4.
Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Als es mir gelang, deine Aufmerksamkeit zu erregen, und du deine braunen Augen voll auf mich gerichtet hattest, da wusste ich tief in meinem Herzen, dass wir zusammengehören. Für immer.
Vogelgezwitscher weckt mich. Es klingt genauso unecht wie das, was sie in Vegas in den Kasinotoiletten abspielen, um die Pinkelgeräusche zu übertönen. Doch das hier ist ganz bestimmt echt.
Als ich aufstehe, merke ich, wie verdammt müde ich immer noch bin, nachdem ich die halbe Nacht Mails an Vicky geschrieben habe. Natürlich habe ich ihr als Erstes von meinem Abenteuer mit Stefan auf dem Rastplatz erzählt. Sie hat mir dann auch sofort in typischem Vicky-Style geantwortet: Sie fand sein Verhalten ganz schön gruselig und wollte wissen, ob er denn wenigstens gut aussehen würde. Aber später meinte sie, dass wir vielleicht überreagieren, weil wir keine Ahnung haben, wie das hier in Europa so läuft. Ihre Gasteltern wären auch komisch, wahnsinnig reserviert und kurz angebunden, da müsste man einfach mal abwarten, wie sich alles entwickelt – und genau das denke ich auch.
Müde, aber trotzdem neugierig trete ich auf den Rasen vor meiner Tür und drehe mich zum Wald um.
Das, was mir gestern Abend wie ein schwarzes Loch vorgekommen ist, wirkt jetzt im Sonnenlicht, als wäre es ein geheimnisvoller, freundlicher Märchenwald. So ähnlich habe ich mir die Wälder in Grimms Märchen vorgestellt, die mir Grannie immer erzählt hat, wenn Mom im Kasino arbeiten musste. Mir gefielen die echten deutschen Märchen viel besser als diese albernen Disneyversionen. Ich liebte es, wenn die böse Hexe am Ende in den Ofen geschubst wurde und sich Schneewittchens Stiefmutter zu Tode tanzen musste.
Hier draußen ist das irgendwie künstliche Gezwitscher noch viel lauter als drinnen und es duftet nach Rosen und Lavendel und Gras. Ich atme tief durch, gehe ein paar Schritte die Böschung hoch und schaue zum Ort hin.
Einen Moment lang scheint es unwirklich, dass ich gerade tatsächlich den Ort sehe, an dem meine Großmutter aufgewachsen ist. Von Weitersheim ist Grannie damals in den sechziger Jahren abgehauen, um nach San Francisco und dann nach Woodstock zu gehen. Der Gedanke, dass Grandma sogar von einem anderen Kontinent weggelaufen ist, weil sie unbedingt Hippie sein wollte, hat mir immer schwer imponiert und ihre Geschichte hat mich schon als kleines Kind fasziniert. Ich finde Grannie unheimlich cool, aber Mom hat sich für ihre peinliche Hippiemutter all die Jahre nur geschämt und die beiden haben eher ein schwieriges Verhältnis. Grannie war immer für mich da – was ich von meiner Mom nicht unbedingt behaupten kann. Klar, sie hat es nicht leicht gehabt, als Dad uns verlassen hat, aber Grannies Leben war auch nicht einfach gewesen.
Während ich über Grannie nachdenke, mache ich einen Rundgang durch den Garten, der am Wald endet. Plötzlich muss ich lächeln. Meine Freundinnen waren früher richtig scharf darauf, zu mir und meiner crazy German Grandma zu kommen. Grannie lief immer noch so rum, als wäre Woodstock erst gestern gewesen, roch nach Patschouli und hatte für alles Verständnis. Meine Freundinnen erzählten ihr sogar Geheimnisse, die sie mir niemals verraten würden. Darauf war ich manchmal eifersüchtig, aber meistens nur kurz, denn ich konnte Grannie nie lange böse sein. Außerdem kann sie großartig kochen und Tarotkarten legen und mit ihren Voraussagen hat sie immer so gut ins Schwarze getroffen, dass alle meine Freundinnen der Überzeugung sind, dass sie eine Hexe sein müsste – eine gute Hexe natürlich.
Vicky meint immer, dass ich vielleicht auch so eine Gabe habe wie Grannie. Tatsache ist, dass ich meiner Großmutter zum Verwechseln ähnlich sehe – das heißt, wenn man sich Fotos anschaut, auf denen Grannie so alt war, wie ich es jetzt bin. Vor allem haben wir beide die gleichen türkisblauen Augen. Deshalb hat Mom mir ja auch Blue als zweiten Vornamen gegeben.
»Hallo-oo?«, ruft eine Stimme und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich drehe mich um und sehe Anja, die mir über das Geländer der oberen Terrasse freundlich zuwinkt.
»Möchtest du Frühstück?«, ruft sie.
»Ja gern. Ich komme gleich.«
Ich verlasse den Garten, dusche und ziehe mir Jeans und ein türkises T-Shirt an. In der Küche angekommen sehe ich, dass Anja eins der Babys mit einem Tuch vorne am Bauch trägt, während sie Kaffee kocht und Weißbrotscheiben in den Toaster schiebt. Sofort befällt mich ein schlechtes Gewissen, schließlich bin ich hier, um sie zu entlasten.
