22.

Damals kannte man dieses Krankheitsbild noch nicht. Niemand hätte mir geglaubt. Und deshalb musste ich handeln. Ich habe gekündigt und mir in Innsbruck eine neue Stelle gesucht. Als normale Krankenschwester findet man immer etwas.

Anja hört sofort auf, fröhlich zu pfeifen, nachdem sie einen Blick auf die Zwillinge geworfen hat. »Was hast du mit ihnen gemacht?«

»Nichts, wir haben gespielt und ich hab ihnen eine Geschichte erzählt, von dem Mädchen Columba …«

Sie nimmt Bennie auf den Arm, dann Mia und untersucht sie.

Anjas Mundwinkel sinken herab und sie schüttelt den Kopf, als könne sie nicht glauben, was sie da sieht.

Plötzlich wird mir klar, was hier vor sich geht. Sie sucht nach den Symptomen, die ich habe! Mein Hals wird eng. Was wird sie jetzt tun? Ihnen noch etwas verabreichen?

Und tatsächlich sagt Anja: »Sie sehen hungrig aus, Zeit für das Mittagessen.«

Nein, bloß nicht, denke ich panisch und überlege, wie ich sie davon abhalten kann, etwas ins Essen zu mischen, das nicht hineingehört.

»Du musst doch mittlerweile auch sehr hungrig sein – oder hast du noch Bauchweh? Geht es dir wieder besser? Ich hoffe, du hast keine Krämpfe mehr.« Sie lächelt mich an und streicht ihre blonden Strähnen hinter das Ohr. »Ich wollte dir eine Freude machen und hab dir deshalb eine Spezialität aus Pfungstadt mitgebracht. Ich dachte, jemandem, der Bananen im Mörser zerquetscht, könnte so etwas schmecken: Blutwurst.«

Was soll denn jetzt diese fiese Bemerkung? Und warum interessiert sie sich so für meine Bauchschmerzen? Ich kann sehen, dass Anja mich verstohlen aus den Augenwinkeln mustert. Ob sie ahnt, dass ich ihr auf die Schliche gekommen bin? Und plötzlich geht mir ein Licht auf: Die Krämpfe letzte Nacht, die Tabletten, die Anja mir gegeben hatte … In meinem Kopf fügt sich auf einmal ein völlig neues Bild von Anja zusammen und schon wieder bricht mir der Schweiß aus. Doch bevor ich mir Sorgen um mich mache, muss ich verhindern, dass sie den Zwillingen noch weiteren Schaden zufügt.

Während wir mit den Kleinen in die Küche gehen, überlege ich verzweifelt, was ich tun kann. Teller runterwerfen oder den Kindern alles wegessen ist jetzt keine Option mehr.

Doch zu meiner großen Überraschung greift Anja nach zwei fertigen Gläschen mit Nudel-Hühner-Brei, wärmt sie im Wasserbad auf, zieht den Zwillingen in der Zwischenzeit Lätzchen an und redet unablässig mit mir darüber, wie unverschämt diese Klinik heute Morgen am Telefon war und dass sie sich das nicht gefallen lassen wird. Es ginge schließlich um das Leben ihrer Kinder.

Sie stellt immer wieder Fragen an mich, spricht dann aber so schnell weiter, dass ich nicht einmal Luft für eine Antwort holen kann.

Nachdem ich ein Glas kalte Milch getrunken habe, geht es mir etwas besser. Ich schwitze nicht mehr so explosionsartig und mein Herz schlägt wieder regelmäßig. Und schon meldet sich eine Stimme, die mich fragt, ob ich nicht einfach nur eine Panikreaktion hatte und mich da in etwas hineinsteigere.

Kaum sind die Gläschen warm, reicht Anja mir sofort das eine für Mia, nimmt das andere und beginnt, Bennie zu füttern. Dabei wirft sie immer wieder einen hektischen Blick auf die Uhr und sagt, dass es für die beiden längst Zeit für den Mittagsschlaf wäre.

Während ich Mia füttere, habe ich das Gefühl, Anja kann es gar nicht erwarten, die beiden ins Bett zu bringen. Verstohlen fühle ich immer wieder nach dem iPhone in meiner Hosentasche und warte die ganze Zeit darauf, dass Ju sich meldet, aber es bleibt still. Wenn Anja erst mal mit den Kindern oben ist, werde ich es noch einmal versuchen.

