19.

Doch weil ich es selbst kaum glauben konnte, ließ ich mich zum Nachtdienst versetzen, um sie zu beobachten, wenn sie nachts bei dir blieb. Und wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte ich es auch nicht für möglich gehalten.

Es ist noch dunkel, als ich mit schrecklichen Bauchkrämpfen aufwache, wie ich sie sonst nur kenne, wenn ich meine Tage habe, aber die sind gerade vorbei. Nein, das hier muss etwas anderes sein.

Ich stehe viel zu schnell auf und falle prompt vor meinem Bett hin, weil ich wegen der Krämpfe vergessen habe, dass mein Fuß lädiert ist. Auf allen vieren krieche ich zum Klo und hoffe, dass ich es rechtzeitig erreiche. Ich muss etwas Falsches gegessen haben – nur dass ich mich schon gar nicht mehr daran erinnern kann, wann ich überhaupt zuletzt etwas gegessen habe.

Ich schaffe es gerade so und fühle mich ziemlich schwach und zittrig. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. Das muss von dem aufregenden Tag gestern kommen, es ist schließlich so viel passiert – so etwas kann einem doch auf den Magen schlagen, oder?

Nachdem ich die Hände und mein Gesicht gewaschen habe, schleppe ich mich zurück zum Bett, kann aber nicht mehr einschlafen. Mein Blick fällt auf Grannies kaputtes Armband auf dem Nachttisch; auf den vielen kleinen Anhängern spiegelt sich der Mond, dessen kaltes blaues Licht durch das Fenster in mein Zimmer fällt. Ich kann mich nicht erinnern, wo ich es verloren habe, aber wenn Stefan es auf der Treppe gefunden hat, dann muss es passiert sein, als ich vor Felix davongelaufen und gestürzt bin.

Offensichtlich sind noch alle Anhänger dran, jedenfalls alle meine Lieblingsstücke. Ich schalte die Lampe auf meinem Nachttisch ein, nehme das Armband in die Hand und schaue es genauer an. Das, was vorhin rot war, ist jetzt bräunlich – es sieht wirklich sehr nach Blut aus. Ich betrachte das Handgelenk, an dem ich das Armband sonst immer trage – und tatsächlich sind dort ein paar Stellen, an denen die Haut von dem Sturz abgeschürft ist. Daher also das Blut … Ich werde das Armband ordentlich abschrubben und Anja nach einem Juwelier fragen.

Da mich meine Magenschmerzen sowieso nicht schlafen lassen, humple ich zu meinem Laptop und schalte ihn mal wieder ein – und zu meiner großen Überraschung funktioniert das Internet. Ich rufe alle meine Mails ab, es sind mindestens zehn von Vicky und drei von Grannie und Mom. Zuerst klicke ich die von Vicky an, aber alles, was sie schreibt, kommt mir vor wie von einem anderen Stern. Paris! Großstadt. Sie gibt ganz schön an, alles ist toll, die Villa, die Leute, der Job, die Kinder.

Frustriert schaue ich aus dem Fenster. Während Vicky sich ein schönes Leben in Paris macht, sitze ich hier, mit Bauchkrämpfen, verschwitzt, in einem one-horse town in the middle of nowhere, umgeben von lauter nerds. Wie soll ich das denn jemals in eine Mail packen? Und was das Schlimmste ist – ich kann mich nicht mal beklagen, denn ich wollte ja unbedingt hierher!

Nur wegen des wunderschönen Gedichtes, das ich in Omas Sachen gefunden habe … Dachte, ich würde hier ihre große Liebe finden und könnte ihr so etwas von all dem zurückgeben, was sie mir gegeben hat, als Mom und Dad wegen ihrer Krise nicht in der Lage waren, sich um mich zu kümmern. Und erst jetzt fällt mir der Brief wieder ein, den ich Felix ges­tern Abend abgenommen habe.

