26.

Doch da waren wir schon auf dem Weg zur Autobahn nach Innsbruck, wo ich alles für dich vorbereitet hatte. Auch meine Nachbarn wussten, dass ich den Sohn von der Oma holen würde.

Eine halbe Stunde später sind Ju und ich mit den Zwillingen allein. Stefan ist mit Anja ins Krankenhaus gefahren, vorher hat er den Notarzt noch gebeten, die Zwillinge zu untersuchen. Zum Glück hatten die beiden nichts wirklich Schlimmes; Bennies Herzschlag war leicht erhöht, aber alle anderen Werte waren normal.

Stefan war erst wieder nach unten gekommen, als der Notarzt schon da war, und Ju war froh darüber, denn es war ihm peinlich, dass er so geweint hat.

Anja war nach zwei Minuten wieder aufgewacht, hatte dann aber so getan, als wäre sie völlig verwirrt und würde weder wissen, wo sie ist, noch wer wir sind. Die Sirenen der Ambulanz und die Untersuchung durch den Arzt haben Mia und Bennie unruhig gemacht, deshalb sitzen wir nun mit ihnen draußen auf dem Deck. Es ist jetzt definitiv zu spät für ein Mittagsschläfchen und zu früh, um sie schon für die Nacht ins Bett zu legen.

Doch ich bin ganz froh, Mia auf dem Schoß zu haben, und mir kommt es vor, als ob wir die beiden als eine Art Schutzschild benutzen, weil wir nicht wissen, wie wir uns jetzt verhalten sollen. Der Kuss brennt noch immer auf meinen Lippen. Vorhin habe ich gedacht, das wäre das einzig Richtige, Ju hat so entsetzlich traurig gewirkt, da wollte ich einfach ganz nah bei ihm sein. Ihm zeigen, dass er nicht alleine ist. Und er hat meinen Kuss erwidert, es war ein langer Kuss, sehr lang. Doch nun sitzen wir verlegen hier auf dem Deck, ich klammere mich an Mia, Ju hält sich an Bennie fest.

Ich starre in den Garten und vermeide es, in Jus immer noch verweintes Gesicht zu schauen. Dabei kreisen meine Gedanken nur um ihn und das, was er gesagt hat. Dass Anja seine Mutter wäre.

Mia und Bennie sind auf einmal vollkommen ruhig, als wollten sie, dass wir endlich reden, als wären auch sie neugierig zu erfahren, was hier eigentlich los ist.

»Es ist so«, fängt Ju schließlich an und durchbricht unser Schweigen. »Du hast doch die Zeitungsartikel in der Mappe gelesen. Dieses Kind, das entführt wurde, dieser kleine Jan … also, das bin ich.«

»Du bist Jan?«, frage ich ungläubig und in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Das Babyfoto mit der schwarzen Trauerschleife fällt mir wieder ein und ich kann es kaum glauben, dass der kleine Junge, der darauf zu sehen ist, nicht tot ist, sondern gerade neben mir sitzt. Dass ich ihn geküsst habe. »Aber wie ist das möglich?«

»Bis vor Kurzem habe ich geglaubt, dass ich Julius heiße und der Sohn einer alleinerziehenden Krankenschwester bin. Aber dann hat meine …«, er stockt, »… meine Mutter einen tödlichen Herzinfarkt gehabt und ich bekam einen Brief vom Rechtsanwalt. Gleichzeitig habe ich in der Wohnung diese Zeitungsartikel in ihren Unterlagen gefunden. Es war entsetzlich.« Jus Blick ist in weite Ferne gerichtet und er scheint Bennie, der in seinem Arm eingeschlafen ist, völlig vergessen zu haben. »Ich meine, ihr plötzlicher Tod hat mich schon völlig aus der Bahn geworfen – außer ihr hatte ich ja niemanden. Aber dann auch noch all das andere herauszufinden … Es hat sich angefühlt, als würde mir nicht nur der Boden unter den Füßen weggezogen, sondern auch das Herz herausgerissen.«

Er atmet tief durch, dann schiebt er Bennie vorsichtig ein Stück beiseite, um ein paar vollkommen zerschlissene Blätter aus seiner Hosentasche zu ziehen. Einen Moment lang starrt er unschlüssig auf die Seiten, ehe er sie mir herüberreicht.

