9.

Ich durfte nicht auffallen, nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Konnte nicht riskieren, dass man uns auf die Schliche kommt. Auch nicht, nachdem sie das Ungeheuerliche getan hatte.

Bin mit Bennie ins Klinikum nach Eberstadt gefahren, bitte ruf Stefan an und sag ihm Bescheid, steht auf einem Zettel, den Anja auf den Küchentisch gelegt hat. Das darf doch nicht wahr sein – erst die arme Mia und nun auch noch Bennie! Und Stefan hat noch so getan, als wäre es harmloses Fieber …

»Schicke Bude!«, stellt Ju fest und schaut sich gründlich um.

»Bleib du hier, ich gehe und wickle Mia, dann suche ich Verbandszeug.«

Er lässt sich so schwer und vorsichtig auf einen der Stühle am Esszimmertisch fallen, dass ich den Eindruck habe, er ist viel schlimmer verletzt, als er zugeben will.

Während ich Mia wickle und ihr ein neues rosa Kleidchen anziehe, komme ich ein bisschen zu mir. Das ist nun schon das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass ich ganz alleine mit einem Zwilling zu Hause bin – obwohl, ganz alleine stimmt in diesem Fall gar nicht. Ju sitzt ja unten. Und als ich an ihn denke, spuken mir wieder Felix’ Worte durch den Kopf. Felix mag zwar ein Spinner sein, trotzdem wird mir plötzlich mulmig. Ich weiß absolut nichts über Ju, außer seinen Namen. Vielleicht hat Felix ja doch nicht so unrecht.

Ich muss von allen guten Geistern verlassen sein, einfach einen durchtrainierten, kräftigen und völlig fremden Jungen mit an meinen Arbeitsplatz zu nehmen. Was, wenn Ju unten irgendeinen Unfug anstellt? Aber was sollte er denn schon tun, er kann sich kaum bewegen, beruhige ich mich. Na ja, silberne Löffel könnte er vielleicht schon einstecken.

Wirklich sehr ungewöhnlich, wie ich hier in Deutschland Leute kennenlerne. In Vegas lernt man Jungs kennen, weil sie einem von Bekannten vorgestellt werden. Man quatscht niemals mit Typen, die man auf der Straße oder im Wald getroffen hat – und auf gar keinen Fall nimmt man sie einfach so mit nach Hause.

»Ju«, rufe ich laut, »alles okay bei dir?«

»Ja«, kommt sofort die Antwort. Aber ich bilde mir ein, dass sie nicht vom Esstisch kommt, sondern aus dem Wohnzimmer.

Ich packe Mia und renne die Treppen hinunter. Und tatsächlich, ich habe mich nicht getäuscht – Ju steht vor dem Sideboard und schaut die Fotos an.

»Was tust du da?«

»Nach was sieht es denn aus?«, fragt er lächelnd zurück, aber jetzt wärmt mich sein Lachen nicht mehr, es wirkt so angestrengt.

»Ich habe das Verbandszeug vergessen«, stammle ich, weil ich nicht so recht weiß, was ich sagen soll. Es ist ja kein Verbrechen, sich Fotos anzuschauen, die offen herumstehen. Und untendrunter liegen die Zeitungsartikel, flüstert eine gemeine Stimme in mein Ohr. Aber davon weiß er nichts.

»Ich habe keine Ahnung, wo die Zeltners Verbandszeug haben.«

»Vielleicht im Badezimmer«, schlägt er vor. »Hey, gib mir doch Mia, ich kann mit ihr spielen, während du das Zeug suchst.«

Ich zögere kurz, was aber völliger Quatsch ist, denn wenn er Mia auf dem Arm hat, kann er nichts anderes anfassen und außerdem bin ich ja gleich wieder unten. Also gebe ich ihm die Kleine und seine Mimik verändert sich schlagartig. Ein strahlendes Lachen überzieht sein Gesicht, das bis zu seinen Augen reicht – so möchte ich auch mal von ihm angeschaut werden, durchzuckt es mich. Gott, irgendwie verwirrt mich dieser Typ total!

Dann fabriziert er genau die blöden Geräusche, die Frauen von sich geben, wenn sie ein Baby auf den Arm nehmen. Allerdings habe ich das noch nie auf Deutsch gehört. Es klingt wie: »Dutzidutzi, und wo ist denn der Daumen, ja wo isserdenn.« Mia gluckst begeistert, mir entfährt ein lautes Lachen, doch Ju scheint mich überhaupt nicht mehr wahrzunehmen.

