körper ab.
»Gib mir dein Muschelmesser, Inu!«
Der Seiler zuckte zusammen. »Welches Messer?«
»Na das unter deinem Tuch!«
»Hier!« Amber sprang herbei und reichte ihr ein Messer mit einem Griff aus Martiszahn und gerader Klinge. Sabin nahm es nach kurzem Zögern an sich, schnitt unter die Schuppen und hob sie mit der Messerspitze leicht an. Amber und Inu beugten sich vor.
»Das gibt es nicht!«, flüsterte Amber.
»Aale, die aus Bäumen schlüpfen, gibt es auch«, erwiderte Sabin heiser. »Und Vögel, die den Sturm rufen!« Plötzlich wusste sie, was der Naj gemeint hatte. Federn und Tropfen. Luft und Wasser – Wind und Strömung. Es war ein und dasselbe. Mit klopfendem Herzen strich sie über das, was Schuppen waren – doch darunter warteten wie bei einem jungen Vogel bereits die Federn darauf, hervorzubrechen und die Flossen in Flügel zu verwandeln.
*
Tanijen suchte verzweifelt. Er hatte sogar Matratzen zerstochen und Balken, die hohl klangen, mit der Axt zertrümmert. Aber nichts fand sich. In dem Zimmer, das er verschloss, bevor die anderen zurückkamen, lagen die Spiegelscherben säuberlich aufgereiht. Ein Mosaik aus der Vergangenheit und Tanijen hatte längst noch nicht alle Stücke gefunden. Die Magie flirrte über ihnen, und Tanijen wurde nicht müde, sich die Szenen anzusehen, die sich immer wieder darin wiederholten. Inzwischen konnte er die Magier unterscheiden: Lemar le Hay, ein junger, dünner Mann mit dunklen Augen, in denen der Ehrgeiz brannte. Er hatte das kupferblonde Haar der Menschen vom roten Kontinent. Und auch seine Tracht – enge Hosen aus einem seidenartigen Stoff und ein gelber, schmal geschnittener Überwurf – deutete darauf hin.
Eine junge, rothaarige Magierin – das musste Loin sein. Sie trug eine ähnliche Tracht wie Lemar, möglicherweise stammte sie von den Feuerinseln. Und zwei andere Männer, groß und breitschultrig, gezeichnet von einem vergangenen Schmerz, mit diesen dunkelblauen Augen, die nur die Inselbewohner aus dem Meerland hatten. Der Größere von ihnen hatte eine waagrechte Narbe am Hals, die sich unter seinem Ohr entlangzog. Sie trugen ganz gewöhnliches Tuch, doch die Abzeichen auf ihren Handrücken – gekreuzte Walfluken und ein Stern – wiesen sie als Magier aus Dantar aus. Solche Abzeichen hatte Tanijen nur auf Bildern gesehen, die letzten Insignien auf Buchrücken und Flaggen waren schon vor mehr als zwanzig Sommern auf dem großen Platz vor dem Haus des Fischerkönigs auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Zwei Magier aus der Zeit vor den Stürmen also. Hatten sie zu den Verschwörern gehört? Waren sie vor der Hinrichtung geflohen? Stammte die Narbe am Hals von einem Strick? Und wie passten Loin und Lemar ins Bild?
Immerhin war es Tanijen gelungen, sich eine Reihenfolge der Spiegelszenen zu erschließen. Sie spielten sich alle innerhalb weniger Tage ab. Die vier Magier hatten alles so gut geplant – Lemars Skizzen zeugten davon. Doch dann war etwas schiefgelaufen. Sie waren angegriffen worden. Das Echo – der Tote im Keller – wiederholte immer wieder die Streitworte.
Am Tag vor seinem Tod hatte Lemar in fahrigen Sätzen auf einen Zettel geschrieben, dass er den anderen nicht mehr trauen könne. Und wie recht er damit gehabt hatte!
Ein bewegtes Bild auf einer schmalen Scherbe zeigte Loin, die ein Schwert hochriss. Am Rand des Bildes der Schatten einer Klaue. Sie waren belagert worden. Und auch innerhalb der Wasserburg hatte es Kämpfe gegeben.
Was hatten die Magier mit Lemar gemacht? Und die wichtigste Frage: Wo war Lemars Dolch?