Vergessen ist Vicky, vergessen ist Paris. Aufgeregt humple ich zum Bett und ziehe den Brief unter dem Kopfkissen hervor. Was, wenn Felix mich angeschwindelt hat und es gar kein Brief von Georg ist? Aber es ist dieselbe mattblaue Schrift wie in dem anderen Brief, den ich gefunden habe:

Weitersheim, den 12. Juli 1968
Hey Suzanne,

I loved you in the morning, our kisses deep and warm,
your hair upon the pillow like a sleepy golden storm,
yes, many loved before us, I know that we are not new,
in city and in forest they smiled like me and you,
but now it’s come to distances and both of us must try,
your eyes are soft with sorrow,
Hey, that’s no way to say goodbye.

Und anders als Cohen sagen wir ja auch nicht goodbye, wir sehen uns bald. Ich kann es kaum erwarten, ihn und diese spießigen Mistgurken, die sich meine Schwestern nennen, zu verlassen. Na ja, du kennst sie ja. Bei denen ändert sich nie was, sie sind genauso wie er, ihre Blockwartmentalität macht mich krank, ihr Sinn für Humor ist nicht mal unterentwickelt, er ist einfach nicht existent.
Sie halten diese audiokranke Missgeburt »Wir wollen niemals auseinander gehen« von Heidi Brühl tatsächlich für Musik. Ich muss jedes Mal grinsen, weil sie nicht wissen, wie weit weg ich eigentlich schon bin. Meine Musik halten sie allen Ernstes für Negergeplärre. Deshalb haben sie auch meinen Ausweis und das Visum bisher nicht gefunden, obwohl sie ja alles regelmäßig durchkämmen – angeblich um sauberzumachen. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als sie neulich deine leere Pillenschachtel entdeckt haben.
Apropos – ich träume unablässig von dir und davon, dass wir Cohen live singen hören werden …
Wenn du diesen Brief liest, bin ich schon unterwegs und werde in Kürze bei dir in Frisco sein.
Heute werde ich es tun.
Ja, ja, ja, du hattest mal wieder recht. Ich hätte es gleich mit dir zusammen tun sollen, weil ich allein doch wieder nicht so mutig bin, wie ich es gerne wäre. Ich möchte trotz allem, womit ich ihn konfrontieren muss, einfach gern in Frieden gehen.
Du kennst ihn ja. Aber heute werde ich es tun.
Ich habe alles, was dieser Verräter im Krieg zu Unrecht zusammengerafft hat (all das Zahngold und den Schmuck), versteckt. So, wie wir es besprochen haben. Und ich werde ihm erst sagen, wo sein elender »Schatz« ist, wenn er mich in Frieden gehen lässt und versprochen hat, sein Unrecht wiedergutzumachen.
Mir gefällt der Ort, den ich als Versteck ausgesucht habe. Direkt vor seiner Nase und doch so weit weg. Geradezu symbolisch – jedenfalls für das, was wir für unser Leben wollen.
Den einen Schlüssel zu diesem Ort habe ich dir längst gegeben, den anderen trage ich bei mir, für ihn. Nachher.
Du merkst, dass ich diesen Brief missbrauche, um mir Mut zu machen. Dich missbrauche. Verzeih mir.
Es ist ja auch so unnötig, denn er wird mich sowieso nicht verstehen, so wie er Mutter nie verstanden hat. Er hält mich für einen Waschlappen, eine Heulsuse, weil ich es wage, mich ihm zu widersetzen, und er glaubt allen Ernstes, erst dein Einfluss hätte mich dazu gebracht, in der Vergangenheit herumzuwühlen.
Er hätte sich einen Dreck darum geschert, dass Mutter mir das Armband für dich schenken wollte, und wenn der Herr Pfarrer nicht zufällig an dem Sonntag dabei gewesen wäre, hätten es sich die Mistgurken geschnappt. Aber in Anwesenheit der heiligen Kirche konnten sie der Schwerkranken ihren Wunsch ja nur schlecht abschlagen. Diese Heuchler!
Aber was soll’s, wir werden anders leben. Ohne diesen ganzen Mist, den ich nicht mehr ertragen kann – von wegen Pflicht und Ehre und Gründlichkeit. Man sieht ja, wohin Deutschland das geführt hat: In die Hölle.
Und wir hauen daraus ab.
Mein Liebling, ich kann’s kaum erwarten. Jetzt habe ich wieder mehr Mut und werde nun runtergehen und es hinter mich bringen.

