Der Sturm überraschte Amber mitten auf dem Seilermarkt. Es war der vierte, seitdem sie nach der Sommerernte nach Dantar aufgebrochen war, aber der erste, den sie mitten in der Stadt erlebte. Von den Anhöhen aus betrachtet hatte jedes Unwetter wie ein faszinierendes Schauspiel gewirkt: schäumendes Wasser in erstaunlichen Farben und die weißen Häuser der Stadt am Ufer. Die Stadt hatte die Form einer Hand – fünf Landzungen ragten in das Majumameer hinein, und wenn die Schiffe, die in den Häfen spielzeugklein wirkten, im Sturmwind tanzten, sah es so aus, als würde die weiße Hand mit ihnen spielen.
Doch jetzt, mitten in Dantar, auf selber Höhe mit dem Meer, war die Sache nicht mehr ganz so malerisch. Amber wurde klar, dass sie tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben einen solchen Sturm nicht auf den Anhöhen der Berge erlebte. Hier schützten sie keine Steinmauern und keine Höhlenkammern vor den Wellen. Noch beunruhigender war, dass das Unwetter diesmal ohne Vorwarnung hereinbrach. Von einem Augenblick zum nächsten war der Himmel so schwarz geworden, dass die Vögel auf den Häuserdächern verstummten. Die Seiler blickten erschrocken in den Himmel und begannen in Windeseile ihr Werkzeug zusammenzupacken. Alle Leute auf dem Markt kamen in Bewegung, Fensterläden wurden zugeschlagen, Eltern holten ihre Kinder von den Straßen. Und die Kapitäne, das wusste Amber, begannen in diesem Augenblick zu beten.
Sie drückte den Beutel mit den eben gekauften Seilen an sich, drehte sich um und rannte auf gut Glück auf die nächstbeste Seitengasse zu. Schwer schlug der Beutel mit den Münzen gegen ihre Hüfte.
»Halt!«, ertönte hinter ihr plötzlich eine Stimme. »Was willst du denn in der toten Gasse? Bist du verrückt?«
Als sie sich umsah, erkannte sie einen der jungen Seiler, der eben noch an einem Ankertau gearbeitet hatte. Wie alle Seiler trug auch dieser kompliziert geflochtene Zöpfe. Im Sturm tanzten sie nun wie Schlangen um seinen Kopf und auf den Schultern. Ein Windstoß riss die Worte von seinen Lippen. »… zu spät… komm… Keller…«, war alles, was Amber noch verstand. Es war nicht mehr so einfach, sich gegen den Wind zu stemmen. Er trieb sie vor sich hin wie ein Spielzeug, während sie auf die ausgestreckte Hand zutaumelte. Vom Hafen her hörte man das Ächzen von sich biegendem Holz. Amber duckte sich, erreichte endlich den Seiler und ergriff seine Rechte. Hand in Hand kämpften sie sich über den kreisrunden Platz.
»Da runter!« Sie erahnte die Worte eher, als dass sie sie hörte, aber sie verstand, als er auf eine hölzerne Klappe im Boden deutete. Wenige Augenblicke später saßen sie aneinandergekauert in einem engen Lagerkeller, in dem es nach ranzigem Stockfisch roch, während die verriegelte Lukentür über ihnen klapperte, als würde jemand mit aller Gewalt daran rütteln. Draußen regneten Dachschindeln auf den Markt.
Bitte lass kein Haus einstürzen, betete Amber im Stillen. Und schon gar nicht die Herberge!
Obwohl es stockdunkel war, schloss sie die Augen und stellte sich vor, was in Ujas Herberge nun mit ihren Sachen geschah. Wenn das Gebäude einstürzte – wo würde sie dann ihre Decke wiederfinden? Sie war nicht wertvoll, aber eines der wenigen Dinge, die sie aus ihrem alten Leben mitgenommen hatte. Außerdem lagen in der verschlossenen Kammer, über deren Schlüssel die alte Wirtin besser wachte als ein verrückter Hofhund, Ambers Kleider, in denen sie in die Stadt gekommen war. Was sie nun am Leib trug, war ein orangefarbenes Tuch über langen Leinenhosen. Dantarianische Kleidung, die sie sich erst heute auf dem Kleidermarkt gekauft hatte. Sie wollte so aussehen wie eine richtige Dantarianerin, aber dennoch – der Gedanke daran, ihre abgeschabte Ziegeniederweste und das grobe Hemd zu verlieren, rief ein banges Gefühl des Verlusts hervor. Hektisch tastete sie nach ihrem Gürtel – Krutin sei Dank, wenigstens die Börse war noch da! Ein Poltern und ein donnernder Hall rissen sie aus ihren Gedanken. Erschrocken krampfte sie die Linke um den ledernen Beutel mit den Münzen und bemerkte im selben Augenblick, dass sie mit der anderen Hand immer noch die Finger des Seilers umklammert hielt. Verlegen wollte sie ihm ihre Hand entziehen, aber der Seiler dachte gar nicht daran loszulassen.