Mia ist inzwischen auch eingeschlafen, sodass ich sie mit einer Hand festhalten kann. Will Ju tatsächlich, dass ich den Brief seiner toten Mutter lese? Ich werfe ihm vorsichtshalber noch einmal einen fragenden Blick zu, doch als er mir auffordernd zunickt, beginne ich zu lesen:

Mein Liebling,
es fällt mir außerordentlich schwer, dir diesen Brief zu schreiben. Und ich werde dafür sorgen – auch wenn es unheimlich feige ist –, dass du ihn erst dann lesen wirst, wenn ich bereits tot bin.
Du weißt, dass ich dich immer mehr geliebt habe als mein Leben, du warst für mich das Wasser, das Licht und die Luft zum Atmen. Bitte vergiss das nie, niemals und versuche, mir zu verzeihen.
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mir selbst kommt es heute – nach so vielen Jahren und mit Abstand – einfach ungeheuerlich vor, was ich getan habe. Und doch habe ich es nur für dich getan.
Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Als es mir gelang, deine Aufmerksamkeit zu erregen, und du deine braunen Augen voll auf mich gerichtet hattest, da wusste ich tief in meinem Herzen, dass wir zusammengehören. Für immer.
Doch dein Leben war in Gefahr. Es gab nur einen Weg, dich zu retten, aber dieser Weg war so jenseits des Gesetzes, so jenseits von all dem, was ich für gut und richtig hielt, dass ich zunächst zögerte.
Und aufgrund meines lächerlichen Zögerns wärst du beinahe gestorben. Bitte mach dir das immer wieder klar, wenn du weiterliest. Es war dein Leben, das ich schützen wollte, schützen musste.
Und deshalb habe ich diesen Plan ersonnen, von dem es kein Zurück mehr gab. Du merkst schon, wie schwer es mir fällt, endlich zu den nackten Tatsachen zu kommen. Verzeih mir bitte.
Du weißt, dass ich nicht einmal einen Strafzettel wegen Falschparkens bekommen habe. Vielleicht hast du gedacht, das wäre so, weil ich entsetzlich spießig bin, aber dafür gab es ganz andere ­Gründe.
Ich durfte nicht auffallen, nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Konnte nicht riskieren, dass man uns auf die Schliche kommt. Auch nicht, nachdem sie das Ungeheuerliche getan hatte.
Ungeheuerlich, denn sie hat sich damit abgefunden, dass du tot bist. Nicht einmal davor ist sie zurückgeschreckt. Nur um ihrer krankhaften Gier nach Aufmerksamkeit zu frönen. Und trotzdem war genau das der Moment, wo mir klar wurde, wie falsch mein Handeln gewesen war.
Es gab da jemanden, den ich vollkommen ausgeblendet hatte, und das ist das schlimmste Unrecht, das ich begangen habe – neben dem, was ich dir angetan habe.
Als er des Mordes verdächtigt wurde, war ich kurz davor, alles zu gestehen, denn ich konnte doch keinen Unschuldigen im Gefängnis schmoren lassen. Aber zum Glück hat die Polizei relativ schnell gemerkt, dass seine Lügen anderer Natur waren.
Und diese Lügen, sein Sexleben betreffend, haben mich dann darin bestätigt, dass ich für uns doch die richtige Entscheidung getroffen hatte. Allerdings musst du wissen, dass ich trotzdem immer wieder von starken Schuldgefühlen gequält wurde.
Auch weil du nach meinem Tod ganz allein in der Welt stehen wirst. Immerhin wird dich dieser Brief in die Lage versetzen, selbst nachzuforschen und dir eine eigene Meinung zu bilden. Glücklicherweise bist du nicht dumm.
Und ich hoffe deshalb, dass du mir vergeben kannst, dass ich dich als kleines Baby entführt habe. Du weißt, ich war Kinderkrankenschwester auf der Intensivstation, damals in München.
Schon kurz nach deiner Geburt warst du Dauergast auf unserer Station. Zunächst haben wir alle geglaubt, dass du eine sehr seltene Krankheit haben müsstest, und die Ärzte haben alles getan, um herauszufinden, was dir fehlt.