Also gehe ich die Treppen wieder hoch und durchsuche das Kinderbadezimmer, kann dort aber nichts finden.

Aus Sicherheitsgründen ist der Medizinschrank vielleicht im Badezimmer der Zeltners untergebracht. Aber ich bin unsicher, ob ich da suchen soll, denn dorthin gelangt man nur durch deren Schlafzimmer. Ich schleiche über den Gang, lausche nach unten, wo ich Ju deutlich hören kann, wie er mit der Kleinen herumalbert.

Dann drücke ich die Klinke zur Schlafzimmertür. Nichts passiert. Die Tür ist abgeschlossen.

Das gibt’s ja wohl nicht!

Was soll das denn bedeuten? Ganz klar, die Zeltners denken, ich schnüffle in ihren Sachen herum. Das ist der Hammer, sie vertrauen mir ihre Kinder an und verschließen ihr Schlafzimmer!

Ich laufe wieder nach unten.

»Ich glaube, Mia ist sehr klug«, stellt Ju fest.

»Warum?«

»Sie mag mich!« Er lässt seine beiden Finger an Mias Arm hochlaufen und zupft sie dann zart an ihrem Ohr, was sie sich quietschend gefallen lässt. »Sie hat erkannt, dass ich nicht nur nett bin, sondern …«

Sein Gesicht verschließt sich wieder und er drückt sie an sich. »Was ist denn los?«, fragt er mich. »Du siehst aus, als ob du eine Leiche entdeckt hättest.«

Ich bin kurz davor, ihm von meinem gestrigen Fund zu erzählen, doch dann denke ich, dass ich ihn nicht wirklich kenne und damit noch warten sollte.

»Keine Leiche, nur keine Ahnung, wo das verdammte Verbandszeug ist.«

»Versuch’s mal im Klo neben der Haustür«, schlägt er vor.

Verwirrt schaue ich ihn an. »Woher weißt du, dass im Flur ein Klo ist?«, frage ich.

Mir kommt es vor, als ob über Jus Gesicht eine leichte Röte zieht, doch das muss ich mir eingebildet haben, denn im nächsten Moment sagt er: »Weil außen an der Tür so ein albernes Messingschild ist, das einen Jungen beim Pinkeln zeigt.« Er lacht.

Ju scheint sehr aufmerksam zu sein; das Schild ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, aber er hat recht. Und tatsächlich bewahren die Zeltners dort auch ihre Notfallapotheke auf. An der Wand hängt ein großer Kasten mit einem dicken roten Kreuz, in dem ein Schlüssel steckt.

Als ich ihn öffne, bin ich beeindruckt. Wahnsinn. Das ist ja die reinste Apotheke! Daneben ist Moms Medizinschrank eine Wüste. Etliche Desinfektionslösungen, sterile Mullverbände und Kompressen. Aber auch jede Menge Tabletten, Zäpfchen und Tropfen, Einwegspritzen und sterile Handschuhe. Wow!

»So viele Medikamente habe ich noch nie auf einen Haufen gesehen. Das glaubst du nicht!«, rufe ich zu ihm hinüber. Ich nehme Verbandszeug und gehe zurück zu Ju.

Er murmelt irgendeinen Kommentar, den ich nicht verstehe, klingt wie er wundert sich oder kein Wunder.

»Bist du bereit?«, frage ich. Er nickt geistesabwesend und gibt mir Mia, die wütend protestiert und wieder zu ihm zurückwill.

»Lass mich das machen«, sagt er und mustert Mullbinden und Kompressen. »Ich bin Rettungssanitäter, damit verdiene ich mir in den Semesterferien mein Medizinstudium.«

Ju will also mal Arzt werden, denke ich überrascht und beobachte ihn dabei, wie er Desinfektionsmittel auf sein Knie träufelt. Er stöhnt kurz auf und verbindet es dann schnell und gekonnt. Ich bin ziemlich beeindruckt. Wir hatten zwar auch Erste Hilfe in dem Kinderpflegekurs, den wir absolvieren mussten, aber meine Verbände haben nicht ein einziges Mal so sauber und ordentlich ausgesehen.

»Und was ist mit deinem Knöchel?«, frage ich.

»Das geht schon, vielleicht lege ich mir zu Hause einen Elastikverband an, mal sehen.«

»Ja dann!«, sage ich aufmunternd, weil ich Ju jetzt loswerden möchte – auch wenn ich es eigentlich ganz nett finde, in seiner Nähe zu sein. Aber ich muss in aller Ruhe darüber nachdenken, was das abgeschlossene Schlafzimmer zu bedeuten hat. Außerdem will ich die Mappen mit den Zeitungsartikeln noch einmal anschauen und dann hoffe ich, dass das Internet wieder funktioniert. Und vor allem muss ich endlich Stefan anrufen!