»Du bist ganz schön kräftig. Gehörst du zu den Snaifischern? Oder den Bootsbauern?«
Amber entzog ihm die Hand und rückte von ihm ab. »Nein. Ich… komme nicht aus der Stadt.«
Murmelnde Stimmen in dem kleinen Lagerraum zeigten ihr, dass sich noch andere Menschen hierher geflüchtet hatten. Wieder landete etwas Hartes auf der Tür über ihren Köpfen und Amber hob instinktiv die Schultern und zog den Kopf ein. Der Wind heulte wie ein Hallgespenst, Knacken und Bersten waren zu hören.
»Keine Angst«, flüsterte der Seiler neben ihr. »Der Marktplatz liegt erhöht – das Wasser ist noch nie bis hierher gekommen. Und die Tür ist aus schwarzer Eiche. Das härteste Holz, das man bekommen kann.«
Amber zog einen Mundwinkel hoch. »Hart genug für ein einstürzendes Haus?«
Er schwieg, als ein neuer Lärm über sie hereinbrach. Amber schützte ihren Kopf mit den Armen. Erst nach einer ganzen Weile wurde es wieder ruhiger.
»So, wie ich den Sturm einschätze, wird es eine lange Nacht in diesem Keller«, meinte der Seiler und räusperte sich. Seine Stimme klang rau. Amber fragte sich, ob er sich um jemanden außerhalb dieses Kellers Sorgen machte. Nun, zumindest diesen Vorteil hatte sie hier: Niemand aus ihrer Familie war in der Nähe. Obwohl sie liebend gerne dabei zugeschaut hätte, wie eine Dachschindel Omins Schädel spaltete.
»Ich heiße Inu Taramo«, fuhr der Seiler fort. »Und du?«
Sie zögerte. Zwei Namen. Natürlich. Alle in der Stadt trugen einen Erst- und einen Zweitnamen. Manche hatten sogar drei. Trotz der vielen Münzen in ihrem Geldbeutel kam sie sich schäbig und ärmlich vor, als sie endlich antwortete. »Amber.« Mehr hatte sie nicht.
»Nur Amber?«, fragte er prompt.
»Was soll das heißen: ›nur‹? Bist du etwas Besseres, nur weil du einen zweiten Namen hast?«
Jemand im Keller schnaubte verächtlich. Amber biss sich auf die Unterlippe. Sie begann wieder Fehler zu machen! Der Seiler hatte sie in den Keller mitgenommen und sie war unhöflich zu ihm.
»Das ist kein Name von der Küste«, sagte Inu nach einer Weile. »Du kommst also vom Hochland? Von einem der Bauernhöfe? Oder bist du Händlerin?«
»Ich wohne jetzt hier«, erwiderte sie schnell. »In Dantar.«
»Du wohnst hier?«, fragte eine Frauenstimme. »Wer ist dein Bürge?«
Amber zuckte zusammen. Bürge?
»Ich habe keinen«, sagte sie. Und setzte schnell hinzu: »Noch nicht.«
»Das heißt, du sprichst beim Fischerkönig vor und willst eine Genehmigung bekommen, hier zu bleiben? Die bekommst du aber nur, wenn du hier auch Arbeit hast. Und den Bürgen.«
Für einen Augenblick vergaß Amber den Sturm.
»Ich werde… hier arbeiten!«, erklärte sie eine Spur zu laut.
»Wirklich?« Das war wieder Inus Stimme. »Wo denn?«
»Das weiß ich noch nicht. Auf… einem der Schiffe.«
Sein Schweigen war deutlicher als eine zweifelnde Antwort.
»Auf einem der Schiffe«, spottete eine dritte Stimme irgendwo in der Dunkelheit. »Nichts einfacher als das. Bist du auch einer der Bauern, die vom Meer träumen?«
Spöttisches Zischen übertönte einen Augenblick lang das Heulen. Amber ballte in der Dunkelheit die Fäuste. Die Leute in der Stadt waren stets freundlich und nahmen Gäste aus der Fremde mit offenen Armen auf. Aber sobald einer dieser Gäste sich anmaßte, zu dieser Stadt gehören zu wollen und nach Arbeit zu fragen, verwiesen sie ihn deutlich auf seinen Platz. Trotz der Dunkelheit kam Amber sich bloß und durchschaut vor.
Die anderen tuschelten noch eine Weile über sie, doch als sie nicht antwortete und das Heulen des Sturms wieder lauter wurde, verstummten sie. Regen klatschte gegen das Holz der Luke.
Als hätte die feindselige Stimmung die Luft mit einem Eishauch vermengt, war es im Raum kälter geworden.
Amber spürte eine Berührung an ihrer Schulter und zuckte zurück. Die Prellung an der Stelle, wo der Knüppel sie vor einigen Tagen getroffen hatte, schmerzte immer noch. Das Haar des Seilers strich an ihrem Arm entlang. Er musste sich vorgebeugt haben. »Ist dir kalt?«
»Nein«, log sie.
»Die Stürme werden immer schlimmer«, meldete sich eine Frauenstimme zu Wort. »Zehn Handelsschiffe allein in diesem Sommer! Diese Stadt wird verarmen und verrotten. Wie viele Menschen sind schon aus der Stadt ins Inland geflüchtet? Bald lohnt es sich überhaupt nicht mehr, die Häuser am Hafen wieder aufzubauen.«
»Es ist, als wären die Sturmrufer zurückgekehrt, um die Stadt zu vernichten«, meldete sich ein Mann mit brüchiger Stimme zu Wort.