Come mothers and fathers troughout the land
And don’t criticize what you can’t understand
Your sons and your daughters are beyond your command
Your old road is rapidly aging
Please get out of the new one if you can’t lend your hand
For the times they are A-changin’

O mein Gott. Ich halte atemlos inne und versuche zu verstehen, was Georg in diesem Brief geschrieben hat. Ich kehre zu den Zeilen zurück, in denen er von seinem Vater erzählt. Scheinbar hatte dieser eine dunkle Vergangenheit während der NS-Herrschaft, auch wenn ich die Zusammenhänge nicht wirklich verstehe.

Grannie hat den Brief nie erhalten – und Georg ist niemals irgendwo aufgetaucht, nachdem er diese Zeilen geschrieben hatte. Und nach allem, was in diesem Brief steht, gibt es dafür nur eine einzige Erklärung: Er muss tot sein. Dabei ist dieser Brief so voller Leben … Ich hätte ihn gern kennengelernt, meinen Opa.

Wie traurig, dass Grannie erst in Kalifornien gemerkt hat, dass sie von Georg schwanger war, davon hat er anscheinend nie erfahren. Ob ihm diese Verantwortung gefallen hätte? Grannie muss diesen Brief hier unbedingt lesen, obwohl sie ja der Meinung ist, man soll an Vergangenem nicht rühren.

Als ich Grannie einmal gefragt habe, warum sie nicht zurückgegangen ist und Georg gesucht hat, da hat sie gesagt: »Kindchen, was hätte ich denn in diesem Kaff gesollt? Er ist nicht gekommen, also waren seine Worte so viel wert wie lauwarmes Bier. Ich habe drei Wochen gewartet, dann sehr viele Briefe geschrieben, auf die ich nie eine Antwort bekommen habe.«

»Aber es hätte ihm doch etwas passiert sein können, vielleicht ist er krank geworden?«

»Dann hätte er es geschafft, sich zu melden, oder eine seiner Schwestern hätte mir auf einen meiner Briefe geantwortet. Es war seine Entscheidung.«

»Und warum bist du nicht hingefahren und hast nachgeforscht?«

Grannie hatte die Hände hochgeworfen und den Kopf geschüttelt. »Ich bitte dich, Blue, als Frau mit Kind ohne Mann – das war Ende der Sechzigerjahre in so einem Ort noch völlig undenkbar. Außerdem musst du nach vorne schauen, man sollte nicht zurückgehen, niemals. Es kann nie mehr so werden, wie es einmal gewesen ist.«

»Wenn man alles hinter sich lassen soll«, wollte ich dann wissen, »warum hast du Mom und mir dann Deutsch beigebracht?«

»Das wiederum ist ganz einfach, Kleines. Diese Sprache gehört zu deinen Wurzeln und es ist wichtig, sie zu kennen. Aber wenn du dein Leben immer nur damit verbringen würdest, wieder eine Wurzel zu werden, dann könntest du ja niemals wachsen und Früchte tragen.«

Damit hat sie das Gespräch beendet. Es war das einzige Mal, dass sie wirklich mit mir über ihre Vergangenheit im Hinblick auf Georg gesprochen hat. Und es war der Tag, an dem sie mir das Armband gegeben hat, das Georg ihr damals geschenkt hatte. Er hatte ihr zu dem Armband seiner Mutter einige neue Anhänger gekauft, von denen er dachte, dass Grannie sie mögen würde. Schon als kleines Mädchen wollte ich das Armband gerne haben, aber Grannie hat mir immer nur Geschichten zu den Anhängern erzählt und versprochen, ich würde es dann bekommen, wenn ich so weit wäre.

Nun weiß ich, dass das Armband ein Geschenk von Georgs Mutter war – und dass seine Schwestern es gerne gehabt hätten. Hat deshalb Felix’ Oma gesagt, es würde Blut daran kleben? Oder steckt noch etwas ganz anderes dahinter? Ich nehme das Armband, humple ins Bad und schrubbe es sauber.