Ich begrüße sie und frage, ob ich ihr das Baby abnehmen soll, aber sie schüttelt nur matt den Kopf. »Der Kleine braucht mich jetzt. Bennie hat die ganze Nacht geschrien. Ich weiß nicht genau, was er hat, aber ich fürchte, es ist etwas Ernstes.« Sie schaut mich mit großen Augen an und streichelt Bennie über den Kopf.
Ich habe im Keller gar nichts davon mitbekommen. Wahrscheinlich liegt das Kinderzimmer zu weit entfernt und ich bräuchte schon das Babyfon, um zu hören, wenn die Kleinen schreien.
»Wo ist denn Mia?«, frage ich und unterdrücke ein Gähnen.
»Sie schläft noch.«
»Soll ich sie holen, frühstücken wir mit den Kindern? Soll ich einen Brei machen?«, frage ich, weil ich mir zunehmend überflüssiger vorkomme.
Anja nickt dankbar. »Ja, wir sollten sie wecken, sonst macht Mia später keinen Mittagsschlaf. Außerdem muss sie jetzt auch endlich etwas essen.«
Ich laufe die Treppe nach oben zum Kinderzimmer und bin sehr gespannt, wie meine erste Begegnung mit Mia ausfallen wird. Vorsichtig öffne ich die Tür und schaue mich erst mal um. Zwei Drittel der Wände sind zartblau gestrichen und das obere Drittel ist mit einer breiten Bordüre beklebt, auf der Tiere im Zoo zu sehen sind.
Die Wickelkommode vor dem Fenster hat eine dicke weiche Polsterauflage, die mit Herzchen verziert ist. Über dem Tisch hängt ein zartes Mobile aus bunt schillernden Fischen, die sich beim leisesten Lufthauch bewegen. Rechts und links neben dem Fenster befinden sich schwere Vorhänge, auf der man die Tigerente auf dem Weg nach Panama bewundern kann.
»Guten Morgen, kleine Prinzessin«, singe ich, während ich mich ihrem duftigen rosa Himmelbettchen nähere. »You are my sunshine, my little …« Ich beuge mich über das Baby, registriere diesen Geruch nach Puder und verschütteter Milch und merke sofort, dass hier etwas nicht stimmt.
Mia sieht ganz blau aus. Panik überfällt mich und ohne weiter nachzudenken oder mich an das zu erinnern, was ich in den Kinderpflegekursen gelernt habe, hebe ich sie aus dem Bettchen und stürme nach unten.
»Anja! Mia … mit Mia stimmt was nicht, ich glaube, sie atmet nicht.« Mein Herz schlägt bis zum Hals und gerade, als die Panik mich zu überwältigen droht, schlägt Mia ihre Augen auf. Hinreißende blaue Kulleraugen schauen mich verwundert an, dann kommt ihre hellrosa Zungenspitze zwischen den Lippen zum Vorschein.
Tränen der Erleichterung schießen mir in die Augen. Sie lebt also. Mia lebt.
Anja rennt herbei, reißt mir die Kleine aus dem Arm und presst sie fest an sich, was nicht einfach ist, weil sie ja Bennie noch um den Bauch trägt.
»Oh mein Gott, sie ist ja ganz blau. Ruf sofort einen Krankenwagen und bestehe darauf, dass sie einen Kindernotarzt mitschicken!«
»Wo ist das Telefon?«, frage ich und merke, dass ich angefangen habe, am ganzen Körper zu zittern.
Anja zeigt zum Flur, ich renne raus, aber da ist kein Telefon, dann entdecke ich ein Handy auf dem Küchentisch und nehme das. »Wie lautet die Notrufnummer?«, frage ich, was Anja ein ungläubiges Kopfschütteln entlockt.
»110!«, stöhnt sie. »Und beeil dich.«
Mit zitternden Fingern wähle ich die Nummer und plötzlich überfällt mich die Angst, dass ich vor lauter Panik kein Deutsch mehr kann. Doch dann zwinge ich mich, an Grannie zu denken und an ihr Motto ›In der Ruhe liegt die Kraft‹.
Keine Ahnung, was ich am Telefon gesagt habe, alles verschwimmt in meinem Kopf, ich starre nur auf die arme Mia, die immer noch leicht blau aussieht. Ich komme erst wieder zu mir, als ich die Sirenen von Weitem höre.
Tatsächlich ist ein Kinderarzt mit einem roten Stethoskop dabei, der so gelassen und überlegt abfragt, was passiert ist, dass sich alle beruhigen. Dann bekommt dieses winzige Wesen eine Infusion und eine Sauerstoffmaske und wird in den Krankenwagen geladen.
Anja weigert sich zuerst, Bennie bei mir zu lassen, und übergibt ihn mir mit so viel Widerwillen, als wäre meine Anwesenheit der Grund für Mias Atemnot. Zum Glück drängen die Sanitäter zur Eile, deshalb gibt Anja nach, schärft mir aber ein, sofort ihren Mann anzurufen und ihm zu sagen, dass er nach Hause kommen solle. Die Nummer stünde in dem schwarzen Buch neben dem Telefon.