»Hört auf, Unsinn zu erzählen«, unterbrach ihn der Seiler an Ambers Seite mit großer Bestimmtheit. »Die Sturmrufer sind seit vielen Sommern tot.«
»Unsinn?«, schnappte der Mann. »Und wer baumelt vor dem alten Schiffsfriedhof an den Galgen?«
Amber horchte auf. Galgen in der friedlichen Meeresstadt?
Nun fühlte auch die Frau sich angesprochen. »Willst du damit sagen, der Rat des Fischerkönigs lässt Unschuldige hängen?«, blaffte sie in die Richtung des Seilers. »Dass die Sturmrufer damals gehängt wurden, weiß ich so gut wie du. Aber die Magier, die nun hingerichtet werden, verfolgen dieselben Ziele! Und solange wir nicht den Letzten von ihnen ausgerottet haben, wird Dantar unter den Stürmen schwächer und schwächer werden!«
»Das weiß ich«, erwiderte der Seiler ruhig. »Ich wollte nur sagen, dass es keine Gespenster aus der Vergangenheit sind, die die Stadt bedrohen.«
»Wenn ich an Monis’ Stelle wäre, würde ich den Schiffsfriedhof ausräuchern«, knurrte der Mann.
Morus. Endlich ein Name, den auch Amber kannte. So hieß der Kapitän, der für die Dauer eines Jahres zum Fischerkönig gewählt worden war.
»Wo könnten sich Magier besser verstecken als beim Gesindel?«
»Hört auf«, sagte der Seiler leise. »Es ist Aufgabe des Rates, die Ursache für diese Stürme zu finden. Aber unsere Aufgabe ist es, zu handeln, um die Stadt vor den Fluten zu schützen. Wir sollten auf den Vorschlag des zweiten Rates hören und endlich einen Felswall im Meer errichten, um zumindest die Wucht des Wassers etwas abzuhalten.«
»Weißt du, wie viel Arbeit und Geld das kostet und wie gefährlich es ist, Arbeiter aufs Meer zu schicken?«, wetterte der Mann. »Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Naj da auch noch ein Wörtchen mitzureden haben. Wenn wir ihnen Land im Meer wegnehmen, müssen wir damit rechnen, dass mindestens die Hälfte der Arbeiter ertrinkt.«
Amber horchte auf. Die Naj! Die Wesen aus dem Wasser, die sie in ihren Träumen begleiteten, seit… ja, seit sie träumen konnte!
»Nun übertreib nicht«, lenkte die Frau ein.
»Ich übertreibe? Hör dir doch den Wind an! Und dann stell dir vor, was jetzt im Hafen und auf dem Meer los ist. Die Besatzungen auf den Schiffen, die Menschen… Meine Schwester ist am kleinen Hafen… im Lagerhaus…«
Er verstummte, als seine Stimme zu zittern anfing. Jemand murmelte etwas Tröstliches. Die anderen schwiegen. Das Pfeifen des Windes war verstummt. Für einen Augenblick war Ruhe – eine unheimliche Ruhe. Amber zog die Knie näher an den Körper. Nicht einmal in dem Haus, das sie nie als ihr »Zuhause« bezeichnet hätte, war sie sich jemals so fehl am Platz vorgekommen. Sie bangte um niemanden und niemand bangte um sie. Mit klopfendem Herzen stellte sie sich vor, wie die Wellen gegen die Häuser am großen Hafen schlugen, wie Schiffe auf Wellenbergen hochgerissen und gegen die Hafenbefestigung geschleudert wurden. Und dann hörte sie ein Rauschen. Es wurde lauter und lauter und verwandelte sich in ein Gurgeln. Dann wieder Stille, wasserdichte, taube Stille, gefolgt von Glucksen und Strömen.
»Das kann nicht sein!«, flüsterte jemand. »Das Meer ist noch nie bis hierhin gek…«
Ehe Amber wusste, wie ihr geschah, krachte die Luke direkt vor ihre Füße, geborsten unter dem Gewicht von Wasser. Der kalte Luftzug fuhr ihr unter den Rand ihrer langen Hose, und mit einem Mal bestand die Welt nur noch aus Wellen. Sie klatschten ihr mitten ins Gesicht, pressten Salzwasser in ihre Nase, ihre Kehle, ihre Augen und schleuderten sie schließlich gegen die niedrige Wand. Stein schrammte über ihre Wange, ihr Haar verhakte sich am Mauerwerk. Brennen in der Kehle, als das salzige Wasser ihren Mund füllte. Es war unglaublich kalt, als wäre es von tief unten aus dem Meer gekommen. Panisch strampelte sie und schlug mit den Armen. Fässer und Säcke stießen schmerzhaft gegen ihre Knie. Der Lagerraum lief voll! Fässer fielen von oben auf ihre Schultern und drückten sie unter die Wasseroberfläche. Brennender Schmerz flutete durch ihre verletzte Schulter. Sie würde ertrinken wie eine Ratte in einer mit Wasser gefüllten Kiste! Jede Bewegung zog sie tiefer nach unten. Panisch kletterte sie unter Wasser auf eines der Fässer, krallte sich an der Wand fest, bis ihre Fingernägel brachen – und dann traf sie etwas Weiches wie ein unglaublich dickes, glattes Seil. Es glitschte über ihre Wange und ihren Mund. Die Luft fehlte ihr, die Panik wurde immer schlimmer. Lautlosigkeit hüllte sie ein. Ein Schlag auf ihre Nase erwischte sie – etwas Hartes, Knochiges, das sich hektisch bewegte! Vor Schreck schnappte sie instinktiv nach Luft – und spürte, wie das Salzwasser sich einen brennenden Weg in ihre Lunge bahnte. Das Knochige fand ihr Haar, tastete über ihr Gesicht, ihren Hals – und packte sie an ihrem Ärmel. Sie wurde nach oben gezogen.