Auf alle Fälle hat Felix recht. Georg redet von einem Schatz, den er versteckt hat. Aber offensichtlich klebt auch an diesem Schatz Blut, denn Georg wollte ja nichts davon haben, jedenfalls nicht für sich. Ich muss unbedingt mit Felix reden, mich entschuldigen für mein Verhalten gestern Abend. Und dann müssen wir uns zusammensetzen und herausbekommen, wo Georg und wo dieser ominöse Schatz sein könnte.

Ich pfeife auf alles, was Vicky in Paris erlebt, wenn ich dieses Familiengeheimnis lüften kann! Ich lese den Brief noch einmal und frage mich, ob wir je herausfinden werden, was mit Georg passiert ist – oder ob wir es schaffen, diesen Schatz zu finden. Georg gibt nicht gerade besonders viele Hinweise darauf, wo er die Sachen verstecken wollte.

Es dämmert, die Vögel fangen an zu zwitschern und meine Bauchkrämpfe lassen endlich nach.

Ich schreibe eine ewig lange Mail an Vicky, in der ich ihr erzähle, dass ich schon zwei böse coole Typen kennengelernt habe, die ganz wild darauf sind, mit mir auszugehen, und ich demnächst vielleicht auch noch ein Geheimnis lüften und einen alten Familienschatz finden werde. Mom und Grannie schreibe ich auch, aber ich verrate ihnen nicht, dass Felix und ich Georgs Visum, seinen Pass und diesen Brief gefunden haben. Dann lese ich Georgs Brief ein weiteres Mal, kann mir aber noch immer keinen Reim darauf machen. Ich lege ihn zur Seite.

Geheimnisse und Lügen.

Der Gedanke bringt mich zu Ju und Münchhausen, dem Lügenbaron. Dann wollen wir doch mal sehen, ob Ju die Wahrheit gesagt hat. Leider weiß ich nicht mehr genau, wie der Begriff lautete, den er für Anjas angebliche Krankheit verwendet hatte.

Ich versuche es mit »Münchhausenkrankheit« bei Wikipedia. Dazu gibt es keinen Eintrag, aber ich stoße auf einen Link zum »Münchhausen-Syndrom« – das es scheinbar wirklich gibt. In dem Artikel steht, dass die Patienten, die unter diesem Syndrom leiden, sich Krankheiten ausdenken und auch Operationen in Kauf nehmen, nur um medizinische Zuwendung zu bekommen. Manche fügen sich sogar selbst Verletzungen oder Vergiftungen zu, um eine Krankheit glaubhaft vortäuschen zu können.

Wenn ich es nicht schwarz auf weiß vor mir sehen würde, hätte ich niemals geglaubt, dass es so etwas Ungeheuerliches tatsächlich gibt!

Dann lese ich weiter, dass viele Leute, die unter diesem Syndrom leiden, oft schwerwiegende Untersuchungen und Eingriffe fordern, die das vorgetäuschte Krankheitsbild verschlimmern oder sogar erst hervorrufen können. Das Schlimmste aber ist, dass die Patienten meistens sofort den Arzt wechseln, sobald der die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung anspricht. Deshalb ist die Prognose für die Betroffenen eher schlecht.

Ein Stück weiter unten auf der Seite entdecke ich schließlich das, wovon Ju gestern Nacht gesprochen hat – das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.

Okay, wir haben in der Schule gelernt, dass nicht alles, was bei Wikipedia steht, auch hundertprozentig korrekt ist, aber immerhin scheint es diese Krankheiten wirklich zu geben. Als ich anfange zu lesen, was unter diesem Stichwort steht, fängt mein Bauch wieder an zu grummeln.

Bei diesem Syndrom täuscht der Erkrankte bei einem anderen Menschen Krankheiten vor – es sind meistens Mütter, die das bei den eigenen Kindern tun. Manchmal provozieren sie die Krankheiten auch tatsächlich, indem sie heimlich Medikamente oder pflanzliche Stoffe verabreichen, nur um dann einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen zu können und dort intensiv betreut zu werden.

