5.
Doch dein Leben war in Gefahr. Es gab nur einen Weg, dich zu retten, aber dieser Weg war so jenseits des Gesetzes, so jenseits von all dem, was ich für gut und richtig hielt, dass ich zunächst zögerte.
Ich umklammere Bennie so fest, dass er protestiert. »Tut mir leid, Kleiner«, flüstere ich und versuche, ihn und mich zu beruhigen. Das Bild ist bestimmt nur heruntergefallen – oder meine Erinnerung trügt mich und es stand woanders. Ich lasse meinen Blick über den Boden, dann über das Sideboard schweifen, während mein Herz hart gegen meinen Brustkorb hämmert.
Nichts.
Alle anderen Bilder stehen noch genau dort, wo ich sie vorhin auch gesehen habe. Nur dieses eine ist verschwunden.
Ich zwinge mich, logisch zu denken. Es muss eine Erklärung geben, es wird eine Erklärung geben, aber mein Körper sagt etwas anderes. Irgendwas geht hier vor, etwas, das mir trotz der Hitze schon wieder eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
Bennie wird immer schwerer auf meinem Arm, ich glaube, er ist müde. Er scheint jedenfalls nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Und sagt man nicht, dass Kinder und Katzen spüren, wenn Untote oder Geister …
Hey, stop, Blue! Genug jetzt!
Ich gehe mit Bennie in die Knie und setze ihn auf den Boden vor das Sideboard. Wenn das Foto heruntergefallen wäre, dann müsste es ja irgendwo sein …
Nichts, nur makellos glänzendes Parkett.
Mir wird heiß. Wenn es wirklich weg ist, dann hat mich mein Gefühl also doch nicht getrogen und es war tatsächlich jemand im Haus. Und das ist allein meine Schuld. Wie konnte ich nur so verantwortungslos sein und die Türe offen lassen?
Bennie findet die dicken runden Knubbelgriffe des Sideboards so interessant, dass er sich daran hochzieht und jetzt schwankend auf seinen Füßchen steht.
Ich sollte mir ein Beispiel an ihm nehmen und nicht so ängstlich sein. »Super, Bennie!«, lobe ich ihn, doch in diesem Moment fällt Bennie wieder auf seinen Po, und weil er sich dabei verzweifelt an dem Griff festhält, geht gleichzeitig die Tür des Sideboards auf und es rutschen Papierservietten und mehrere Mappen heraus. Eine von ihnen öffnet sich dabei, vergilbte Zeitungsartikel fallen auf den Boden.
»Mensch, Bennie, was machst du denn da?«, sage ich ärgerlich. Ich stelle mir vor, was wäre, wenn Anja oder Stefan in diesem Moment nach Hause kämen; das Ganze muss ja aussehen, als würde ich heimlich hier herumschnüffeln.
Hektisch staple ich die Servietten aufeinander und lege sie zurück ins Regalfach, dann schiebe ich die lose am Boden liegenden Papierseiten zusammen.
Ohne es zu wollen, registriere ich die fette schwarze, rot unterstrichene Schlagzeile auf dem zuoberst liegenden Artikel: Ist dieser Mann ein Mörder? steht da. Und obwohl es mich nichts angeht, werde ich wie magisch von diesem Artikel angezogen. Es handelt sich um eine Seite aus der BILD-Zeitung. Unter der Überschrift ist ein sehr grobkörniges Foto abgedruckt. Ich kann nicht anders, ich muss auf das Foto schauen.
Und als ich erkenne, was ich da sehe, beginnt mein Herz wie rasend zu hämmern. Dieser Mann sieht aus wie Stefan.
Ich starre auf das Bild, zur Schlagzeile und zurück, mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich will das nicht sehen, ich will das nicht! Wie in Trance stecke ich den Artikel in die Mappe, klappe sie zu und werfe sie zu den anderen in den Schrank zurück. Dann hebe ich Bennie auf und stürme mit ihm nach oben.
Unablässig summe ich dabei vor mich hin. Ich habe mich bestimmt verguckt. Das auf dem Foto war gar nicht Stefan, das war jemand anderer. Der Artikel war schon völlig zerknittert und ausgeblichen. Und außerdem: Warum sollte man so etwas aufheben? Vor allem, wenn man wirklich schuldig wäre, dann würde man das doch wegwerfen, oder? Vielleicht hat Stefan einen Zwillingsbruder, Zwillinge scheint es ja in der Familie zu geben. Doch trotz dieser Gedanken will mein Herz einfach nicht langsamer schlagen.
Ich muss mich beruhigen. Die Agentur überprüft garantiert die Familien, in die sie Au-pair-Mädchen schicken – und ehemalige Mörder kriegen bestimmt keines zugeteilt. Ach ja, Blue, meldet sich da wieder die hartnäckige Stimme, die sich vor Panik in meinem Kopf fast überschlägt, und wie sollte die Agentur das bitte schön überprüfen? Die haben doch gar keinen Zugang zu Polizeiakten.
Meine Gedanken rasen durch die Watte meines Hirns, doch sie helfen mir auch nicht weiter. Ich muss dringend ins Internet, muss herausfinden, was hier passiert ist. Ans Sideboard traue ich mich nicht mehr, schließlich könnte jeden Moment jemand von den Zeltners nach Hause kommen.
Zum Glück scheint Bennie wirklich müde zu sein und lässt sich von mir anstandslos wickeln und hinlegen. Ich bleibe nervös und vollkommen erschöpft an seinem Bettchen sitzen und warte darauf, dass er endlich einschläft. Dabei versuche ich, es zu vermeiden, zu dem leeren Bett seiner Schwester zu schauen, und summe als Wiegenlied »I will always love you« – eigentlich mehr für mich als für ihn. Und auch, weil man beim Singen tief atmen muss.