Kälte strich über ihr Gesicht. Licht über ihren blinzelnden Augen. Stein schrappte über ihre Knie und Rippen. Dann wurde ihr Körper schwer, jemand drückte mit aller Kraft gegen ihren Brustkorb. Sie hustete und würgte. Salziges Wasser lief aus ihrer Nase. Nur allmählich begriff sie, dass sie wieder Luft atmete. Endlich Luft! Zwischen ihren Zähnen knirschte Sand. Benommen richtete sie sich auf und blickte sich um.
Nun konnte sie die Leute sehen, die mit ihr im Keller gesessen hatten: ein weiterer Seiler, zwei Frauen in blauen Tüchern und ein alter Mann mit gebräunter Haut und vielen Narben – vielleicht ein Fischer.
Der ganze Marktplatz stand unter Wasser, ein gurgelndes, kochendes Becken, in dem die Seile schwammen wie Bündel von Seeschlangen. Wellen schwappten über Ambers ausgestreckte Beine, eisiger Wind kühlte Kopfhaut und Gesicht.
»Steh auf«, brüllte Inu gegen den Wind an. Sie schämte sich plötzlich, so schwach gewesen zu sein.
Neben ihr wand sich eine mannsgroße Mähnenschlange auf dem Steinboden. Klatschend schlug ihr Körper auf dem Pflaster hin und her, schlängelte sich und bog sich hoch, doch das Wasser auf dem Marktplatz war zu niedrig, um ihr genug Raum zur Flucht zu geben. Das Tier musste in die Stadt geschwemmt worden sein. War es vielleicht dieses glitschige Ding gewesen, das über Ambers Gesicht geglitten war?
Eine kleine, drahtige Frau, der das nasse blaue Tuch am Körper klebte, zog, ohne zu zögern, ihr Fischermesser aus dem Gürtel und erlegte das Seetier mit einem fachmännischen Schnitt. Blut färbte das Wasser um Ambers Beine. Fleisch genug für zwanzig Mahlzeiten, dachte sie und dann wurde ihr übel. Erst die Nachricht von Galgen und Hinrichtungen – und jetzt das. So hatte sie sich die Stadt des Glanzes nicht vorgestellt.
»Kannst du gehen?«, rief Inu ihr direkt ins Ohr.
Amber wollte etwas antworten, aber der Hustenreiz machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Inu verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Eine kleine Narbe an seinem rechten Mundwinkel gab seinem Lächeln etwas Unregelmäßiges, Verschmitztes. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er gut aussah. Wie die Menschen von den Inseln hatte er eine leicht gebogene Nase und hellblaue Augen, die im Kontrast zu dem dunklen Haar leuchteten.
»Komm!«, drängte er. »Wir müssen hier weg! Falls noch eine Welle kommt, spült sie uns bis in die Bucht.«
Sie bahnten sich einen Weg durch schwimmende Trümmer. Das Wasser stieg wieder. Amber spürte, wie die Panik ihr wie nasser Schlick am Rückgrat hochkroch. Zerrissene Fischernetze schlangen sich um ihre Beine und brachten sie beinahe zu Fall. Zappelnde Fische umwimmelten ihre Füße. Amber stolperte über Muscheln und Holzsplitter.
Als sie den Platz halb überquert hatten, änderte das Wasser die Richtung und zog sich plötzlich zurück, zerrte mit immer stärker werdendem Sog an ihren Hosenbeinen. Amber stolperte zum Seilerbaum in der Mitte des Platzes und klammerte sich daran fest. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Es war beruhigend, dass der Baum unverrückbar war. Unter den Steinplatten des Platzes ragten seine Wurzeln tief in die Erde. Der Marjulastamm war vom jahrelangen Reiben der Seile, die an ihm gedreht und geknüpft wurden, glatt geworden. Amber hatte Angst, ihn wieder loszulassen. Was, wenn das Meer sie mitzog – über die Straßen, hinein in die blaue Tiefe, wo die Wale schwammen und die brennenden Fische darauf warteten, ihre Haut zu versengen? Nun, wenigstens wurde der Wind schwächer und gab wieder anderen Geräuschen Raum. Zum Beispiel den Rufen, mit denen sich die Leute verständigten.
