18.
Außerdem ging es dir immer besser, wenn deine Mutter nicht in der Klinik war, und so kam es, dass ich anfing, einen ungeheuerlichen Verdacht zu schöpfen.
Schon von Weitem sehe ich das Haus der Zeltners. Alle Außenlampen sind angeschaltet und auch von innen quillt Licht in die Nacht.
Ich brauche eine gute Ausrede. Eine sehr gute Ausrede.
Etwas, das sie mir glauben, denn wenn ich erzähle, was wirklich passiert ist, müssten sie mich sofort entlassen, und ich habe Ju versprochen, die Zwillinge zu beschützen. Also muss ich alles tun, um meinen Job zu behalten – auch wenn ich immer noch nicht glauben kann, was Ju mir gerade erzählt hat.
Als ich in die Garage fahre, stürzen Anja und Stefan aus dem Haus. Sie reißt die Fahrertür auf. »Wo warst du?« Ihre Worte hacken auf mich ein, schneidend wie ein Fallbeil. Unwillkürlich zucke ich zusammen, schrumpfe. Hat sie etwas am Lack entdeckt, das ihr unser Abenteuer verraten könnte? Ich richte mich wieder auf, lehne mich ein Stück nach draußen und mustere verstohlen das Auto. Erleichtert stelle ich fest, dass es den Ausflug durch den Wald ohne große sichtbare Schäden überstanden hat.
Stefan kommt näher. »Jetzt lass sie doch erst mal aussteigen.«
Ich versuche aufzutreten, aber ich schaffe es nicht. Das bringt mich auf eine gute Idee. »Mein Fuß …«, stottere ich, »deshalb wollte …«
Anja verdreht die Augen. »Erzähl mir keine Märchen, was hattest du mit den Kindern um diese Zeit draußen zu suchen? Wir brauchen kein kleines Flitt…«
»Anja, bitte«, mischt sich Stefan von hinten ein, »jetzt lass sie doch erst mal zu Ende sprechen!«
»So eine Herumtreiberin, die die Kinder zu ihren billigen Treffen mitnimmt, hat mir gerade noch gefehlt!«, sagt Anja, ohne ihren Mann zu beachten, der genervt die Arme in die Luft wirft.
»Ich habe mich nicht heimlich mit jemandem getroffen«, sage ich und werfe Anja einen wütenden Blick zu, »sondern bin die Treppe runtergefallen und wollte zu einem Arzt fahren und die Kinder nicht allein lassen.« Die Lüge geht mir plötzlich ganz leicht über die Lippen.
»Aber warum hast du uns denn nicht angerufen?« Stefan legt seine Hand beschwichtigend auf die Schulter seiner Frau.
»Weil …«, jetzt denk nach, Blue, sag was echt Überzeugendes, »… weil ich dachte, ihr freut euch so auf diesen freien Abend. Ich habe geglaubt, ich würde das schon schaukeln. Aber ich habe keinen Arzt gefunden.«
»Dachtest du, da steht einer auf der Straße und wartet auf dich, oder wie genau hattest du dir das vorgestellt?« Anja hat die hintere Tür aufgemacht und holt Mia aus dem Auto.
»Ich habe nicht nachgedacht, es tut mir leid. Ich hab’s nur gut gemeint.« Die Erleichterung darüber, dass sie mir meine Lügengeschichte abzunehmen scheinen, treibt mir Tränen in die Augen. »Und ich wollte kein Umstände verursachen.«
»Ist ja schon gut«, sagt Stefan und klopft mir beruhigend auf die Schulter, während Anja Mia ins Haus bringt.
»Nimm Bennie!«, befiehlt sie Stefan, »und sieh zu, dass er ins Bett kommt. Mit Blue können wir später noch reden.«
Stefan zwinkert mir zu und zum ersten Mal finde ich diese Geste tröstlich. Dann holt er Bennie aus dem Wagen und verschwindet mit ihm im Haus.
Ich versuche aufzustehen, aber meine Beine zittern so sehr und der Knöchel ist elefantös dick, sodass ich es einfach nicht schaffe. Nach einer Ewigkeit, während der ich dasitze und einfach nur nach draußen starre, kommt Stefan wieder zurück.
»Zeig mal.«
Ich halte ihm das zitternde Bein mit dem dicken Knöchel hin.
»Oh, das sieht nicht gut aus. Das sollten wir schleunigst kühlen.«
»Es tut mir leid, aber ich kann nicht aufstehen.«
Er beugt sich zu mir und umschlingt meine Schulter, greift unter den Knien durch und trägt mich ins Haus. So freundlich und ohne jedes Murren, dass mir erneut Tränen in die Augen schießen. Aber ich will nicht weinen, kein Selbstmitleid jetzt, ich reiße die Augen weit auf und versuche, ruhig zu atmen. Ich muss unter allen Umständen verhindern, dass sie mich rauswerfen.
Ju kann stolz auf sich sein – ich habe ihm nicht wirklich geglaubt, aber er hat es geschafft, mich nervös zu machen, und nun muss ich mich davon überzeugen, dass er total falschliegt.
Anja ist noch oben bei den Zwillingen, als Stefan mich auf dem weißen Sofa ablegt. Sofort habe ich Angst, dort Flecken zu hinterlassen, aber Stefan besteht darauf, dass ich sitzen bleibe, und verschwindet dann in der Küche.
Er kommt mit einem blauen Eispack wieder, verstaut ihn in einer Stoffhülle und legt ihn auf meinen Knöchel.
»Dumm gelaufen!«, sagt er.
»Nein, ich bin gefallen«, erkläre ich, was ihn zum Lachen bringt.
»Werdet ihr mich jetzt nach Hause schicken?«, frage ich und muss mich räuspern, weil mir plötzlich ein Kloß im Hals steckt.
