17.
Aber ich kannte sie und wusste, dass sie schon ein Kind durch den plötzlichen Kindstod verloren hatte, weil ihr Mann es mir erzählt hatte. Als Erklärung für ihr extrem überbehütendes Verhalten. Sie hat es aber niemandem auf der Station verraten – und das kam mir merkwürdig vor.
Er atmet genauso schwer wie ich. Wir stehen uns gegenüber. Ich habe Angst vor Ju. Zwar hat er mich vorhin in der Wohnung nicht angegriffen, aber er hat mich einfach auf dem Boden liegen lassen und ist mit den Kindern abgehauen.
Ich ignoriere Ju für einen Moment und gehe zu den brüllenden Zwillingen, rede beruhigend auf sie ein, streichle ihre verschwitzten Köpfe und nehme Mia auf den Arm.
Ju tritt zu uns, schnallt Bennie los, hebt ihn hoch und legt ihn über seine Schulter. Wir schaukeln sie wortlos so lange, bis sie sich beruhigt haben. Ich denke daran, was passiert, wenn Anja und Stefan nach Hause kommen und niemand da ist. Sie haben sicher Angst, es ist etwas Furchtbares passiert – ist es ja auch … Ich kann nur hoffen, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Und das liegt nun in meinen Händen.
»Also?«, frage ich, nachdem sich die beiden beruhigt haben, und sehe Ju an, der irgendwie fertig und ganz schön mitgenommen wirkt.
»Ich musste Mia und Bennie retten.«
»Retten nennst du diese beschissene Aktion, ja?« Ich habe angefangen zu schreien und denke, dass ich vorsichtiger sein sollte. Keine Ahnung, was in Jus krankem Gehirn so vor sich geht.
»Wenn du mit den Kindern zurückfährst, werden sie sterben.« Jus Stimme ist ganz ruhig. Er blickt mir nun direkt ins Gesicht und wirkt dabei so eindringlich, so voller Angst, dass ich ihm fast glaube, was er da sagt.
Aber ich weiß ja in der Zwischenzeit, dass Ju ein guter Schauspieler ist, und schüttle den Kopf. »Das klingt aber reichlich dramatisch – sterben! Was ist das denn für ein Unsinn? Warum sollten Mia und Bennie denn sterben?«
»Kein Unsinn.« Er räuspert sich. »Anja ist krank und deshalb macht sie die Kinder krank.«
»Was für eine Krankheit soll das denn sein? Dann wären ja auch Stefan und ich gefährdet und jeder, der mit ihr zu tun hat.«
»Es ist eine psychische Krankheit.«
»Ich habe noch nie gehört, dass Irrsinn ansteckend wäre.« Ich gebe ein kleines Lachen von mir, das aber irgendwie verunsichert klingt. Meine Kehle ist rau vom Schreien und ich muss hart schlucken. Ju sieht so ruhig und gefasst aus, das gefällt mir nicht. Und obwohl ich immer noch sehr wütend auf ihn bin, habe ich nicht das Gefühl, dass er verrückt ist.
»Sie leidet am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom«, sagt Ju, während er Bennie immer wieder beruhigend über den Rücken streichelt. »Das ist eine psychische Erkrankung, bei der Mütter ihre Kinder absichtlich krank machen, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.«
»Davon habe ich noch nie gehört.« Das klingt alles sehr verrückt. Mia wimmert leise in meinem Arm.
»Du kannst es gerne im Internet überprüfen. Auch wenn du es nicht glaubst, aber es gibt Mütter, die ihren Kindern das antun.«
Ju klingt dabei so unendlich traurig, dass mir eine Gänsehaut über den Rücken läuft. »Und woher willst du wissen, dass Anja so etwas macht?«, frage ich ihn.
Er windet sich etwas. »Ich weiß es einfach. Leider habe ich noch keine Beweise. Trotzdem wollte ich nicht warten, bis einer der Zwillinge tot ist. Ich hatte gehofft, du könntest meine Verbündete werden, könntest mir dabei helfen, Anja zu überführen, aber ich habe es komplett vermasselt. Dabei habe ich dir die Artikel in den Koffer gelegt.«
»Du warst das?«, rufe ich erstaunt aus. »Aber was haben denn die Artikel mit diesem Münchhausen-Dings zu tun? Warum hast du mir nicht einfach von deinem Verdacht erzählt?«
»Weil niemand, der bei Verstand ist, solchen Verdächtigungen zuhört – oder hättest du mir geglaubt?«
»Nein«, sage ich sofort, ohne darüber nachdenken zu müssen.