Inu sah sich nach Amber um und bedeutete ihr mit einer energischen Geste, ihm zu folgen.
»Wohin?«, brachte sie mühsam heraus.
»Ich muss zum Hafen«, rief er. »Aber vorher bringe ich dich zum Haus des Fischerkönigs. Es ist das höchste Gebäude der Stadt.«
Heftig schüttelte sie den Kopf, ohne den Seilerbaum loszulassen.
»Geh allein! Ich muss in die Schlemmfischgasse!«
Er runzelte die Stirn. »Zur Herberge? Gut, dann begleite ich dich bis zur Gasse!«
»Verdammt, ich kann alleine gehen! Ich habe hierhergefunden, da finde ich auch zurück.«
Der Seiler funkelte sie ärgerlich an. »Die Stolzen ertrinken als Erste. Komm schon, ich habe keine Zeit für Diskussionen, ich mache mir auch um andere Leute Sorgen!«
Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er hier stehen bleiben würde, bis sie sich von ihm begleiten ließ.
Amber stieß sich vom Seilerbaum ab und kämpfte darum, auf den Beinen zu bleiben. Für einen Augenblick bereute sie es, die Berge, die ihr Sicherheit gaben, verlassen zu haben.
Von den Anhöhen aus gesehen musste die Stadt jetzt einen atemberaubenden Anblick bieten: Wasserstraßen und glitzernde Fischleiber, zerbrochene Schiffe und Häuser, die in strudelnden Wellentälern staken. Der Himmel hatte sich von einem Sturmschwarz zu einem hellen Grau verfärbt.
In den schmalen Seitengassen trieben zerbrochene Karren. Menschen kletterten einfach aus den Fenstern, wenn die Türen sich nicht aufdrücken ließen, und strebten zur großen Hauptstraße.
Inu schien das viele Wasser nichts auszumachen, seine Schritte waren sicher und schnell. Mehrmals war er schon um eine Ecke gebogen und aus Ambers Sichtfeld verschwunden, und sie hatte Mühe ihn einzuholen. Auch jetzt hastete sie um eine Häuserecke und hoffte ihn nicht verloren zu haben. Hektisch sah sie sich auf dem kleinen Platz um und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
»Worauf wartest du?«, rief Inu ungeduldig. Doch Amber stand nur da und staunte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Der Sturm, ihre Angst und ihre vom Salzwasser wunde Kehle waren vergessen. Sie tastete nach einer Hauswand und stützte sich ab. Tausend Geschichten ihrer Kindheit fielen ihr ein. Allein dafür hatte sich alles gelohnt: die Prügel, der Diebstahl, die Flucht. Doch nichts hatte sie auch nur annähernd auf diesen Anblick vorbereitet: Auf einem steinernen Sockel neben einem Hauseingang saß ein leibhaftiger Naj!
Im gleißenden Gegenlicht sah er aus wie eine halb transparente Skulptur aus Eis. Glänzende, silbrige Augen wandten sich Amber zu. Kiemen pulsierten. Durchsichtige Häute schimmerten zwischen den langgliedrigen Fingern des Wassergeschöpfs. Eine aus Silber und Glas gewirkte, schlanke Gestalt war es, anmutig trotz der fleckigen Schuppenhaut und der Kinnhäutchen. Beinahe war sie menschenähnlich – aber nur beinahe. Und jetzt sah sie Amber direkt an!
»Wo bleibst du denn?«
Inus Stimme schreckte das Wesen auf. Es hob den Kopf, Amber sah eine Bewegung des fischähnlichen Mauls. Der Naj gab zischend ein Wort frei, das sie nicht verstand, dann schlängelte er sich von dem Pfosten ins Wasser. Zu schnell, als dass sie ihm mit dem Blick hätte folgen können. Einen lähmenden Augenblick war sie überzeugt, das Wesen aus dem Meer würde sie unter Wasser ergreifen und mit sich ziehen. Als ein großes Stück Tang sich um ihre Wade schlang, schrie sie auf. Doch der Naj war fort.
Inu stand plötzlich direkt vor ihr und starrte in ihr blasses Gesicht.
»Keine Angst«, beruhigte er sie. »Wir lassen sie in Ruhe und sie uns. Meistens jedenfalls.«
Amber schluckte und folgte ihm. Salz brannte immer noch auf ihrer Zunge und sie hatte unglaublichen Durst. Das kurze Haar klebte ihr an den Ohren und der Stirn. Obwohl es Sommer war, klapperten ihre Zähne vor Kälte. Aber sie hatte einen Naj gesehen! Und viel zu schnell wieder aus den Augen verloren. Hoffnungsvoll suchte sie die Straßen ab, doch sie entdeckte nur Leute, die zum Hafen wateten, und andere Leute, die Neuigkeiten von den Schiffen brachten. Inu wechselte einige Worte mit einem Mann und kehrte dann sichtlich erleichtert zu Amber zurück.