Ein Rumpeln von unten. Tanijen riss beim Aufspringen einen Stapel Bücher um. Sein Herz raste. Der Tote? Hatte er sich wieder befreit? Tanijen nahm seine Kraft zusammen und rieb seine Hände aneinander. So gut er es noch vermochte, rief er die Magie, doch je schwächer er selbst wurde, desto länger brauchte er, um sie herbeizuzwingen. Erst nach einer erschreckend langen Weile spürte er das Fließende, Weiche zwischen den Handflächen. Nun fühlte er den Toten als seltsam kühle Gegenwart, ein wirbelnder Kreis fremder Gedankenechos. Und Tanijen erkannte, dass er immer noch reglos dasaß, gefesselt, kraftlos, ohne Wut.
Erleichtert atmete Tanijen auf und sackte auf den Knien zusammen. Seine Augen brannten von den schlaflosen Nächten. Das Fieber zehrte ihn aus. Von Tag zu Tag erschöpfte ihn der Umgang mit der Magie mehr. Er fühlte sich wie jemand, der bisher ein großes Schiff nur aus der Ferne bewundert hatte und nun plötzlich im Sturm auf dem Deck stand und ganz allein dafür verantwortlich war, dass es nicht sank. Jede Stunde stieß er an seine Grenzen und fluchte, wenn er nicht weiterkam. Ihm war eine Last aufgebürdet, die er selbst ausgeruht nur unter größter Anstrengung in der Balance zu halten vermochte. Doch aufgeben konnte er nicht – jetzt nicht mehr. Wenn es stimmte, was Lemar in seinem Buch notiert hatte, dann würde Tanijen nie wieder eine solche Chance haben wie jetzt.
Er schloss die Augen und sah Bilder aufblitzen: Dantar würde wieder reich werden – ein sicherer Handelshafen, es würde Arbeit für alle geben und Häuser, die nicht unter Sturmfluten brachen. Und die Galgen – die Galgen würden endlich verschwinden. Er würde sich nicht zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft entscheiden müssen. Doch bis dahin musste er durchhalten und auf der Hut sein. Denn Inu beobachtete ihn. Er musste…
Das Rumpeln verwandelte sich in das verabredete Klopfzeichen. Sabin! Tanijens Magie entfloh wieder und ließ ihn leer und müde zurück. Stattdessen sprang ihn die Angst wieder an. Was, wenn er versagte? Am liebsten wäre er die Treppe hinuntergestürzt, hätte Sabin umarmt, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben und ihr alles erzählt. Die Last seiner Lügen wog mindestens ebenso schwer wie die Aufgabe, die er sich aufgeladen hatte.
Er sprang über die Spiegelscherben hinweg und stolperte zur Tür hinaus. Die andere, fremde Magie erwartete ihn, ein gefühltes Schimmern in der Luft, tausendmal stärker als seine eigene, ungeordnete Kraft. Die Magie der Burg war feinmaschig gewoben und so fest und klar wie ein Netz aus Seidenfäden. Schmerzlich erinnerte es ihn daran, was er noch nicht war.
Kurz darauf löste Tanijen mit zitternden Händen den Sicherungsknoten an der Saaltür. Im nächsten Augenblick hielt er eine nasse Sabin in den Armen.
»Wir sind in Gefahr!«, rief sie. »Es sind die Fische!«
Tanijen hörte die Worte, aber er nahm sie kaum wahr. Die seltsame Kraftlosigkeit übermannte ihn endgültig, schwer stützte er sich auf Sabins Schulter. Er wünschte sich nichts so sehr, als einfach die Augen zu schließen und sich auszuruhen. Doch dann drängten auch schon Inu und Amber in die Halle. Das Mädchen aus den Bergen war blass und erschien ihm heute mehr denn je wie eine Kriegerin. Ihre Augen funkelten, als sie mit einem entschiedenen Schlag die Tür ins Schloss warf. In diesem Augenblick beneidete er sie unendlich um ihre Kraft.