Das Ganze erscheint mir so wahnsinnig, dass ich es mir kaum vorstellen kann. Wie im Fieber lese ich weiter.

Unter Umständen kann diese sehr schlecht beweisbare Art der Kindesmisshandlung auch bis zum Tod des Opfers führen.

Mir wird schwindelig. Das ist es, wovon Ju gesprochen hat!

Als Nächstes geht es darum, wie man erkennen kann, ob es sich bei jemandem tatsächlich um das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom handelt. Ein untrügliches Merkmal ist, dass die Mutter das Kind immer wieder zu medizinischen Untersuchungen und Behandlungen bringt. Die Krankheiten des Kindes werden vorgetäuscht oder künstlich erzeugt und die Beschwerden nehmen deutlich ab, wenn die Mutter vom Kind getrennt wird.

Es stimmt zwar, dass Anja die Kinder wirklich oft zum Arzt bringt, und als Bennie und Mia mit mir alleine waren, kamen sie mir putzmunter vor – aber trotzdem glaube ich nicht, dass das, was da im Internet steht, auf Anja zutrifft. Ich meine, Anjas Verhalten ist doch vor dem Hintergrund ihrer Geschichte absolut verständlich und hat sicher nichts mit dieser Krankheit zu tun. Sie ist einfach nur besorgt!

Dieser Gedanke beruhigt mich ein bisschen, und als ich dann weiterlese, bin ich sicher, dass Ju derjenige ist, der nicht ganz richtig tickt!

Manche Mütter, steht in dem Artikel, würden ihre Opfer sogar bewusst vergiften oder ihnen Medikamente verabreichen, um bestimmte Symptome hervorzurufen.

Das ist einfach nur krank! Wie kommt Ju bloß auf diese abs­tru­se Idee, dass Anja unter diesem Syndrom leiden könnte? Sie ist so süß zu den Kleinen, so liebevoll und besorgt.

Aber warum sollte Ju sich so was Ungeheuerliches ausdenken, wenn nichts davon wahr ist?, rumort es in mir. Ich könnte mir allerhöchstens vorstellen, dass bei einer schmutzigen Scheidung wie der meiner Eltern so etwas behauptet wird, um an das Sorgerecht für ein Kind zu kommen. Doch Ju hat mit den Zeltners nicht das Geringste zu tun – oder weiß ich das nur nicht? Immerhin war er gestern Abend sogar bereit, die Kinder zu entführen, um sie zu schützen.

Plötzlich kommt mir noch ein Gedanke. Was, wenn er die Kinder einfach nur entführen wollte, um Geld zu erpressen? Und als er gemerkt hat, dass ich mit dem Auto schneller bin, hat er mir diese absurde Geschichte aufgetischt, um zu verhindern, dass ich die Polizei rufe. Außerdem hat er mich wieder mal belogen, als es darum ging, warum er sich so für Bennie und Mia interessiert. Er hat gestern behauptet, er würde in einer Kinderklinik arbeiten. Neulich aber, als ich sein Knie verarztet habe, hat er gesagt, er wäre Rettungssanitäter. Das sind doch zwei verschiedene Dinge, oder?

Mein Hirn fühlt sich an wie Wackelpudding, der in einer Zentrifuge hin und her geschleudert wird. Münchhausen. Lügen. Georg. Ein Schatz …

Ich muss raus hier, an die frische Luft.

Vorsichtig versuche ich, meinen Fuß zu belasten – zum Glück sieht er nicht mehr so dick aus wie gestern Abend. Mein Knöchel tut zwar immer noch weh, aber die Schmerzen sind nicht mehr ganz so schlimm und schließlich stehe ich ganz auf.