Je näher sie dem Zentrum der Stadt kamen, desto mehr Menschen in zerrissener Kleidung begegneten ihnen. Doch die Einwohner von Dantar hielten sich offenbar nicht lange damit auf, über die Zerstörungen zu klagen. Amber sah Fischer, die ihre Netze über die Straße warfen, bevor das Meer den wertvollen Fang wieder mitziehen konnte. Die Frau, die die Mähnenschlange getötet hatte, überholte sie und eilte, das riesenhafte Tier mit einer Schärpe aus blutgefärbtem Wasser hinter sich herziehend, auf ein Lagerhaus zu.
»Hier ist die Schlemmfischgasse«, sagte Inu und blieb stehen. »Dahinten ist die Herberge.«
Im schrägen Licht der ersten Sonnenstrahlen, die wieder durch die Wolkendecke fielen, leuchteten seine Augen besonders hell. Das Meerwasser trocknete bereits in seinen Haaren. Salzkrusten zeichneten feine Muster auf seinen Wangen. Er streckte ihr zum Abschied seine Hand hin.
»Hier trennen sich unsere Wege. Viel Glück.«
Natürlich, er hatte anderes zu tun, als sich um jemanden wie sie zu kümmern. Sicher machte er sich Sorgen um seine Familie. Amber spürte einen Stich. Die Leute in Dantar hatten Familien. Richtige Familien. Nur zögernd ergriff sie seine Rechte und staunte über den Kontrast zwischen seiner tiefbraunen Haut und ihren hellen Fingern.
»Ich brauche kein Glück«, erwiderte sie heiser. »Ich brauche nur Arbeit. Aber ich wünsche dir, dass denen, die du liebst, nichts passiert ist.«
Inus Miene hellte sich auf. »Der westliche Teil der Stadt ist nicht zerstört worden – diesmal nicht. Der Mann vorhin hat es mir gesagt. Aber ich danke dir für deinen Wunsch.«
Amber ließ widerwillig seine Hand los. Sie wollte sich nicht verabschieden, nicht so. Inu war der erste Mensch, der sie nicht nur als Gast behandelt hatte. Krampfhaft suchte sie nach Worten, um sich nicht trennen zu müssen – nicht jetzt, mitten im Chaos.
»Gehst du zum Hafen? Zu… den Kapitänen vielleicht?«
Inu runzelte die Stirn und sah sie fragend an. »Zum Hafen, ja, aber ob die Kapitäne dort sein werden oder im Haus des Fischerkönigs, weiß ich ni…«
»Ich komme mit! Ich sehe nur nach, ob meine Sachen noch da sind, es dauert nicht lange. Als der Sturm kam, war ich gerade auf dem Weg zu einer Kapitänin, die am Seilermarkt lebt.«
»Dort kenne ich nur eine: Sumal Baji Santalnik. Bei ihr wolltest du nach Arbeit fragen?«
Der ungläubige Ton in seiner Stimme machte Amber wütend. Es war ein Anflug dieser Wut, die sie nie wieder hatte spüren wollen – die Wut, die ihre Hände zu Fäusten ballte und in ihrer Brust stach. »Gibt es etwas daran auszusetzen?«, fragte sie schärfer als beabsichtigt.
»Kein Grund, gleich aus der Haut zu fahren. Nur… für… jemanden wie dich wird es schwierig sein, Arbeit zu bekommen. Die Stellen auf den Schiffen werden nur an sehr erfahrene Leute vergeben. An Leute, die ihr ganzes Leben lang auf dem Meer waren, die gut tauchen können und…«
»Zum Verladen von Schiffen muss man doch nicht tauchen können!« Ihre Fingernägel drückten kleine brennende Sicheln in ihre Handflächen. Niemand würde sie mit einem spöttischen Lächeln abweisen. »Ich bin stark«, setzte sie trotzig hinzu. »Und das andere werde ich auch noch lernen. Oder traut ihr jemandem, der nicht aus Dantar stammt, nichts zu?«
Jetzt, da sie sich gerade aufgerichtet hatte, war sie größer als Inu.
»Dass du stark bist, ist kaum zu übersehen«, antwortete er. »Aber das wird dir nichts nützen – ohne Genehmigung und ohne einen Bürgen… Aber frag Sumal selbst, wenn du mir nicht glaubst. Ihre Schiffe liegen am kleinen Hafen – wenn sie noch dort liegen.«
»Du kennst Sumal Baji?«
»Kennen ist zu viel gesagt. Sie kauft ihre Seile bei mir. Sie braucht viel Seil, denn sie ist die Einzige in der Stadt, die auch die großen Drachenfische jagt.«
»Warum sagst du das nicht gleich? Dann nimm mich mit zu ihr!«
Er verschränkte die Arme und schnaubte durch die Nase. Amber wusste, dass sie zu weit gegangen war – wie immer. Warum fiel es ihr so verdammt schwer, mit den Menschen hier zu reden?
»Du kennst das Wort ›bitte‹ nicht, oder?«, sagte Inu. »Einen Rat, wenn du mit Sumal sprichst: Sei nicht unhöflich, fall ihr nicht ständig ins Wort und…«
»Unhöflich? Was zum Henker meinst du damit?« Beinahe hätte Amber geschrien. Aber sie beherrschte sich, auch wenn es ihr schwerfiel. Sie hatte sich geschworen, ihre Faust nicht mehr aus Wut zu erheben. Und dieses Versprechen an Dantar wollte sie halten!