»Und jetzt, glaubst du mir jetzt?«
Wenn ich das nur wüsste. Ju kommt mir ehrlich gesagt gerade nicht vor wie ein Verrückter, und ich glaube auch nicht, dass er für die Kinder Lösegeld haben will. Also warum hat er sie dann entführt? Weil Anja, diese Vorzeigemutter, ihre Kinder krank macht? Was für eine Schnapsidee!
»Wir müssen zurück. Die Zeltners drehen bestimmt durch, wenn sie nach Hause kommen und ich bin mit den Kindern einfach verschwunden. Abgesehen davon – hast du wirklich geglaubt, du könntest die Kleinen einfach so wegbringen und irgendwo verstecken?« Ich schüttle den Kopf. »Wenn ein Kind entführt wird, schaltet die Polizei sofort die Öffentlichkeit ein, das läuft im Fernsehen rauf und runter. Man würde dich mit den Zwillingen leicht finden und dann …«
»Aber dann sterben die beiden.« Jus Stimme schnappt über.
In seinem Gesicht blitzt etwas auf. Tränen.
»Ich … bitte, Blue …«
»Ju, Ju, wir müssen zurück. Ich muss zurück, mit den Kindern! Auf der Stelle!« Panik steigt in mir auf, wenn ich mir vorstelle, wie Anja gerade die Kinderzimmertüre öffnet.
»Dann versprich mir, dass du sie nie aus den Augen lässt.« Seine Stimme zittert, aber er sagt es so flehend, dass es mir die Kehle zuschnürt. Wortlos und mit hängenden Schultern geht Ju schließlich zum Auto und setzt Bennie liebevoll in den Kindersitz, wo ihm sofort die Augen zufallen.
Ich setze Mia in den anderen Kindersitz, Ju öffnet die Fahrertür und hält sie mir auf. Für einen Moment glaube ich, er wird mich wegstoßen und mit den Zwillingen wegfahren, wird mich linken, wie vorhin im Haus.
Aber nein, er tritt einen Schritt zurück und sieht mich stumm an. Einen Moment starre ich in Jus Gesicht und eine Frage beginnt sich in meinem Kopf zu formen.
»Eins noch, Ju. Ich verstehe einfach nicht, warum du dich so sehr für diese Kinder interessierst! Kennst du die Zeltners?«
»Ich …« Er wischt sich über die Wangen und richtet sich auf. »Ich studiere Medizin und arbeite als Kinderpfleger in der Kinderklinik. Ich war auch so ein Opfer. Aber ich habe Glück gehabt, ich habe überlebt und werde dafür sorgen, dass Mütter damit nicht mehr durchkommen.«
Und warum glaube ich ihm das nicht?
Er muss meinen skeptischen Gesichtsausdruck gesehen haben, denn er wirft die Autotür ins Schloss. »Bitte, Blue, beschütze sie, und sobald du einen Beweis findest, ruf die Polizei.«
Er greift durch das offene Fenster und legt seine Hand auf meine Schulter. »Verzeih mir, wenn ich dir Angst gemacht habe, verzeih mir, dass ich dich benutzen wollte. Es tut mir leid, so unendlich leid.«
Ich lasse den Motor an, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Als ich auf das Gaspedal trete, merke ich plötzlich wieder, wie weh mir mein Fuß tut.
»Ju, wie heißt du eigentlich richtig, wo wohnst du, wo kann ich dich erreichen?«
»Ich bin immer in deiner Nähe. Da kannst du sicher sein.«
»Aber was ist, wenn ich Hilfe brauche?«
»Ich werde da sein. Ich werde dir ein deutsches Handy besorgen und meine Nummer einspeichern. Es wird morgen in deinem Zimmer liegen.«
Ich bin gerade nicht mehr in der Lage, mich über irgendetwas zu wundern. Deshalb nicke ich einfach und habe dabei nur noch ein Ziel vor Augen: die Zwillinge so schnell wie möglich nach Hause und in Sicherheit zu bringen.
Da ich auf dem schmalen Weg nirgends drehen kann, muss ich rückwärts fahren, was mir nach allem, was passiert ist, den Rest gibt. Meine Beine zittern, als wären sie an eine Stromleitung angeschlossen. Und meine Hände am Lenkrad sind so glitschig, dass ich sie andauernd an meinen Shorts abwischen muss.
Ich bete, dass die Zwillinge jetzt nicht aufwachen, und hoffe, dass die Zeltners nicht vor mir zu Hause sein werden.
Nach einer Ewigkeit erreiche ich die Schranke, sie ist noch oben, thank God! Ich fahre durch und kann endlich an einer Einbuchtung drehen. Und während ich durch den dunklen Wald fahre, höre ich immer wieder Jus Stimme:
Beschütze sie.
Ich war auch ein Opfer.
Sie werden sterben.
Ich fahre schneller.