Ich humple zur Tür zum Garten und öffne sie. Es hat über Nacht kaum abgekühlt, warm und klebrig strömt mir die Luft entgegen und bringt den Duft nach Blumen und Rasen mit. Ich gehe ein paar Schritte nach draußen, atme tief ein und genieße das nasse Gras unter meinen Füßen. Tautropfen glitzern in der Sonne, die sich gerade wie ein orangefarbener Ball hoch an den Himmel schiebt. Die Vögel begrüßen laut zwitschernd den neuen Tag, als gäbe es nichts anderes, nichts Wichtigeres. Es ist fast, als hätte es den gestrigen Tag nie gegeben, als wäre der letzte Abend nur ein böser Traum, Münchhausen nur ein Hirngespinst.

Da fällt mein Blick auf ein kleines Paket, das seitlich von der Tür auf dem Boden liegt. »Für Blue« steht obendrauf. Ich bücke mich, um es aufzuheben, und schüttle ein paar verirrte Ameisen von dem Päckchen, dann gehe ich wieder hinein, um es am Schreibtisch auszupacken.

Unwillkürlich schaue ich zu Grannies Armband – ich möchte keine Überraschungen mehr. Doch als ich dann sehe, was in dem Päckchen ist, bin ich enttäuscht. Es ist ein iPhone und ein Ladekabel. Ich hebe beides auf und schalte das Handy ein. Es ist, wie Ju versprochen hat, betriebsbereit und seine Nummer ist gespeichert. Und er hat eine Nachricht darauf hinterlassen:

Blue, was ich gestern Abend getan habe, war vollkommen bescheuert. Aber alles, was ich dir gesagt habe, ist wahr. Bitte sei vorsichtig. Sehr, sehr vorsichtig! Übe die Filmfunktion, damit du sie beherrschst. Du wirst sie brauchen, da bin ich sicher.

Jemand klopft an meine Zimmertür. Ich ziehe meinen Bademantel über, humple zur Tür und öffne sie.

»Darf ich reinkommen?« Es ist Stefan, der schüchtern vor der Tür stehen bleibt und mich zum Arzt fahren will.

Und obwohl ich protestiere, weil ich den Fuß ja schon wieder belasten kann, besteht er darauf, mit mir in die Praxis zu fahren. Er will aber sofort los, weil er einen Termin vereinbart und nur jetzt Zeit hat.

Also wasche ich mich kurz und ziehe mir eine Caprijeans und eine Bluse an. Und dann, als ich fast schon aus dem Zimmer bin, gehe ich zurück, nehme Grannies Armband und schiebe es in meine Hosentasche. In die andere stecke ich ­Georgs Brief.

Anja und die Kinder scheinen noch zu schlafen, als wir losfahren. Als ich Stefan frage, wo denn die nächste Arztpraxis ist, sagt er, dass wir nach Seebick fahren würden.

Nachdem wir dort angekommen und alle Aufnahmeformalitäten erledigt sind, erkundigt sich die Sprechstundenhilfe nach Anja. Sie sagt, dass sie schon so lange nicht mehr da gewesen sei, was Stefan etwas überrascht.

Obwohl wir einen Termin haben, müssen wir im Wartezimmer Platz nehmen. Stefan stöhnt und telefoniert hektisch mit seinem Büro. Ich nutze die Zeit, indem ich mir noch einmal Georgs Brief vornehme. Dieses Mal muss ich lächeln, als ich das mit den Mistgurken lese, denn eine von ihnen muss Felix’ Oma sein.

… diese spießigen Mistgurken, die sich meine Schwestern nennen, zu verlassen. Na ja, du kennst sie ja. Bei denen ändert sich nie was, sie sind genauso wie er, ihre Blockwartmentalität macht mich krank, ihr Sinn für Humor ist nicht mal unterentwickelt, er ist einfach nicht existent.

Ich frage mich, was dieser Hinweis auf Heidi Brühl und diesen Song zu bedeuten hat. Wir wollen niemals auseinander gehen – warum hat er genau dieses Lied genommen?

Aber der eigentliche Schlüssel zu dem Versteck muss hier irgendwo liegen:

Mir gefällt der Ort, den ich als Versteck ausgesucht habe. Direkt vor seiner Nase und doch so weit weg. Geradezu symbolisch – jedenfalls für das, was wir für unser Leben wollen.