»Damit meine ich zum Beispiel, dass du dich nicht einmal bedankt hast, nachdem ich dich aus dem Wasser gezogen habe«, sagte Inu ruhig. Er musterte ihre geprellte Schulter. »Du kommst nicht gerade aus einer freundlichen Gegend, oder?«
»Nimmst du mich jetzt mit zum Hafen oder nicht? Ich habe Geld – ich kann dich bezahlen. Wie viel willst du dafür, dass du mein Bürge wirst?«
Inus Miene verfinsterte sich. »Tu mir einen Gefallen und lass dein Geld, wo es ist. Nicht alle hier in Dantar benehmen sich wie Uja.«
»Dann nimmst du mich also mit!«
Jetzt waren seine Augen so dunkel wie das Sturmwasser. Sein Blick glitt über ihre muskulösen Arme, die Narben an ihren Händen, die von Sicheln und Axtschneiden stammten. Man sah ihr an, dass sie ihr ganzes Leben gearbeitet hatte, und Amber war stolz darauf, dass selbst die Betrunkenen in den Straßen sich zweimal überlegten, ob sie sich ein respektloses Wort leisten sollten. Plötzlich lächelte Inu.
»Du hast zum ersten Mal einen Naj gesehen, nicht wahr?«
Amber zögerte. Gab sie sich eine Blöße, wenn sie zugab, dass er recht hatte? Schließlich nickte sie.
Er wägte noch einige Augenblicke einen Gedanken ab, dann aber seufzte er und schüttelte den Kopf.
»Du wirst dein Glück alleine versuchen müssen. Warte ein paar Tage in Ujas Herberge ab, sieh dir die Stadt an – und dann melde dich im Haus des Fischerkönigs und sieh zu, dass du eine Genehmigung bekommst. Manchmal haben auch Leute vom Land Glück und dürfen auf dem Gemüsemarkt arbeiten.«
Das reichte! »Leute vom Land? Gemüsemarkt, ja? Du arrogante Fischhaut! Die Berge gehören ebenso zum Meerland wie Dantar!«
Inu widersprach nicht, nur das spöttische Zucken um seinen rechten Mundwinkel verriet seine Gedanken. »Wie du meinst. Lass dich jedenfalls nicht von der Herbergswirtin übers Ohr hauen. Das Ungeziefer, das in Ujas Algenmatten haust, könnte einen ganzen Schwarm von Fliegenschnappern ernähren. Leb wohl!«
Du wirst ihn nicht niederschlagen, befahl Amber sich selbst. Du bist in Dantar, in Dantar prügelt man sich nicht.
Kochend vor Wut und Enttäuschung sah sie dem Seiler nach, bis er hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand. Er schaute sich nicht um, natürlich nicht. Es war tatsächlich so, als stammten sie aus zwei völlig verschiedenen Ländern. Die ganze Mutlosigkeit kehrte zurück. Ihre Kleidung klebte nass und kalt an ihrem Körper, doch die Luft war schwül und warm und schien sie erdrücken zu wollen. Ihr Tuch schlotterte um ihren Körper, als sie zu Ujas Herberge ging.
Glitschiger Tang säumte die Straße, einige Fensterläden waren abgerissen, und auf den vorher tadellos geweißelten Häuserfronten hatte sandiges Wasser eine deutliche dunkle Grenzlinie hinterlassen. Amber biss sich auf die Unterlippe. Das Wasser hatte hoch gestanden – so hoch, dass es die Kammer mit den Taschen und Beuteln sicher erreicht hatte. Ohne anzuklopfen, stürzte sie in den kleinen Innenhof, wo das Handelsgut der Gäste gelagert wurde. Hier zappelten immer noch kleine Köderfische in den verbliebenen Pfützen zwischen den Pflastersteinen herum. In der Ecke des Hofes standen Holzeimer mit den größeren Fischen. Krabbenscheren bewegten sich dort neben tastenden Seesternen. Ein Drachenfisch klappte das Maul auf und zu wie ein stummer Sänger.
Helfer waren bereits zur Stelle und schoben mit Besen und Stangen das angeschwemmte Gerümpel an die Seiten. Mitten im Hof stand wie eine kugelförmige, keifende Königin die alte Uja, fuchtelte mit ihren spindeldürren Armen, beschwerte sich über die langsame Arbeit ihrer Helfer und drohte damit, ihnen kein Geld zu geben. Als sie Amber erblickte, winkte sie mit einer ungnädigen Geste ab.
»Kein Nachlass«, raunzte sie. »Bezahlt ist bezahlt! Wenn ihr denkt, ich würde euch euer Geld…«
»Was ist mit den Kammern?«, fiel ihr Amber ungeduldig ins Wort.
»Alles nass!«, jammerte Uja. »Die Türen aus den Angeln gebrochen, die Matten ruiniert! Ich werde Tage brauchen, um…« Amber ließ die alte Wirtin einfach stehen und rannte in den Schlafraum. Die Algenmatten hatten sich mit Wasser vollgesogen und stanken erbärmlich nach Fäulnis und lauwarmem Tang. Die Tür zur Kammer war vom Wasser tatsächlich aus den Angeln gedrückt worden. Und Ambers Tasche war fort.