Ich verspreche alles, nehme Bennie auf meinen Arm und suche dann sofort das schwarze Buch, von dem sie gesprochen hat.
Der Kleine brüllt empört, als wüsste er genau, dass seine Mutter ohne ihn weggefahren ist. Ich verstehe ihn gut, denn ich bin noch vollkommen fremd für ihn. Deshalb gehe ich mit Bennie durch die Wohnung auf das Holzdeck ins Freie, wiege ihn sanft hin und her und singe ihm alles vor, was mir einfällt. Versuche dabei, selbst wieder runterzukommen. Mein Puls ist immer noch unregelmäßig. Das Ganze ging so schnell. Außerdem fühle ich mich wie benebelt, weil mein Körper und mein Hirn vom Flug vollkommen durcheinander sind. Den Jetlag hatte ich wirklich total unterschätzt.
Erleichtert entdecke ich unten im Garten eine große Baumschaukel. Super, dieses Hin- und Herschwingen wird Bennie bestimmt so gut gefallen, dass er aufhört zu weinen.
Ich steige vorsichtig die Stahlstufen der Wendeltreppe nach unten. Meine Beine fühlen sich immer noch leicht zittrig an. Bei jedem Schritt dröhnt und vibriert der Stahl, was Bennie zu gefallen scheint. Er hört auf herumzuquengeln und wird schließlich ganz still, schaut sich neugierig um und greift dann mit den Händchen nach dem Geländer. Als ich seine Fingerchen um das kalte Metall lege, weiten sich seine großen braunen Augen, er gluckst und stopft sich die ganze Hand in den Mund. Dann beginnt er zu lachen. Um ihm eine Freude zu machen, gehe ich die Treppe gleich ein paarmal rauf und runter. Schließlich wird er unruhig und möchte, dass ich ihn runterlasse.
Ich setze Bennie auf die Wiese und hocke mich selbst auf die unterste Stufe. Völlig erschöpft, obwohl ich erst seit knapp zwei Stunden wach bin, sehe ich dabei zu, wie Bennie versucht, sich am Treppengeländer hochzuziehen. Er strahlt mich mit diesem zahnlosen Babygrinsen an, als es ihm endlich nach mehreren Versuchen gelingt. Er fällt zwar gleich wieder auf seinen dicken Windelpo, aber das hindert ihn nicht daran, sich sofort erneut hochzuziehen.
Ich finde ihn erstaunlich fit und er wirkt gar nicht krank, sondern voller Energie – auf alle Fälle ist er tausendmal fitter, als ich es bin. Ich schaue ihm eine Weile zu und versuche, meine Gedanken zu ordnen.
Was für ein Chaos gleich an meinem ersten Tag! Das war nun also die Wirklichkeit – es kommt mir so vor, als hätte ich in all den Kursen, die ich absolviert habe, nur mit Puppen gespielt. Puppen laufen jedenfalls nicht blau an.
Plötzlich fällt mir siedend heiß ein, dass ich Stefan noch nicht angerufen habe. Ich springe auf, nehme Bennie auf den Arm und renne die Stahltreppe wieder rauf. Das mag er nicht, er schnappt überrascht nach Luft und beginnt zu brüllen.
Was, wenn das sein Vater hört? Egal, ich muss jetzt das schwarze Buch finden.
»Bennie, verrate mir, wo ist das Buch?« Ich singe ihm die Frage vor, ganz hoch, ganz tief und mit Mickey-Mouse-Stimme. »Wo ist das Buch, wo, wo, wo?« Bennie fängt wieder an zu lachen. Besonders meine Mickey-Mouse-Variante scheint ihm unheimlich gut zu gefallen.
Ich durchsuche die Küche, den Flur und werde endlich im Wohnzimmer fündig. Das Notizbuch liegt auf einem Sideboard, auf dem viele Fotos stehen – und zwar exakt neben einem Bild, um das eine schwarze Trauerschleife gebunden ist. Es zeigt ein Baby, das genauso aussieht wie Bennie.
Ich halte einen Moment inne und spüre, wie ein beklemmendes Gefühl in mir aufsteigt. Ich muss an Stefan denken und wie er mir gestern Abend von dem Kind erzählt hat, das Anja und er verloren haben. Wie seine Stimme dabei geklungen hatte … Je länger ich das Foto anschaue, desto stärker wird in mir das Gefühl, das Bild wegdrehen zu wollen. Es kommt mir wie ein schlechtes Omen vor. Wie hält Anja es nur aus, jeden Tag dieses Bild zu sehen? Auf alle Fälle ist es nur verständlich, dass sie so um die Zwillinge besorgt ist.
Ich greife zögernd in die Richtung des gerahmten Bildes, doch dann schüttle ich entschieden den Kopf, schnappe mir das Notizbuch und drehe mich schnell vom Sideboard weg.