»Ich habe einen Schwarm gesehen«, sprach Sabin weiter. »Er erzeugt Strömungen und Wasserwirbel wie die Vögel Wind. Deshalb stranden die Schiffe! Und die Fische verwandeln sich – sie bekommen Flügel! Der Naj sagt…«
»Vorsicht, er fällt!«
Die Gesichter verschwammen vor Tanijens Augen, er spürte noch, wie Sabin und Inu ihn auffingen, dann war für einen Augenblick alles dunkel.
»Tanijen!« Inu klang so besorgt, dass es Tanijen die Kehle zuschnürte. Gerne hätte er sich entschuldigt, für den Streit, für jedes harte Wort, das er zu seinem Freund gesagt hatte. Aber es kostete ihn viel zu viel Kraft, die Magie nicht endgültig entkommen zu lassen. Wenn er sie jetzt losließ, würde er sie verlieren wie den Zipfel eines Tuchs, das der Wind davontragen wollte. Mühsam blinzelte er und blickte auf ein gespenstisches Doppelbild.
Lemar beugte sich über ihn. Durch seine halb durchsichtigen Züge schimmerte Inus besorgtes Gesicht. »Hörst du mich?«
Gleichzeitig mit Inus Worten hörte er auch jene von Lemar: »Ich muss es tun, Loin. Es ist unsere letzte Möglichkeit. Sie werden uns ohnehin töten. Lass uns wenigstens verhindern, dass Dantar untergeht.«
Sabins Gesicht verschmolz mit der Gestalt der rothaarigen Magierin zu einer beängstigenden Doppelgestalt.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Loin. »Nimm den Dolch und geh!«
»Tanijen!«, flüsterte Sabin gleichzeitig und strich ihm mit der Hand über die heiße Stirn. Und zu Lemar gewandt fügte sie hinzu: »Sein Fieber ist schlimmer geworden.«
Nur Amber war noch Amber. Sie beugte sich zu ihm, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »He, Tanijen! Bist du noch da? Sag was!«
Die Bewegung fegte die Traumgestalten weg, als hätte jemand sie weggepustet.
»Alles in Ordnung«, stammelte er.
»Das glaube ich nicht, mein Freund«, zischte ihm Inu zu und ergriff ihn kurzerhand um die Taille. Tanijen ließ sich von ihm hochziehen und kam schwankend auf die Beine, krampfhaft darum bemüht, die Magie festzuhalten wie ein bockendes Pferd. Inu schleppte ihn zum Tisch und den Stühlen. Tanijen warf einen Blick zur Seite und betrachtete Inus Profil. Lange waren sie sich nicht mehr so nahe gewesen. Ihre Blicke begegneten sich und für einen irrwitzigen Augenblick hoffte er auf ein Lächeln, ein Zeichen, dass er wie früher sein konnte, dass nichts zwischen ihnen stand. Die Sehnsucht wurde so schlimm, dass er die Worte kaum herausbrachte. »Es tut mir leid, Inu«, sagte er heiser. »Ich war eingebildet und habe Seile durchschlagen, die mich hielten. Du hattest recht.«
Das war die erste Wahrheit, die er seit Tagen gesagt hatte. Er hätte alles dafür gegeben, jetzt auch die andere Wahrheit aussprechen zu dürfen, die ganze Wahrheit über Dantar, über den Kodex, über Lemar und die anderen. Aber es war zu früh. Und es hieße, Inu und Sabin zu verlieren – für immer.
»Schön, dass du das erkannt hast«, sagte Inu trocken und lud ihn auf dem Stuhl ab.
»Unterhaltet euch später«, meinte Amber ungeduldig. Sie wickelte einen aufgeschlitzten Fisch aus einem Farnblatt und warf ihn auf den Tisch. »Sieh dir das an!«
Sie redete auf Tanijen ein, erklärte ihm alles, was er aus Lemars Skizzen schon längst herausgelesen hatte.
»Die Fische erzeugen also die Strömungen und den Sog. Und dann verlassen sie irgendwann das Meer und werden zu den Vögeln, die den Wind rufen können?«, sagte er müde. »Die doppelte Natur der Wesen. Das ist… unglaublich.«
Jetzt sah auch Sabin aus, als würde sie ihm am liebsten eine Ohrfeige geben, um ihn aus seiner Apathie zu reißen. Inu und sie wechselten einen besorgten Blick, ein stummes Zwiegespräch, dessen Vertrautheit ihn ärgerte, dann richtete Sabin sich auf und atmete tief durch.