Aber ich kannte sie und wusste, dass sie schon ein Kind durch den plötzlichen Kindstod verloren hatte, weil ihr Mann es mir erzählt hatte. Als Erklärung für ihr extrem überbehütendes Verhalten. Sie hat es aber niemandem auf der Station verraten – und das kam mir merkwürdig vor.
Außerdem ging es dir immer besser, wenn deine Mutter nicht in der Klinik war, und so kam es, dass ich anfing, einen ungeheuerlichen Verdacht zu schöpfen.
Doch weil ich es selbst kaum glauben konnte, ließ ich mich zum Nachtdienst versetzen, um sie zu beobachten, wenn sie nachts bei dir blieb. Und wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte ich es auch nicht für möglich gehalten.
Sie hat mit einer Injektionsnadel etwas in deine Infusion gespritzt. Ich wollte deshalb den Tropf sofort abschalten, was mir auch gelang. Leider hat sie dadurch gemerkt, dass ich ihrem kranken Treiben auf die Spur gekommen war.
Deshalb hat sie dann dafür gesorgt, dass ich versetzt wurde. Sie hat behauptet, ich hätte im Nachtdienst geschlafen und nach Alkohol gerochen, und da sie eine freundliche, gramgebeugte und junge attraktive Frau war und ich eine kinderlose, unattraktive Schwester, haben die Ärzte es vorgezogen, ihr zu glauben anstatt mir.
Damals kannte man dieses Krankheitsbild noch nicht. Niemand hätte mir geglaubt. Und deshalb musste ich handeln. Ich habe gekündigt und mir in Innsbruck eine neue Stelle gesucht. Als Krankenschwester findet man immer etwas.
Dann habe ich meinen nächsten Urlaub genutzt und dich zu mir geholt. Wenn du das euphemistisch formuliert findest, dann denk daran, wie ich dich geholt habe.
Immer wieder bin ich ihr gefolgt, weil ich sicher war, dass meine Chance kommen würde. An diesem kalten Wintertag ließ sie dich vor einem Geschäft draußen im Kinderwagen stehen, wo ich dich herausgenommen und in meinen mitgebrachten Wagen gesetzt habe.
Und ich schwöre dir, als sie herauskam, hat sie nicht einmal nach dir geschaut. Das war gut für uns, denn so hat sie erst später bemerkt, dass du weg bist. Und dann hat sie sich wie ein Profi in ihre Rolle als leidende Mutter gestürzt.
Doch da waren wir schon auf dem Weg zur Autobahn nach Innsbruck, wo ich alles für dich vorbereitet hatte. Auch meine Nachbarn wussten, dass ich den Sohn von der Oma holen würde.
Etwas schwieriger war es, dir die richtigen Papiere zu besorgen. Doch auch dies gelang mir, nachdem ich auf meiner Station Jahre später einen Standesbeamten nach einer Operation gepflegt habe. Die Menschen sind so dankbar, wenn man freundlich zu ihnen ist. Er war so großzügig, mich zu heiraten und dich zu adoptieren, bevor er gestorben ist. Aber wie du jetzt weißt, bist du kein Österreicher, sondern Deutscher und dein richtiger Name ist nicht Julius Polliwoda, sondern Jan Markus Zeltner.
Du musst mir glauben, ich hätte es dir gleich nach deinem achtzehnten Geburtstag selbst erklärt. Diesen Brief habe ich bei einem Notar hinterlegt, nur für den Fall, dass mir vorher etwas zustoßen sollte.
Ich bitte dich nochmals, an all die guten Stunden zu denken, die wir zusammen hatten. Es war wirklich nicht so, dass ich dich einer anderen Mutter geraubt habe, weil mir Kinderlosen der Sinn danach stand.
Vielmehr gibt es heute einen Namen für die Störung, unter der deine leibliche Mutter leidet: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Doch damals – 1992 – hätte man mich für wahnsinnig erklärt und hätte ich tatenlos ihrem Treiben zugesehen, wärst du heute tot.
Bitte verzeih mir.