Mit Bennie auf dem Arm dauert es ein bisschen länger, bis ich endlich die Nummer von Stefans Fliesengeschäft finde. Er ist sehr bestürzt, als er erfährt, was passiert ist.
»In welches Krankenhaus haben sie Mia denn gebracht?«, fragt er.
Das habe ich nicht mitbekommen. Als er wissen will, ob es die Johanniter, Samariter oder das Deutsche Rote Kreuz waren, die mit dem Krankenwagen gekommen sind, habe ich auch keine Ahnung und fühle mich schrecklich unfähig.
»Wie kommst du mit Bennie zurecht? Wie geht es ihm?«
»Gut«, sage ich mit mehr Überzeugung, als ich habe, und zwinkere Bennie an, der jetzt hingebungsvoll an seinem Daumen lutscht. »Anja hat zwar gesagt, dass er kaum geschlafen hat, aber auf mich wirkt er ganz okay.«
»Das freut mich. Dann werde ich mich erkundigen, in welchem Krankenhaus sie gelandet sind, und gleich hinfahren. Wirst du zurechtkommen?«
»Klar«, sage ich. Wir verabschieden uns und ich lege auf. Dann erst fällt mir ein, dass Anja ihren Mann ja zu Hause haben wollte. Ob ich Stefan noch mal anrufen soll? Nein, lieber nicht, ich hab mich gerade schon genug blamiert. Erst weiß ich nicht, welche Ambulanz hier war und wohin sie Mia gebracht haben, und dann vergesse ich auch noch Anjas Anweisungen – das macht ja wohl alles andere als einen guten Eindruck.
Nachdem ich aufgelegt habe, fällt mir auf, wie still es im Haus ist. Nur Bennies schnaufendes Atmen ist zu hören und jetzt erst wird mir klar, dass ich wirklich ganz alleine hier bin. Millionen Kilometer weg von zu Hause. In einem Haus, dessen Räume ich noch nicht mal alle kenne. Ein Haus am Ende der Welt. Plötzlich frage ich mich, wo das andere Kind gestorben ist. Hier im Haus? Ob es krank war? Oder war es ein Unfall?
Ein merkwürdiges Nagen macht sich in meinem Magen breit. Mein Blick fällt erneut auf das Foto. Und wieder überfällt mich dieser merkwürdige Zwang, es gerne umdrehen zu wollen.
Jetzt hör auf zu spinnen, Blue, ermahne ich mich. Schau dir einfach die vielen anderen Fotos an.
Da ist das Hochzeitsfoto der Zeltners, offensichtlich aus den achtziger Jahren; das Brautkleid aus champagnerfarbener Spitze hat mächtige Schulterpolster und das prächtige Diadem der Braut steckt in einer dauergewellten Mähne. Anja lächelt nur ganz leicht, wohingegen Stefan strahlt, als ob er besoffen wäre vor Glück. Auf dem Bild sehe ich zum ersten Mal, was für eine merkwürdige Augenfarbe Stefan hat, hellbraun wie schimmlige Vollmilchschokolade. Die anderen Bilder zeigen Schwarz-Weiß-Porträts aus den sechziger Jahren und Mädchen in Miniröcken mit Schottenkaros vor Weihnachtsbäumen.
Diese Fotos anzuschauen, wirkt ungemein beruhigend. Alles ist so normal. So, wie es sein soll.
»Komm, Bennie«, flüstere ich, »schauen wir uns den Rest des Hauses an.« Wieso flüstere ich, was soll das denn? Schließlich sage ich ja nichts Verbotenes. Deshalb sage ich es noch mal, aber viel lauter. Seine großen Augen betrachten mich aufmerksam und ich finde es schade, dass er noch nicht sprechen kann.
Doch als ich vor der Treppe stehe, die nach oben führt, stelle ich fest, dass ich eigentlich gar nicht hierbleiben, sondern viel lieber rausmöchte. Irgendwie will ich nicht an der Zimmertür vorbeigehen, hinter der Mia vorhin in ihrem Bettchen gelegen hat, ohne zu atmen. Plötzlich legt sich die Verantwortung, die ich trage, wie ein schweres Gewicht auf meine Schultern. Vielleicht sollte ich Stefan doch noch mal anrufen und ihn bitten, nach Hause zu kommen? Was, wenn es Bennie plötzlich auch wieder schlechter geht und ich ganz alleine hier mit ihm bin? Der Gedanke beschleunigt schon wieder meinen Puls und ich beschließe, dass wir schell raus und auf andere Gedanken kommen müssen.
»Ich hab’s mir anders überlegt, Bennie, wir gehen spazieren, da gibt es für dich auch viel mehr zu sehen als hier im Haus«, sage ich mit fröhlich bestimmter Stimme. »Wir erkunden den Ort, was meinst du?«
Ich finde, er sieht begeistert aus, also mache ich mich auf die Suche nach dem Kinderwagen und entdecke ihn in der Doppelgarage, am Ende der Einfahrt.