»Ich höre auf den Naj. Wir können keinen Tag länger warten. Wir verlassen die Insel. Noch heute. Solange die Vögel nicht aufgeschreckt werden, ist es windstill. Das Leck ist abgedichtet, der Mast muss nur noch besser befestigt werden. Und Werkzeug und Holz nehmen wir mit. Wir haben Fässer, die wir mit Wasser füllen können…«
»Nein!«, rief Tanijen. Beinahe hätte er hinzugefügt: Nein, es ist noch zu früh! Langsam wich die Benommenheit und er konnte wieder klarer denken.
»Warum nicht?«
»Wir… wir wissen immer noch nicht, wo wir sind.« Schon wieder eine Lüge. Er war nicht nur ein mittelmäßiger Taucher und ein stümperhafter Magier, sondern auch ein erbärmlicher Lügner. Umso schlimmer, dass sie ihm glaubten. Zumindest Amber und Sabin. Inu verschränkte dagegen die Arme und starrte ihn mit düsterer Miene an. Selten hatte Tanijen sich so unsicher gefühlt. Dieses stille, lauernde Misstrauen kannte er bei seinem Freund nicht.
»Du wirst es uns auch nicht sagen können und wenn du noch so viele Truhen durchwühlst«, fuhr Sabin ihn an. »Seit Tagen schläfst du kaum und findest doch nichts. Du spürst es vielleicht nicht, aber das hier ist eine Toteninsel. Ich werde vorausschwimmen und nach den Fischen Ausschau halten. Es gibt Stellen, an denen sie sich nicht aufhalten, wir könnten es schaffen, ohne in ihren Sog zu geraten. Und sobald wir auf dem offenen Meer sind, werden wir auch nach Dantar zurückfinden. Wir haben immer zurückgefunden, wo wir auch waren, weißt du nicht mehr?« Die letzten Worte klangen sanft und berührten Tanijen mehr, als er zugeben wollte.
»Zehn Fässer müssten als Trinkwasservorrat genügen«, stellte Amber sehr sachlich fest. »Das Süßwasserrinnsal ist nicht weit vom Strand, die vollen Fässer können wir zum Strand rollen.«
Sabin nickte. Erstaunlich: Noch nie waren sich Sabin und das Landmädchen in einer Sache einig gewesen.
Tanijen leckte sich über die Lippen und überlegte fieberhaft. Er brauchte einen Grund, einen guten Grund, um noch zu bleiben. Er durfte nicht… er musste…
Erst als es still wurde, fiel ihm auf, dass Inu noch nichts dazu gesagt hatte.
»Was meinst du, Inu?«
Der Seiler betrachtete das Mischwesen aus Vogel und Fisch lange, bevor er antwortete.
»Vielleicht sind sie uns gar nicht feindlich gesinnt«, murmelte er. »Möglicherweise wollten sie Sabin im Turmzimmer gar nicht angreifen.«
»Unsinn!«, fuhr Amber ihn an. »Sie hätten mich beinahe vom Dach geworfen, schon vergessen?«
»Warten wir bis morgen.«
»Warum?« Jetzt war es Amber, die schrie.
»Weil wir die Segel noch befestigen müssen und das Boot zu Wasser bringen. Und selbst wenn wir uns beeilen, das Wasser aus dem Rumpf zu schöpfen, kommen wir erst in der Nacht weg«, antwortete Inu ruhig. »Und wenn ihr euch vor den Wesen fürchtet, legt ihr sicher keinen Wert darauf, ihnen zu begegnen, während wir das Schiff beladen. Ganz zu schweigen von den Felsen, die wir bei Nacht nicht sehen.«
Sabin biss sich auf die Unterlippe. Selbst Amber fiel dazu keine Antwort ein. Tanijen atmete auf.
Inu warf ihm einen schnellen Blick zu und lächelte ihn flüchtig an. Welchen Grund auch immer sein Freund dafür haben mochte: Inu hatte ihm Zeit geschenkt.