Wo kann das sein, direkt vor seiner Nase? Symbolisch für das Leben, das sie führen wollten … Was denn für ein Leben? In einer Kommune in Kalifornien? Männer und Frauen und Blumenkränze – ja genau, flower power in Kalifornien! Was gab es denn noch für Parolen? Love and Peace, glaube ich. Aber Georg betont das Wort Ort so. Sie wollten nach San Francisco gehen, leider fällt mir dazu rein gar nichts ein. Es muss ja außerdem etwas sein, das es auch hier gibt. Aber Kalifornien und der Odenwald kommen mir vor wie das größte Gegensatzpaar überhaupt.

Gerade beschwert sich Stefan, weil es so lange dauert, und tigert ungeduldig durch das Wartezimmer. Ich fühle mich schuldig, trotzdem bin ich gerade so in meine Gedanken vertieft, dass ich Stefan einfach ausblende. Ich muss weitermachen, ich bin so neugierig und ganz sicher, dass ich kurz vor der Lösung stehe.

Also, noch mal – Kalifornien … Was weiß ich alles über Kalifornien? Ich grüble eine Weile vor mich hin, doch alles, was mir einfällt, sind irgendwelche Sachen, die ich irgendwann mal in der Schule gelernt habe. Zum Beispiel, dass es umstritten ist, woher der Name Kalifornien stammt. Manche behaupten, der Name käme aus dem Spanischen – La Caliente Fornella, was der heiße Ofen bedeutet.

Mein Magen knurrt plötzlich so laut, dass die alte Frau, die neben mir sitzt, von ihrer Zeitschrift aufschaut. Ich lächle sie schulterzuckend an, doch sie wendet einfach den Kopf ab und liest weiter. Jetzt, wo die Bauchkrämpfe weniger geworden sind, muss ich daran denken, dass ich weder gestern Abend noch heute Morgen etwas gegessen habe. Vielleicht haben wir ja auf dem Rückweg noch kurz Zeit und Stefan kann bei der Bäckerei vorbeifahren, damit ich Brötchen holen kann. Als ich mir den Duft in der Backstube vorstelle, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. So sehr habe ich mich schon lange nicht mehr auf ein knuspriges Brötchen gefreut, am besten noch warm aus dem Backofen.

Und auf einmal dämmert es mir.

Das ist es! Das muss es sein. Der heiße Ofen!

Der Ofen in der Backstube! Damit würde auch der Hinweis stimmen, dass es direkt vor der Nase seines Vaters wäre. Wirklich eine geniale Idee von meinem Opa!

Ich kann es kaum erwarten, Felix zu sehen und ihm zu erzählen, wo sich das Versteck befindet. Hoffentlich ist er nicht mehr allzu böse wegen gestern Abend …

In diesem Moment wird mein Name aufgerufen und ich werde in ein Sprechzimmer gebeten. Nach einer weiteren Ewigkeit werde ich untersucht, der Arzt diagnostiziert eine Verstauchung mit leichter Bänderdehnung. Er legt mir einen Zinkleimverband an und rät mir, das Bein nicht übermäßig zu belasten, sondern ruhig zu halten und zu kühlen. Ich überlege noch, ob ich etwas von den Bauchkrämpfen erzählen soll, aber da verabschiedet sich der Arzt schon und wir fahren wieder zurück.

Stefan ist die ganze Zeit über auffallend schweigsam. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er Streit mit Anja darüber hatte, ob ich weiter bei ihnen arbeiten darf oder nicht – und jetzt kommt er wegen mir auch noch zu spät ins Büro.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich euch so zur Last falle«, sage ich deshalb. Aber durch meinen Kopf wirbelt immer nur: heißer Ofen, heißer Ofen. Mann, das muss ich Felix sagen. Am besten sofort!

Stefan dreht sich zu mir und ringt sich ein Lächeln ab. »Es ist alles in Ordnung, Anja ist manchmal eben ein bisschen … ähm … schwierig.«

»Wie wäre es dann, wenn wir ein paar leckere Brötchen und Croissants fürs Frühstück holen? Natürlich nur, falls du es zeitlich noch schaffst.« Ich schäume förmlich über vor guter Laune – so schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe und auch Stefans Miene hellt sich merklich auf.