Sie holt ein Glas mit weißlichem Sirup aus dem Kühlschrank. »Das ist Holunderblütensirup, den ich gekauft habe, als du mir von deiner Grannie erzählt hast. Mach uns doch eine Schorle zum Mittagessen, ja? Riech mal.« Sie hält mir das offene Glas unter die Nase. Es duftet wunderbar säuerlich und ganz leicht nach Waldbeeren.

»Lecker. Wie geht das?«

»Du nimmst einen Esslöffel Sirup und gießt ihn mit Wasser auf, man kann auch noch ein paar Zitronenscheiben und ein paar Eiswürfel hineintun.« Sie wirft einen Blick auf die Kleinen, die nach dem Essen wirklich ziemlich müde in ihren Stühlchen sitzen. Bennie scheint es wieder besser zu gehen, stelle ich erleichtert fest. Er wirkt nicht mehr so verschwitzt und apathisch wie vorhin.

Als ich aufstehen will, um Mia aus ihrem Stuhl zu heben, sagt Anja: »Du solltest wirklich noch deinen Fuß schonen, Blue. Deshalb schlage ich vor, dass du hier unten bleibst und für uns Mittagessen machst. Nichts Großes, nur einen Snack. Das geht im Sitzen ganz gut, oder? Einen Salat für mich«, sie verzieht ihr Gesicht zu einem Grinsen, »und du kannst ja vielleicht die Blutwurst dazu essen?«

Ich nicke, obwohl ich die Blutwurst ganz sicher nicht essen werde. Alleine bei dem Wort ›Blut‹ dreht sich mir der Magen um. Aber trotzdem passt mir Anjas Plan sehr gut, dann kann ich wenigstens ungestört mit Ju reden, während sie oben ist.

Sie nimmt Bennie rechts und Mia links auf die Hüfte. »Ihr Schätzchen werdet langsam zu schwer für mich.« Sie nickt mir zu. »Ich komme erst, wenn die beiden eingeschlafen sind.«

Sie galoppiert nach oben und singt den Kindern dabei »Hoppe, hoppe, Reiter« vor, was die Zwillinge mit fröhlichem Glucksen und Quietschen kommentieren.

Ich warte, bis sie oben angekommen sind, dann rufe ich Ju an. Nichts. Wieder nur die Mailbox. Verdammt! Wenn ich nur wüsste, was Anja als Nächstes vorhat. Da ich nicht weiß, was ich sonst machen soll, gieße ich schon mal die Schorle auf und schneide Zitronen.

»Blue!«, höre ich Anjas Stimme von oben. »Blue, ich hab echt großen Hunger, mach bitte einen richtig großen Salat, ja?«

»Klar«, antworte ich und überlege weiter, was ich tun kann.

Der Einzige, an den ich mich noch wenden könnte, wäre Stefan. Tolle Idee, Blue, und wie stellst du dir das vor? »Stefan, übrigens, was ich dir noch sagen wollte, deine Frau macht deine Kinder krank und gehört hinter Schloss und Riegel.«

Ich lasse Wasser in die Spüle laufen und versuche es wieder bei Ju. Noch immer nichts. Ich werde immer unruhiger und überlege fieberhaft, was ich machen könnte. Als ich die Überreste der Zitrone in den Mülleimer werfe, fällt mir plötzlich Felix ein. Natürlich, Felix! Schnell wähle ich seine Nummer und lausche dann ungeduldig dem Klingelton, aber auch er geht nicht ran. Wofür haben die Leute eigentlich Handys, wenn sie dann trotzdem nicht erreichbar sind, denke ich wütend und spreche ihm eine Nachricht auf die Mailbox – von wegen melden, wenn Not am Mann ist!

Dann nehme ich einen grünen Salat aus dem Gemüsefach und wasche ihn. Das Plätschern kommt mir unnatürlich laut vor.

Oben ist es still.

Ich höre weder die Kinder noch Anja, die mit ihnen redet. Oder ihnen etwas vorsingt, wie sonst, wenn sie sie zu Bett bringt. Plötzlich wird mir ganz mulmig. Was macht sie da oben? Sie hat gesagt, sie kommt erst, wenn die Kinder eingeschlafen sind. Warum hat sie das so betont?

Ich gebe den Salat in eine Salatschleuder und lasse das Wasser ablaufen. Dann halte ich es nicht mehr aus. Ich will wissen, was dort oben vor sich geht, und humple, so leise es irgendwie geht, nach oben.