*
Amber wachte von einer Irritation auf – einem flüchtigen Eindruck, vielleicht ein Duft, vielleicht ein Flüstern. Schauer liefen über ihren Rücken, als würde ihr jemand von hinten in den Kragen atmen. Sie machte die Augen auf. Omins und Sebes Gesichter schwebten vor ihr. Und noch ein drittes Gesicht: eine junge Frau mit rotem Haar.
Lass uns fliehen, sagte sie. Sie werden dich umbringen!
Omin hob einen roten, spitzen Gegenstand.
Ambers Schrei schreckte die Vögel auf, das Flattern drang durch die Fensterritzen. Gleich darauf erhob sich der Wind. Glasflaschen zersplitterten, als sie instinktiv zur Axt griff. Rufe wurden laut. Ein Stoß traf sie von der Seite. Dann wehten die Gespenster weg wie Staub im Wind. Sie fand sich in Inus Umklammerung wieder. Sabin, erschrocken und so blass wie ein Naj, kniete auf ihrem Unterarm und hielt ihre Axthand fest. Es tat höllisch weh.
»Du hast wieder geträumt«, sagte Inu. Ambers Herz schlug so heftig, dass ihre Wangen pochten. Omins Gegenwart war noch da – dicht und beängstigend und bedrohlich wie ein blitzendes Messer.
»Entschuldigt«, flüsterte sie. Durch die Ritzen der Fensterläden drang schwaches Licht.
»Ist es schon Morgen?«
»Allerdings.« Sabin musterte sie mit einer Mischung aus Furcht und Ärger. »Glaubst du, du schaffst es aufzustehen, ohne jemanden umzubringen?«
Amber entspannte ihre Hände und nickte benommen. Langsam fand sie sich wieder zurecht: Sie hatten gestern das Wasser aus dem Schiff geschöpft. Und heute würden sie zurückkehren. Nach Dantar!
»Es tut mir leid«, sagte sie und versuchte sich an einem Lächeln. »Ich… habe schlecht geträumt.«
»Das haben wir alle«, gab Sabin müde zurück. »Du bist nicht die Einzige, die ihren Albträumen begegnet.«
Die Taucherin wandte den Blick ab und Amber hatte wieder einmal das unangenehme Gefühl, dass der Albtraum, den Sabin meinte, verdächtig nach Amber aussah.
»Beladen wir das Schiff!«, sagte Sabin und sprang auf.
*
An diesem Morgen war der Himmel steingrau und lastete schwer über dem Meer. Wolken ballten sich am Horizont und Schlieren in der Ferne zeigten, dass es nicht weit von hier regnete. Amber band sich einen Beutel mit Vorräten auf den Rücken, klemmte sich zwei leere Fässer unter die Arme und ging los. Sabin folgte ihr durch das Tor und hielt mühelos Schritt, den Blick auf das Wasser gerichtet. Inu und Tanijen würden nachkommen, doch in diesem Augenblick war Amber froh darüber, mit der Taucherin allein zu sein. Verstohlen betrachtete sie die Gestalt an ihrer Seite. Die Tunika aus Fischhaut glänzte silbern und blau. Niemand passte weniger in diese Umgebung als Sabin. Auf dem steinigen Weg, vor den Felsen, wirkte sie wie ein Naj, der in die feindlichste Umgebung verbannt worden war. Aber offenbar hatte die Taucherin kein kaltes Najblut in den Adern, denn Amber hatte gestern am Strand den Schmerz in ihren Augen gesehen. Der Anblick einer Sabin, die nicht mehr stark und spöttisch war, hatte sie verunsichert. Wie konnte jemand um einen Bruder so sehr trauern? Auch wenn der Grund ihr befremdlich erschien, das Gefühl kannte sie nur zu gut und hätte Sabin gerne getröstet.
Amber nahm sich ein Herz und sagte die Worte, die sie sich gestern Abend in ihrem Kopf zurechtgelegt hatte:
»Es tut mir leid um deinen Bruder. Ich wusste nicht, dass er in den Bergen begraben wurde. Was ist… mit ihm passiert? Was hat ein Dantarianer in den Bergen zu tun?«
Sabin warf ihr einen Blick zu, der so traurig war, dass es Amber die Kehle zuschnürte. Die Taucherin räusperte sich und schwieg eine Weile, und als sie zu sprechen begann, machte Ambers Herz einen Satz. Sie hatte bereits mit der Ablehnung gerechnet, aber heute überraschte die Dantarianerin sie.