Nachdem ich Bennie gewickelt und mit Sonnencreme eingeschmiert habe – Anja soll schließlich nicht glauben, ich wäre nicht in der Lage, mich ordentlich um die Kleinen zu kümmern! –, packe ich eine Tasche mit Ersatzwindeln, einem Tee-Fläschchen und Reiswaffeln. Es dauert eine halbe Ewigkeit, ehe ich mich durch die Schubladen und Schränke in der Küche gewühlt habe. Es ist unglaublich, alles ist voller Gläschen, Dosen und Tüten; überall kleben Zettel von Babynahrung darauf. Und ich dachte immer, es reiche, Brei vorrätig zu haben … Anja scheint aus ihrer Ernährung eine Wissenschaft zu machen. Aber irgendwie kann ich sie verstehen, sie will eben nur das Beste für die beiden.
Ich laufe mit Bennie auf dem Arm in die Garage und setze ihn in einen der mit Lammfell gepolsterten Sitze des Zwillingskinderwagens. Nachdem ich die Tasche verstaut habe, spanne ich den Sonnenschirm auf, denn die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel und die Luft ist schon total warm, obwohl es erst Anfang Juni ist. Grandma hat behauptet, der Sommer in Deutschland wäre nur kurz und es würde erst im Juli richtig heiß.
Und gerade als ich losgehen und die Tür hinter mir zuziehen will, wird mir klar, dass ich gar keinen Schlüssel habe. Also gehe ich noch einmal zurück ins Haus, aber das Schlüsselbrett neben der Tür ist leer. Ich könnte ja meine Tür einfach offen lassen, überlege ich. Schließlich steht das Haus am Ende der Welt, wer sollte hier schon einbrechen? Und dann auch noch am helllichten Tag!
Ich verriegle also alle Türen außer meiner, die ziehe ich zwar zu, lasse sie aber unverschlossen, dann brechen wir endlich auf.
Bennie gefällt es nicht, dass ich ihn angeschnallt habe, und er stemmt sich gefährlich weit aus dem Kinderwagen. Aber nach einigen Minuten gibt er auf.
Zum Glück gibt es neben der Straße einen Fußweg, der nach Weitersheim hinüberführt. Ab und zu bleibe ich stehen und zeige Bennie ein dandelion, keine Ahnung, wie das auf Deutsch heißt. So eine gelbe Wiesenblume, die er sich sofort in den Mund stopft, aber ich glaube nicht, dass ihm das schaden wird. Sicher bin ich mir allerdings nicht. Mann, das hier ist wirklich was anderes als die Kurse, die ich in Vegas hatte! Vorsichtshalber nehme ich Bennie die Blume doch wieder ab.
Wir nähern uns nun langsam dem Dorf und ich frage mich, ob ich jetzt das Gleiche vor mir sehe wie Grannie in den sechziger Jahren oder ob sich viel verändert hat. Sie hat gedacht, ich schaffe es nicht, auch nur in der Nähe des Ortes eine Au-pair-Stelle zu kriegen, aber da hat sie sich getäuscht. Es war sogar sehr einfach, weil man bei der Agentur angeben konnte, wohin man wollte – und kein Mensch wollte in den vorderen Odenwald! Ich hätte sogar auch noch eine andere Stelle kriegen können, in Seebick. Das ist ein Ort in der Nähe, allerdings noch ein Stück weiter in den Odenwald hinein. Aber so war das natürlich der absolute Glückstreffer!
Ich habe nun das Dorf erreicht und vor mir liegt eine lange Straße; an einer Kreuzung ist ein Geschäft mit Zeitungen und Kinderspielzeug, dann kommen eine Metzgerei und eine Bäckerei. Alle drei Gebäude haben unten einen Sockel aus braun melierten glänzenden Fliesen und weiter oben graubeiges Mauerwerk. Das wirkt sogar im Sonnenlicht und unter dem strahlend blauen Himmel ziemlich trostlos. Das Haus mit der Bäckerei steht zurückgesetzt von der Straße, hat einen sehr großen Vorgarten mit abgezirkelten Blumenbeeten und einer prächtigen sattgrünen Rasenfläche, in deren Mitte hoch oben auf einer dicken Säule ein großes rundes Häuschen steht. Es sieht aus wie ein überdimensionales Puppenhaus mit vielen bunt verzierten geschnitzten Türen und Törchen. Schade, dass es so hoch oben ist, Bennie würde es bestimmt liebend gerne untersuchen.
Ich beschließe, erst mal eine Zeitung zu kaufen. Bennie ist überglücklich, als ich ihn aus dem Wagen nehme und mit ihm in das Geschäft gehe.
Drinnen ist es im ersten Moment so dunkel, dass meine Augen ein paar Minuten brauchen, um etwas erkennen zu können. An den Wänden sind Holzregale, in denen von Wollknäueln bis hin zu Computerspielen alles Mögliche zu sehen ist.
Eine Frau, die älter aussieht als Grannie, steht hinter einer Ladentheke und lächelt mir freundlich zu.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie und streicht ihr kurzes gewelltes elefantengraues Haar hinter die Ohren, wie um besser hören zu können.