Für immer
deine nicht leibliche, aber dich innig liebende Mutter

Ute Hecht

Ungläubig wandert mein Blick über die Seiten, die ich in den Händen halte. Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf. Es kommt mir so ungeheuerlich vor, dass ich gar nicht weiß, wie ich darauf reagieren oder was ich zu Ju sagen soll. Ich weiß nur eines: Ju sitzt hier. Neben mir. Und ich möchte ihn unbedingt trösten. Doch eine Frage brennt mir auf der Seele und ich muss sie ihm jetzt stellen.

»Warum hast du dich mir nicht anvertraut? Warum hast du nicht gleich deine Geschichte erzählt, sondern mir solche Angst gemacht?«, frage ich vorsichtig und versuche, die Frage nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen.

Ju seufzt. »Weil ich selbst vollkommen durcheinander war, weil ich nicht glauben konnte, was man mir angetan hatte. Vor allem wusste ich nicht, ob ich meiner Mutter, die ja gar nicht meine leibliche Mutter war, wirklich glauben konnte. Ich dachte, das …«, er wedelt mit dem Brief, »sind nur die widerlichen Rechtfertigungen einer kinderlosen Frau, die einen kleinen Jungen entführt hat. Ich habe nicht daran gezweifelt, dass alles tatsächlich so stattgefunden hat, wie sie es in dem Brief geschildert hat – nicht, nachdem ich die Zeitungsartikel gelesen hatte. Aber was waren wirklich ihre Motive gewesen? Diese Münchhausen-Geschichte klang so absurd und ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter sich das alles einfach nur ausgedacht hatte.«

Ju hält einen Moment inne, als müsse er erst seine Gedanken ordnen. Dann fährt er fort und seine Stimme klingt so unendlich traurig, dass es mir einen Stich versetzt.

»In meiner Vorstellung hatte meine leibliche Mutter, also Anja, ihr ganzes Leben lang darunter gelitten, dass man ihr das Kind weggenommen hatte. Ich dachte, Anja wäre eine Frau, deren Leben Ute ruiniert hatte. Deshalb wollte ich selbst die Wahrheit herausfinden – ich konnte niemandem mehr vertrauen. Gleichzeitig hatte ich Angst davor, was ich finden würde. Vor ein paar Wochen habe ich mich dann in einer Pension in Seebick einquartiert und angefangen, die Zeltners zu beobachten.«

»Und warum hast du dich nicht deinem Vater anvertraut?«

»Meinem Vater …« Ju lässt sich die Worte auf der Zunge zergehen. »Mein Vater! Um ehrlich zu sein, an ihn habe ich als Letztes gedacht. Lange war mir gar nicht klar, dass Stefan wirklich mein Vater ist. Ich hatte immer nur eine Mutter – Ute. In meinem Universum gab es nie einen Vater. Und ich wusste nicht, was das bedeutet, wie es sich anfühlt – verstehst du das?«

Ich lege eine Hand auf seinen Arm und nicke ihm zu. »Ich habe zwar einen Vater, aber er war auch nie wirklich da. Für mich sind Grannie und Mom meine Eltern. Aber jetzt erzähl weiter.«

»Also, gerade als ich beschlossen hatte, mich ihm anzuvertrauen, fand ich heraus, dass er Anja betrügt.«

Ju wirft mir einen schnellen Seitenblick zu, doch ich nicke nur. Das, was Ju da gerade erzählt, habe ich mir, seit ich die Tüte gefunden habe, ja auch gedacht.

»Und diese Tatsache hat meinen Plan wieder ins Wanken gebracht. Doch nicht nur das; plötzlich habe ich auch darüber nachgedacht, ob Ute sich vielleicht getäuscht haben könnte. Ob es vielleicht Stefan ist, der die Kinder krank macht, damit seine Frau beschäftigt ist und er mehr Zeit für seine Affären hat. Er war und ist ein Lügner – ich wusste, dass ich ihm nicht vertrauen kann. Und dann kamst du ins Spiel. Als ich mitbekommen habe, dass die Zeltners ein Au-pair-Mädchen engagiert haben, hat sich in meinem Kopf gleich ein neuer Plan geformt. Ich dachte, wenn ich es schaffe, dich kennenzulernen, dann könnte ich so ganz unauffällig an die Familie rankommen. Deshalb habe ich mich selbst im Wald verletzt …«

Seine Sätze fühlen sich an wie feine Nadelstiche und ich frage mich, ob ich für ihn wirklich nur Mittel zum Zweck war. Eine höhnische Stimme in meinem Kopf antwortet und sagt mir, dass ich selten naiv bin. Ich hätte wissen müssen, dass dieser gut aussehende Junge sich nicht wirklich für mich interessiert! Der Buuum-Typ – guter Witz! Doch noch bevor ich etwas sagen kann, räuspert sich Ju, und als er weiterspricht, wirkt er verlegen. »Es tut mir leid, dass ich dich so blöd angebaggert habe.«

»Oh ja, der Buuum-Typ!«, sage ich und kann es nicht vermeiden, dass meine Stimme dabei bitter klingt.

»Hey.« Ju legt seine Hand auf meinen Arm und dann sehen wir uns zum ersten Mal seit Jus Zusammenbruch in die Augen und schauen beide ganz schnell wieder weg. Aber ich bemerke trotzdem noch, wie er in sich hineinlächelt, und gerade als ich fragen will, was es da zu lachen gibt, fährt Ju fort.

»Ich meine, der Plan war sehr einfach, denn ich musste nicht mal Interesse heucheln. Ich fand dich von Anfang an ganz hübsch – vor allem deine türkisfarbenen Augen …«

»So.« Mehr fällt mir nicht ein, und obwohl ich es nicht möchte, muss ich daran denken, wie gut Ju mir gefallen hat, als ich ihm das erste Mal im Wald begegnet bin.