»Hat Inu es dir noch nicht erzählt?«
»Warum sollte er? Ich habe ihn nicht danach gefragt.«
Sabin warf ihr einen verwunderten Blick zu und fuhr dann fort.
»Satu wurde angeworben – im vergangenen Sommer kam eine Gruppe von Bergleuten und heuerte Taucher an. Es war ein gefährlicher Auftrag: in den Seen nach Grall-Kristallen tauchen.«
Amber riss die Augen auf.
»In den Schlundlöchern etwa? In der Gegend des Ziegenkopf-Berges?«
Sabin nickte.
Amber pfiff leise durch die Zähne. Kaum ein Bergbewohner wagte sich in diese Seen. Sie waren tief und tückisch, mit Kammern und Gängen, die noch nie jemand erforscht hatte.
»Er nahm den Auftrag an und ging, obwohl ich nicht damit einverstanden war«, erzählte Sabin leise weiter. »Wir hatten unser zweites Boot beim Sturm verloren und… Satu wollte Geld verdienen, nur einen Sommer lang. Nun, er schickte Geld, der Sommer ging vorüber. Doch Satu kam nicht nach Hause. Stattdessen bekam ich einen Brief, in dem er erzählte, dass er in den Bergen bleiben wolle. Für… immer!« Verständnislos schüttelte Sabin den Kopf, als könnte sie sich nicht vorstellen, dass irgendjemand Dantar freiwillig verließ. Amber bekam zum ersten Mal eine Ahnung, warum Sabin die Leute aus den Bergen nicht mochte. Sie ist immer noch verletzt, dachte sie. Sie hat Satu an die Berge verloren. Und deshalb kann sie mich nicht leiden. In diesem Augenblick hätte sie fast gelächelt. Ob Satu sich so sehr nach den Bergen gesehnt hatte wie sie, Amber, sich nach dem Meer?
»Er tauchte weiter für die Edelsteinsucher«, fuhr Sabin fort. »Und dann… im Winter… erhielt ich einen Brief und ein Bündel. Sie teilten mir mit, dass sie ihn begraben hatten, und schickten mir einige persönliche Dinge zurück. Das…« – sie fuhr mit der Hand über eine der Brillen an ihrem Gürtel – »… ist alles, was mir von meinem Bruder geblieben ist.«
»Er ist also ertrunken«, sagte Amber leise. »Es ist gefährlich genug, im Sommer in den Grall-Seen zu tauchen. Im Winter schwimmen dort nur diejenigen, die sehr kaltblütig oder sehr verzweifelt sind, weil sie Geld brauchen. Manche geraten in die Eiswirbel und erfrieren, bevor sie…«
Abrupt verstummte sie und schalt sich selbst. Verdammt, wie konnte sie so ungeschickt sein?
Sabin warf ihr einen unergründlichen Blick zu.
»Vermutlich brauchte er Geld«, sagte sie trocken und beschleunigte ihren Schritt. Ein feiner Regen hatte eingesetzt und bedeckte ihre Locken mit einem Netz aus winzigen Tropfen.
»Sabin, warte! Entschuldige, ich wollte dich nicht daran erinnern… aber vielleicht war Satu in den Bergen einfach glücklich! Vielleicht wollte er dortbleiben, weil es ihm gefiel.«
»Warum sollte es ihm dort gefallen?«, fragte Sabin verächtlich. Amber schoss das Blut in die Wangen.
»Du kennst das Land nicht, Sabin. Wie kannst du darüber urteilen? Vielleicht träumte Satu von den Bergen, so wie ich von Dantar träumte. Manche Menschen werden in der falschen Stadt geboren oder im falschen Land. Meine Mutter sagte immer, ich hätte welliges Haar, weil ich mir schon vor meiner Geburt das Meer in den Kopf gesetzt habe. Und das stimmt! Ich habe mir immer schon gewünscht die Berge zu verlassen.«
»Herzlichen Glückwunsch. Dann bist du ja jetzt genau dort, wo du hinwolltest«, sagte Sabin ohne jede Ironie. »Mitten im Majumameer. Und? Bist du glücklich oder wünschst du dich zurück in die Berge? Ach nein, von dort bist du ja geflohen.«
»Wer sagt das?«, brauste Amber auf.
