3. Er
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mir selbst kommt es heute – nach so vielen Jahren und mit Abstand – einfach ungeheuerlich vor, was ich getan habe. Und doch habe ich es nur für dich getan.
Unfassbar, das Schicksal meint es endlich einmal gut mit mir.
Das Schicksal!
Bis vor Kurzem hatte dieses Wort für mich keine Bedeutung. War ein Begriff aus der Welt von Sensationsblättern. Weit, weit weg von mir. Dieses Mädchen fordert sein Schicksal jedenfalls geradezu heraus, wenn es die Tür zum Garten offen lässt.
Als ich vorhin im Wald auf meinem Beobachtungsposten stand, habe ich sie gesehen, wie sie durch die Terrassentür nach draußen kam. Ich war zu weit entfernt, um ihr Gesicht deutlich erkennen zu können, aber aus der Ferne sah sie ganz hübsch aus.
Unentschlossen halte ich einen Moment im Garten inne. Wie kann man nur bei offener Tür schlafen? Entweder ist dieses Mädchen unglaublich vertrauensselig oder aber jemand im Haus hat etwas gemerkt und sie stellen mir eine Falle. Ich darf kein Risiko eingehen.
Ich bleibe an der Schwelle stehen und spähe ins Zimmer hinein. Überall liegt Wäsche herum, zwei Koffer stehen sperrangelweit offen. Ordnung scheint nicht ihr Ding zu sein, aber das ist nur von Vorteil für mich. Sie schnarcht ein bisschen und das ist auch gut, denn dann höre ich sofort, wenn sie unruhig wird.
Ich husche in das Zimmer und bleibe vor ihrem Bett stehen. Neugierig betrachte ich sie. Sie scheint ungefähr in meinem Alter zu sein. Auf ihr struppiges Haar fällt etwas Licht von dem Halbmond, der mir den Weg zur Tür gewiesen hat. Zum Glück ist ihr Gesicht vom Fenster weggedreht, sodass der Mond nicht auf ihre Augen scheinen und sie wecken kann.
Sie trägt ein leichtes Spaghettihemdchen aus rosa schimmerndem Stoff, der im Mondlicht fast so aussieht, als wäre er nass. Und obwohl mir dieses Mädchen völlig fremd ist, juckt es mich in den Fingern darüberzustreicheln. Aber ich muss mich beherrschen. Ich verkneife es mir auch, den linken Spaghettiträger, der von ihrer runden Schulter auf ihren bleichen Oberarm gerutscht ist, zurückzuschieben.
Ich beuge mich noch weiter über sie, um mir ihr Gesicht gut einzuprägen, damit ich sie überall wiedererkenne. Ein kräftiges Gesicht, ganz anders als ihres. Eine Nase mit einem breiten Sattel und ein unglaublich voller Mund. Ihr Gesicht ist rund und pausbäckig. Sie sieht aus, als würde sie viel lachen.
Ich hoffe nicht, dass sie für mich zum Problem werden wird. Wenn alles nach meinem Plan verläuft, dann wird sie mir eher nützlich sein … Auf alle Fälle wäre es besser für sie, mir nicht in die Quere zu kommen.
Das Mädchen seufzt leise und dreht sich um. Ich muss mich beeilen, bevor sie meine Anwesenheit bemerkt. Das hier ist gerade meine einzige Chance, nach oben zu kommen. Ich muss hochgehen, bevor das Mondlicht sie an der Nase kitzelt und vielleicht aufweckt.
Leise schleiche ich zu der Tür, die von einem Miniflur in ihrem Zimmer zur Treppe nach oben führt. Meine Hände sind schweißnass. Was ist, wenn mich jemand erwischt, bevor ich das gefunden habe, wonach ich suche?
Sie schmatzt ein paarmal, dann räuspert sie sich und gähnt. Mit angehaltenem Atem schaue ich ihr dabei zu, wie sie sich streckt und reckt.
Nein, das darf doch nicht wahr sein!
»Damn it!«, sagt sie und setzt sich auf.
Ich presse mich fest an die Tür, hoffe, dass ich mit der Dunkelheit verschmelze, und wünsche mir, dass sie sofort wieder einschläft.
»Jetlag-Shit!«, höre ich sie murmeln, dann raschelt die Bettdecke.
Oh nein, jetzt steht sie tatsächlich auf. Mein Herz beginnt zu rasen und ich flehe sie stumm an, nicht in meine Richtung zu schauen. Wenn sie mich entdeckt, würde das meine ganzen Pläne zerstören. Und vielleicht muss ich ihr dann unnötig wehtun. Ich halte den Atem an und schiele vorsichtig um die Ecke.
Sie schlurft zum Schreibtisch am Fenster, wo ein Laptop steht, streckt sich noch einmal, wirft ihre Haare über die Schultern, setzt sich dann hin und beginnt wie wild zu tippen.
Ich sollte schleunigst verschwinden.
Jetzt kichert sie beim Tippen und ich würde zu gerne lesen, was sie geschrieben hat, aber das muss ich auf ein anderes Mal verschieben.
Ich drücke die Klinke der Tür so sanft und behutsam nach unten, wie ich nur kann, und halte erneut die Luft an, damit mir kein Geräusch entgeht.
Ich höre sie fluchen – jetzt oder nie!
Ich quetsche mich durch die Tür, schließe sie wieder und bleibe dahinter mit rasendem Herzen einen Moment lang stehen. Die Treppe nach oben liegt vor mir. Wieder steigt die Angst in mir auf, dass ich ihr oder ihm im Haus begegnen könnte. Das darf nicht passieren. Doch was mich momentan am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass das Mädchen nun wach ist. Was bedeutet, mein geplanter Rückweg ist versperrt. Verdammt! Wie soll ich nur oben aus dem Haus rauskommen? Vielleicht im Wohnzimmer – aber die Terrassentür führt auf ein großes knarzendes Holzdeck, das auf eisernen Stelzen steht. Von dort führt nur eine Wendeltreppe aus Stahl nach unten in den Garten und die macht höllischen Lärm. Die vordere Tür ist, wie ich mittlerweile weiß, nachts immer abgeschlossen.
Aber ich sollte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Diese Gelegenheit ist einmalig. Entschlossen schleiche ich Stufe für Stufe nach oben. Je höher ich komme, desto mehr duftet es nach ihr. Es ist ein blumiger, fruchtiger Geruch, den ich schon ein paar Mal an ihr gerochen habe, wenn sie im Dorf in einem Laden an mir vorbeigelaufen ist, ohne mich dabei wahrzunehmen. Auf alle Fälle riecht sie ganz anders, als sie immer gerochen hat – sie, deren antiseptischer Geruch allerhöchstens mal von Lavendel oder Kölnisch Wasser übertönt wurde.
Hör auf damit, lass das, ermahne ich mich selbst. Ich sollte das nicht tun. Keine Vergleiche. Darum geht es hier nicht. Konzentriere dich auf deinen Plan.
Ich bleibe stehen und schaue mich um. Dort drüben im Wohnzimmer sind die Bücherregale und die Bilder. Heute muss ich endlich etwas finden, das mir Gewissheit gibt. Ich halte das nicht länger aus, ich werde noch vollkommen verrückt. Und wer weiß, was ich dann zu tun imstande bin?