23. Er

Dann habe ich meinen nächsten Urlaub genutzt und dich zu mir geholt. Wenn du das euphemistisch formuliert findest, dann denke daran, wie ich dich geholt habe.

Beinahe hätte sie mich gesehen. Ich schaffe es im Garten gerade noch, um die Ecke von Blues Zimmer zu verschwinden und warte dort vollkommen außer Atem, ob sie ebenfalls um die Ecke biegt. Als alles ruhig bleibt, wage ich einen vorsichtigen Blick zurück. Anja läuft auf das Planschbecken zu und bleibt dann nachdenklich davor stehen.

Ihr Hals ist mit roten Flecken übersät, das eigentlich elegante Leinenkostüm zerknittert, ihre Bluse sieht aus, als hätte jemand daran gerissen.

Auf ihrer rechten Hüfte trägt sie Mia, die bitterlich schluchzt, obwohl Anja ihr eine Klingelmelodie vorspielt – von einem iPhone! Ich kneife die Augen zusammen, weil ich gegen das Sonnenlicht schaue. Könnte Blues Handy sein …

Mit der linken Hand umklammert Anja ein normales Telefon, das sie eng an ihr Ohr gepresst hält. Ihre Stimme klingt schrill, ihre Sätze sind atemlos und werden offensichtlich von dem Teilnehmer am anderen Ende ständig unterbrochen.

»Stefan, ich sage dir, das Mädchen ist eine Zumutung.«

Anja geht um das Planschbecken herum.

»Ich glaube sogar, sie nimmt Drogen. Was ist, wenn den Kindern etwas passiert?«

Anja beugt sich zum Planschbecken hinunter.

»Du weißt, dass ich das nicht überleben würde.«

Sie setzt Mia in das Wasser, das der Kleinen bis über ihren Bauch reicht. Was soll das? Mia ist noch immer voll angezogen und schnappt überrascht nach Luft, dann aber patscht sie mit ihren Händchen auf das Wasser, als wäre es ein neues Spiel.

»Wirklich, Stefan, ich glaube, du solltest nach Hause kommen.«

Sie wirft Blues Handy neben Mia ins Wasser. Ich kann kaum glauben, was ich da sehe. Warum tut sie das – woher hat sie überhaupt Blues Handy? Was hat sie nur vor? Und wo ist Blue?

»Wie, du kannst nicht?«, ruft sie nun empört und läuft ein paar Schritte im Garten auf und ab. »Das, mein Lieber, ist schlimm, sehr, sehr schlimm.« Sie legt auf und flucht leise vor sich hin, sodass ich nicht genau hören kann, was sie sagt.

Sie legt das Telefon beiseite, beugt sich zu ihrer Tochter und gibt ihr ein Küsschen. Dann seufzt sie tief und versetzt Mia einen liebevollen kleinen Stoß in den Rücken.

Ich höre auf zu atmen und starre ungläubig auf die Szene, die sich gerade vor meinen Augen abspielt.

Mia fällt mit dem Gesicht nach vorne ins Wasser und schwimmt so auf der niedrigen Wasseroberfläche.

Und obwohl ich sofort einschreiten müsste, bin ich wie zur Salzsäule erstarrt. Mutter hat recht gehabt. Ich kann es nicht glauben, will es nicht glauben. Mein Verstand kann nicht verarbeiten, was meine Augen gerade sehen. Doch es gibt keine Zweifel: Mutter hatte recht.

Anja setzt sich neben das Becken und schaut ungerührt dabei zu, wie Mia strampelt und langsam ertrinkt.

Und mit einem Schlag kehrt alles Leben in meinen Körper zurück. Es darf keine weiteren Opfer mehr geben!

Ich renne, so schnell ich kann, zum Becken, vorbei an Anja, die mit dem Rücken zu mir sitzt und mich erst sieht, als ich am Planschbecken bin. Hastig reiße ich Mia aus dem Wasser. Die Kleine hängt schlaff in meinen Armen.

