Gemeinsam und allein

 

Mithilfe von Ambers Messer hatten sie die Ranken am Tor abgeschnitten, nun waren die beiden Flügel fest verschlossen und mit Inus Seilen gesichert. Jetzt saßen sie zu viert in der Halle in einer Insel von Licht neben dem erloschenen Kamin, den ein Relief mit Vögeln und Fischen schmückte. Noch wagten sie nicht, das Feuer im Kamin zu entfachen, aber Amber hatte Zündblättchen gefunden, mit denen sich wenigstens die Kerzen anzünden ließen. Sie bröckelten mehr, als sie schmolzen, und rochen schwach nach altem Fischtran, aber die Dochte brannten noch. Der Tisch war abgeräumt, die Teller von Staub befreit. Amber hatte die beiden Vögel gerupft und die Fleischstücke über einem Bündel von Kerzen geröstet. Doch das Fleisch schmeckte seltsam wässrig und substanzlos.

Sabin hatte sich einen hellen, verblichenen Samtmantel aus einer der Truhen um die Schultern gelegt. Amber fand, sie wirkte wie die weiße Königin aus den Märchen der Baumfäller.

»Die Ladung der Schiffe, die erst vor Kurzem hier gesunken sind, liegt zum Teil noch verstreut hinter den Klippen«, sagte Sabin. »Würde jemand hier leben, hätte er sie geborgen.«

»Die Bewohner haben die Burg überstürzt verlassen«, murmelte Inu. »Vielleicht sind sie geflohen und davongesegelt. Aber wo sind die ganzen Gestrandeten? Keine Gebeine am Strand, keine Gräber…«

»Vielleicht liegen die Knochen auf dem Grund des Tümpels«, meinte Sabin lakonisch.

Amber schielte zu der Axt mit dem rostigen Blatt, die sie in einer der Truhen gefunden hatte. Sabins Harpune lag ebenfalls in Greifweite, außerdem Stöcke, Schürhaken und ein altes Fischernetz.

»Auf jeden Fall haben Seeleute hier gelebt.« Tanijen deutete auf eine Kiste, deren Schloss er aufgebrochen hatte. »Jede Menge Seekarten und Windströmungstabellen liegen in den Truhen.« Er strich mit dem Finger über einen runden Gegenstand neben der Truhe. Sein Finger schob die dicke Staubschicht vor sich her. Und in dem Streifen, der auf Glas zurückblieb, zitterte eine Nadel. »Ein Kompass. Doch er funktioniert ebenso wenig wie der, den Inu heute Morgen am Strand gefunden hat.«

»Möglicherweise sind die Schiffe nicht gestrandet, sondern ankerten vor der Insel und wurden erst in einem Sturm zerschmettert. Warum sollten die Stürme, die an Dantars Küste toben, nicht auch die Insel heimsuchen?«, schlug Amber vor.

»Unwahrscheinlich«, meinte Sabin kühl. »Die Timadar liegt kaum einen Sommer am Strand, andere Schiffe sind schon so zerfallen, dass man die Namen nicht mehr lesen kann. Und die Namen sind zum Teil so fremd, dass sie auf keinen Fall aus Dantar kommen.«

»Namen?« Tanijen horchte auf. »Was für Namen?«

Sabin hob die Schultern, als würde sie frösteln. »Pallas, zum Beispiel, und Uda. Eine Galeone heißt Mimora und trägt am Bug die Augen der Feuerläufer, also ist es ein Schiff vom roten Kontinent.«

»Pallas«, murmelte Tanijen. »Uda. Mimora.«

Inu ertappte sich dabei, wie seine Hand zu seinem Gürtel glitt und über den Korallensplitter strich. Er verstand sich selbst nicht mehr. Warum versteckte er ihn? Während Tanijen und die anderen die Gegenstände aus den Truhen betrachteten, konnte er nur an den Splitter denken – und an den Tümpel. Im Kopf rechnete er aus, wie viel Faden er wohl für ein Lot benötigen würde. Aus irgendeinem Grund interessierte es ihn, wie tief der schwarze Tümpel im Burghof war.

»Lasst uns sehen, dass wir die Timadar so schnell wie möglich seetüchtig machen«, sagte Sabin. »Es muss Stellen im Wasser geben, an denen es keinen Sog und keine Strömung gibt.«

»Wir haben sechs Äxte«, sagte Amber.