Doch als ich näher komme, holt sie hastig ihre Brille hinter der Kasse hervor, setzt sie auf, starrt mich an, nestelt am Gestell herum und dann friert ihr Lächeln ein und wird kantig wie Eiswürfel.
Ich trete trotzdem an die Theke und setze Bennie dort ab, weil das die allermeisten Frauen wieder aufgetaut hätte. Aber sie schaut ihn nur kurz an, dann wieder zu mir. Als Bennie anfängt, mit der Dreizehn an meinem Bettelarmband zu spielen, schaut sie ein zweites Mal zu ihm hin und dann starrt sie mich so eindringlich an, als wäre ich ein Geist.
Ein sehr hässlicher, unerwünschter Geist.
»Guten Tag«, sage ich und gebe mir alle Mühe, trotz ihres feindseligen Blicks freundlich zu bleiben, »ich möchte gern eine Tageszeitung von hier kaufen.«
»Haben wir nicht.« Sie wendet sich ab und verschwindet im hinteren Teil des Ladens.
»Aber …« Fassungslos starre ich ihr hinterher. Kann es sein, dass die Leute hier in Deutschland alle ein bisschen irre sind? Oder habe ich irgendwelche ungeschriebenen Gesetze gebrochen? Darf man vielleicht ein Kind nicht auf die Theke setzen …? In Amerika würde jeder vor Entzücken halb verrückt werden!
»Hallo?«, rufe ich noch einmal. Aber es bleibt so still, als würde ich mitten in der Wüste stehen.
»Okay, Bennie, let’s go.« Ich versuche, meine Wut über die Unfreundlichkeit der alten Dame hinunterzuschlucken, nehme den Kleinen auf den Arm und gehe aus dem Laden.
Ein wenig verloren stehe ich auf der Straße herum und spüre, wie mir plötzlich heiße Tränen in die Augen schießen. Erst diese merkwürdige Geschichte gestern Abend, dann der Trubel heute Morgen und nun auch noch diese unfreundliche Alte. Grannie hatte mir zwar erzählt, wie die Leute im Odenwald so sind, aber ich habe geglaubt, wenn ich den Menschen aufgeschlossen gegenübertreten würde, dann wäre alles halb so schlimm.
Doch ich will mir nicht meine Laune verderben lassen, deshalb schlucke ich meinen Ärger hinunter und schaue mich um. Die Sonne blendet mich so, dass ich blinzeln muss, aber dann fällt mein Blick wieder auf die Bäckerei. Ich beschließe, Bennie und mir zum Trost etwas Süßes zu kaufen.
Mit einem leisen Kling-klong geht die Tür auf. Mir steigt der Duft von frischem Brot und süßem Kuchen in die Nase und ich bilde mir ein, dass auch Bennie genüsslich schnuppert.
Hier ist die Theke sehr hoch, vorne geschlossen und aus Glas, sodass man die vielen Kuchen, Torten und zuckrig glänzenden Hefeteilchen gut sehen kann.
Eine ältere Frau in einem hellblauen Kittel sortiert gerade runde Brotlaibe in das Holzregal hinter der Theke und dreht mir den Rücken zu. Vor ihr steht ein junger Typ mit einem Pferdeschwanz und weißem T-Shirt, auf dem man Mehlspuren erkennen kann. Als er mich näher kommen sieht, strahlt er geradezu und fragt, was ich möchte. Wenn er lächelt, hat er Grübchen in den Wangen, und er wird rot, als ich zurücklächle.
»Guten Tag«, sage ich.
Die Frau vor dem Holzregal dreht sich ruckartig um und starrt mich an. Die restlichen Brote gleiten ihr aus der Hand und sie geht, ohne ein Wort zu sagen, einfach weg.
Der junge Typ hebt eilig die Brote auf und legt sie auf die Seite. Na toll, schon die zweite verrückte Alte, der ich hier über den Weg laufe!
»Also, ja, was möchtest du?« Er betrachtet mich neugierig. »Du kommst mir irgendwie bekannt vor.«
»Das kann nicht sein, ich bin gestern erst aus Las Vegas hierhergekommen.« Doch noch während ich ihm widerspreche, dämmert es mir. Vielleicht haben die beiden Alten meine Ähnlichkeit zu Grannie erkannt. Aber warum laufen sie dann alle vor mir weg, als wäre ich der Teufel in Person?
Er reißt die Augen auf – schöne hellgrüne Augen, fällt mir auf. »Wow, das ist ja echt cool. Aus Vegas.« Er reicht mir seine Hand über die Theke, die so hoch ist, dass ich mich auf die Fußspitzen stellen muss, um ihm meine entgegenzustrecken.
»Ich bin übrigens Felix. Und was treibt dich an diesen öden Ort am Ende der Welt, Miss Vegas?«
»Mein Name ist Blue.« Wir schütteln die Hände und grinsen wie Staatspräsidenten, die für die Weltpresse posieren.
»Felix!«, kommt da ein messerscharfer Ruf von hinten.
»Wir haben gerade Kundschaft!«, ruft er gelassen über seine Schulter zurück.
»Von wegen Kundschaft, komm sofort her!«, kommandiert die Frau.