Vom Treppenabsatz aus sehe ich, dass sie die Zimmertür einen Spalt offen gelassen hat – sicher um zu hören, was ich unten treibe. Deshalb ziehe ich oben angekommen meine Flipflops aus und spanne alle Muskeln an. Ich möchte fliegen, so leise sein, dass sie mich nicht hören wird. Ich beiße die Zähne zusammen und husche zur Tür.

Obwohl Anja die Tigerentengardinen zugezogen hat und im Kinderzimmer diffuses Licht herrscht, kann ich doch alles gut erkennen. Mia liegt schon in ihrem Bettchen. Bennie befindet sich noch auf dem Wickeltisch, während seine Mutter sich über ihn beugt und mit ihm flüstert. »Das wird dir guttun. Du wirst schon sehen, mein Schatz. Ich sorge für uns beide, ich sorge dafür, dass man dich endlich ordentlich untersuchen wird. Jetzt sei tapfer, mein Liebling, Mama hat dich lieb.«

Das ist das, was sie sagt.

Aber was sie dabei tut, lässt mich nach Luft schnappen, ich muss mir den Mund fest zuhalten, um keinen Laut von mir zu geben.

Mit einer Hand streichelt sie seinen Bauch, dann zieht sie die Zehen von seinem rechten Füßchen auseinander und spritzt etwas dazwischen. Als er leise vor sich hin wimmert, beugt sie sich über ihn und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. »Schätzchen, das wird uns helfen, das wird den Ärzten zeigen, wie krank du bist, und dann können sie uns endlich helfen.«

Ich muss schlucken und habe Tränen in den Augen. Ich kann nicht glauben, was ich da sehe. Ich weiß, ich sollte das filmen, sollte das Handy benutzen, aber ich kann nicht, bin einfach nur vollkommen unfähig, mich zu bewegen. Was tut sie Bennie da an? Und was um Himmels willen ist in der Spritze?

Ich muss da rein.

Sofort. Bevor sie noch mal zustechen kann.

Ich löse mich aus meiner Erstarrung, und ohne noch weiter nachzudenken, stürme ich in das Zimmer. »Was tust du da?«, brülle ich und schubse Anja weg von Bennie, sodass sie ins Taumeln gerät. Die Spritze schliddert dabei auf den Boden.

»Was fällt dir ein!« Anjas Gesicht ist rot vor Zorn. »Das sind meine Kinder und ich treffe hier die Entscheidungen, ist das klar! Und jetzt raus, das wird Konsequenzen haben.«

»Da bin ich sicher, denn ich werde Stefan den Film zeigen, den ich von dir gedreht habe.« Ich wedle mit dem Handy, als wären da tatsächlich irgendwelche Beweise drauf. »Ich bin gespannt, wie du ihm das erklären wirst.«

»Das muss ich gar nicht.« Anja stürzt sich mit so viel Kraft und ihrem ganzen Gewicht auf mich, dass ich umfalle. Sie packt mein Handgelenk, um mir das Handy abzunehmen. Aber ich werde es nicht hergeben. Eisern umklammere ich das iPhone und versuche, Anja von mir abzuschütteln.

Bennie, der noch immer auf dem Wickeltisch liegt und die ganze Zeit über gewimmert hat, fängt nun laut zu schreien an. Als Anja ihn hört, lässt sie mich für eine Sekunde los, steht flink wie eine Katze auf und legt Bennie in das Bettchen zu Mia.

Das gibt mir die Zeit, mich aufzurappeln, was mit dem Verband um meinen Knöchel und dem Handy in der Hand nicht so einfach ist. Angst hämmert durch meinen Körper, macht mich zittrig. Und jetzt? Abhauen, Ju suchen? Stefan anrufen?

Gerade als ich es geschafft habe und wieder auf beiden Füßen stehe, rennt Anja zu der Spritze hin, bückt sich und rast mit glänzenden Augen auf mich zu. Entsetzt starre ich sie an. Ihr Gesicht ist nur noch eine hohnlächelnde Maske. Einen winzigen Moment stehen wir uns gegenüber und fixieren uns. Und noch bevor ich etwas sagen oder tun kann, springt sie mit einem Satz auf mich zu und rammt mir die Spritze unten seitlich in den Hals und drückt den Kolben runter. Ich schreie laut auf, zapple und winde mich, aber sie hängt an mir wie eine Riesenzecke und ich schaffe es erst, sie abzuwerfen, als die Spritze leer ist. Sie lässt mich los und tritt zurück, schaut mich lauernd an.