»Und Käfige«, setzte Tanijen hinzu. »Wozu haben sie die ganzen Vögel gefangen?«

»Ich will es gar nicht wissen«, meinte Sabin. »Ich will hier nur weg.«

»Ich auch«, sagte Amber leidenschaftlich. »Ich will zurück nach Dantar! Die Äxte sind zwar etwas rostig, aber gut zu gebrauchen. Ich schlage das Holz zurecht, das wir für das Schiff benötigen. Inu macht die Seile – und genug Tuch für Segel haben wir auch…«

»Tuch, ja«, bemerkte Sabin trocken. »Wenn wir Segel aus alten Kleidern zusammennähen wollen.«

»Wir haben genug Wachs«, sagte Tanijen. »Damit schützen wir den Stoff gegen Feuchtigkeit.«

»Finde du erst einmal heraus, wo wir sind«, bestimmte Amber. »Ich und Sabin kümmern uns um das Schiff.«

Inu zuckte zusammen. Ich und Sabin? Verstohlen betrachtete er das herrische Landmädchen von der Seite. Im Kerzenlicht erschienen die blauen Flecken an Ambers Unterarmen noch dunkler. Er traute ihr ohne Weiteres zu, eine Kriegerin auf der Flucht zu sein. Jedes Leben war ein Netz – und dieses Mädchen machte den Eindruck, dass ihr Netz einige Knoten zu viel enthielt und zum Zerreißen gespannte Schnüre, außerdem zu kleine Maschen, in denen sich Dinge verfangen hatten, die besser nicht das Tageslicht erblickten.

Sabin sah sie ärgerlich an und auch Tanijen sagte vor Verblüffung nichts. Doch Amber bemerkte offenbar nicht, dass sie wieder einmal ins Fettnäpfchen getreten war. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum.

»Da ist noch etwas«, sagte sie und setzte sich auf. Ihr Rücken schmerzte offenbar immer noch, sie bewegte sich langsam und vorsichtig. »Es ist der Tote. Ich will, dass er beerdigt wird.«

Sabin schüttelte entschieden den Kopf. »Auf keinen Fall. Er liegt im Gewölbekeller und da bleibt er auch!«

»Aber er ist bereits seit zwei Tagen tot. Was, wenn er wieder aufsteht?«

»Warum sollte er Lust haben, hier herumzuspazieren?«, spottete Sabin.

»Tote, die unbegraben bleiben, finden die lichte Grenze nicht«, antwortete Amber ernsthaft. »Sie fliehen zurück in ihre Körper und verfolgen die Lebenden. Da, wo ich herkomme, gibt es… Geschichten von versäumten Beerdigungen, die auf das Frühjahr verschoben wurden, da der Boden im Winter zu hart war. Und von Toten, die daraufhin umherirrten – sie sind einsam und heulen nachts mit dem Wind um die Wette, sie streichen um die Gehöfte und hämmern an die Türen, weil sie wieder eingelassen werden wollen.«

Inu musste lächeln. Die Bergleute waren abergläubisch.

»Außerdem wird er… verwesen«, fuhr Amber aufgeregt fort. »Wir begraben ihn und sagen in Dantar Bescheid. Dann kann seine Familie doch immer noch entscheiden…«

»Nein!«

Das hatte Inu erwartet. Sabin konnte ihren Schmerz nie verbergen – zumindest nicht vor ihm. Satu war in ihren Augen so lebendig, als würde sie versuchen ihren Bruder mit ihrem »Nein« in den Raum zu zwingen.

»Warum nicht?«, brauste Amber auf.

Die Taucherin warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ist das bei euch so, Bauernmädchen? Verscharrt ihr eure Toten im Matsch, ohne euch um das Leid der Angehörigen zu kümmern?«

Amber wurde blass. Nur auf ihren Wangen leuchteten rote Flecken. Tanijen hob beschwichtigend die Hände.

»Kein Streit«, sagte er sanft. »Bitte…«

»Was ist los mit dir, Fischhaut!«, zischte Amber Sabin zu. »Ich will einen Toten unter die Erde bringen, was ist verkehrt daran? Das hat nichts mit Herzlosigkeit zu tun. Im Gegenteil! Diesen Wunsch würde ich auch haben, wenn es mein… Bruder wäre.«

Besonders bei ihm, setzte sie in Gedanken hinzu.

Sabin sprang auf. Der Wasserbecher neben ihrem Lager fiel um, die klare Flüssigkeit suchte sich ihren Weg zwischen verblassten Marmorintarsien.

»Geh zum Kerot, Landkröte!«, fauchte sie. Ihr Umhang wallte, als sie die Treppe hocheilte und in dem dunklen Flur verschwand.

»Lass sie, Amber«, sagte Tanijen. »Ich werde mit ihr sprechen und…«

Amber stieß einen Fluch aus und schnellte auf die Beine.