Er dreht sich wieder zu mir um und zwinkert mir zu, als wären wir alte Freunde. »Meine Großmutter spinnt manchmal ein bisschen, aber sie besteht darauf, immer noch zu arbeiten, und die Leute hier im Dorf lieben sie. Warte einen Moment, ja?«
Er verschwindet hinter einem Vorhang und ich kann erregtes Getuschel hören, das ich leider nicht verstehen kann, egal, wie sehr ich mich auch anstrenge. Doch ich bilde mir ein, Grannies Namen gehört zu haben.
Als Felix wenige Augenblicke später wieder hinter die Theke tritt, wirkt sein Gesicht verschlossener und sein offenes Grinsen ist einem aufgesetzten Lächeln gewichen. Trotzdem gleiten seine Augen über meine Figur, als würde er sie in Brotteig abformen wollen.
»Also, was soll’s denn sein?«, fragt er dann mit einem Seufzen.
»Felix, wir haben geschlossen!«, trötet die alte Frau von hinten in den Verkaufsraum.
»Nichts, danke«, schleudere ich ihm pampig entgegen und stürme aus dem Laden, packe Bennie in seinen Wagen und dann laufe ich so schnell ich kann zurück. Meine Wut ist unbändig und plötzlich sehne ich mich so sehr zurück nach Vegas, dass mir schon wieder die Tränen in die Augen steigen.
Ich bin erst wenige Minuten gelaufen, als ein Mountainbike scharf neben mir abbremst.
»Hey, Blue, tut mir leid!« Felix ist völlig außer Atem. »Wie ich schon sagte, Oma spinnt manchmal.«
Ich gehe einfach weiter. Unnötig, etwas zu sagen.
Er packt mich am Oberarm und zwingt mich so, stehen zu bleiben. Sein Griff fühlt sich an wie Stahlmanschetten.
»Hey, lass das!«, fahre ich ihn empört an. Was bildet sich dieser Typ eigentlich ein?!
Er zuckt mit den Schultern, lässt meinen Arm los, holt aus seinem Rucksack eine Tüte, aus der es genauso lecker duftet wie in der Bäckerei. Bennie betrachtet ihn interessiert.
»Hier, probier das mal.« Er reicht mir die Tüte. »Wird dir bestimmt schmecken. Und ärgere dich bloß nicht über die Verrückten im Dorf. Oma ist schon okay, aber die spinnen hier eben. Niemand, der ein bisschen Grips im Hirn hat, bleibt hier.«
Seine Worte besänftigen mich ein wenig. Außerdem finde ich es wirklich nett, dass er hinter mir hergeradelt ist. »Und du?«, frage ich ihn.
Sein Gesicht verzieht sich zu einem schiefen Lächeln, das dann abrupt endet. »Würdest du mit mir mal ausgehen?«
Er versucht, direkt in meine Augen zu sehen. Na, der lässt ja nichts anbrennen. Ich lege die Tüte in das Netz am Griff und weiß nicht, was ich sagen soll. Einerseits schmeichelt es mir, andererseits geht mir das zu schnell.
»Wir kennen uns doch noch gar nicht!«, sage ich dann und ärgere mich, dass mir nichts Lässigeres einfällt.
»Stimmt und genau das sollten wir ändern.« Er schwingt sich wieder auf den Sattel. »Ich muss zurück, sonst rastet Oma komplett aus. Wo wohnst du denn?«
Ich überlege kurz, ob ich ihm das sagen soll, aber warum nicht? »Bei den Zeltners«, sage ich also.
Er dreht das Rad um und steigt auf.
»Hey, Moment. Warte, Felix!«
»Bis später! Ich muss los.« Felix winkt mir zu und düst davon – allerdings Richtung Wald, nicht zurück zum Laden.
Verblüfft schaue ich ihm hinterher und dann muss ich trotz der merkwürdigen Behandlung, die mir das Dorf verabreicht hat, grinsen. Felix war vielleicht ein bisschen stürmisch, aber trotz allem nett. Und Vicky hat doch nicht recht. Sogar hier in der völligen Einöde leben nicht nur geeks, sondern auch ganz normale Jungs – sogar ziemlich gut aussehende, sportliche, um genau zu sein. Vielleicht ist es ja wirklich so, wie er sagt, und die Alten sind hier eben ein bisschen schräg. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass das Ganze mit Grannie zu tun hat.
Bevor ich weitergehe, öffne ich die Tüte und gebe Bennie ein Stück von einem Rosinenbrötchen und nehme mir selbst ein Teilchen aus Kirschen und Blätterteig. Es knirscht und knuspert, als ich reinbeiße. Lecker! Mag ja sein, dass sie hier irre sind, aber das ist das beste Teilchen, das ich jemals gegessen habe!
»Bennie, wir naschen nur ein bisschen, den Rest essen wir dann später als Nachtisch, ja?« Zufrieden kaut der Kleine an dem Brötchen herum.