»Du selbst«, meinte Sabin trocken. »Dein Schweigen, deine Verletzungen, die Tatsache, dass du sogar deine Träume mit einer Axt in die Flucht schlagen willst – und der Beutel voller Geld an deinem Gürtel. Was hast du getan, Amber? Bist du eine Mörderin? Eine Diebin?«
Amber verlangsamte ihre Schritte. Auf einmal war es, als würde sie über rutschiges Geröll laufen, unsichere Stellen im Gebirge, an denen man jederzeit stolpern und in die Tiefe abgleiten konnte. Das war die erste wirkliche Frage an sie, Amber, die Sabin ihr stellte. Die Taucherin blieb stehen und wandte sich um. Nun standen sie sich gegenüber – Sabin vor dem Meer, Amber mit dem Rücken zur steinigen Insel. Amber sah dieses Bild für einen Augenblick mit den Augen eines Dritten – ein verdrehtes Spiegelbild. Aber wer von ihnen beiden war wirklich? Und wer nur ein verzerrtes, ins Gegenteil verkehrtes Bild?
»Nun?«, fragte Sabin ruhig. Amber begriff, dass sie an eine Weggabelung gekommen war. Ihr ganzer Weg seit der Nacht, in der sie geflohen war, führte zu diesem Punkt: Sie konnte nach rechts gehen und lügen. Oder sie ging nach links. Und stürzte vielleicht in die Tiefe. Und vielleicht auch nicht.
»Das Geld ist tatsächlich gestohlen«, begann sie zögernd. »Wenn du von den Gesetzen ausgehst. Doch mein Gesetz sagt mir, dass es mein Geld ist. Dafür habe ich gekämpft – und dabei fast mein Leben verloren.« Nun schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie drückte die beiden leeren Holzfässchen an sich und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Du trauerst um deinen Bruder«, sagte sie heiser, »weil ihr euch… geliebt und weil ihr zusammengehalten habt. Bei mir… war es nicht so. Ich komme aus dem Süden, du wirst die Gegend nicht kennen. Es sind die schwarzen Panar-Berge. Mein Vater starb durch den Angriff einer Martiskatze, aber meine Mutter hielt das Gehöft. Ich und meine zwei Brüder… Sebe und Omin… teilten uns die Aufgaben. Sie konnten mich nicht leiden, weil ich anders war als sie. Ich träumte vom Meer, sie dagegen wollten mehr Rinder und Ziegen besitzen als die anderen. Wir gingen uns aus dem Weg. Das war einfach, weil ich oft ganze Tage lang mit den Ziegen unterwegs war und jagte, während sie sich um die Felder kümmerten und Felle gerbten. Dann kam das rote Fieber und meine Mutter starb. Mit ihrem Tod begann der Streit.«
»Um das Erbe?«
Amber nickte niedergeschlagen.
»Auch in den Bergen gibt es Regeln und Gesetze«, sagte sie bitter. »Es sind stets die Söhne, die das Haus und das Land erben. Die Töchter erhalten zwanzig Ziegen, etwas Geld und ein Pferd und müssen sehen, dass sie weiterwandern und irgendwo eigenes Land finden. Nun, das war nicht das Unglück. Ich hätte die Ziegen genommen und sie verkauft, denn ich wollte ja unbedingt nach Dantar! Doch Omin verweigerte mir meinen Anteil. Und da beschloss ich…«
»… ihn dir selbst zu holen?«
Amber senkte den Kopf. »Ich nahm meinen Anteil aus der Kammer meiner Mutter. Es war mehr Geld, als mir zustand, aber dafür würde ich schließlich die Ziegen dalassen, die mir als Erbe gehörten. Doch als ich in der Scheune war, um das Pferd zu satteln… da kamen meine Brüder. Sebe hatte einen Dreschflegel in der Hand, Omin einen Knüppel. Und mir wurde bewusst, was sie schon die ganze Zeit geplant hatten. Ich sah es in ihren Augen.«
Der heiße, schwere Druck in ihrem Magen war wieder da. Es fiel ihr nicht leicht, die folgenden Worte auszusprechen. »Sie hatten längst beschlossen, mich umzubringen. Vielleicht hätten sie meinen Leichnam in eine Schlucht geworfen und behauptet, es wäre beim Ziegenhüten passiert. Dann wäre der Streit um das Erbe vorbei. Sie griffen mich an. Aber ich hatte Glück. Sebe stolperte und ich konnte ihn niederschlagen und Omin überwältigen.«
Ich war viel zu. wütend, um kein Glück zu haben, berichtigte sie sich in Gedanken.