»Und außerdem habe ich dann auch schnell gemerkt, dass du total in Ordnung bist.« Jetzt grinst er mir voll ins Gesicht. »Ich dachte zuerst, du wärst bestimmt so ’ne Ami-Zicke, für die es das Wichtigste ist zu wissen, welche Lippenstiftfarbe gerade angesagt ist oder ob man eine tolle Karre fährt.«

»Ami-Zicke – was genau meinst du damit?«, frage ich, obwohl mir schon klar ist, dass es bestimmt nichts Gutes bedeutet.

»Hm«, er überlegt und hebt dabei Bennie hoch, der gerade aufgewacht ist. »So was wie ’ne American bitch.«

»Rede ruhig weiter, German-Kraut-idiot, I really appre­ciate it.«

»Jedenfalls … ach, verdammt.« Nachdem er seine Finger an Bennies Arm hat hochwandern lassen, was der Kleine mit einem so lauten Quieken quittiert, dass auch Mia davon wach wird, sieht er mich an. »Du bist sauer, du beißt auf deiner Unterlippe rum.«

Aber er täuscht sich, ich bin nicht sauer, ich bin nervös. Mächtig nervös.

Ju steht auf und setzt Bennie neben Mia auf meinen Schoß, dann umarmt er uns alle drei und gerät ins Taumeln.

»Keine gute Idee, warte.« Er nimmt die Zwillinge und setzt sie auf die Krabbeldecke am Boden, kommt wieder zu mir, zieht mich hoch, raus aus dem Stuhl und umarmt mich, vergräbt sein Gesicht vorsichtig in meinem Nacken. »Tut’s noch weh?«, fragt er und fährt mit seinem Handrücken vorsichtig über den blauen Fleck auf der anderen Seite. Gänsehaut überzieht meinen Körper.

»Ja, ich meine – nein.«

»Aber du zitterst.« Er presst mich stärker an sich. Seine Wärme fühlt sich gut an. Beruhigend, aufregend. Ich bin ganz durcheinander und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Da löst er seine Umarmung, schiebt mich etwas von sich und sieht mir voll ins Gesicht.

Und dann kommt sein Mund näher, küsst meine Stirn, meine Wangen, meine Augen und endlich meine Lippen, sanft erst, dann drängender. Mir wird schwindelig und mein Herz fängt an zu rasen. Es hämmert, kann gar nicht genug kriegen, jagt das Blut durch meinen Körper, stellt alle Härchen auf und …

Da fangen Mia und Bennie an zu quäken.

Wir lösen uns widerstrebend voneinander und grinsen uns an.

»Deine Geschwister können ganz schön nerven!«, sage ich und versuche, meinen Körper zu beruhigen.

»Wage es ja nicht, sie zu beleidigen, sie haben einen mächtig starken großen Bruder!« Er gibt mir noch einen Kuss auf die Nase, bevor er mich behutsam mit sich auf den Boden zu den Zwillingen zieht.

»Hast du eigentlich Geschwister?«, fragt er und lässt eine Hand meinen Rücken entlangwandern.

»Nein, ich habe nur einen Großcousin, aber den kenne ich auch erst seit Kurzem, so wie du Bennie und Mia.«

Ju setzt sich auf und starrt mich an. »Du weißt so viel mehr über mich, als ich über dich.«

»Das kannst du jederzeit ändern. Frag, was du willst.«

»Was ich will?«, hakt er nach. Und als ich nicke, sprudelt es nur so aus ihm heraus. »Okay, Blue! Wie viele Lover hattest du vor mir und welcher war der beste und warum?«

»Millionen Lover natürlich!« Ich werfe Bennies Robbe an seinen Kopf.

»Spaß, Mann, war nur Spaß. Aber was ich wirklich wissen will, ist, was dich aus Las Vegas ausgerechnet in dieses Kaff hier verschlagen hat.« Er breitet seine Hände aus. »Ich meine, wer kommt freiwillig hierher? Bestimmt hast du etwas ausgefressen und tust hier Buße. Oder«, jetzt grinst er nicht mehr ganz so frech, »es war eine unglückliche Liebe.«

»Fast.« Ich ziehe das kaputte Armband von Grannie aus der Hosentasche und klimpere damit vor den Zwillingen herum. »Aber das ist eine sehr lange Geschichte.«

Und dann erzähle ich sie ihm.