Ich fasse mit zitternden Fingern an meinen Hals und spüre, dass Blut aus der Einstichstelle quillt. Ein brennendes Stechen lässt Panik in mir aufsteigen. Was verdammt noch mal war in dieser Spritze? Hitze breitet sich vom Hals in meinem Körper aus, als wäre das Zeug direkt in eine Ader gelangt. Und ich habe seit gestern nichts anderes mehr gegessen als diesen vergifteten Grießbrei, schießt es mir durch den Kopf und dann fange ich an zu zittern.

Die Einstichstelle tut auf eimal schrecklich weh und ich habe das Gefühl, als hätte Anja dickflüssige Lava in meinen Hals gespritzt. Diese Lava ist jetzt im rechten Arm, es fühlt sich an, als würde sie mein Blut dicker machen und die Adern anschwellen lassen. Ich muss mich festhalten, da dreht sich was.

»Was hast du getan?«, frage ich Anja. Während ich versuche, meinen Blick auf sie zu richten und sie nicht aus den Augen zu lassen, kommt es mir vor, als würde ich Karussell fahren.

Sie steht vor mir, Bennie auf dem Arm, und dreht sich. »Das ist nichts Schlimmes«, sagt sie, aber ihre Stimme klingt so, als würde man sie langsamer abspielen … schllüümmmmüüsss … als käme sie aus einer dunklen Höhle.

»Nur ein starker Cocktail gegen die Allergien, die Bennie immer hat, ein sehr starker Mix.«

Was für Allergien?, denke ich und plötzlich flattern meine Augen und meine Mundhöhle wird so trocken, als hätte die Lavahitze sie verdorrt.

Ups, was war das denn für ein Geräusch? Das Handy ist aus meiner Hand gefallen. Lustig. Ein Kichern kommt aus meiner Kehle. Ich will nicht lachen, ich weiß, ich muss etwas tun, muss hier raus und die Kinder in Sicherheit bringen. Ja, ja, aber das ist auch echt komisch. Wie im Märchen. Ich muss die Kinder vor der bösen Hexe retten, denke ich und muss schon wieder kichern. Meine Muskeln beginnen zu zucken und zu flattern.

Anjas Stimme dringt an mein Ohr. »Diese Medizin wird dir sehr guttun.« Ich sehe, wie sie sich nach dem Handy bückt, es aufhebt, dann schiebt sie das Bettchen mit den beiden Kindern in den Flur. Wie komisch, warum tut sie das? Das sieht aus, als wäre das Bett ein Schiff, das auf einem Ozean dahintreibt. Und Anja ist der Kapitän. Dann schließt sich die Tür und ich höre, wie ein Schlüssel umgedreht wird. Sie sperrt mich ein.

Sperrt mich ein? So ein Unsinn, warum sollte sie das tun? Ich schwebe zur Tür. Ich will nicht hier drin sein, ich muss doch raus. Die Tür ist doppelt, seit wann sind denn im Kinderzimmer zwei Türen? Obwohl, das macht Sinn, es sind ja auch zwei Kinder. Ja, das verstehe ich. Es sind auch zwei Bettchen da. Drehbettchen und Drehtüren.

Ich bin so leicht, fühle meinen Körper gar nicht mehr. Ich will nicht hier drinbleiben, rufe nach Anja, aber aus meinem Mund kommt etwas ganz anderes, als ich sagen will. Als ob meine Zunge die Befehle nicht versteht, sie liegt wie Sand im Mund und alles andere zuckt so komisch. Mir ist heiß, meine Haut kribbelt und krabbelt, reibt an den Kleidern, ich will, dass das aufhört. Weg mit den Klamotten, ich ziehe mich aus. Je weniger ich am Leib trage, desto besser.

Das ist gut, das fühlt sich wundervoll an, die Luft streichelt meine Haut. Ich haue noch mal an die Doppeltür, aber es passiert nichts. Ich will aber hier raus, ich will zur Sonne fliegen, mich im Wind trocknen.

Licht, dort drüben ist Licht, ich ziehe die Gardinen zurück. Ich steige auf den Wickeltisch. Da ist sie, die Sonne. Hallo Sonne, ich komme.

Ich fliege zu dir.