»Halt!« Inu machte eine rasche Bewegung nach vorn. Er erwischte sie am Ärmel. Einen Augenblick zuckte Schmerz über ihr Gesicht. Dann fand sich Inu nach Luft schnappend am Boden wieder. Amber hatte ihn abgeschüttelt und mühelos mit einem Schleuderwurf zu Fall gebracht. Nun stand sie einige Schritte entfernt von ihm am Fuß der Treppe und rieb sich ihren schmerzenden Arm.

»Eine schöne Gesellschaft seid ihr«, sagte sie verächtlich. »Ein Navigator, der keine Ahnung hat, wo wir sind, eine verrückte Taucherin, die sich aufführt wie eine eingebildete Feuernymphe, und ein Seiler, der nach ihrer Pfeife tanzt. Ich hoffe, Sabin erlaubt euch wenigstens zu atmen!«

Inu stellte wieder einmal fest, dass mit einer Amber, die auf festem Boden stand, nicht zu spaßen war. Fast erwartete er, sie würde zur Axt greifen, aber sie drehte sich nur um und stürmte Sabin hinterher.

»Ich hoffe nur, sie hat nicht vor, Sabin zu erwürgen«, meinte Tanijen. »Wer hätte gedacht, dass sie nicht nur eigensinnig, sondern auch abergläubisch ist?«

»Sie hat recht«, fuhr Inu ihn an. »Was für ein erbärmlicher Navigator bist du eigentlich, wenn du nicht einmal den Standort einer Insel bestimmen kannst?«

 

*

 

Sabin wandte nicht einmal den Kopf zur Tür, als Amber in das Turmzimmer stürmte. Ihr Schritt hallte im Raum, Staubschleier verhüllten das Mondlicht. Die Taucherin hatte die Fensterläden aufgestoßen und saß mit angezogenen Beinen auf dem Fensterbrett. Der Nachtwind zerzauste ihr Haar, Brandung donnerte unter ihr. Ihre Fischhautkleidung glänzte im blassen Licht.

»Was willst du?«

»Einige Dinge klarstellen«, antwortete Amber und atmete tief durch. »Warum führst du dich so auf, als würde meine Gegenwart dich beleidigen?«

»Tue ich das?«, sagte Sabin gleichgültig. »Es hat dich keiner gezwungen, mit uns aufs Meer zu fahren.«

Amber kämpfte den Impuls nieder, eine hölzerne Käfigstrebe zu packen und der Taucherin diese stechende, kalte Arroganz aus dem Gesicht zu schlagen. Sie zählte bis fünf, bevor sie antwortete.

»Irrtum. Ihr habt mich gebeten!«, gab sie mühsam beherrscht zurück. »Wenn ich es mir hätte aussuchen können, wärst du der letzte Mensch, mit dem ich allein sein wollte. Aber wir sind nun mal hier und niemand kann etwas dafür. Also erklär mir endlich, was du verdammt noch mal gegen mich hast! Habe ich dir was getan?«

Endlich hatte sie es geschafft, die Taucherin wenigstens ein wenig aus der Fassung zu bringen. Sabin blinzelte ein paarmal zu oft und sah sie an – endlich. Und dann überraschte sie Amber.

»Nein«, sagte sie freimütig. »Du hast mir nichts getan. Du erinnerst mich an jemanden, das ist alles. Und ich wünschte, du wärst nicht hier. Es ist so schon schwer genug.«

»Schwer?«, empörte sich Amber. »Du magst dich mit Harpunen auskennen, aber ich kann mit Holz und Zimmermannswerkzeug umgehen. Wie kannst du da behaupten, es wäre schwer mit mir?«

Für einen Augenblick wirkte Sabin verunsichert, und Amber glaubte in den blauen Augen eine Regung wahrzunehmen – Angst vielleicht oder einen flüchtigen Schmerz. Ambers Hände entspannten sich. In diesem Moment hätte sie alles dafür gegeben, um einfach mit der Taucherin sprechen zu können wie mit Inu.

»Wie du meinst«, sagte Sabin schließlich. »Lässt du mich jetzt bitte allein?«

Amber räusperte sich. Es war mühsam, mit Worten statt mit Fäusten zu kämpfen. »Nein. Ich… wollte dir noch sagen, dass die Erde nicht nur ›Matsch‹ ist, auch wenn ihr Fischhäute das denkt. Es gibt auch andere Götter als die des Meeres. Eure Toten sind bei ihnen nicht schlechter aufgehoben als im Wasser.«

»Ach, wirklich?«

Nun gab Sabin sich keine Mühe mehr, ihre Feindseligkeit zu verbergen.