»Ein Kaffee wäre jetzt perfekt.« Er räumt das Verbandszeug zusammen und sieht mir direkt in die Augen.

Ich weiche seinem Blick aus und ärgere mich, weil es mir so unhöflich vorkommt, einen Verletzten hinauszuwerfen, aber ich will nun endlich alleine sein.

»Oh, entschuldige«, murmelt er. »Ich hab ganz vergessen, dass du im Moment wirklich andere Probleme hast. Was ist eigentlich mit dem anderen Zwilling los?«, fragt Ju und schaut mich wieder an.

»Kennst du die Zeltners?«, frage ich verwundert. Und wenn ja, warum hat er das dann nicht gleich gesagt?

»Wie kommst du denn darauf?«

»Woher weißt du, dass Mia einen Zwilling hat?«

Jetzt grinst er wieder unverschämt. »Na wegen des Zwillingskinderwagens …«

Ich glaube, ich bin wirklich durch den Wind und fange an, Gespenster zu sehen. Ju humpelt zu mir her und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Einfach so.

»Hey!«, sage ich völlig überrumpelt und kann trotzdem nicht verhindern, dass es in meinem Bauch kribbelt. »In Vegas macht man das aber nicht so. Da gibt’s Küsse erst nach dem fünften Date.«

»Ich dachte, da geht man dann schon miteinander ins Bett?«

»Du solltest jetzt gehen«, sage ich und weiß nicht, ob ich empört oder belustigt sein soll.

»Wenn du darauf bestehst«, sagt Ju leise und wirkt enttäuscht. »Und wann sehe ich dich wieder?«

Er lächelt zwar, aber mir ist das alles nicht geheuer. Noch nie hat mich ein Typ dermaßen unverhohlen angegraben. Da kann einfach etwas nicht stimmen. Ich bin weder eine Beauty­queen noch sonst irgendwie so sensationell, dass ein derart attraktiver Typ, der auch noch Medizin studiert, einen Grund hätte, mich so massiv anzubaggern. Oder aber die Typen in Deutschland sind anders drauf …

Plötzlich schwankt Julius und wird leichenblass.

»Was ist denn los?«

Statt einer Antwort zeigt er auf Mia, die den Ärmel ihres Kleidchens hochgeschoben hat.

»Was ist das denn?« Er betrachtet mich voller Abscheu, als ob ich etwas mit den blauen Flecken zu tun hätte. Als ich es ihm erkläre, wird er noch blasser, was mich wundert.

»Ich dachte, du bist Sanitäter, härtet einen das nicht ab?«

»Blue!« Er hält inne, als müsste er sich einen Ruck geben. »Blue, ich muss dir jetzt doch etwas sagen«, beginnt er. »Aber du wirst es mir nicht glauben.«

In diesem Moment hören wir beide ein Auto in die Garage fahren. Verdammt, das ist bestimmt Stefan, und noch bevor ich etwas zu Ju sagen kann, murmelt er: »Entschuldige, aber ich muss los.«

Und dann rennt er weg. Nein, er rennt nicht, er rast, stürmt geradezu davon. Doch nicht durch die Haustür, sondern zur Treppe, als würde er sich hier bestens auskennen und wissen, dass unten mein Zimmer ist. Und er bewegt sich plötzlich geschmeidig wie ein Tiger, als hätte er keine einzige Verletzung. Fassungslos starre ich ihm hinterher.

Nur wenige Sekunden nachdem Ju wie der Blitz verschwunden ist, betritt Stefan singend und pfeifend das Haus.

Siedend heiß wird mir klar, dass ich ihn jetzt schon zum zweiten Mal nicht sofort angerufen habe. Er weiß das mit Bennie noch gar nicht.