»Was tun Sie da mit meiner Tochter?« Anja ist aufgesprungen und starrt mich fassungslos an, als wäre ich derjenige, der ihrer Tochter etwas angetan hat. Sie kommt ein paar Schritte auf mich zu, ich überlege nicht länger, sondern versetze ihr einen sehr brutalen Stoß und renne mit Mia die Treppe nach oben auf das Deck.

Dort lege ich sie auf den Tisch, halte ihre winzige Nase zu und beatme sie, mache eine vorsichtige Herzmassage. Versuche, mich fieberhaft zu erinnern, was man bei der Wiederbelebung von Babys beachten muss. Sage mir wieder und wieder alles genau vor und gebe mir alle Mühe, es richtig zu machen: Den Kopf in die »Schnüffelstellung« bringen, dazu das Kinn leicht anheben, langsam und vorsichtig ein bis eineinhalb Sekunden ein bisschen Luft einblasen, sodass sich der Brustkorb des Kindes hebt, auf keinen Fall mit zu viel Druck einblasen, die Atemspende bis zu fünf Mal wiederholen, einmal – oh Mann, Mia, bitte komm, los, komm.

Ich werfe einen schnellen Blick zur Wendeltreppe, aber ich kann Anja zum Glück nicht sehen, und als ich wieder zurück zu Mia schaue und weitermachen will, da schlägt sie gerade ihre Augen auf.

Sie atmet!

»Mia, du tapfere Heldin du!«, flüstere ich und könnte heulen vor Glück. Sie schaut mich überrascht an und fängt gar nicht heldenhaft an zu weinen. »Ich verstehe dich, Mia«, sage ich, nehme sie auf den Arm und gehe ins Haus, um nach Blue zu suchen.

»Blue!«, brülle ich. »Blue, wo bist du?«

Nichts. Stille.

Ist sie vielleicht gar nicht im Haus, sondern mit Bennie spazieren?

Von oben höre ich ein leises Bumpern, als würde jemand gegen die Decke oder die Wand klopfen. Ich stürme mit Mia die Treppen hinauf. Vor dem Kinderzimmer auf dem Gang steht eines der Kinderbetten, darin liegt Bennie. Er schläft. Ich lege die pitschnasse Mia zu ihm, die nun laut brüllt und wütend mit den Beinen strampelt.

Ich versuche, die Tür zu öffnen. Aber sie ist zugeschlossen und nirgends ist ein Schlüssel zu sehen.

»Blue?«, schreie ich, um Mias Weinen zu übertönen, und hämmere gegen die Tür. Aber ich höre nur weiterhin das Klopfen aus dem Kinderzimmer. Was ist da drin nur los?

»Blue, kannst du mich hören?«, versuche ich es noch einmal, obwohl mir längst klar ist, dass hier etwas nicht stimmt. Ich kann nicht mehr klar denken, der Gedanke, dass Blue etwas zustoßen könnte, macht mich rasend. Ich muss da jetzt rein.

Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und konzentriere mich, dann nehme ich Anlauf, ziehe alle Muskeln zusammen und breche die Tür mit der Schulter auf.

Blue steht auf dem Wickeltisch vor dem Fenster und haut wie besessen immer wieder mit ihrer flachen Hand gegen die Scheibe.

Sie ist splitternackt.

Und obwohl ich noch nie so viel Angst in meinem Leben gehabt habe, wird mir genau in diesem Moment bewusst, wie schön sie ist und wie sehr sie mir ans Herz gewachsen ist.

»Blue! Blue, komm da runter!«

Sie scheint mich nicht zu hören und haut weiter gegen die Fensterscheibe. Ich gehe zu ihr und hebe sie von dem Wickeltisch herunter, was sie sich stumm und widerstandslos gefallen lässt. Ich muss schlucken, als ich eine entsetzliche Wunde an ihrem Hals entdecke. Was um Gottes willen hat man ihr angetan?