Amber nickte. »Ich kenne die Geschichte, dass alle Einwohner Dantars von den Walen abstammen und ihre Seelen nach ihrem Tod ins Meer zurückkehren. Ich habe diese Geschichte immer gemocht – sie gefiel mir weitaus besser als unsere Sagen vom Martiskönig und der Erschaffung des Feuers. Aber es gibt eine Geschichte, die ebenso schön ist wie die über Dantars Wale. Und ebenso wahr.«

»Ganz recht«, sagte Sabin kühl. »Wir stammen von den Walen ab. Und ihr? Von den Ziegen?«

In diesem Augenblick lernte Amber etwas über sich selbst: Sie war keine Dantarianerin. Und wenn es nach der Wut ging, die sie nun überschwemmte wie eine heißkalte Woge, würde sie nie eine werden. Ihre Fäuste hatten sich ganz von selbst geballt, ihre Beine schnellten los.

Sabins Augen weiteten sich vor Schreck, mit einem flinken Satz sprang sie vom Fensterbrett und wollte fliehen. In dieser gläsernen Sekunde, als Amber ihr mit erhobener Faust entgegenstürzte und die Taucherin versuchte sich unter dem Hieb zu ducken, sah Amber plötzlich etwas, was ihre Wut mit einem Schlag völlig auf sich zog.

Im Fenster hinter Sabin kochte die Dunkelheit. Eine Klaue klackte auf Stein.

Amber reagierte blitzartig: Im Sprung packte sie die Taucherin um die Taille und riss sie von den Beinen. In einer Staubwolke kamen sie auf dem Boden auf. Eine Schulter traf sie hart an der Stirn, aber sie fühlte keinen Schmerz.

»Was zum Kerot…«, fluchte Sabin.

Amber stieß sie grob weg. »Zur Tür! Mach, dass du rauskommst!«

Sie rappelte sich auf und wirbelte zum Fenster herum. Der Mond war hinter Wolken verschwunden und ließ sie in der Dunkelheit zurück. Sie erahnte eine Gestalt, die sich von außen an der Mauer festklammerte. Das Wesen zischte und hangelte sich mit verstörend schnellen Bewegungen aus ihrem Blickfeld. Es floh!

Amber hob im Rennen eine lose Käfigstrebe als Waffe auf und stürzte zum Fensterbrett. Das Tier hangelte und wand sich an der Mauer entlang in Richtung Dach. Ein länglicher, schmaler Körper, biegsam wie ein Waran. Amber nahm das staubige Holz zwischen die Zähne und war mit einem Satz auf dem Fensterbrett. Der Geruch nach altem Stein und trockenem Holz stieg ihr in die Nase.

»Amber, nein!«, hörte sie Sabin rufen, doch schon war sie aus dem Fenster geklettert.

Das Blut pochte heiß durch ihre Adern. Sie nahm alles mit doppelter Schärfe wahr – das Zischen des Wesens, das Kratzen von Krallen auf dem Stein, während es sich flink auf das Dach des Turms hochzog. Steine und Mörtelbrocken regneten auf sie herunter, während sie dem Angreifer folgte. Ein halbe Dachschindel schlug ihr beinahe das Holz zwischen den Zähnen weg, aber sie tastete sich unbeirrt weiter, fand Vorsprünge und Balken und zog sich schließlich auf das schräge Dach hoch.

Die Vögel, die auf der Dachspitze saßen, flatterten aufgeschreckt davon. Wind erhob sich so jäh, dass es sie fast das Gleichgewicht kostete.

Amber nahm das Holz in ihre bessere Schlaghand und horchte.

Das Wesen verharrte auf dem Dach, sie konnte es nicht sehen, nur eine schattige Bewegung erahnen, doch ein Zischen verriet, wo es war. Dann ertönte das Trappeln hinter ihr. Es waren mehrere! Instinktiv duckte sie sich zur Seite. Keinen Augenblick zu früh: Ein Luftzug traf ihr Ohr, als etwas dicht daran vorbeischnellte.

Amber wirbelte herum und schlug zu. Ein dumpfer Schlag ertönte, durch das Holz fühlte sie etwas brechen. Vielleicht eine Rippe oder ein Schädel? Einen Angreifer hatte sie also erwischt. Aber das Trappeln war immer noch da, umkreiste sie. Blitzartig holte sie mit der Strebe aus und brüllte, als wollte sie Martiskatzen einschüchtern. Wenn sie nur ein wenig mehr sehen könnte!