»Was ist denn hier los?«, seine Augen weiten sich vor Überraschung angesichts des Verbandszeuges. »Hat sich jemand verletzt?«

Ich schaue vom Verbandszeug zu Stefan und habe keine Ahnung, wie ich ihm das alles erklären soll. Wieso ist Ju eigentlich abgehauen? Wir hätten Stefan doch erzählen können, was passiert ist, dass ich Ju im Wald …

»Blue, jetzt rede schon! Was ist passiert?«

Ich ringe mir ein schwaches »Ich weiß es nicht« ab und beschließe, so zu tun, als hätte Anja das Verbandszeug liegen gelassen. »Ich war mit Mia spazieren, und als ich aus dem Wald wiederkam, habe ich nur noch den Krankenwagen wegfahren sehen – ich wollte eben bei dir anrufen.«

Stefan lässt sich seufzend auf den Stuhl fallen, auf dem Ju vor wenigen Minuten noch gesessen hat. »Ich habe gedacht«, flüstert er, »wenn du hier bist, wird alles besser, stattdessen wird es nur noch schlimmer.« Er rauft sich seine Haare, dann reibt er sich über die Schläfen, als wäre viel zu viel Druck in seinem Kopf. So traurig, wie er aussieht, kann ich mir gerade überhaupt nicht vorstellen, dass er jemals irgendwem etwas zuleide getan hat.

»Aber ich bin doch erst zwei Tage hier«, versuche ich ihn zu trösten, obwohl ich noch nicht einmal verstehe, wovon er eigentlich genau spricht. »Das wird schon. Haste makes waste, sagen wir.«

»Ich weiß, ich weiß. Gut Ding will Weile haben. Vielleicht ändert es sich ja wirklich noch. Dann fahre ich jetzt also besser mal nach Eberstadt.« Er lächelt mich schief an. »Willst du mitkommen?«

Nein, da brauche ich gar nicht erst darüber nachzudenken. Auf keinen Fall. Ich habe anderes vor.

»Für Mia ist es bestimmt besser, wenn wir hierbleiben und spielen, oder nicht? Ich meine, sie ist ja gestern erst aus dem Krankenhaus zurückgekommen.«

»Du hast recht. Ja, dann macht’s mal gut, ihr zwei. Bis später.« Er geht zur Haustür, dreht sich noch einmal zu Mia und mir um, winkt und wenige Sekunden später höre ich den Motor seines Autos anspringen.

Ich bleibe einen Moment mit Mia im Arm sitzen und frage mich, was verdammt noch mal hier eigentlich los ist.

Wie kommt es, dass Ju plötzlich ohne jedes Humpeln die Treppe hinunterrennen konnte? Und was meinte Stefan mit »Wenn du hier bist, wird alles besser«?

Ich stehe auf und gehe mit Mia langsam in mein Zimmer. Wieso nur ist Ju nach unten gerannt? Wollte er sich verstecken – oder hat er tatsächlich gewusst, dass es unten einen Ausgang gibt? Aber woher hätte er das wissen sollen? Sein Verhalten ist mehr als merkwürdig. Und was wollte er mir eigentlich sagen, kurz bevor Stefan gekommen ist? So viele Fragen türmen sich in meinem Kopf auf, ohne auch nur eine Antwort darauf zu haben. Und was, wenn er gar nicht weggelaufen ist, sondern sich nur versteckt hat? Mit dem kaputten Fuß konnte er ja kaum laufen.

Ich schaue im Bad nach, unter dem Bett und sogar in meinem Wandkleiderschrank. Doch da bewegen sich in der lauen Luft nur ein paar leere Bügel gespenstisch hin und her. Ich sollte meine Koffer wirklich bald auspacken und aufräumen, denke ich mit einem Blick auf das Chaos in meinem Zimmer.

Die Tür zum Garten steht auf. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich sie heute Morgen offen gelassen habe oder ob sie auf ist, weil Ju sie geöffnet hat. Ich gehe nach draußen und schaue mich im Garten um. Von Ju keine Spur. Der Typ ist tatsächlich einfach abgehauen.

Und jetzt?

Ich beschließe, wieder hoch ins Wohnzimmer zu gehen. Wenn Ju mir schon keine Antworten geben kann, will ich jetzt wenigstens Gewissheit in Bezug auf Stefan haben. Ich schließe die Tür ab und gehe nach oben. Nachdem ich Mia auf eine Krabbeldecke gesetzt habe, gehe ich zum Sideboard. Als sich meine Hand um den Knubbelgriff legt, halte ich kurz inne und frage mich, ob ich wirklich wissen will, was in diesen Artikeln steht.

Die Antwort lautet: Ja.

Entschlossen öffne ich die Tür und mein Blick fällt in das Schränkchen.

Nichts.

Keine Mappen mehr in dem Sideboard. Keine einzige.

Nur Servietten und Kerzen, Besteckkästen und alte Fotoalben.

Ich starre in das Sideboard und frage mich, ob ich mir das alles nur eingebildet habe.

Nein, ich bin sicher, dass diese Artikel und die Mappen hier waren. Die Frage ist nur, wer hat sie weggeräumt und warum.

Und warum ausgerechnet jetzt?