»Eine ausgezeichnete Idee, Blue!«

Wir halten auf dem Parkplatz vor der Bäckerei und meine gute Laune bewirkt, dass ich die graubeigen Häuser im Dorf heute richtiggehend hübsch und idyllisch finde. Im Vorgarten der Bäckerei fangen gerade die dicken hellrosa Kugeln der Pfingstrosen an aufzublühen. Eine Katze streicht um die beiden Margeritenbäumchen, die in blauen Töpfen vor dem Eingang stehen. Plötzlich schießt sie davon, und als ich ihr hinterherschaue, sehe ich, dass sie zu dem Häuschen auf der Säule geflitzt ist, weil sich dort auf dem Dach gerade eine Schar laut zwitschernder Grünmeisen niedergelassen hat.

»Was ist das eigentlich?«, frage ich Stefan und zeige auf das reich verzierte Häuschen mit den vielen Türen.

»Ein altes Taubenhaus.« Wir steigen aus, Stefan kommt auf meine Seite und stützt mich beim Gehen. »Hier gab’s früher mal einen richtigen Brieftaubenzüchterverein, ich glaube, es war der größte im vorderen Odenwald. Aber das ist lange her. Zum Glück.« Er sucht meinen Blick und grinst. »Anja kann Tauben nicht ausstehen, sie sagt, das wären die Ratten der Lüfte.«

Ein altes Ehepaar kommt uns entgegen, Stefan hilft ihnen mit dem Rollator durch die Tür, dann betreten wir den Laden, in dem es so intensiv nach frischem Brot und warmer Schokolade duftet, dass sich mein Magen schmerzhaft zusammenzieht – diesmal zum Glück vor Hunger.

Felix rechnet gerade die Bestellung einer Kundin zusammen, seine Oma ist zum Glück nicht im Laden. Als er mich sieht, wird er knallrot und verrechnet sich mit den Brötchen. Die Kundin weist ihn ungeduldig darauf hin, schimpft über die jungen Leute von heute, die nicht mal mehr die Grundrechenarten beherrschen, und schaut Stefan Beifall heischend an. Der ignoriert sie aber völlig, was Felix ein Grinsen entlockt, das er sich sofort wieder verbeißt.

»Guten Morgen«, murmelt er in unsere Richtung, verdreht die Augen und korrigiert die Rechnung der Kundin.

Stefans Handy klingelt und es ist nicht zu überhören, wer dran ist. Anjas hektische Stimme quillt aus dem Lautsprecher, Stefan kommt gar nicht dazu, etwas zu sagen.

Genauso wenig kann ich mit Felix reden – was für eine Schnapsidee von mir, an einem Montagmorgen in der Bäckerei aufzukreuzen! Natürlich hat Felix jetzt gar keine Zeit, hinter uns strömen schon die nächsten Kunden herein.

»Anja fragt, wo wir so lange bleiben. Sie braucht deine Hilfe beim Füttern, denn sie muss bald los, weil sie heute einen Termin in der Uniklinik in Frankfurt hat. Tut mir leid, aber wir müssen uns beeilen.«

Er zeigt wahllos auf ein paar Brötchen, die Felix hektisch in eine Tüte packt.

»Felix, wir müssen unbedingt reden«, zische ich ihm zu. »Ich weiß jetzt, wo der Schatz ist. Komm später vorbei, Anja fährt mit den Kindern weg, okay?«

»Kennt ihr euch?«, fragt Stefan, während er bezahlt. »Das freut mich, ist sicher ein bisschen einsam und langweilig hier draußen für dich.«

Beinahe hätte ich gelacht.

Langweilig.

Was für ein Witz!

Wir verabschieden uns und ich werfe Felix noch mal einen Blick über die Schulter zu. Er nickt mir zu und seine Augen funkeln – wie ein kleiner Junge auf Schatzsuche, denke ich und muss grinsen.