*
Eine heiße Sommernacht hatte sich über Dantar gesenkt. Es war so ruhig, als hätte nie ein Sturm getobt. Gespenstisch still lag die spiegelglatte Fläche des Meeres vor dem Horizont. So wie Amber hatten sich auch einige andere Gäste der Herberge auf das flache Dach des Gebäudes zurückgezogen und sich aus ihren verbliebenen Habseligkeiten ein behelfsmäßiges Nachtlager zurechtgemacht. Immerhin war das Dach noch warm von der Abendsonne.
Unten fluchte und schimpfte Uja. Das nasse Klatschen der Algenmatten war zu hören, die von den Helfern im Innenhof aufgeschichtet wurden. Amber betrachtete den kleinen Ausschnitt des Hafens, den sie zwischen den Häusern erkennen konnte. Ein abgebrochener Mast ragte zwischen zwei Häusersilhouetten in den klaren Nachthimmel. Die Takelage hing zerfetzt herunter, Segelreste bewegten sich im lauen Nachtwind. Und im glatten Meer dümpelten kantige, dunkle Gegenstände. Manche erinnerten an die Körper dahintreibender Menschen. Amber fröstelte trotz der Wärme und zog ihr Tuch enger um ihre Schultern. Es war immer noch nicht trocken. Die Leinenhose hatte sie ausgezogen und zum Trocknen auf dem Dach ausgebreitet. Niedergeschlagen tastete sie nach ihrem Lederbeutel. Immerhin war das Geld noch da. Mehr Geld, als sie jemals in der Hand gehabt hatte. Immer noch konnte sie sich nicht daran gewöhnen, dass es ihr gehörte. Nun, zumindest so lange, bis Sebe und Omin sie fanden. Außer dem Lederbeutel besaß sie nur noch ihr kurzes Messer mit dem Griff aus Martiszahn. Es gehörte zu ihr so wie der Wunsch, der brennende Wunsch, das Messer Omin zwischen die Rippen zu stoßen. Doch alles andere war weg: die Decke, die ihre Mutter bestickt hatte, der Strohhut, den sie immer zur Feldarbeit getragen hatte, die Jacke, das Hemd und die Winterschuhe – irgendwo da draußen sanken diese Gegenstände jetzt wohl dem Meeresgrund entgegen, unendlich tief hinunter, bis zu den Wohnstätten der Naj. Der Naj! Die einzige tröstliche Erinnerung heute. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn vor sich. Er funkelte und glänzte wie ein Juwel, selbst an seine Stimme erinnerte sie sich – tonlos und rauschend wie das Wasser.
Amber legte den Kopf auf ihre Knie. Es war immer noch ungewohnt, kein langes Haar zu fühlen, das ihr über die Schultern und Arme fiel. Mit dem Messer hatte sie es sich abgeschnitten, bevor sie durch die steilen Schluchten des Flussbettes gewandert war. Immer am Fluss entlang. Der Fluss mündete ins Meer und etwas weiter rechts von der Mündung lag Dantar – die märchenhafte Stadt, über die die Bauern auf den Hochebenen sich tausend Dinge erzählten. So wie der Fluss mündete auch Ambers ganzes Leben in diese Stadt. Das Problem war nur, dass diese Stadt sie offenbar gar nicht haben wollte. Inu hatte mehr als deutlich gemacht, dass er keinen Wert darauf legte, sie wiederzusehen. Leute vor dem Ertrinken zu retten gehörte in Dantar vermutlich zum Tagesgeschäft. Vielleicht sollte sie doch aufgeben und in die Berge zurückgehen? War es nicht besser, von oben aus auf das Meer zu schauen und nachts nur von Dantar zu träumen – wie ein Naj aussah, wusste sie ja nun.
»Na, auch auf der Durchreise?«, meldete sich ein junger Händler neben ihr zu Wort. Er lagerte am Rand des Daches, einige gerettete Gepäckstücke stapelten sich hinter ihm. Immer noch rann Wasser daraus hervor. Die rote Tracht wies den Mann als einen Reisenden aus dem Winterland Lom aus. Er hatte einen weiten Weg hinter sich. Hoffnungsvoll ließ er seinen Blick über Ambers Hals, ihre langen Arme und die bloßen Beine wandern. Sie schienen ihm zu gefallen, obwohl sie mit Kratzern und blauen Flecken übersät waren. Amber zog rasch die Beine unter das feuchte Tuch. »Ich reise nicht, ich arbeite im Hafen.« Auch wenn das eine Lüge war, taten die Worte gut. Und mit einem Mal, als sie über die Dächer blickte, die in der Dämmerung fahl leuchteten, und dahinter das Glitzern des nächtlichen Meeres sah, war wieder dieses Gefühl der Sehnsucht da und schwemmte die Enttäuschung und die Mutlosigkeit fort. Es war verrückt, es war der falsche Zeitpunkt und keiner wollte sie hier – aber sie liebte diese Stadt! Sie liebte das Meer so sehr, dass es wehtat sich vorzustellen, wieder wegzugehen. Und nichts und niemand würde sie davon abhalten, sich diese fremde Welt zu eigen zu machen!