Auf dem Rückweg sehe ich jetzt statt des Dorfes den Wald vor mir. Von Weitem sieht es so aus, als ob der immer noch dahinrasende Felix von den Bäumen aufgesaugt würde. Und dann sehe ich das Haus der Zeltners. Die vielen Glasfenster blinken und schimmern in der harten Mittagssonne wie Eis.
Bennie fängt an zu quengeln, er will noch mehr von dem Rosinenbrötchen. Erst jetzt denke ich wieder an seine kranke Schwester und frage mich, wie es ihr wohl geht.
Bei den Zeltners angekommen, hebe ich Bennie aus dem Kinderwagen und laufe mit ihm durch den Garten in mein Zimmer, wo ich die Tür offen gelassen hatte.
Irgendwas riecht hier komisch – oder riecht es hier immer so? Hoffentlich hat sich während meiner Abwesenheit keine Katze ins Haus geschlichen …
Ich lasse die Tür auf, damit es ordentlich durchlüftet, und gehe die Treppen nach oben. Mit jeder Stufe, die wir hochsteigen, verstärkt sich mein Gefühl, dass oben jemand auf uns wartet. Jemand oder etwas.
So ein Unsinn! Das muss an dem Durcheinander in meinem Kopf liegen, das die Zeitverschiebung angerichtet hat.
»Hallo?«, rufe ich, als wir oben angekommen sind, aber natürlich antwortet niemand.
Trotzdem kommt es mir so vor, als wäre jemand da. Vielleicht doch eine Katze, die neugierig ins Hausinnere gestromert ist. Ich schaue unter das Sofa, hinter die Türen. Einbildung, alles Einbildung, Blue.
Unwillkürlich presse ich Bennie fester an mich und mache mich in der Küche auf die Suche nach etwas Essbarem.
In einem Apothekerschrank finde ich Gläschen mit Babynahrung, die ich für Bennie im Wasserbad erwärme, weil ich nirgends eine Mikrowelle entdecken kann. Als sich der Deckel beim Drehen mit einem lauten Knacken öffnet, fahre ich erschreckt zusammen.
Blue, keep cool, ermahne ich mich und setze Bennie in den Hochstuhl. Während ich seine Füßchen durch die Halterung schiebe, fühle ich mich beobachtet.
Ich räuspere mich, um das abzustellen, und beginne, Bennie mit lauter Stimme zu füttern. »Einen Löffel für Grannie, einen für Mom, einen für Mia.« Plötzlich sehe ich wieder das Foto mit der Trauerschleife vor mir, nur dass mich diesmal die blauen Augen von Mia daraus anschauen. Ich kneife meine Augen zu, doch es hilft nicht und das Bild vermischt sich mit dem der alten Frau, die mich im Laden so feindselig angestarrt hat.
Ich lege den Löffel kurz ab, was Bennie mit lautem Protestgeschrei quittiert. Trotzdem massiere ich kurz meine Stirn und versuche, gleichmäßig zu atmen, dann nehme ich den Löffel wieder und füttere den Kleinen weiter.
Plötzlich spüre ich einen leichten Luftzug in meinem Nacken. Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Blue, bitte! Reiß dich endlich zusammen! Du hättest vielleicht auf dem Flug hierher doch etwas anderes als ghoststories lesen sollen.
Nachdem Bennie die Portion aufgegessen hat, schaut er mich so enttäuscht an, dass ich ihm noch ein Gläschen Rindfleisch-Karotten-Pamps warm mache, und das teilen wir uns dann.
Als ich aufstehe und den Stuhl zurückschiebe, bin ich mir ganz sicher – diesmal hat sich jemand geräuspert. Und zwar weder Bennie noch ich. Jetzt reicht’s!, denke ich wütend und gleichzeitig läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich packe Bennie, halte ihn wie einen Schutzschild fest in meinen Armen und gehe von der Küche in den Flur.
»Hallo?«, frage ich. »Hallo?«
Nichts.
Ich muss unbedingt Grandma mailen. Sie muss mich beruhigen, mir schreiben, dass es völlig normal ist, sich in fremden Wohnungen zu fürchten, weil man ihre Geräusche noch nicht kennt.
Mit Bennie auf dem Arm fühle ich mich mutiger und gehe wieder rüber ins Wohnzimmer.
»Hallo?«
Ich lausche eine Weile in die Stille, aber natürlich ist da auch niemand. Ich atme auf. In einem Horrorfilm würde mir jetzt doch noch eine süße schwarze Katze auf die Schulter hüpfen und mich zu Tode erschrecken. Grinsend klopfe ich Bennie den Rücken und mache mich auf den Weg zurück in die Küche.
Da, aus den Augenwinkeln heraus, da ist etwas. Ich bleibe stehen. Halte unwillkürlich die Luft an. Nein, da ist nicht etwas. Es ist genau umgekehrt. Es ist etwas nicht mehr da.
Ich starre wie gelähmt auf das Sideboard. Atme tief durch, dann gehe ich ein paar Schritte näher an das Schränkchen mit den Fotos.
Das Bild mit dem Baby ist weg. Das Bild, das Bennie so ähnlich war. Das mit der schwarzen Trauerschleife.