Sabins Stimme riss sie aus der Erinnerung.
»Du konntest also fliehen?«
Wenn ich nicht geflohen wäre, hätte ich sie umgebracht, dachte Amber.
»Ich beschloss, dass meine Brüder ihr Erbe nicht wert waren«, sagte sie heiser. »Ich sperrte sie in der Scheune ein und dann… trieb ich alle Ziegen aus dem Stall in die Berge und nahm mir das restliche Geld aus der Kammer meiner Mutter – und auch ihren Schmuck und Omins Ringe. Ich zerstörte die Gerbrahmen und schüttete Asche in das Weinfass. Ich versenkte ihre Stiefel und Kleidertruhen im Weiher vor dem Haus. Und schließlich setzte ich den Ziegenstall in Brand und ging.«
Sabin schwieg, in der Ferne rauschte das Meer. Erst nach einer ganzen Weile wagte Amber, den Blick wieder zu heben.
Sabin sah sie lange an, in den blauen Augen spiegelte sich keine Verachtung, nur Überraschung. Sag was, flehte Amber in Gedanken.
»Den Stall in Brand gesetzt?«, fragte die Taucherin.
Amber räusperte sich und zuckte mit den Schultern.
»Ich war… sehr wütend.«
Die Taucherin drehte sich auf dem Absatz um und lief wieder den Weg entlang. Aber Amber war sich fast sicher, dass sie für einen Augenblick ein Zucken um Sabins Mundwinkel gesehen hatte.
»Ich brauche einen Bürgen!«, rutschte es ihr heraus. Geröll sprang den Weg hinunter wie ein Rudel ungeduldiger Hunde, die dem Wasser entgegenstrebten.
Sabin blieb stehen und drehte sich um. »Ich soll dein Bürge sein? Ist das dein Ernst, Landmädchen? Und was, wenn dir einfällt, ein Lagerhaus niederzureißen, nur weil dich jemand ärgert? Was, wenn…«
»Ach, hör endlich auf damit, Sabin. Du kennst mich inzwischen doch gut genug! Ich will… ich muss in Dantar bleiben! Ich habe schon Inu gefragt, ob er mein Bürge sein will, aber er wollte nicht.«
»Du gibst wohl nie auf, Amber. Du bist schlimmer als ein…«
»Ich weiß, du kannst mich nicht leiden, das habe selbst ich inzwischen begriffen. Aber es ist nur dieser eine Gefallen, mehr will ich gar nicht von dir…«
Amber verstummte und zog die Brauen zusammen. Das, was sie schon seit dem Erwachen irritierte, war wieder da. Jetzt nahm sie es bewusst wahr. Der Geruch nach…
Sabin fuhr herum und erstarrte.
… Rauch! Eine helle Säule schraubte sich hinter den Klippen in den Himmel.
»Nein!«, schrie Sabin. Amber fühlte kaum, wie die Fässer aus ihren Händen glitten und sie zu laufen begann. Der Weg flog unter ihr dahin, Dornen zerkratzten ihre Fesseln. Gemeinsam mit Sabin schlitterte und rannte sie zum Strand.
Der Anblick war so vernichtend und endgültig wie ein Todesurteil in flammender Schrift.
Die Timadar brannte.
Das feuchte Holz zischte und fauchte in der Glut, der Rauch stieg in den Himmel. Flammen züngelten aus dem Schiffsrumpf, die bereitgelegten Segel brannten lichterloh. Ein greller Kontrast zum dunklen, bleischweren Meer. Als hätte das sterbende Schiff nur auf Sabin und Amber gewartet, um sich endgültig zu verabschieden, ächzte es noch einmal, bevor das Deck zusammenbrach. Der Mast kippte und verlosch zischend im Wasser.