Ein Knacken unter ihrem Fuß spürte sie, noch bevor sie es hörte. Brach das Dach? Nach einem schrecklichen taumelnden Augenblick spürte sie plötzlich etwas Scharfes an ihrer Seite. Es streifte ihren Oberarm, Stoff riss, brennender Schmerz zuckte durch ihren Arm. Ein Zischen an ihrem Ohr und der Gestank nach Moder, dann rutschte sie aus und fiel. Schmerzhaft ratterten ihre Rippen über gebogene Dachschindeln, als wäre sie ein Laken in einem Waschzuber. Dann traten ihre Beine in Luft. Instinktiv krallte sie sich mit den Fingern fest – und hing am Dachrand. Unter sich hörte sie das Brausen des Meeres. Der Schreck schickte ihr heiße Wellen durch die Adern.

Krachen und Schleifen ertönte. Und dann walzte ein lappiger, ledriger Haufen über ihre armen, geschundenen Knöchel. Amber konnte gerade noch den Kopf einziehen. Das Wesen – vermutlich war es der Angreifer, den sie zur Strecke gebracht hatte – rutschte über die Dachkante und streifte im Fallen Ambers Rücken. Sie stöhnte auf. Der ranzige Geruch nach Moder und öliger Haut hüllte sie ein. Das Wesen gab einen wimmernden Laut von sich. Amber machte den Fehler und blickte dem dunklen Bündel hinterher. Aus dem Augenwinkel erkannte sie schemenhaft, wie das verletzte Wesen wie eine Lumpenpuppe fiel. Unter sich sah sie Sabins blasses Gesicht in der Dunkelheit leuchten.

»Amber! Hierher!«, schrie die Taucherin und hangelte nach ihrem Bein.

»Finger weg!«, keuchte Amber. Was auch immer sie da angriff, sie war noch lange nicht fertig damit!

Obwohl ihr Rücken schmerzte, spannte sie alle Muskeln an und stemmte sich hoch. Sie zog die Beine nach, kletterte zurück auf das Dach und packte eine der zerbrochenen Schindeln wie eine Waffe. Die Gestalten flohen.

Bevor Amber reagieren konnte, huschten sie zum Rand des Dachs – und sprangen! Amber war viel zu verblüfft, um sich rühren zu können. Der Wind wurde stärker, drohte sie von den Beinen zu holen. Der Mond war wieder hinter den Wolken hervorgekommen. Weiße Gischt malte an der Stelle, wo die Wesen eingetaucht waren, Zacken in die Wasseroberfläche.

Schwer atmend ging Amber in die Hocke. Ihr Rücken fühlte sich an, als hätte ihr jemand ein Stück brennendes Holz dagegengeschlagen. Sabin rief nach ihr, aber Amber war viel zu wütend, um zu reagieren. Wie ein Raubtier, dem die Beute entwischt war, saß sie nur da und trotzte dem Wind.

»Amber?« Das war Inus Stimme. Seine Besorgnis riss sie aus ihrer Erstarrung. Sie erinnerte sich daran, auf Sabin wütend gewesen zu sein, und dachte beschämt an ihr Versprechen. Andererseits: Der Triumph, die Wesen in die Flucht geschlagen zu haben, tat dennoch gut. Auf allen vieren kroch sie zum Dachrand zurück und hangelte sich mit geübten Griffen über die Dachkante und zurück zum Fensterbrett.

Drei blasse Gesichter starrten sie ungläubig an. Ihr wurde bewusst, dass ein Mensch, der im Dunkeln auf ein Dach klettern konnte, für einen Dantarianer einen seltsamen Anblick bieten musste. Doch sie hatte Ziegen und Schafe von weitaus gefährlicheren Bergvorsprüngen geholt. Und im Augenblick war sie stolz darauf, die anderen zu verblüffen. Selbst ihre Wut auf Sabin war verflogen.

»Jetzt wissen wir wenigstens ganz sicher, dass wir nicht allein sind«, sagte sie und schwang sich über das Fensterbrett in den Raum. »Wir müssen alle Fenster und Türen verschließen. Wir werden uns bewaffnen. Und gleich morgen gehen wir zum Schiff.«

»Was ist, wenn die Wesen uns am Strand angreifen?«, fragte Inu und deutete auf den Riss in ihrem blutgetränkten Ärmel. Es mochte eine Kralle gewesen sein, die ihr den Kratzer beigebracht hatte. Oder ein spitzer Eckzahn.

»Sie sehen offenbar im Dunkeln«, erwiderte Amber. »Vermutlich schlafen sie am Tag – sonst hätte ich das Tier heute Morgen nicht aufgeschreckt.«

Sie legte ihre ganze Bestimmtheit in diese Worte. Zum ersten Mal machte Sabin keine spöttische Bemerkung.