Als mir klar wird, dass sie mich nicht erkennt, weiß ich nicht, was ich tun soll. Eigentlich müsste ich ihr zwei Ohrfeigen geben, aber das bringe ich angesichts dieser Wunde nicht übers Herz. Ich drücke sie fest an mich und brülle sie dann an, weil ich hoffe, dass sie das aus ihrem Zustand befreit.

Sie starrt mich an, blinzelt. »Ju?«

Vom Gang draußen höre ich mittlerweile Mia und Bennie weinen und dann höre ich noch etwas, ein Auto.

Ich lasse Blue einen Moment los und schaue zum Fenster raus, aber vom Kinderzimmer aus kann man die Garage nicht sehen. Wo Anja wohl steckt? Ob ich sie verletzt habe, als ich ihr im Garten diesen Stoß versetzt habe?

Blue schwankt und streckt ihre Hände nach mir aus. »Ju, komm, wir wollen zusammen um die Welt fliegen.«

»Du musst dich anziehen, Blue, sofort!« Ich zeige auf den Kleiderhaufen neben dem Wickeltisch.

Blue schüttelt den Kopf. »Ich will aber nicht.«

Ich bücke mich und nehme ihr T-Shirt. »Komm, ich helfe dir.«

Aber sie wehrt mich mit ihren Fäusten ab, gerade so, als ob ich ihr etwas Schlimmes antun wollte. »Bitte, Blue, mach schnell!« Sie schleudert das T-Shirt, das ich ihr gerade mit Müh und Not über den Kopf gezogen habe, weit von sich.

»Was zum Teufel ist hier los, wo ist Anja?« Stefan steht vor uns, sein Gesicht ist rot, seine Stirn glänzt vor Schweiß.

Ich schiebe mich vor Blue, aber sie bleibt nicht ruhig hinter mir stehen.

Stefan betrachtet die nackte Blue, reißt die Augen auf, schaut weg, schaut noch mal hin, merkt dann, dass sie nicht ganz bei sich ist, und schüttelt den Kopf.

»Ihr kommt sofort runter in die Küche!«, donnert er. »Seid ihr denn alle komplett verrückt geworden!«

Er geht zurück in den Flur zum Babybettchen, nimmt Mia auf den Arm und schiebt sich dann an uns vorbei zum Wickeltisch, als wären wir nicht da, zieht seiner Tochter schnell und liebevoll die nassen Kleider aus, hüllt sie in eine Decke und geht mit ihr wieder raus. Dort nimmt er Bennie auf den anderen Arm und geht nach unten.

Wenn ich nur wüsste, wie ich Blue wieder normal kriegen könnte! Aber dazu müsste ich erst wissen, was Anja Blue gegeben hat.

»Ju? Was ist hier eigentlich los?« Blues Stimme klingt, als wäre sie gerade eben aus einem langen Schlaf aufgewacht.

Ich kann es nicht länger ertragen, wie sie so nackt vor mir steht, und reiche ihr den BH und ihr Höschen.

Einen Moment lang starrt Blue verständnislos auf ihre Unterwäsche, dann schaut sie an sich hinunter. »I’m naked«, stellt sie verwundert fest.

Ich bin sicher, dass ihr das später todpeinlich sein wird, aber ich helfe ihr, den BH zuzumachen, und halte sie fest, als sie in ihr Höschen steigt, weil sie immer noch ziemlich schwankt. Offensichtlich kann sie auf dem einen Fuß immer noch nicht richtig auftreten; sie trägt einen Zinkleimverband um den Knöchel. Und obwohl sie etwas zu sich zu kommen scheint, wirkt sie noch immer, als wäre sie meilenweit entfernt. Was hat Anja ihr nur gegeben?

Nach einer Ewigkeit haben wir es geschafft, und damit es schneller geht und Anja keine Zeit hat, Stefan noch weitere Lügen aufzutischen, trage ich Blue die Treppe hinunter, obwohl mein Knie immer noch verdammt wehtut. Vielleicht ist es auch so eine Art Buße. Denn ich bin sicher, das alles ist einzig und allein meine Schuld.