Du musst ruhig werden.
Vielleicht haben die Artikel nicht das Geringste mit Stefan zu tun, es kann tausend Gründe geben, warum sie hier herumliegen. Ja genau, wenn man so etwas herumliegen lässt, dann ist das eher ein Zeichen dafür, dass man vollkommen unschuldig ist, oder nicht?
Nachdem ich das Lied dreimal wiederholt habe, ist Bennie eingeschlafen. Ich beschließe, nach unten in mein Zimmer zu gehen und im Internet zu recherchieren. »Schlaf schön«, murmle ich und wende mich zur Tür.
»Damned!« Ich taumle zurück und falle beinahe hin. Wie lange beobachtet er mich schon? Scheinbar macht es ihm Spaß, mich zu beunruhigen!
»Stefan, was … ich … ich habe dich gar nicht kommen hören«, stammle ich und wünschte, ich würde mich nicht so verdammt hilflos fühlen. Das Wort »Mörder« blitzt vor meinen Augen auf und unwillkürlich weiche ich zurück, als er näher kommt und mich so komisch anlächelt. So wie gestern im Auto.
»Stefan, bleib stehen!«, presse ich hervor und doch überschlägt sich meine Stimme dabei fast.
Er legt den Finger an die Lippen und zeigt auf Bennie. »Schsch. Was ist denn bloß los?«, flüstert er verwirrt und bedeutet mir, aus dem Zimmer herauszukommen.
Als ich zögere, sieht er mich fragend an. »Komm schon, lassen wir Bennie schlafen!«
Ich atme tief durch und gehe zur Tür. Alles in Ordnung, sage ich mir. Er kann mir nichts tun. Alle wissen, dass ich hier bin.
Er geht voraus, die Treppen hinunter ins Wohnzimmer. Ich folge ihm.
»Du scheinst ganz schön durch den Wind zu sein! Tut mir leid«, er hebt seine Hände entschuldigend, »das ist wohl alles ein bisschen viel für deinen ersten Tag. Deshalb bin ich auch früher nach Hause gekommen. Ich wollte sehen, wie es mit dir und Bennie klappt.«
»Du hast mich total erschreckt«, sage ich und versuche, meine Stimme fest klingen zu lassen, obwohl ich innerlich zittere. »Ich habe dich nicht kommen hören, du hättest dich ruhig bemerkbar machen können!«
Er schüttelt den Kopf. »Das tut mir leid, war wirklich nicht meine Absicht. Ich bin gerade eben erst vom Krankenhaus zurückgekommen. Die Ärzte möchten Mia zur Beobachtung über Nacht dortbehalten und ich wollte schnell ein paar Sachen für Anja holen.«
Obwohl ich gerne wissen würde, wie es Mia geht, ob die Ärzte schon eine Diagnose gestellt haben und wann die beiden aus dem Krankenhaus zurückkommen, bringe ich kein Wort heraus. Stattdessen glaube ich, dass Stefan lügt und doch schon länger zu Hause war – ja, ganz bestimmt ist er schon länger hier! Das Gefühl, dass jemand im Haus ist, habe ich mir ganz bestimmt nicht nur eingebildet! Was, wenn er mich dabei beobachtet hat, wie ich die Sachen im Schrank gefunden habe …
»Ich habe das Babyfon vergessen«, platze ich heraus und renne nach oben, nehme das Babyfon, vergewissere mich, dass beide Teile angeschaltet sind, und gehe wieder nach unten. Ich muss unbedingt sofort ins Internet und herausfinden, was dieser Artikel zu bedeuten hat.
»Hey!«, sagt er, als ich wortlos an ihm vorbeilaufen will, und hält mich am Arm fest.
Und obwohl ich am liebsten laut schreien würde, denke ich mir, dass ich keinen Verdacht erregen darf. Deshalb lächle ich ihn müde an und sage: »Sorry, Stefan, aber das war wirklich alles ein bisschen viel heute. Ich gehe in mein Zimmer und ruhe mich ein bisschen aus, ja? Und mach dir keine Sorgen um Bennie, mit dem komme ich schon klar. Und sag Anja schöne Grüße von mir!«
Er lässt meinen Arm los, nickt mir kurz zu und verschwindet dann nach oben. Erleichtert stürme ich nach unten und gleich, als ich in meinem Zimmer bin, verrammle ich alle Türen und ziehe die Jalousien vor, dann schaue ich sogar unter meinem Bett und im Bad nach.
Niemand.
Gut, denke ich und gleichzeitig frage ich mich: Gut? Spinnst du, Blue? Bist du eigentlich noch bei Verstand?
Kaum, dass ich das erste Mal weg aus Amerika bin, fange ich auch schon an durchzudrehen! Und ich habe schließlich nicht in einem Kuhdorf in Wyoming gewohnt, sondern in Las Vegas, da sollte ich doch wirklich cooler sein. Ob das Vicky in Paris auch so geht?
Ich muss unbedingt mit jemandem reden, mailen, irgendwas, sonst drehe ich hier noch durch! Ich schalte meinen Laptop ein, doch als ich eine Internetverbindung herstellen will, klappt es nicht. Ungläubig starre ich auf das kleine Symbol auf meinem Monitor und versuche es noch mal. Nichts.
»Damn my luck!«, entfährt es mir wütend.
Und zum dritten Mal an diesem Tag schießen mir die Tränen in die Augen. Ich lege mich aufs Bett und weine hemmungslos.
Was passiert hier nur mit mir?