Er schüttelt den Kopf. »Nein, das sieht nur nach einer kleinen Prellung aus. Dann spielst du eben mit den Kindern auf dem Boden und krabbelst mit ihnen um die Wette«, meint er grinsend.
»Stefan gibt gerne den Arzt, ohne eine Ahnung zu haben«, kommentiert Anja, deren Näherkommen ich gar nicht bemerkt habe, spöttisch über seine Schulter. »Lass mich mal sehen.« Sie setzt sich zu mir und bewegt den Fuß hin und her. Besonders behutsam geht sie dabei nicht vor und ich ziehe scharf die Luft ein.
»Könnte sogar sein, dass Stefan ausnahmsweise mal recht hat.«
»Anja hat früher als Physiotherapeutin gearbeitet«, erklärt Stefan.
»Trotzdem ist ein verletztes Au-pair-Mädchen nicht wirklich zu etwas zu gebrauchen, oder?«
Stefan funkelt seine Frau wütend an. »Lass uns das später besprechen.«
»Hast du Schmerzen?«, fragt Anja mich jetzt ein bisschen sanfter.
»Ja, aber es geht schon.« Ich bin so froh, dass ich es geschafft habe, die Kinder zurückzubringen, und so erledigt, dass ich sofort einschlafen könnte.
»Ich bringe dir ein paar Schmerztabletten und dazu empfehle ich dir Arnika-D6-Kügelchen, das hilft beim Abschwellen.« Sie steht wieder auf. »Es tut mir leid, wenn ich vorhin etwas grob war, ich habe mir nur solche Sorgen um die Kinder gemacht … Ich wusste ja nicht, was los war.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Stefan geht auf sie zu und umarmt sie.
»Ich verstehe das«, sage ich und denke daran, dass ihr Sohn vor langer Zeit entführt worden ist – und nie wieder gefunden wurde. Und dann schäme ich mich, dass ich Ju überhaupt auch nur eine Sekunde lang zugehört habe.
Anja schnieft, wehrt Stefans Arme ab und geht zur Gästetoilette. Ich kann hören, wie sie den Medizinschrank öffnet.
Stefan zuckt mit den Schultern. »Irgendwann muss man sich mit seinem Schicksal versöhnen, sonst wird man krank davon«, flüstert er vor sich hin, geht zum Sideboard und holt von dort ein Glas Whiskey. »Willst du auch eins?«, fragt er, nachdem er einen großen Schluck aus seinem Glas getrunken hat.
Ich schüttle den Kopf und kapiere wie so oft nicht, was in diesem Stefan vor sich geht. Manchmal ist er so nett und dann wieder so … grob.
Anja ist zurück, hält mir ein Schälchen mit Tabletten unter das Kinn und dann noch merkwürdige winzige Kügelchen, die aussehen wie Zuckerperlen für Mikrofeen. Sie reicht mir ein Glas Wasser und wirft einen abfälligen Blick auf das Whiskeyglas in Stefans Hand.
»Nimm das, und du wirst sehen, morgen geht es dir wieder besser.« Sie lässt mich nicht aus den Augen, bis ich die drei Tabletten genommen habe. »Diese vier Kügelchen lässt du unter der Zunge zergehen. Und jetzt sollten wir alle ins Bett gehen.«
Ich kann nur noch nicken, schaffe es immerhin, mich vom Sofa hochzustemmen, ohne umzufallen, dann steht zum Glück schon Stefan da, der mich diesmal nicht trägt, aber bis zu meinem Zimmer stützt und mich dort ins Bett verfrachtet.
Ich muss dauernd gähnen, so dermaßen müde bin ich.
»Wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du dich jederzeit an mich wenden.«
Ich kann nur noch nicken.
»Ich meine nicht nur wegen dem Fuß, sondern falls es noch etwas anderes geben sollte. Falls dich jemand belästigen sollte.«
Verblüfft starre ich ihn an. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
Er greift in seine Hosentasche. »Das hier habe ich auf der Treppe gefunden, das musst du verloren haben. Es sieht so aus, als wäre es gerissen.« Stefan zieht Grannies Bettelarmband aus seiner Tasche und reicht es mir.
Mein Herz macht einen Sprung. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass es nicht mehr da ist!
»Als ich es gefunden habe, musste ich komischerweise an den jungen Mann denken, der heute Nachmittag bei dir war. Ich will dir ja nicht zu nahe treten, Blue. Du kannst natürlich treffen, wen du willst. Aber auf mich hat er eher einen …«, Stefan ringt um Worte, »… einen gehetzten Eindruck gemacht. Ich hoffe, ihr hattet keinen Streit oder so was?«
»Ich, äh, nein, also, danke. Danke für das Armband.« Mehr fällt mir dazu nicht ein. Wenn Stefan Ju schon suspekt war – was würde er dann erst über Felix sagen? Aber ich werde ganz bestimmt nicht erzählen, was heute Abend auf dem Holzdeck passiert ist – und vor allem, was danach geschehen ist …
Stefan legt das Armband auf meinen geöffneten Handteller, dann dreht er sich um und geht. Er ist schon fast zur Türe raus, als er noch mal stehen bleibt. »Wir sollten Anja nichts davon sagen, dass du Besuch hattest. Sie reagiert einfach über, wenn es um die Zwillinge geht. Auch das, was sie vorhin in der Garage gesagt hat, war nicht so gemeint. Tja, also dann, gute Nacht.« Er verlässt das Zimmer und schließt leise die Tür hinter sich.
Ich starre auf Grannies Armband, das zerrissen ist. Meine Hand fängt an zu zittern und mein Herz schlägt schneller, denn das Armband ist nicht nur kaputt. Nein, an Grannies Armband klebt etwas Rotes.
Es sieht aus wie Blut.